Читать книгу Einführung in die Literatur der Wiener Moderne - Dominik Orth - Страница 11
2. Autoren, Diskurse und Schreibweisen
ОглавлениеSozialkulturelle Vernetzung
Spielt bei der Erforschung der Wiener Moderne als zentrale Strömung der literarischen Moderne schlechthin der Aspekt der sozialkulturellen Vernetzung eine zentrale Rolle, so gilt dies auch für Forschungsarbeiten, die sich dezidiert mit der Schriftsteller-Gruppe Jung-Wien und ihren Hauptakteuren beschäftigen. Symptomatisch ist hier Gotthart Wunbergs Aufsatz Wiener Perspektiven im Werk von Schnitzler, Hofmannsthal und Freud (Wunberg 2001, 168–175), der nicht nur den Einfluss des Wiener Kulturlebens auf die Texte der Autoren, sondern darüber hinaus die zahlreichen diskursiven Überschneidungen zwischen den unterschiedlichen Protagonisten der Wiener Avantgarde erläutert: Die Textanalyse ist – so ließe sich aus der Vorgehensweise Wunbergs schlussfolgern – stets an das kreative Milieu gekoppelt, aus dem heraus der Text entstanden ist.
Auch das jüngst erschienene Schnitzler-Handbuch (Jürgensen/Scheffel/Lukas 2014) trägt dieser Einsicht prinzipiell Rechnung, denn einführend werden in einem umfassenden Kapitel („Kontexte: Einflüsse, Kontakte, Diskurse“) die Beziehungen Schnitzlers zu seinen Schriftsteller-Kollegen Hofmannsthal, Beer-Hofmann, Bahr und Altenberg beschrieben sowie die Beeinflussung des Schriftstellers durch psychologische, soziologische und anthropologische Diskurse herausgestellt, die das Wiener Kulturleben um 1900 insgesamt geprägt haben. Ganz ähnlich zeigt auch die Studie Richard Beer-Hofmann und die Wiener Moderne (Scherer 1993) die Relevanz der gesamten (nicht nur literarischen) Strömung für die Erschließung des Autorenwerks: Obgleich es der Studie primär um die Literatur Richard Beer-Hofmanns geht und eine systematische Kontextualisierung erst im dritten Teil der Monografie erfolgt, verdeutlicht das Buch schon im Titel, dass die zentralen Diskurse bei Beer-Hofmann zeit-, orts- und gruppenspezifisch geprägt sind. In ihnen bildet sich, so zeigt Scherer, ein Krisenbewusstsein ab, wie es auch den politischen und philosophischen Diskurs im Wien der Jahrhundertwende bestimmt hat. Vergleichbar verfährt Jacques Le Rider in seiner Monografie Arthur Schnitzler oder Die Wiener Belle Époque (Le Rider 2008).
Primärtexte
Für die Forschung unerlässlich sind die zahlreichen Editionsprojekte, die zum Teil noch nicht abgeschlossen sind. In gründlich edierten Ausgaben wurden und werden die Primärtexte einiger zentraler Autoren zugänglich gemacht. So erscheint seit 1975 die kritische Ausgabe sämtlicher Schriften Hugo von Hofmannsthals (Hofmannsthal SW). In der umfassend kommentierten Edition sind verschiedene Textversionen und -varianten, Erläuterungen, Hinweise zur Entstehung und zu Quellen sowie Zeugnisse von Hofmannsthal und seinem Umfeld im Kontext der jeweiligen Werke zusammengetragen. Komplizierter verhält sich die Zugänglichkeit zu zuverlässigen Textausgaben bei Arthur Schnitzler, dessen Werke erst seit wenigen Jahren in unterschiedlichen Editionsprojekten literaturwissenschaftlich adäquat erschlossen werden. So wird an der Universität Wien seit 2010 unter der Leitung von Konstanze Fliedl das Frühwerk Schnitzlers in einer historischkritischen Ausgabe herausgegeben. Einige Bände, etwa zu Liebelei, Sterben oder Leutnant Gustl liegen bereits vor (Schnitzler HKA). Im Rahmen eines Kooperations-Projekts der Bergischen Universität Wuppertal und verschiedener Universitäten in Großbritannien (Cambridge, London, Bristol) wird unter der Federführung von Wolfgang Lukas, Michael Scheffel und Andrew Webber eine digitale historisch-kritische Edition der Werke von 1905 bis zu Schnitzlers Tod im Jahr 1931 erarbeitet. Im Falle Hermann Bahrs liegt eine kritische Ausgabe sowohl in Buchform (Bahr KS) als auch digital vor (http://www.univie.ac.at/bahr/). Die digitale Plattform des von Claus Pias verantworteten Projekts bietet, neben den wichtigsten Schriften Bahrs, Informationen zu seinem Leben und zu Forschungsprojekten sowie ein umfassendes Verzeichnis der über 4000 Texte des Vermittlers der Wiener Moderne. Darüber hinaus sind einige Quellensammlungen verfügbar, für die Gotthart Wunberg als Herausgeber verantwortlich zeichnet (Wunberg 1976, Wunberg 1981, Wunberg/Dietrich 1998). In diesen Bänden sind vor allem theoretische, kulturkritische oder literaturpolitische Texte oft auszugsweise versammelt. Durch Kontextualisierungen und Kommentare gewähren diese Bände daher sowohl einen Einblick in die Publikationsvielfalt dieser Zeit als auch in die thematischen Schwerpunkte.
Die ‚Modernität‘ der Wiener Moderne wurde gemeinhin aus ihren Themen beziehungsweise Diskursen sowie den innovativen Formen abgeleitet, die das spezifisch moderne Bewusstsein zur Abbildung bringen.
Krise des Subjekts
Die zentrale Kategorie für die Literatur der Wiener Moderne lässt sich aus der Forschung als diejenige des (krisenhaften) Subjekts identifizieren. In dieser Hinsicht einschlägig sind die Monografien Empiriokritizismus und Impressionismus von Manfred Diersch (Diersch 1973) und Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität von Jacques Le Rider (Le Rider 1990). Diersch beleuchtet den Einfluss der Erkenntnistheorie des Philosophen Ernst Mach, der das Ich als „unrettbar“ deklarierte und damit ein zentrales Schlagwort für die Krise des Subjekts im ausgehenden 19. Jahrhundert formulierte, auf die (kunst)philosophischen Überlegungen Hermann Bahrs und die literarische Produktion der Zeit, um schließlich die Selbstentfremdung als Lebenserfahrung zu skizzieren. Le Rider zeichnet zunächst die allgemeinen Identitätskrisen nach, um daraufhin die Krisen männlicher, weiblicher und jüdischer Identität zu reflektieren. Am Beispiel Arthur Schnitzlers zeigt Wolfgang Lukas in seiner Dissertation Das Selbst und das Fremde die Auseinandersetzung in dessen Werk mit Epochale[n] Lebenskrisen und ihre[r] Lösung (Lukas 1996) auf. Ebenfalls auf das Werk Schnitzlers beziehen sich Rolf-Peter Janz und Klaus Laermann, die anhand seiner Texte eine Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de siècle und dessen Krisen liefern (Janz/Laermann 1977).
Psychoanalyse
Über die Verzahnung von auf die Darstellung von „Seelenstände[n]“ (so der Untertitel von Bahrs Roman Die gute Schule) zielender Literatur und Freuds revolutionären Auseinandersetzungen mit dem Inneren des Menschen gibt Michael Worbs in seiner Dissertation über Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende (Worbs 1983) Aufschluss. Er setzt sich ausführlich mit der vermeintlichen gegenseitigen Beeinflussung von Schnitzlers Werken und Freuds Theorien auseinander und zeigt dabei auf, dass es sich vielmehr um parallel verlaufende Entwicklungen handelte. Darüber hinaus stellt Worbs die Bedeutung der Psychoanalyse für das Werk Hugo von Hofmannsthals heraus (vgl. dazu auch Urban 1978). In einem erweiterten literaturhistorischen Kontext setzt sich zudem Horst Thomés Habilitation Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘ mit Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914) auseinander (vgl. Thomé 1993). Ein von Thomas Anz verantwortetes Forschungsprojekt zum Thema „Psychoanalyse in der literarischen Moderne“ hat ebenfalls wichtige Ergebnisse zu diesem Themenkomplex beigesteuert (vgl. Anz 1997, Anz/Pfohlmann 2006; vgl. auch Anz 1999).
Sexualität
Ein weiteres zentrales Thema in der Literatur der Wiener Moderne ist die Sexualität und damit einhergehend die Tradierung und/oder Revision traditioneller Geschlechterkonzepte. Die Studie Lustvolles Verschweigen und Enthüllen. Eine Poetik der Darstellung sexuellen Handelns in der Literatur der Wiener Moderne (Schwarz 2012) setzt sich dabei mit unterschiedlichen Formen von Inszenierungen der Sexualität auseinander, nicht ohne auf die stereotypen Darstellungen (und deren Variationen) von Frauen als femme fatale oder femme fragile einzugehen. In diesem Kontext ist außerdem Ariane Thomallas Studie Die ‚femme fragile‘. Ein literarischer Frauentypus der Jahrhundertwende (Thomalla 1972) zu nennen, in der unter anderem Texte von Peter Altenberg und Richard Beer-Hofmann gedeutet werden. Eine Typologie von Weiblichkeitsmodellen am Beispiel von Schnitzlers Werk hat Barbara Gutt mit ihrer Arbeit zu Emanzipation bei Arthur Schnitzler (Gutt 1978) vorgelegt.