Читать книгу Anja und andere - Dominik Riedo - Страница 7
Die Wahre
ОглавлениеSie weinte und schluchzte und schrie gar in jener Nacht in Genf. Ihre Kameradinnen und Kameraden wussten nicht mehr, was sie tun sollten. Sie richteten sich auf aus ihrem Schlaf, standen auf, umringten ihr Bett und beratschlagten sich. «Ich kann das nicht mehr mit anhören», sagte Pitsch dann – und stiess sie sachte an, bis sie erwachte, aufschreckend zwar aus ihrem Schlaf, aber bald geborgen umgeben von ihren Klassenkameraden, statt in der Gewalt des Einen, jenes … Drei Jahre war es her, seit sie ertragen musste, was sie nicht ertragen wollte. Es gefiel ihr zwar, wahrgenommen zu werden, umworben. Ihre Zähne hatten ihr noch nie gefallen; sie waren zu weit auseinander. Aber deswegen musste noch keiner meinen, sie wollte auch gleich mit ihm im Rossstall … Dabei war sie freiwillig dort, alle ihre Kameradinnen und Kameraden genossen die Ferien, zuhause, in den Ferienlagern. Sie aber wollte sich bilden, wollte besser Französisch reden lernen. Aber dann –
Warum das Tagebuch hier abbricht? Das kannst du dir doch vorstellen?
Ach so, okay. Dann habe ich dich falsch verstanden: Warum in der dritten Person? – Na ja, weil es doch erfunden ist.
– – –
Ich wollte eine Zeit lang mit einer Klassenkameradin einen Roman schreiben. Ich war doch in den Ferien 1991 auf einem Rosshof. Da wurde es mir abends ein wenig langweilig und ich habe schon vorgearbeitet, was ich dann zuhause –
Aber egal: Ich danke dir, dass du die Seite gefunden hast. Wo mag ich die verloren haben?
Was, was mit mir los ist? Nichts.
– – –
Wirklich nichts.
Was: Ich ein schlechtes Erlebnis gehabt? Nein. Tut mir leid, das bin ich nicht. Wirklich, nicht ich. Nein, das bin ich ganz sicher nicht. Nein, wirklich nicht. Im Sommer 1991, da waren wir ja im Semi.
Nein, also. Ja, ich bin ein Jahr eher im Welschen gewesen. Ich bin im Austausch gewesen. Aber das muss sonst jemand –
– – –
Nein, wirklich, dräng jetzt nicht mehr. Das ist doch schwierig genug.
Warum ich ‹schwierig› gesagt habe? Na ja, ich meine doch nur, für diese … also für sie, die …
Aber wart mal, wer ist denn noch im Welschland gewesen? Das muss doch irgendwie stimmen! Sag rasch, hm …
Was? – Ja.
Das stimmt, ja.
Wirklich speziell.
– – –
Mir geht es gut, ja. Tipptopp, ja. Wirklich.
Weisst du, sonst würde ich doch daran arbeiten, das alles zu beweisen und den zu bestrafen, damit … also weil man ja in der Schweiz das immer noch beweisen muss, dass man da, oder besser und meist: dass frau da –
Nein, macht nichts.
Warum ich darüber so viel weiss?
Weiss ich das?
– – –
– – –
Schau … oder hör: Ich kann dir – also weil das lässt mich wirklich nicht los jetzt, und ich möchte, dass niemand darüber denkt, als ob … als wenn das wirklich passiert wäre. Also ich gebe dir die Nummer meiner besten Freundin, du weisst doch, welche. Die rufst du bitte an und erzählst ihr das. Und dann fragst du, wie das denn damals war, was mir denn passiert ist? Oder eben: Was mir nicht passiert ist?
Was? Wie sie das wissen soll?
Ach so, was nicht passiert ist? – Hm, ja, schon. Aber glaub mir, sie wird dir sagen, dass es das nicht gegeben hat. Dass du mich verwechseln musst.
– – –
Ah, genau, noch was: Mir fällt noch etwas ein: Ich habe nie gesagt, dass ich 120 Jahre alt werden will.
Was? – Nein, wart jetzt. Ich habe gesagt, dass ich 120 Jahre alt werde. Das ist doch ein Unterschied!
Wie ich das mache? Na ja, ein Mal im Tag den Puls hochjagen lassen, gesunde Nahrung, keinen Stress, viel Ruhe, Wasser, sich bewegen, draussen in der Natur, dann reiten und –
Wie? Ja, das schon, das hast du gut in Erinnerung.
Aber nochmals: Du musst mich verwechseln! Wirklich. Ich war das nicht. – Also ich bin das nicht. Wirklich.
Das muss jemand erfunden haben.
Das mache ich doch nicht.
Als Schutz?!
Nein!