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I. Epochenverortung 1. Politik und Gesellschaft in Österreich um 1900

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Die österreichische Literatur der Jahrhundertwende kann als besonders bedeutsam für die Literatur der Moderne gelten. Trotz – oder gerade wegen – zahlreicher politischer und gesellschaftlicher Krisen, gilt die Zeit um 1900 in Wien als eine Zeit der kulturellen Blüte, in der innovative Texte verfasst wurden, die inhaltlich und formal auf die Herausforderungen tiefgreifender Veränderungen reagierten.

Krise und Ende der Habsburgermonarchie

Um den spezifischen Entstehungskontext der Literatur dieser Zeit nachvollziehen zu können, ist ein Blick auf die allgemeine Krisensituation in Österreich um 1900 unabdingbar. Die Literatur dieser Zeit entsteht vor dem Hintergrund des Niedergangs der Habsburgermonarchie, die jahrhundertelang an den Geschicken Europas beteiligt war. Bereits seit 1848 herrschte Kaiser Franz Joseph, dessen Regierungszeit erst mit seinem Tod im Jahre 1916 nach 68 zumeist krisenbehafteten Jahren endete. Nach der militärischen Niederlage gegen Preußen 1866 sowie der daraus folgenden Auflösung des Deutschen Bundes entstand 1867 die sogenannte ‚kaiserliche und königliche‘ (k.u.k.) Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Franz Joseph verknüpfte als doppeltes Staatsoberhaupt – er war zugleich Kaiser von Österreich und König von Ungarn – die beiden größtenteils unabhängigen Staaten. Eine besondere Herausforderung seiner Herrschaft bestand in den zahlreichen politischen und kulturellen Differenzen, die aufgrund der Vielzahl an Völkern, Sprachen und Religionen, welche die Donaumonarchie prägten, zu berücksichtigen waren (vgl. Vocelka 2010; Haupt/Würffel 2008a).

Zur krisenhaften Gesamtstimmung in Österreich-Ungarn trugen zahlreiche politische Entwicklungen und historische Begebenheiten bei. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand in vielen Regionen des Herrschaftsgebiets der Wunsch nach einem eigenen Nationalstaat. Franz Joseph jedoch wollte sein Reich vergrößern, um seiner Monarchie wieder den Status einer wahrhaftigen Großmacht zukommen zu lassen. Im Zuge einer Neuordnung des Balkans erhielt er 1878 von den europäischen Mächten die Verwaltungsmacht über die zum Osmanischen Reich gehörenden Regionen Bosnien und Herzegowina zugesprochen, wodurch jedoch sowohl das Verhältnis zu Russland beeinträchtigt wurde, das sich diese Regionen einverleiben wollte, als auch zum prorussischen Serbien. Im Zuge von Revolutionswirren im Osmanischen Reich annektierte Franz Joseph im Jahr 1908 schließlich die von ihm verwalteten Provinzen, was von den europäischen Mächten nicht goutiert wurde. Nur das Deutsche Reich stellte sich an die Seite Österreich-Ungarns. Als 1914 in Bosnien der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand dem Attentat eines Serben zum Opfer fiel, begann kurz darauf mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien der Erste Weltkrieg, der schließlich das Ende der Habsburgermonarchie bedeuten sollte. Nach Franz Josephs Tod übernahm 1916 sein Großneffe Karl die Regierungsgeschäfte. Er sollte nicht ahnen, dass er der letzte Kaiser von Österreich sein würde. Trotz seiner Friedensbemühungen konnte er den Untergang der Monarchie nicht aufhalten. Österreich wurde nach der Niederlage im Krieg und zahlreichen Abspaltungen zu einer kleinstaatlichen Republik. Karl wurde ins Exil gezwungen, die Angehörigen des Habsburgergeschlechts, das über Jahrhunderte hinweg an der Macht beteiligt war, all ihrer Rechte und Titel enthoben.

Antisemitismus

Neben diesem außenpolitischen Niedergang entwickelte sich auch innerhalb des Staates eine zunehmend feindliche Atmosphäre, die sich insbesondere gegen den jüdischen Bevölkerungsanteil richtete (vgl. Beller 1989). Begünstigt durch eine kurze Phase liberaler Reformen in den 1860er Jahren hatten sich in der Donaumonarchie, und insbesondere in Wien, zahlreiche Juden angesiedelt, die das intellektuelle und kulturelle Leben der Stadt entscheidend und nachhaltig bereicherten (vgl. Lohmann 2006, 2f.): „[O]hne Juden“, so der Historiker Peter Pulzer, „wäre die Wiener Kultur um und nach 1900 nicht denkbar“. (Pulzer 1986, 35) Doch populistische Antisemiten wie Georg von Schönerer und Karl Lueger hetzten große Teile der Bevölkerung gegen die Juden auf. Bedingt durch das antisemitische Klima entwickelte Theodor Herzl schließlich sein zionistisches Projekt eines eigenen Staates für die Juden (vgl. Schorske 1982, 111–168).

Metropole Wien

Insbesondere in Wien wurde der Antisemitismus salonfähig, was nicht zuletzt daran lag, dass Lueger zum Bürgermeister gewählt wurde. Die Hauptstadt des Kaisertums Österreich hatte sich innerhalb kürzester Zeit zu einer Metropole entwickelt. Lebten 1857 noch knapp unter 500.000 Menschen in Wien, zählte die Stadt 1910 bereits über 2 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner (vgl. Janik 1986, 47). Wien hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitere einschneidende Veränderungen durchlebt: Mit den zwischen 1859 und 1872 in unterschiedlichen architektonischen Stilen errichteten Prachtbauten der Wiener Ringstraße hatte sich beispielsweise auch das Stadtbild umfassend gewandelt (vgl. Wunberg 1998, 9–11).

Kulturelle Blüte

„Sicherlich im Widerspruch zu den Verfallserscheinungen der Gesellschaft und des Staates in der Habsburgermonarchie um 1900 steht die kulturelle Blüte dieses Landes“ urteilt der Historiker Karl Vocelka (2010, 78). Aufgrund verschiedener günstiger Faktoren herrschte im Wien der Jahrhundertwende tatsächlich ein ausgeprägtes „kreatives Milieu“ (Janik 1986): Wien war die größte Stadt des Reiches, Hauptstadt und Verwaltungssitz, verfügte über sehr gute Bildungsstätten, stand im ständigen Austausch mit anderen kulturellen Zentren und konnte in den Bereichen Medizin, Musik und Theater auf Traditionen aufbauen (vgl. ebd.). Darüber hinaus führte die politische Krisenzeit nicht nur zur Abwendung der Bürgerinnen und Bürger von der Politik, sondern zu einer gleichzeitigen Hinwendung zur Kultur: „Das Leben der Kunst wurde ein Surrogat für das Handeln.“ (Schorske 1982, 8) All diese Entwicklungen begünstigten die enorme kulturelle Vielfalt in Wien um 1900 (vgl. Kap. III.1) und führten in zahlreichen Bereichen zur Entstehung einer spezifischen Moderne, die insbesondere auf dem Gebiet der Literatur eine Charakteristik erreichte, die im Kontext der zahlreichen Strömungen zur Zeit der Jahrhundertwende eine eigene Begrifflichkeit rechtfertigt: die Wiener Moderne.

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