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Kapitel 1: Die Assistenzärzte

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USA 2022: In der großen Aula der Universität herrschte eine feierliche und angespannte Stimmung. Über 200 Medizinstudenten erwarteten den wahrscheinlich schönsten Moment in ihrem bisherigen Leben: Die Übergabe ihrer Approbationsurkunden. Aber bis es endlich soweit sein konnte, mussten sie alle erst einmal das übliche Prozedere über sich ergehen lassen. Nach dem Einzug der Gladiatoren (den Studenten) betraten unter den Klängen der Nationalhymne die Honoratioren (die Professoren) den Saal. Als sich alle wieder gesetzt hatten, begann der Rektor mit sehr viel Pathos seine Laudatio auf die erfolgreichen Studenten. Kaum jemand dachte in diesem Moment noch an die nicht wenigen, die auf dem langen Weg bis hierhin aus den verschiedensten Gründen aufgeben mussten.

Dann war er da, der große Moment für jeden einzelnen. In Zehnergruppen wurden die Studenten nach vorn gerufen und erhielten ihr Abschlusszeugnis und ihre Approbationurkunde. Die Breite der Reaktionen nach der Übergabe war enorm. Sie reichte von Tränen des Glücks über zur Schau gestellte Normalität bis zu geballten Fäusten, die leicht zaghaft in die Luft gestoßen wurden. Jedem einzelnen war die Freude und die Erleichterung aber irgendwie anzusehen.

Nach der besonders für die ersten und die letzten quälend langen Übergabe -Zeremonie hatte der Jung-Assistenzarzt Bill Black die besondere Ehre, eine Dankesrede halten zu dürfen. Der Pastorensohn mit leicht autistischen Zügen schaffte es seltsamerweise ganz gut, die jetzt doch schon recht entspannte Stimmung der Jungärzte aufzugreifen und sogar mit einem Schuss Humor den teils bewunderten, teils gehassten Professoren klarzumachen, dass sie keine andere Wahl hatten, als mit ihren ehemaligen Studenten zufrieden zu sein. Seine letzten Worte ernteten ein befreiendes Lachen und stürmischen Beifall bei den Jungärzten und ein verständnisvolles Lächeln bei den Professoren: „Egal wie glücklich oder zufrieden Sie mit Ihren neuen Kollegen und Kolleginnen sein werden, bedenken Sie bitte immer, wir sind das Ergebnis Ihrer Arbeit!“

Der nächste Punkt auf dem Programm war die Ehrung der Besten dieses Abschlussjahrganges. Auf die Bühne gerufen wurden der eben schon gehörte Bill Black sowie Kathy Watson und Ernest Young. Alle drei hatten das Studium mit „summa cum laude“ abgeschlossen. Sie kannten sich natürlich von den Vorlesungen und Seminaren her, und Ernest und Kathy sogar durch einen One-Night-Stand, aber es war das erste Mal, dass sie alle drei so nah beieinander standen. Hier standen plötzlich drei Menschen im Mittelpunkt, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten: Bill, der erzkonservative Christ, der mit seinem Helfersyndrom seinen Beruf eigentlich mehr als Berufung sah. Mit seiner Brille und seiner leicht unbeholfen wirkenden Art machte der asketisch aussehende Bill schon heute den Eindruck eines zerstreuten Professors. Kathy, die früher linksradikale Revoluzzerin aus ärmlichen Verhältnissen, die das Medizinstudium nur dank eines ihr zugebilligten Stipendiums absolvieren konnte, und der wegen ihrer natürlichen Attraktivität und Lebendigkeit die männlichen Studiumskollegen ständig nachrannten. Alleine ihre Haarpracht, die kaum zu bändigen war, brachte die Männer schon um den Verstand. Und Ernest, das dunkelhäutige Genie aus bestem Haus, dem sein Erfolg bei den Frauen das Normalste von der Welt war. Rassistische Erfahrungen hatte er nur selten gemacht, und seine beeindruckende Körperlichkeit machte ihn zusammen mit seiner enormen Intelligenz und Lebenslust zu einem begehrten Objekt der Begierde bei den Frauen. Dabei spielten Frauen in seinen Überlegungen für die Zukunft gar keine große Rolle. Der Sex hatte für ihn in etwa die gleiche Rolle, wie Essen und trinken. Ihm war völlig klar, dass eine große internationale wissenschaftliche Karriere vor ihm lag.

Letztendlich waren es aber genau die Unterschiede oder sogar Gegensätze, die jetzt eine Freundschaft zusammen schmieden ließen, denn sie hatten immer genug Diskussionsstoff, der ihre Beziehungen nie langweilig werden ließ. Sie diskutierten immer mit offenem Visier und ohne persönliche Anfeindungen. Alle drei hatten die seltene Gabe, Andersdenkende nicht zu hassen oder zu diffamieren, sondern sie überzeugen zu wollen. So waren sie sich in einem einig: sie wollten die Welt verbessern. Keiner von ihnen konnte ahnen, dass sich ihre drei Lebenswege in den späteren Jahren immer wieder kreuzen und teilweise sogar eng miteinander verbinden sollten.

Nach der offiziellen Feier strömten alle zu ihren Liebsten oder Familien. Wie es der Zufall wollte, gehörten unsere zukünftigen Freunde aber zu denjenigen, die noch keine feste Beziehung hatten und deren Eltern nicht zur Exmatrikulation kommen konnten oder wollten. Die Eltern von Ernest hatten wichtigeres zu tun, sie mussten ihr Geld vermehren. Kathys Eltern hingegen konnten das Geld für die Reise nicht aufbringen. Dem Vater von Bill war eine Beerdigung dazwischen gekommen. Seine Mutter traute sich nicht, alleine zu reisen. Da aber allen Jungärzten nicht nach Ruhe und Besinnlichkeit zumute war, zogen die Übriggebliebenen zusammen in Richtung Stammkneipe. Jetzt durften sie sich offiziell Ärzte nennen, wenn auch nur Assistenzärzte. Das musste natürlich gefeiert werden.

An diesem Abend kam es das allererste Mal zu einem Gespräch zwischen Ernest und Bill. Da traf die tiefe Ernsthaftigkeit in der Betrachtung des Lebens auf die durch nichts zu trübende und unbekümmerte Lebenslust. Während Bill mit Besorgnis sah, wie sich die Menschheit immer mehr die Grundlagen ihrer Existenz zerstörte und alle ethischen und moralischen Werte den Bach runterflossen, orientierte sich Ernest zunächst auf die ungeheuren Möglichkeiten des technischen und medizinischen Fortschritts. Trotz ihrer hohen Intelligenz waren sie aber nicht in der Lage, sich auf die Gedankenwelt des anderen einzulassen, so fest waren sie in ihren eigenen Anschauungen verwurzelt. Sicherlich trug auch der langsam steigende Alkoholpegel seinen Teil dazu bei, dass sie einfach keinen Kompromiss finden konnten zwischen Bewahrung der Schöpfung und der Freiheit des Individuums.

Während sich die beiden Titanen des Intellekts ihr unerbittliches Duell lieferten, lief ganz im Hintergrund auf einem Bildschirm ununterbrochen ein regionales Fernsehprogramm, dem niemand mehr Beachtung schenkte. Nur der Multitasking-Fähigkeit von Kathy war es zu verdanken, dass sie so ganz nebenbei die Nachricht des Tages nicht überhörte. Professor Yen, einer der führenden Genetiker Chinas hatte seinen Aufenthalt auf einem internationalen Kongress in den USA benutzt, um sich von seiner Heimat zu trennen und in den USA um politisches Asyl gebeten. Ihm wurde prompt der kürzlich vakant gewordene Posten des Chefs am Humangenetischen Institut der hiesigen Universität angeboten. Eine ganz kleine Meldung zwischen vielen Katastrophen-Nachrichten und dem üblichen politischen Small-Talk. Dass diese Meldung genau jetzt kam, war natürlich ein großer Zufall, denn die Flucht von Professor Yen war schon einige Wochen her. Aber da man in den Geheimdiensten der USA schon viele negative Erfahrungen mit sogenannten „Wissenschafts-Flüchtlingen aus China“ gemacht hatte, dauerte es eben eine ganze Weile, bis Professor Yen endlich ausreichend durchleuchtet war und sowohl CIA als auch NSA grünes Licht zur Einbürgerung gaben. Es verstand sich natürlich von selbst, dass damit die Beobachtung nicht beendet war.

Es dauerte mehr als eine Sekunde, bis Kathy`s Gehirn ihr in Erinnerung brachte, dass die Pläne von Ernest, genau an diesem Institut seine Promotion zu beginnen, durch den plötzlichen Rauswurf seines Chefs über den Haufen geworfen wurden. Sofort eilte sie zu dem Tisch, an dem die beiden Kampfhähne inzwischen einsam und alleine ihr Gefecht führten und unterbrach lautstark die Reden der beiden Duellanten.

„Ernest, hast du das gehört? Unser Lehrstuhl für Genetik ist wieder ordentlich besetzt! Wolltest du nicht dort promovieren?“ Ernest brauchte eine Weile, um gedanklich zu dem neuen Thema umzuschwenken, weil sein Blutalkoholspiegel schon etwas erhöht war. Stimmt, da war doch noch was! Der Lehrstuhl für Humangenetik war nicht mehr besetzt, weil sich der letzte Professor mit dem Dekan und der Ethik-Kommision im Streit über die Möglichkeiten der Genetik angelegt hatte. Dieser Abgang war bei den Studenten eines der heißesten Streitthemen im letzten Jahr gewesen. Darf Wissenschaft alles, was sie kann? Aber in einem waren sich fast alle einig: Die Zukunft der Medizin gehört der Genetik, egal ob in der Krebstherapie, bei der Heilung von Stoffwechselerkrankungen aller Art, bei der Verlängerung des Lebens.... Die Genetik würde die Wunderwaffe im Kampf gegen Krankheiten überhaupt sein.

Mit der Nachricht von der Neubesetzung im Hinterkopf änderte sich der Gesprächsinhalt des Abends für die drei Neu-Freunde völlig. Nicht mehr die Probleme der Menschheit standen jetzt im Mittelpunkt, sondern ihre ganz persönliche weitere berufliche Entwicklung. Sie spürten, das war einer der Tage im Leben, an denen die Weichen gestellt wurden für das weitere Leben, zumindest in den nächsten Jahren oder sogar Jahrzehnten.

Der Abend wurde länger, der Alkohol floss und die Glückseligkeit griff um sich. Irgendwann am späten Abend wollte wieder mal jemand ein Foto von den drei Genies machen. Kathy stellte sich in die Mitte und legte die Köpfe ihrer beiden Kollegen auf ihre Schultern. Dazu mussten die beiden Herren sich einigermaßen erniedrigen, denn sie waren von Natur aus eher einen halben Kopf größer. Als die umstehenden Leute dieses schöne Bild sahen, zückten fast alle ihr Handy. Und dann kam er plötzlich, dieser fast erwartete Ruf: „Küssen, küssen!“ Die temperamentvolle Kathy ließ sich nicht lange bitten, und auch Ernest war sofort bei der Sache. Für Bill war es eher zwiespältig. Natürlich hatten einige nicht rechtzeitig auf den Video-Modus umgeschaltet. Also das ganze noch einmal.... und noch einmal... Da übernahm Ernest die Initiative, riss Kathy an sich und drückte lange und leidenschaftlich seinen Mund auf ihre Lippen. Erstaunt spürte er, dass sich ihre Lippen dabei wieder öffneten wie damals, bei ihrem One-Night-Stand. Dann dauerte es lange Sekunden, bis sie sich wieder voneinander trennen konnten. Die Menge tobte und animierte jetzt Bill, es ebenso zu tun. Bill hatte aber deutlich weniger getrunken als die Meisten im Saal. Er schaute Kathy an, und sie wurde sofort etwas leiser, denn sie spürte dass Bill zwar wollte, aber nicht konnte. Irgendetwas in ihr verhinderte, dass sie Bill animierte. Trotzdem setzte sie ihm ihre Lippen auf den Mund, aber als von ihm keinerlei Regung kam, war nach einer Sekunde schon wieder Schluss. Die Menge gab ein enttäuschtes „Ooooooooo“ von sich, und Bill blieb verwirrt zurück. Kathy konnte nicht wissen, dass Bill von Natur aus zwar mehr als nur Sympathie für sie empfand, aber wegen seines leichten Autismus wenig empathisch war. Er war noch „Jungfrau“. Für Kathy war das eine völlig neue Erfahrung, denn bisher konnte ihr noch kein Mann widerstehen. Und obwohl Kathy jetzt schon wusste, dass sie in der späten Nacht wieder bei Ernest im Bett landen würde, spürte sie, dass sie etwas nicht bekommen hatte, was sie eigentlich haben wollte, denn Bill wirkte rein äußerlich schon sehr attraktiv. Auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, irgendwie war ihre Eitelkeit ein wenig verletzt, weil Bill so kühl geblieben war. Und so machte sie ganz spontan den Vorschlag: „Jungs, wir müssen uns mal treffen!“ Und schon war es ausgemacht.

Für Treffen gab es in der Zeit zwischen Exmatrikulation und Beginn der Assistententätigkeit genügend Gelegenheiten. Ernest gelang es, den bis dahin noch unentschlossenen Bill davon zu überzeugen, ebenfalls sein Glück in der Humangenetik zu suchen. Nirgendwo anders konnte man Gott so nahe sein. Kathy aber hatte das Gefühl, dass eine vorwiegend theoretische Doktorarbeit in der Humangenetik nicht ihr Ding war und hatte sich anderweitig ein praxisnahes Promotionsthema in der Pädiatrie gesucht.

Zum ersten Gespräch mit Prof. Yen kamen also nur Bill und Ernest. Die Jungs hatten sich intensiv auf dieses erste Aufeinandertreffen vorbereitet, weil sie der Meinung waren, dass sie auf eine ihnen fremde, andere Kultur treffen würden. Bei ihren Übungen zur chinesischen Begrüßung hatten sie sich zu Hause noch halb totgelacht, aber jetzt war ihnen eher mulmig zumute. Immerhin würden sie jetzt gleich einer weltbekannten Koryphäe der Genetik gegenüberstehen. Natürlich waren sie viel zu früh da, obwohl sie wussten, dass eine lange Wartezeit einzukalkulieren war, um in diesen Kreisen empfangen zu werden.

Ganz wider Erwarten öffnete sich aber fast auf die Sekunde genau die Tür des Sekretariats und sie wurden durch das Vorzimmer direkt in das Allerheiligste des Lehrstuhls gebeten, ganz nach der Devise, Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige. Ebenfalls ganz wider Erwarten war auch das Büro des Professors kein pompöser Empfangssaal, sondern eher ein spartanisch eingerichtetes, aber voll technisiertes Arbeitszimmer. Als sie ihre eingeübte chinesische Verbeugung begannen, unterbrach sie der Professor sofort mit den Worten „Wir sind doch hier nicht in China, sondern Amerika.“ und reichte ihnen zur Begrüßung die Hand. Das Englisch mit chinesischem Akzent klang in den Ohren der Jungs leicht belustigend, sie konnten sich jedoch ein Lachen verkneifen. Aber der Bann war damit sofort gebrochen.

Professor Yen übernahm schnell die Führung in dem Gespräch, und ohne dass sie sich persönlich vorgestellt hatten, sprach er sie mit dem richtigen Namen an. Es war klar, er hatte sich vorher über sie informiert. Da er auch ihr Anliegen kannte, machte er sofort ohne jede weitere Verzögerung durch höfliche Floskeln sein Angebot. „Sie können sich bei mir gerne wissenschaftlich austoben. Ich möchte hier meine in China begonnen Forschungen weiterführen. Es geht um die Identifikation von Schaltgenen, eine für zukünftige Therapie-Entwicklungen notwendige Forschung, deren Bedeutung Sie heute sicher noch nicht wirklich abschätzen können. Das Potential dieser Forschungen ist aber gleichzeitig auch ihr Problem. Das Ergebnis meiner Forschungen kann natürlich jederzeit auch missbraucht werden. In China wurden meine Arbeiten zum Beispiel über das Budget des Verteidigungsministeriums finanziert. Ich konnte aber nicht zulassen, dass meine Ergebnisse irgendwann mal militärisch genutzt werden würden. Deshalb bin ich jetzt hier in Amerika.

Da das Forschungsthema aber auch hier sehr brisant ist, werden die Ergebnisse ihrer Arbeit vorerst keinesfalls veröffentlicht, sondern nur hier im Hause zur weiteren Verfügung stehen. Und Sie müssen damit rechnen, dass Sie und Ihre näheren Freunde und Verwandten mit der CIA und der NSA in Berührung kommen werden. Konkret heißt das, Sie werden geheimdienstlich überwacht.“ Der Professor machte das erste Mal eine kleine Pause, in der er die zukünftigen Doktoranden intensiv beobachtete. Diese konnten gar nicht auf diese unerwarteten Eröffnungen reagieren, da ging es schon weiter. „ Mir ist natürlich klar, dass ich Sie nicht so einfach überfahren darf. Ich erwarte heute keine Antwort von Ihnen. Nehmen Sie sich bitte eine Woche Zeit. Wenn Sie unter den genannten Bedingungen bei mir einsteigen wollen, besprechen wir alles Weitere nächste Woche um die gleiche Zeit hier in meinem Büro. Ich erwarte aber, dass Sie sich dann von allen anderen beruflichen Verpflichtungen lösen. Sie werden bei mir zu einem ordentlichen Gehalt angestellt. Sollten Sie sich anders entscheiden, geben Sie bitte sofort meiner Sekretärin Bescheid, damit sie den Termin anderweitig verplanen kann.“ Und nach einer weiteren kurzen Pause: „Wenn Sie jetzt keine weiteren Fragen haben, die sofort geklärt werden müssten, wird meine Sekretärin sie hinausbegleiten.“ Er wartete nur zwei Sekunden und drückte dann auf die Wechselsprechanlage, um seine Vorzimmerherrin zu rufen.

Nach nicht einmal fünf Minuten standen die Jungs wieder auf dem Flur und stellten erstaunt fest, dass sie außer zur Begrüßung kein einziges Wort gesprochen hatten. Dieses „Vorstellungsgespräch“ mussten sie erst einmal verdauen. CIA und NSA? Geheimdienste waren für sie nie etwas gewesen, das ihr Leben in irgendeiner Art und Weise berührt hätte. Und jetzt sollten sie ihr berufliches Schicksal in deren dubiose Hände geben? Bill fühlte sich bei dem Gedanken an die Dienste zunächst etwas angewidert, und Ernest bekam sofort ein leichtes Gefühl von nationaler Wichtigkeit. Aber beide waren sie nicht in der Lage, auch nur eine tendenzielle Entscheidung zu treffen. Das musste erst mal verarbeitet werden. Sie verabredeten sich für den nächsten Abend bei Bill.

Wider Erwarten kam Ernest nicht alleine, sondern in Begleitung von Kathy. Bill konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich zwischen den beiden etwas anbahnte. Er ärgerte sich wieder einmal über sich selbst, dass er nicht auf die Idee gekommen war, Kathy selber zum Krisentreffen einzuladen, denn er hatte sehr wohl bemerkt, dass er Gefühle für diese Frau hegte. Aber seine zurückhaltende Natur (man könnte auch Schüchternheit sagen) hatte wie schon so oft in seinem Leben verhindert, sich ihr zu offenbaren. Ihre gelegentlichen Blicke konnte er nicht wirklich einordnen. Er hatte eben keinerlei Erfahrungen mit Frauen. Mit seinen streng gläubigen Eltern traute er sich nicht über solche Themen zu sprechen, und Ernest war jetzt sein einziger Freund. Bill war es aber schon immer gewohnt, Niederlagen einzustecken. Es fiel ihm von Natur aus schwer, aus sich herauszugehen und Gefühle zu entwickeln. Sein Selbstbewusstsein war seinem kalendarischen Alter keinesfalls angemessen. Ernest hatte ihn schon mal spaßeshalber als genialen Autisten bezeichnet. Er konnte nicht ahnen, dass da wirklich etwas dran war, und Bill reagierte bei diesem Thema grundsätzlich gar nicht.

Wie schon die letzten Male begrüßte Kathy ihn mit einer kurzen Umarmung, und wie immer spürte sie dabei, dass Bill diese genoss und um eine Zehntel Sekunde hinauszögerte. Ihre eigenen Gefühle den beiden Männern gegenüber waren dabei durchaus ambivalent. Attraktiv wirkten beide auf sie. Als Frau war da aber etwas in ihrem Unterbewusstsein, das sie davon abhielt, sich dem menschlich korrekten, aber blassen Bill anzuvertrauen. Der im doppelten Sinne farbige Ernest bot ihr als Macher-Typ dagegen etwas, das Frauen neben der großen Liebe immer auch suchten: Sicherheit. Das alles war ihr aber keineswegs bewusst. Ihr Temperament hatte sie letztendlich jetzt bei Ernest landen lassen, der sein Verlangen nach ihr deutlicher zeigte.

Der Abend wurde lang. Die widerstrebenden Argumente für die bevorstehende Entscheidung waren einfach nicht unter einen Hut zu bringen. Die Aussicht, von Geheimdiensten abhängig zu sein, war für Kathy völlig abwegig. Für Ernest spielte eher der zu erwartende gesellschaftliche Aufstieg eine Rolle. Bill sah neben den enormen therapeutischen Möglichkeiten vor allem die Gefahren des Missbrauches. So sehr sie auch diskutierten, sie kamen zu keiner endgültigen Entscheidung. Irgendwann waren alle Argumente mehrfach ausgetauscht, und man einigte sich, dass man sich nicht einigen kann. Also beschlossen sie, noch ein paar Nächte darüber nachzudenken und letztendlich jeder für sich eine Entscheidung zu treffen.

Schon am nächsten Tag klingelte das Handy von Bill. Ernest meldete sich gleich am frühen Morgen.

„Lass mich raten! Du hast dich schon entschieden und willst zusagen?“ fragte Bill. Seltsamerweise dauerte es fast eine Sekunde, bis Ernest antwortete.

„Im Prinzip ja!“ Es entstand eine kleine Pause. „ Es wäre aber sicherlich nicht schlecht, wenn du auch mitmachen würdest.“

„Ich?“

„Ist sonst noch jemand da, der sich angesprochen fühlen könnte“

„Natürlich nicht! Aber das geht mir jetzt doch ein bisschen zu schnell. Ich glaube, ich brauche mehr als eine Nacht zum Überschlafen. Eigentlich tendiere ich eher dazu, das Ganze abzublasen.“

„Das weiß ich doch. Du musst auch nicht jetzt gleich ja sagen, aber ich würde mich wirklich freuen, wenn du mitmachst. Überlege es dir bitte!“

Bill zögerte einen Moment. „Okay, ich überlege es mir. Ich melde mich, egal wie ich mich entscheide.“

Bill überlegte hin und her, warum Ernest ihn unbedingt dabei haben wollte. Aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte keine Erklärung dafür finden. Sein leichter Autismus war ihm immer dann im Wege, wenn es darum ging, Menschen einzuschätzen. Nur so viel war ihm klar: Als Freund brauchte Ernest ihn nicht.

Nach zwei Tagen hatte Bill seine Entscheidung innerlich getroffen. Und wie es so seine Art war, wollte er sie auch gleich mitteilen, obwohl sein Verstand ihm sagte, dass er Ernest damit vor den Kopf stoßen würde. Wie erwartet, war Ernest mit der Entscheidung nicht einverstanden. Nach einem kurzen Geplänkel legte Bill dann wieder auf.

Eine Stunde später klingelte sein Handy erneut, diesmal mit unbekanntem Anrufer. Das war ungewöhnlich. Er hatte seine Nummer eigentlich nur an wenige herausgegeben, denen er vertraute, und die auch ihre Nummer nicht gesperrt hatten.

Er zögerte, aber die Neugier siegte auch bei ihm.

„Black?“

„Hallo Bill, hier ist Kathy.“ Bill wunderte sich, denn er konnte sich nicht erinnern, Kathy seine Nummer gegeben zu haben. Im gleichen Moment registrierte er aber auch, dass die gleichen Hintergrundgeräusche, wie vorhin beim Gespräch mit Ernest zu hören waren. Sie war also bei ihm.

„Hallo Kathy! Wieso hat dir Ernest meine Nummer gegeben?“

„Weil er deine Hilfe braucht, und du nicht mit ihm reden willst.“

„Wieso reden? Ich habe ihm nur meine Entscheidung mitgeteilt. Und jetzt schickt er dich wohl vor, um mich umzustimmen?“

„Ja, so ungefähr. Er hofft einfach, dass du mir wenigstens zuhörst und nicht gleich wieder auflegst. Ich bin ja schließlich nicht involviert.“

„Dann erkläre du mir doch mal, warum er ausgerechnet mich braucht!“

„Eigentlich könntest du das als Kompliment betrachten. Er braucht jemanden, der intellektuell mithalten kann und sich nicht durch irgendwelche Unwägbarkeiten im privaten Leben vom Ziel ablenken lässt. Und da ist keiner besser geeignet als du.“

„Und warum macht er es dann nicht alleine? Er gehört ja schließlich auch nicht zu den Geistesschwachen und hat mehr als genug Ehrgeiz.“

„Das stimmt zwar, aber zu zweit wäret ihr mindestens doppelt so schnell.“

„Ja, und?“

„Überleg doch mal! Der Professor hat seine Forschungen schon in China begonnen. Meinst du, die lassen das jetzt einfach liegen? Und außerdem: Was meinst du, warum er euch so ein fantastisches Angebot macht, das euch beide betrifft? Er will euch beide haben. Stell dir doch bloß mal vor, die Chinesen wären mit ihrer Forschung schneller am Ziel! Das bedeutet jahrelange Arbeit völlig umsonst.“

Bill wusste auf die Schnelle nicht, was er antworten sollte.

„Bill, bist du noch dran?“

„Ja! Aber ich fühle mich im Moment ein bisschen wie erpresst. Meine Entscheidung steht doch eigentlich fest. Warum sollte ich für Ernest etwas tun, was ich eigentlich im Inneren gar nicht will?“

„Weil er dein Freund ist?“

„Ich hatte in meinem ganzen Leben noch keine wirklichen Freunde, Kathy. Das macht zwar oft einsam, aber man bleibt eben auch unabhängig. Damit bin ich bisher ganz gut gefahren.“

„Mag ja sein, aber ich finde es trotzdem besser, wenn ihr das Thema zu zweit angeht.... Sag mal, was hältst du davon, wenn wir das Gespräch bei einem Kaffee in unserer Kneipe fortsetzen? Ich lade dich ein.“

Als Bill nicht sofort ablehnte, wusste sie, dass sie ihn an der Angel hatte. Jetzt musste sie nur noch ihren weiblichen Charme einsetzen, um ihn rum zu kriegen.

Das Gespräch beim Kaffee verlief dann auch ganz wie von Kathy erwartet. Bill konnte ihr keinen Wunsch abschlagen. Da er sich noch vor ein paar Tagen nicht auf den Kuss von ihr eingelassen hatte, verbuchte Kathy das als besonderen Erfolg für sich. Ihr war aber auch klar, dass sie mit seinen Gefühlen gespielt hatte. Sie spürte in dem Moment jedoch nicht, dass sie eigentlich Bill nicht aus ihrer Welt ausschließen, sondern ihn weiter in Ihrer Nähe haben wollte. Dabei hatte sie sich gefühlsmäßig längst auf Ernest festgelegt.

Und so trafen sich die beiden Männer wie vereinbart nach einer Woche wieder im Institut für Humangenetik der Uni. Professor Yen sprach zunächst über die Bedeutung der Telomere für die Teilungsfähigkeit von Zellen und den Alterungsprozess. Das war nicht wirklich neu für die Beiden. Erstaunter waren sie schon, dass solche einfachen Faktoren wie körperliche Aktivität, gesunde Ernährung und die Länge der Hyaluronsäure nachgewiesenermaßen Einfluss auf die Telomerase-Aktivität hatten. In China hatte der Professor die Möglichkeit erforscht, Schaltgene für die Expression von weiterführenden Genen zu suchen. Die beiden Jungmediziner sollten nun durch Experimente mit Ratten herausfinden, welche Schaltgene bzw. Schaltgen-Ketten für die Aktivität der Telomerase verantwortlich waren, die den Auf- und Abbau der Telomere steuerte. Der Aufbau und das Prinzip der Experimente waren schon entwickelt, jetzt ging es um die Mühen der Ebene, die praktische Durchführung. Eine enorme Fleißarbeit! Denn sie mussten die Gene nach dem Ursache-Wirkung-Prinzip suchen. Dazu mussten sie die Möglichkeiten der Nano-Biologie nutzen, um die durch die Gene definierten Proteine dreidimensional darzustellen. Ursache und Wirkung ließen sich so nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip zuordnen. Schon nach kurzer Zeit war klar, dass mit den bisherigen Computerprogrammen diese Arbeit viele Jahre dauern würde. Es gab einfach zu viele Angriffsstellen für mögliche Schaltgene. Also setzten sich die beiden Genies hin und entwickelten ein Programm, das nicht erst die Faltungen eines Proteins darstellen musste, sondern diese schon aus den Sequenzen der DNA ablesen sollte. Das erwies sich als äußerst schwierig, weil zwischen den Genen (der DNA) und den fertigen Proteinen ja noch die Botenstoffe (Messenger-RNA) lagen. Um die Forschung möglichst unter dem Radarschirm anderer Institute oder Länder zu halten, wollten Ernest und Bill das Programm ohne die Hilfe von IT-Spezialisten entwickeln, was ihnen dank Bills Fleiß und Konzentrationsfähigkeit bis tief in die Nacht auch gelang.Tatsächlich war dadurch der Erkenntnis-Zuwachs enorm, und zum Finden der Schaltgene waren jetzt keine Experimente mehr erforderlich, sondern nur noch für den Beweis der Wirksamkeit der gefundenen Schaltgene.

Hätte Bill geahnt, wie sich die deutlich höhere Effektivität auf die Zielsetzung der Forschung auswirkte, dann wären ihm wahrscheinlich die nachfolgenden Konflikte erspart geblieben. Ernest richtete seine Arbeit immer mehr darauf aus, durch die Steuerung von Schaltgenen seine Ratten praktisch unsterblich zu machen. Sollte ihm das gelingen, wäre es nur ein kleiner Schritt, die gleichen Untersuchungen am Menschen durchzuführen. Nur dass es hier mit den Bestätigungen durch Experimente nicht so einfach sein würde. Bill bereitete diese Vision, sich praktisch mit Gott auf eine Stufe zu stellen, mehr als nur Kopfschmerzen. Vergeblich versuchte er in mehrfachen Gesprächen, diese Ausdehnung des ursprünglichen Forschungsansatzes zu verhindern. Ernest war wie besessen und nicht zu bremsen.

Der Konflikt, den Bill mit sich trug, nahm immer größere Ausmaße an. Er musste für sich eine Entscheidung treffen, die er auch durchstehen konnte. Wie die auszusehen hatte, war ihm völlig klar. Aber obwohl er emotionsloses und nüchternes Denken gewohnt war, fiel es ihm schwer, Ernest diese Entscheidung mitzuteilen. Er wusste, dass er nicht einfach zu ersetzen wäre. Konnte es einen Zeitpunkt geben, an dem sein Rückzug aus dieser Forschung nicht das ganze Gebäude zum Einsturz bringen würde?

Diesen Zeitpunkt hielt Bill für gekommen, als das Computerprogramm weitgehend fehlerfrei lief. Professor Yen hatte die beiden wegen ihres Erfolges zu einem Glas Sekt in sein Büro eingeladen. Jetzt musste Bill Farbe bekennen, sonst wäre er wohl aus dieser Geschichte nie mehr raus gekommen. Es musste also raus. Und als es raus war, spürte Bill eine riesige Erleichterung. Erstaunt war er aber über die Wirkung seines angekündigten Abschieds. Ernest blieb fast ungerührt. Er hatte es wohl wegen der vielen Diskussionen in den letzten Wochen schon geahnt. Professor Yen aber, der es als Chinese ja gewöhnt war, seine Emotionen hinter einer lächelnden Fassade zu verstecken, entglitten total die Gesichtszüge. Aber er spürte wohl, dass die Entscheidung von Bill endgültig und lange durchdacht war und verzichtete darauf, ihn umstimmen zu wollen. Mit Mühe brachte er wenigstens noch gute Wünsche für sein weiteres berufliches Leben heraus.

Die persönlichen Kontakte wurden immer seltener, aus der jahrelangen Freundschaft entwickelte sich eine leise Feindschaft zwischen den beiden, an der auch Kathy nichts ändern konnte, obwohl es ihr innerlich ein bisschen weh tat, Bill zu verlieren.

Unsterblich

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