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Spielfeld 3


UNGEHINDERT NEU

Warum Organisationen nicht innovativ sind

Während eines Elternstammtisches – wir überengagierten Eltern treffen uns alle zwei Monate, mal im Sportlerheim, mal im Chinarestaurant – echauffieren wir uns wahlweise über die Unfähigkeit der Schule oder das gesamte bayerische Schulsystem. Nebenbei werden wir vom Elternsprecher auf den neuesten Stand gebracht. Dieses Mal benötigt der Förderverein Geld. Ein engagierter Jugendsozialarbeiter will den Schulhof neu gestalten – und das kostet. Klasse Sache, denken wir uns, doch dann erfahren wir den Hintergrund. In der (viel zu kurzen) großen Pause werden Kinder von anderen manchmal angerempelt, dabei fällt das Pausenbrot schon mal herunter. Jetzt wurde festgestellt, dass einige Kinder in der Pause spielen, die anderen wild herumrennen und die übrigen einfach in Ruhe essen wollen.

Wir fragen in die Runde, ob das nicht immer schon so war. Ja natürlich, bestätigen alle. Und die Kinder haben sich organisiert. Es gab Konflikte und Diskussionen, die Größeren haben auf die Kleineren Druck ausgeübt, und ab und zu musste auch die Pausenaufsicht einschreiten. Dennoch entstand eine Ordnung nach irgendwelchen – meist unbewussten – Entscheidungen und Abläufen. Aber genau darauf will der Jugendsozialarbeiter nicht mehr setzen. Er will ein formales System aufbauen und den Schulhof in drei Zonen einteilen: einen Spiel-, einen Bewegungs- und einen Ruhebereich. Vermutlich wäre dann alles organisiert. Und die Pausenaufsicht hätte ein klares und eindeutiges Instrumentarium an der Hand, um im Fall der »nicht zonengerechten Nutzung« angemessen zu verfahren. Das Beste daran: Diese Organisation hat man sich ohne den aufwendigen Prozess der Schülerbeteiligung ausgedacht – so ganz nach rationaler Erwachsenenlogik.

Zwei Organisationsphänomene werden sichtbar. Das eine ist die sich selbst organisierende Interaktion zwischen Menschen, die auf dem »unorganisierten« Schulhof entsteht, spontan und irgendwie. Diese Art der Organisation – in der Literatur als Gestaltungsprozess beschrieben – gab es schon immer. Menschen tun sich irgendwie zusammen, um etwas zu erreichen. Das zweite Phänomen kennen wir erst seit relativ kurzer Zeit in der heute dominanten Form. Organisation wird als Gestaltungsergebnis begriffen, das zu einem Unternehmen beziehungsweise einer Institution wird.39 Der Begriff »Organisation« leitet sich vom griechischen »organon« her, was so viel bedeutet wie »Werkzeug«, »Instrument« oder »Organ«.40 Primär bezog man es auf biologische Prozesse, die dann auch auf den Staat als Körper übertragen wurden. Erst mit der Französischen Revolution im Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert, einhergehend mit der Industrialisierung, wurde Organisation im heutigen Sinne verstanden. Und genau dieser strukturgebende Rahmen beschäftigt uns im Folgenden.

»Die Allgegenwart von Organisationen ist nicht der … Hauptgrund für ihre Bedeutung. … Vom Standpunkt des Sozialpsychologen aus interessieren wir uns für die Einflüsse, die aus seiner Umwelt auf das Individuum einwirken, und wie es auf diese Einflüsse reagiert. Für die meisten Menschen repräsentieren formale Organisationen einen Großteil ihrer Umwelt.« 41 Was die beiden »Urgesteine« der Organisationsforschung, James G. March und der Nobelpreisträger Herbert A. Simon, hier beschreiben, könnte mit anderen Worten so lauten: Der moderne Mensch – zumindest der industriell geprägte – wird bewusst oder unbewusst ständig mit Organisationen konfrontiert. Wir arbeiten, lernen und bilden uns in Organisationen. Ohne Organisationen, die unsere tägliche Versorgung sicherstellen, würden wir vermutlich nur sehr kurze Zeit überleben. Und selbst wenn wir in die Natur gehen oder unsere Freizeit gestalten – in Fitnessstudios, Vereinen, Vergnügungsparks oder Kulturzentren – ist alles organisiert! Nach und nach mischen sich Organisationen in Spiel, Freundschaft und sogar in Liebe ein. In virtuellen Formen der Kommunikation bestimmen Organisationen wie Ubisoft, Facebook oder LoveScout24, wie Menschen nach welchen Regeln zusammenfinden.

Noch nie war das Leben so »organisiert« wie heute.

Organisationen sind die prägendsten Systeme der Neuzeit, zumindest seit dem Beginn der Industrialisierung.42 Sie müssen einer Reihe von Aufgaben gerecht werden, bieten beispielsweise einen Arbeitsplatz, sind ein Stück Lebenswelt, oft aber auch Orte der Angst.43 Sie sollen Handlungen koordinieren, um Stabilität und Routine zu erzeugen.44 Organisationen sind ein nicht homogener, vielfältiger und von unterschiedlicher Viskosität geprägter Fluss von Materialien, Leuten, Geld, Zeit, Lösungen, Problemen und Entscheidungen.45 Menschen treten ihre Ressourcen an die Organisation ab und erwarten von dieser deren Koordination.46 Organisation ist somit mehr als nur Institution und Prozess. Sie ist »die Maschine, die umsetzt«.47 Organisationen vernetzen sich weltweit und zeigen eine Eigendynamik, mit der sie die Funktionssysteme der Gesellschaft durchsetzen.48

Eines muss uns klar sein: Ohne Organisation wäre heute vieles nicht möglich, was zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist.

Sie bringt uns zweifelsohne viel Fortschritt und erleichtert das Leben. Ihre Bedeutung erkennen wir oft erst dann, wenn sie nicht funktioniert. Allerdings muss uns in unserer durchorganisierten Welt auch bewusst sein, dass Organisation einiges, vieles, manchmal auch Entscheidendes verhindern kann.

Wir machen anlässlich der Vorbereitung eines Strategie-Workshops einen Firmenrundgang. In dem Werk werden Strukturen und Komponenten für den zivilen und militärischen Flugzeugbau gefertigt. Stolz zeigt man uns eine Halle, in der mit Verbundwerkstoffen Druckkalotten und Frachttore gefertigt werden. Nur wenige Hersteller sind in der Lage, mit dieser Technik wichtige Bauteile zu produzieren. Dass man hier diese Herstellungsmethode beherrscht, ist keine Selbstverständlichkeit. Durch die Verarbeitung von Verbundwerkstoffen können erhebliche Gewichtseinsparungen erzielt werden. Doch eigentlich hätte diese Kompetenz im Werk nicht vorhanden sein dürfen. Aufgrund der strategischen Ausrichtung von vor einigen Jahren – das Werk gehörte noch zu einem anderen Konzern – gab es die Weisung von ganz oben, sich nicht mit der CFK-Leichtbauweise (Kohlenstofffaserverbundstoffe) zu befassen. Wenn Innovation, dann sollte sie nicht an einem Produktionsstandort entstehen, sondern in den dafür vorgesehenen Abteilungen.

Einige mutige Ingenieure vor Ort widersetzten sich und taten das Verbotene. Sie und die Werksleitung sahen es als überlebenswichtig für die Firma und den Standort an, in Zukunft mehr als nur Aluminium und Titan im Flugzeugbau zu verarbeiten. Das Heikle daran: Von diesem Versuch durften die Manager des Mutterkonzerns lange Zeit nichts wissen. Es wurde deshalb viel Energie in die Geheimhaltung gesteckt. Keine leichte Aufgabe, da der Platz am Standort sehr begrenzt war. Und so mussten Besuchergruppen geschickt um die »verbotene« Halle herumgeführt, Ausreden gefunden werden. Erst viel später, als man das innovative Produktionsverfahren beherrschte und sich zutraute, an diversen Ausschreibungen teilzunehmen, wurde das neue Können im Konzern publik gemacht.

Heute ist man sehr stolz darauf, dass unterschiedlichste Flugzeugstrukturen aus CFK im Werk gefertigt werden können. Gerade diese Technologie präsentiert die Konzernleitung gerne bei Politikerbesuchen. Ohne Zweifel ist für das Unternehmen daraus ein echter Wettbewerbsvorteil entstanden.

Vor etwa 100 Jahren übertrug Joseph Schumpeter, der bekannte österreichische Ökonom, den lateinischen Begriff »innovare« in den wirtschaftlichen Kontext. Er meinte mit Erneuerung anfänglich »schöpferisches Gestalten«, später »kreative Zerstörung«.49 Zum damaligen Zeitpunkt wurde darunter das Hervorbringen neuer Kombinationen von Produktionsfaktoren verstanden.50 Im Fokus standen zunächst die Prozess- und nicht die Produktinnovationen.

Organisation ist aber alles andere als ein System, das die schöpferische Gestaltung von Neuartigem oder die kreative Zerstörung mit nachfolgender umfassender Erneuerung ermöglicht. Im Gegenteil: Verlässlichkeit und Wiederholbarkeit sind das Entscheidende der Organisation.51 In ihr dominieren Rationalität, vernunftgeleitetes und zielgerichtetes Denken und Handeln. Sie will maximale Sicherheit vermitteln und kann deshalb die mit Innovation zwingend verbundene Ungewissheit nicht zulassen. Und egal, ob man eine Organisation als soziales oder eher als instrumentelles Gebilde versteht, im Kern geht es um ein Setting von Regeln, denen sich die Organisationsmitglieder unterordnen sollen.

Organisation muss sich immer wieder dafür rechtfertigen, dass etwas getan wird oder eben nicht.

Wir treffen Ulf Pillkahn zu einem Interview an der Universität in Neubiberg. Er ist zu diesem Zeitpunkt Key Expert für Strategy, Innovation und Foresight der Siemens AG, heute lehrt er als Professor an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management Innovations- und Wissensmanagement.

Musterbrecher: In einem Artikel haben Sie Innovationsmanagement als Widerspruch in sich bezeichnet. Warum finden wir diese Funktion dennoch in so vielen Organisationen?

Pillkahn: Bei Innovation reden wir oftmals von dem »fuzzy front end«. Das heißt: Innovationen sind vielschichtig, komplex, kompliziert, diffus. Es treten Fragestellungen auf, die nicht so einfach zu entscheiden sind, wie man sich das in Organisationen wünschen würde. In diesem Zusammenhang spreche ich im Austausch mit Managern gerne von »Fischstäbchen-Innovationen«: Wir haben eine unendliche Vielfalt an essbarem Fisch. Meist mögen Kinder aber nur Fischstäbchen. Die sind immer gleich groß und schmecken immer gleich. Wenn da so ein Berg Fisch liegt, dann ist das eklig. Der Vergleich geht in die Richtung meiner Beobachtungen der letzten Jahre. Auch Management liebt im übertragenen Sinne Fischstäbchen. Anstatt zu versuchen, Innovation zu verstehen, ist man bemüht, die Instrumente des Innovationsmanagements zu schärfen, Innovation in »panierte Kästchenform« zu bringen.

Musterbrecher: Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?

Pillkahn: Nehmen wir den meines Erachtens innovativsten Bereich bei Siemens, den Healthcare-Sektor. Wenn wir dort nach dem Innovationsprozess fragen, teilt man uns mit, dass man natürlich einen solchen habe. Schauen wir uns allerdings die tatsächlichen Innovationen genauer an, stellen wir fest: Null Prozent der Innovationen kommen aus diesem Prozess. Alles Neue ist komplett am Innovationsprozess vorbei entstanden.

Musterbrecher: Das hieße ja, dass man nicht wegen, sondern trotz dieses Prozesses innovativ ist?

Pillkahn: Ja, man könnte auch sagen, er stört nicht. Die Schlussfolgerung der Manager ist aber nicht, den Innovationsprozess infrage zu stellen. Vielmehr durchleuchtet man ihn auf Fehler hin und möchte ihn optimieren. Das Management ist einerseits über die Innovationskraft erfreut, jedoch auch gleichzeitig nervös; denn dass da irgendwelche Physiker oder Mediziner irgendwas ausprobieren, das geht nicht. Es fehlt die Steuergröße. Solange es trotzdem wie bei Healthcare funktioniert, ist das ja auch nicht weiter schlimm. Problematisch wird es bei nicht so innovativen Bereichen. Die haben ein richtiges Problem.

Musterbrecher: Man könnte zu dem Schluss kommen, dass der Prozess noch nicht richtig läuft. Kann er sogar Innovation verhindern?

Pillkahn: Ja, das habe ich in meiner Forschung auch herausgearbeitet. Die wirklich großen, radikalen Innovationen werden ausgesiebt. Der Prozess ist die Verhinderung radikaler Neuerungen. Für eine Innovation benötigt man erst einmal eine Vision und eine gewisse Besessenheit. Auch wenn ich das Beispiel Apple gar nicht mag, so ist es doch sehr interessant. Ich bin mir sicher, dass es keinen Innovationsprozess bei Apple gibt, in dem man sich in großen Meetings zusammensetzt und einen Prozess abarbeitet. Das ist für mich undenkbar. Geht nicht! Steve Jobs war besessen von einer Idee und trieb sie durch die Organisation. Er hatte inhaltlich verstanden, worum es geht, und er hatte Vision und Power. Seit es die Biografie von Steve Jobs gibt, haben ihn ja viele Manager als Vorbild. Prinzipiell ja sehr lobenswert, aber ich beobachte auch, dass die fehlende Genialität einfach nur durch cholerisches Verhalten ausgeglichen wird. Das ist zu wenig!

Jetzt stellen Sie sich eine andere Organisation vor, in der an der gleichen Stelle ein Verwaltungsbürokrat mit riesigen Budgets sitzt. Und er sagt, damit wolle er etwas Neues machen, etwas Tolles. Das Problem: Er hat – anders als Steve Jobs – keine eigene Idee und häufig nicht einmal einen Bezug zum Thema. Und dennoch muss er sich entscheiden, ob es sich lohnt, Geld für irgendeine innovative Idee zur Verfügung zu stellen. Dieser Prozess muss effizient sein, denn als guter Manager möchte man ja keine Flops produzieren. Damit klammert man aber auch alles aus, was Innovation auszeichnet: Ungewissheit, Ergebnisoffenheit und auch die ganz großen Ideen.

Siemens hatte zum Beispiel knapp zehn Jahre vor dem iPad von Apple das SIMpad entwickelt. Für damalige Verhältnisse war es sehr innovativ und ausgereift: ein Touchscreen, noch mit Stift zu bedienen. Der 200-MHz-Prozessor war so ausgelegt, dass Office-Anwendungen liefen. Infrarot- und serielle Schnittstellen waren vorhanden. Und doch wurde die Produktion nach zwei bis drei Jahren eingestellt. Heute verdient Apple mit dem iPad pro Quartal so viel wie Siemens mit der ganzen Sparte Healthcare im Jahr. Damals fehlte ein Manager, der von diesem SIMpad begeistert war. Dem Produkt wurde das notwendige Budget verweigert, um es wirklich groß rauszubringen.

Musterbrecher: Was wäre die Alternative für den Manager gewesen?

Pillkahn: Er hätte sein Budget an seine Mitarbeiter geben und sagen können: »Ich vertraue euch, dass ihr etwas Neues damit macht!« Aber das passiert leider nicht.

Musterbrecher: Eigentlich beschreiben Sie das, was Google mit seinen 20 Prozent Kreativzeit macht. Wo Entwickler ein Zeitbudget bekommen und einfach etwas daraus machen können. Dabei ist sehr viel Neues entstanden. Warum gewähren so wenige Unternehmen Kreativzeiten?

Pillkahn: Es scheitert am Anspruch der Manager, alles im Griff zu haben. Macht haben bedeutet Verantwortung haben. Und man muss Macht abgeben, wenn man Budgets zur freien Verfügung stellt.

Musterbrecher: Warum fehlt der Mut, diese Macht abzugeben?

Pillkahn: Das wiederum hängt mit dem Effizienzdenken in Unternehmen zusammen. Organisationen sind in Bezug auf Wissensschöpfung völlig blank. Der gesamte Unternehmenserfolg baut auf der Wertschöpfung auf. Wissen – so glaubt man – entsteht nebenbei. Bei einer bahnbrechenden Idee bekommt man als Anerkennung vielleicht ein iPad geschenkt – absolut lächerlich. Wenn man andererseits die finanziellen Zielvorgaben erfüllt, dann sind die Incentivierungen in einer ganz anderen Dimension. Wissensschöpfung wird nicht wirklich belohnt. Es gibt bei uns im Haus aber auch Beispiele von Leuten, die Ideen mutig durchgesetzt haben. Dieser Prozess kann allerdings sehr anstrengend sein.

Musterbrecher: Was tun Sie als Key Expert, der das alles weiß, für Innovation? Suchen Sie sich Bereiche, die Sie gezielt unterstützen können?

Pillkahn: Eigentlich im Gegenteil. Zuerst einmal muss man sich von der Idee verabschieden, andere beglücken zu können. Das geht nicht. Wir arbeiten nur mit jenen zusammen, die unsere Unterstützung wollen.

Musterbrecher: Angenommen, man sucht Ihre Hilfe. Müssen Sie sich dann an den Prozess halten?

Pillkahn: Wir machen da nicht mit. Im Moment versuchen wir, Ideen schnell in die Organisation zu tragen und ohne lange Planung umzusetzen. Prototypen bauen. Ausprobieren. Das kennen wir ja mittlerweile unter dem Begriff »Design Thinking«.

Organisationen erzeugen keine Innovationen, sondern sorgen durch »Fischstäbchendenken« für Effizienz.

Darum wird alles ignoriert, was diese Logik bedroht: das wirklich Neue, die faktische Unklarheit, das mutige Ausprobieren, das unkontrollierte Zulassen. Doch genau diese scheinbaren Bedrohungen sind es, die Innovation überhaupt ausmachen. »Damit ist jeder, der ernsthafte Innovation betreibt, ein Außenseiter, jemand, den man nicht besonders gerne sieht, weil er stört«, so der renommierte Journalist Wolf Lotter.

Organisation klassischer Prägung verhindert also fatalerweise genau das, was sie für ihre Zukunftsfähigkeit benötigt – nämlich Innovation. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass im Kontext von Organisationen tagtäglich Innovation entsteht – inzwischen auch mithilfe von Design Thinking, dem von Ulf Pillkahn am Ende des Interviews genannten Ansatz. Dies ist mit Sicherheit eine kluge Methode. Design Thinker würden sogar sagen, dass es hier um weit mehr geht als um eine Methode. Aus ihrer Sicht ist es eine Denkhaltung,52 die aus dem Wechsel zwischen Öffnung und Fokussierung, Verlangsamung und Beschleunigung, Vielfalt und Einheit ihre Kraft zieht. Das schnelle Prototyping und konkrete Testen ist ein weitaus besseres Vorgehen, als es klassische Stage-Gate-Modelle und Wasserfallplanung im Rahmen des Innovationsmanagements je sein können. Leider bleibt Design Thinking in vielen Organisationen ein nettes Spiel auf der Vorderbühne, dem meist nur applaudiert wird, um mit der Zustimmung modernes Denken zu signalisieren. Doch die Machtverhältnisse sind klar: Organisationen und ihre Erfüllungsgehilfen im Management versuchen, das Neue zu verhindern.

Aus diesem Grund darf es auch nicht verwundern, dass ein nicht unerheblicher Teil der wirklichen Neuerungen aus fremden Branchen, unorganisierten Garagenfirmen oder von Individuen stammt – und oft einfach durch Zufall entsteht.

Eddie Obeng, Gründer einer der ersten virtuellen Business Schools weltweit, bemängelt, dass geregelte Abläufe mit klaren Hierarchie- und Entscheidungsstrukturen keine Zufälle mehr zuließen. Statt sich das Überraschende zu »gönnen«, investiere man jahrelang sehr viel Energie in Voraussagen, die im Moment der Veröffentlichung bereits veraltet seien.53 Ulf Pillkahn geht noch ein Stück weiter. Er will das Zufällige wieder aktivieren und schlägt vor, Innovationen per Losverfahren voranzutreiben. Man (er)spare sich damit das sinnlose Prozedere der Chancenabschätzung nach der klassischen, ein klares Ergebnis suggerierenden Projektlogik.54 Kein Entscheider, kein Umsetzer und keine Ideengeberin müssen sich diesbezüglich für die Arbeit an einem neuen Thema, für die eingesetzte Zeit oder für das Scheitern rechtfertigen. Denn alleine der Zufall entscheidet darüber, was weiterverfolgt wird.

Einen rechtfertigungsfreien Raum schaffen sich Menschen auch, wenn sie sich außerhalb des Unternehmens – oft in der Freizeit – vernetzen und mithilfe virtueller Formen der Zusammenarbeit an der kreativen Lösung schwieriger Probleme tüfteln. InnoCentive 55 ist eine solche Plattform, auf der Organisationen Probleme platzieren können, die andere dann für sie lösen.56

Innovationsmanager können mit ihren Systemen und Methoden nicht das leisten, was sie leisten wollen: nämlich das Neue hervorbringen.

Das muss noch nicht einmal von Nachteil sein, kann dadurch doch verhindert werden, dass absurde und sinnlose Ideen umgesetzt werden. Die Menschheit hat nicht auf jede Produktinnovation, jedes neue Werbekonzept oder jeden zusätzlichen Service gewartet. Das Neue ist nicht automatisch gut, nur weil es neu ist – oder wie James March es in einem Interview formuliert: »Die meisten neuen Ideen sind schlecht!« 57 Unter diesem Aspekt erhält Innovationsmanagement eine Rolle, die ihm im Drehbuch nie zugedacht war – die Rolle des Ideennichtverwerters.

Vor diesem Hintergrund machen Menschen in Organisationen zwangsläufig widersprüchliche Erfahrungen. Einerseits werden sie mit immer ausgefeilteren Methoden in Richtung Ideenverhinderung, Sicherheit und Stabilität getrimmt, andererseits müssen sie permanent Appelle wie »Seid innovativ!«, »Verändert euch!« oder »Denkt out of the box!« ertragen. Eine paradoxe Situation. Man könnte resignieren. Man könnte aber auch die Rolle der Führung überdenken.

Organisationen entstehen, weil Menschen mit praktischen Paradoxien umgehen müssen.

Genauer: Eine praktische Paradoxie entsteht dadurch, dass ein Einzelner vor der Wahl steht, entweder etwas zu produzieren oder etwas zu liefern. Beides zusammen zur selben Zeit ist nahezu unmöglich. Der Einzelne löst dieses Problem durch die Trennung von Raum und Zeit. Indem er zuerst produziert und dann liefert. Wenn die Raum-Zeit-Trennung durch Wachstum unmöglich wird, entsteht eine Organisation aus Teilsystemen mit unterschiedlichen Aufgaben. Dies geschieht in der Hoffnung, dass diese Teilsysteme in sich widerspruchsfrei agieren können – zum Beispiel die Produktion und der Vertrieb. Da das gesamte Gebilde in der Realität jedoch ganz und gar nicht widerspruchsfrei ist, bilden sich zur Koordination der einzelnen Einheiten und Untereinheiten Hierarchien, die im Konfliktfall entscheiden. Diese Hierarchien findet man dann einerseits in Organigrammen, andererseits in den vor- und nachgelagerten Abläufen. Von außen sehen wir ein großes Ganzes, das wir als Unternehmen oder Verwaltung wahrnehmen. Neuerungen auf der Struktur- oder Prozessebene führen zu einem Konfliktfall für dieses Ganze. Soll ein neues Produkt hergestellt werden, sind davon die Beschaffungs-, Produktions- und Vertriebsprozesse betroffen. Geht es um eine neue Organisationsform, entfallen möglicherweise Hierarchieebenen. Und wenn neue Märkte bearbeitet werden sollen, müssen neue Teileinheiten aufgebaut oder integriert werden.

Zur Handhabung dieser Konflikte schlägt Fritz B. Simon vor, die Rolle der Führung mit dem Fühlen in psychischen Systemen in Verbindung zu bringen.58 Gefühle entscheiden letztlich, wie wir entscheiden. Die Neurobiologie zeigt, dass jede rationale Überlegung in Einklang mit unserem emotionalen Erfahrungsgedächtnis stehen muss, damit sie sich durchsetzen kann. Vereinfacht könnten wir sagen, dass das Gefühl bei jeder Entscheidung das erste und das letzte Wort hat und dass das Bewusstsein sich zu Unrecht für den Alleinentscheider hält. In Wirklichkeit findet im Gehirn ein Wechselspiel zwischen den unterschiedlichsten Instanzen statt.59 Fühlen, so Simon, ermögliche es dem Individuum, schnell zu handeln, grobe Bewertungen vorzunehmen, Leitplanken zu definieren. Und das besonders dann, wenn logisch prinzipiell nicht entscheidbare Situationen vorliegen, wenn es sich also um eine Paradoxie handelt.

Führung sollte sich als das »Fühlen« in der Organisation verstehen.

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