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Synchronizität

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Die Möbiusbänder seiner Nächte werfen kaum sichtbare Schatten. Zwei parallele Hügelreihen laufen in immer gleichem Abstand nebeneinander her. Gäbe es keine Ecken, könnte man sie als Parallelen bezeichnen. Aber Parallelen treffen sich in der Unendlichkeit, wohingegen Brents Schlafzimmer, das ist das Problem der parallelen Hügelreihen, vollkommen endlich ist. Wobei Schlafzimmer, wenn man es ganz genau nimmt, auch eine irreführende Bezeichnung ist. Die falschen Stuckbahnen an der Decke werden sich niemals begegnen. Styropor–Träume. Im fahlen Licht das durch das offene Fenster zusammen mit der Hitze und den Geräuschen einer sternklaren, warmen Frühsommernacht herein dringt, sind sie kaum voneinander zu unterscheiden.

Eines jener unergründlichen Rätsel. Warum kleben halbrunde Styroporgeraden an der viel zu niedrigen Decke? Man könnte sie für Stuck halten, aber diese Neubauwohnung in der Vorstadt stammt aus den siebziger Jahren. Damals hatte man andere Vorlieben. Vielleicht wollte der Vermieter mit den Attrappen aus Styropor den Wohnwert steigern? Brents Augen fahren das Rechteck über ihm erneut entlang. Den Weg zum Fenster. Die Konturen schärfen sich im schwachen Nachtlicht. Am Fenster vorbei, zur anderen Zimmerecke und die Decke wieder hinunter. Einen Augenblick des Verschnaufens, wenn die Augen senkrecht nach oben starren. Kurzes Einrasten. Brent im Hier und Jetzt. Dann weiter bis in die hintere Ecke und über die Tür hinweg. In der Dunkelheit verschwimmen die Leserillen zur grauen Fläche. Aber Brent kennt ihren Verlauf genau, er bleibt ihnen treu wie dem täglichen Abendritual: Hinlegen, Lucia einen Kuss geben, Warten bis ihre Atemzüge ruhig und sanft geworden sind, auf den Rücken legen, Warten.

Wieder und wieder fahren seine Augen die unklaren Zeilen über ihm ab, lesen die Dunkelheit auf der Suche nach einem Geheimnis, dass ihm vorenthalten wird. Brents Blicke haben nie auch nur einen Millimeter dieser Stuckbahnen auf seiner nächtlichen Wanderschaft abtragen können. Im Gegenteil. Vielmehr hat sich das Rechteck der Deckenverzierung in seine Augen eingebrannt, wie die fest gefrorene Bildschirmanzeige eines abgestürzten Computers. Es hat sich in die Bewegungsmuskulatur seiner Augen eingeschrieben. Ein Körperwissen, wie Radfahren, das man nicht wieder verlernt. Brent bemerkt tagsüber immer öfter, wie sich das Rechteck seiner nächtlichen Ruhelosigkeit in das Gesichtsfeld einschiebt, wie die Perspektiven von Gebäuden, Konturen von Straßen oder Bäumen sich mit den imaginierten Stucklinien überdecken, an diesen gemessen werden. Seine Augen finden auch tagsüber keine Ruhe.

Diese verdammte Schlaflosigkeit. Nachts treibt sie ihre hinterhältigen Spiele. Nachdem sich erst Müdigkeit wie flüssiges Blei auf seine Augenlider legt und ins Gehirn tropft, bis an Lesen, Reden oder Arbeiten nicht mehr zu denken ist, beginnt das Herz einen rücksichtslosen Rhythmus zu hämmern, kaum dass Brent sich dem Schlafzimmer nährt. Er hat es mit Tee probiert und mit Schlaftabletten. Ohne Erfolg. Und das Schlimmste daran ist, dass es auch die Tage in Mitleidenschaft zieht. Durch der Tagesmüdigkeit sieht Brent die Welt wie hinter einer dicken Schicht aus Watte. Der eigene Körper irgendwo, ortlos, die Reaktionen verlangsamt und die Wahrnehmung verschleppt. Erst wenn er angerempelt wird, bemerkt Brent manchmal, dass sein Körper noch vorhanden ist, dass er Raum einnimmt.

Eine Filmszene. Oder ein Traum auf der Schwelle zwischen Wachen und Einschlafen? Mit den anderen im Kino. Ein Mann in einem plüschgelben Vogelkostüm rennt einer Straßenbahn hinterher. In ihr sitzt die Frau, die er liebt, mit Tränen in den Augen. Auf viel zu großen Füßen rennt der Vogel ohne Aussicht, sie jemals einholen zu können. Das Gefühl, zu spät zu sein. Nichts dagegen tun zu können. Als der Vogelmensch den Plüschkopf abnimmt und darunter der verschwitzte Kopf eines Menschen zum Vorschein kommt und die Frau zu lächeln beginnt, fängt die Wut an. So ist es nicht. So ist es nie! Das ärgert Brent furchtbar. Er hasst es, wenn es sich Filme zu leicht machen. Selbst jetzt noch, auf der Suche nach den weit auseinander liegenden Inseln mit Schlaf kann Brent diese Wut in sich glimmen spüren, die es ihm unmöglich gemacht hat, nach dem Kino mit seinen Freunden über den Film zu reden. Ein feiger Film.

Lucia räkelt sich neben ihm leise im Schlaf. Ein Seufzen. Oder ein Keuchen. Brent schämt sich seiner Wut. Er will sie nicht wecken. Nicht wegen so einer blöden Sache. Im Sternenlicht kann er ihre Augäpfel unter den geschlossenen Lidern in kurzen, ruckhaften Bewegungen tanzen sehen. Ein Flattern schüttelt ihre Lider. Die Brauen heben sich unmerklich. Lucia träumt.

Mit Lucia zusammen zu leben erfordert gewisse Regeln. Sie ist kein einfacher Mensch, auch wenn sie jedem auf den ersten Blick so erscheint. Das hat auch Brent erst lernen müssen. Sie ist ein leidenschaftlicher Mensch, aber dabei sehr heimlich. Selten formuliert sie ihre Ansprüche, das macht das Zusammenleben anstrengend. Sie lässt Brent Schritt für Schritt herausfinden, was er wissen muss. Inzwischen hat Brent gelernt, damit umzugehen, die Heimlichkeit zu respektieren oder zu teilen. Das Zusammenleben wird einfacher, wenn man vermeidet, nicht lösbare Probleme zu thematisieren. Manchmal muss man eben erst einmal selbst nachdenken, bevor das Reden beginnen kann. Nur heute hatte sie sich damit scheinbar nicht zufrieden geben können. Sie fragte. Sie insistierte sogar. Dann kamen die Tränen in ihren Augen, die Brent verunsicherten. Als ihre Stimme zu brechen begann, wusste er sich nicht mehr zu helfen. Brent hatte jede Steigerung mit höchster Verwunderung beobachtet und sich gleichzeitig immer einen Schritt weiter zurück gezogen, so dass ihr am Ende nichts mehr übrig blieb, als ihm die Freiheit zu lassen, die er braucht. Dieser Mechanismus hatte sich über die Jahre eingespielt und nur aufgrund dieser Rücksicht war es überhaupt möglich, ihre immer wieder überbordende Emotionalität zu ertragen.

Erst wenn er bereit ist, kann sein Reden anfangen, nicht wenn sie es einfordert. Zum Reden braucht es Klarheit. Ohne den Rückhalt eines Konzepts würde Lucia Brent mit ihren Gedanken und Rückfragen zu stark ablenken. Wie die kleinen, brennenden Metallstreifen, die ein Flugzeug aus stößt um anfliegende Raketen mit Wärmesensor zu irritieren. Es gelingt ihr, ihn immer wieder im Kreis herum und dann ins Leere Laufen lassen zu lassen, bis sein Treibstoff am Ende ist und er sich mit einem der Ablenkpartikel begnügt. Und alle das, bevor überhaupt klar geworden wäre, wer die Rakete abgeschossen hat. Und warum?

Lucias zierliche Gestalt hält sich am Rand der Kuhle, die Brents massiver Körper in die Matratze drückt. Brent lässt seine Augen den kleinen Aufschwung am Bogen ihrer dunkelblonden Augenbraue hinauf gleiten. Kleine, widerspenstige Haare, die aus der Ordnung hüpfen, zwei von ihnen auf dem Sprung, die anderen zu überragen, von Lucia in regelmäßigen Abständen aus ihrer Wurzel gezupft. Über der Stirn eine Strähne ihrer dunklen Locken, die sie so verdammt weiblich wirken lassen. Zwischen den irrlichternden Augen eine feste, gerade Nase. Ein stolzer Nasenrücken, die runde Spitze ins Kissen gedrückt. Der Zeigefinger der linken Hand nur Millimeter davon entfernt. Kleine, dunkle Poren auf den Nasenflügeln. Die kleine Narbe unter dem Auge. Heute liegt sie wie das Halbrund eines abgeschnittenen Fingernagels auf ihrer durchsichtigen Haut, deren Wärme Brent bis auf seine Seite des Bettes spürt. Ein Wärme produzierender Organismus. Ein Bettlaken schmiegt sich eng in die Mulde ihrer Hüfte. Der Oberkörper bleibt unbedeckt.

Ein schlanker Bauch, den zu streicheln er liebt. Brents Augen klettern von der Hüfte zu ihren Schultern. Den Brustkorb ersteigt er auf den Hügeln ihrer Rippen. Das Knochengerüst drängt sich durchs Fleisch. Zwei kleine Brüste mit kreisrunden, scharf konturierten Brustwarzen. Wann haben sie zum letzten Mal miteinander geschlafen? Dass Brent sich nicht erinnern kann, hat nichts zu bedeuten. An viele Dinge kann er sich nicht erinnern. Andere vergisst er absichtlich. Was wäre schlimmer: alles zu vergessen, sich an nichts mehr erinnern zu können und jeden Augenblick wie einen ersten erleben oder sich an alles erinnern zu können, in jeder Situation eine unendliche Folge von Assoziationen, Bildern und Erinnerungen präsent zu haben? Brent beschließt, diesem Gedanken bei Gelegenheit nachzugehen.

Sein Finger streicht Lucias Oberkörper entlang zur Schulter. Ganz sanft gleitet er über die Haut. Er beneidet sie um ihren Schlaf. Sein allabendlicher Kampf ist für sie nicht nachvollziehbar. Nie gewesen. Lucia bleibt im Bett nie länger als ein paar Minuten wach. Selbst wenn sie sich unterhalten. Nach wenigen Augenblicken legt sie den Kopf auf ihr Kissen, dann schließt sie die Augen und ist kurz darauf in einer anderen Welt. Brent hat schon öfter erlebt, dass sie einen angefangenen Satz nicht mehr zu Ende brachte. Auf diese Weise verarbeitete sie ihr Leben. Lucia zermahlt im Schlafen, was sie tagsüber beschäftigt. Knirschende Zähne. Brent kann ihr Schlafen hören. Ein Quietschen und Knarren, wie alte Schiffsplanken, die aneinander arbeiten und reiben, während das Schiff durch hohe Dünung vorwärts stampft.

Brents Finger fährt langsam und gedankenverloren ihren Körper hinab, er schwebt über ihrer Haut und umkreist den winzigen Bauchnabel mit dem Tattoo. Sein Blick ruht auf ihrem Gesicht. Es ist aufdringlich, einen Menschen beim Schlafen zu beobachten. Trotzdem kann Brent es nicht lassen. Lucia würde ihm verzeihen, obwohl sie ihm gerade schutzlos ausgeliefert ist. Jeder Gedanke Brents kann sich ohne Widerspruch in ihr Gesicht einschreiben. Der Schlaf macht sie hilflos.

Kein Mensch erträgt einen Blick länger als wenige Sekunden. Dann ist die Intimität bereits zu groß. Der Flirt beginnt. Oder der Streit. Wie viele Streitereien beginnen mit einem falschen Blick, einer unbeabsichtigten Provokation? Brent ist es gewohnt, Menschen zu beobachten, aber er hat gelernt, seine Untersuchungen so anzustellen, dass sich niemand belästigt fühlt. Er verletzte die Dreisekundenfrist nicht. Das Maximum an direkter, gerichteter Aufmerksamkeit, die ohne Gegenreaktion ertragen werden kann. Ohne emotionale Bezugnahme. Dann wird aus einem Blick Realität, das Eindringen zum Angriff. Aus Spiel wird Trieb.

Während sein Finger die Decke von der Hüfte hebt und sie vorsichtig zu ihren Knien befördert, lässt Brent seinen Blick in ihrem Gesicht ausruhen. Eine Versicherung und eine Bestätigung liegt darin. Selbst die zuckenden Augen können ihn nicht irritieren.

Er hat nicht bemerkt, dass Lucia nackt ins Bett gekommen war. Wo war er bloß mit seinen Gedanken? Im fahlen Mondlicht schimmert Lucias Scham unschuldig weiß. Sein Finger spielt mit dem dünnen Streifen Schamhaar, den sie über ihren Schamlippen wachsen lässt, um sich nicht gänzlich nackt zu fühlen. Brent war diese sympathische Albernheit sofort aufgefallen, als er sie zum ersten Mal nackt sah. Ein Puzzlestück seines Verliebtseins.

Brents Blut sammelt sich, lässt ihn eine nur selten erlebte Kraft gegen das Bettlaken pressen spüren. Mit sanftem Druck schiebt er Lucias Hüften nach hinten. Ohne aufzuwachen dreht sie sich, bis sie auf dem Rücken liegt. Brent passt auf, dass seine Gewichtsverlagerung das Bett nicht ächzen lässt. Das Experiment gelingt. Er schiebt seinen schweren Körper nach unten, an die Kante des Bettes, und positioniert seinen Kopf über der Gabelung ihrer Beine. Er spürt den schmalen Haarstreifen an seinen Lippen. Es ist zu dunkel, um Details zu erkennen, aber Brent kennt sich hier aus. Die ausgefransten, fleischigen Enden ihrer Schamlippen schmiegen sich an seine Lippen. Mit der Zunge erspürt er die beiden, sich verschämt heraus drängenden, inneren Schamlippen. Engelsflügel nennt er sie. 'Lass mich auf deinen Engelsflügel fliegen' sagt er, wenn er Lust auf sie hat. Dann freut er sich über Lucias Erröten, weil sie Scham nicht nötig hat und weil er weiß, dass sie diese Formulierung ebenfalls erregt.

Mit dem rechten Daumen drückt Brent vorsichtig den Saum ihrer Schamlippen nach oben. In der verwirrenden Ordnungslosigkeit tastet seine Zunge nach dem Olivenkern ihrer Lust. Mit einem kalten Luftstrom aus gespitzten Lippen umspielt er ihn. Seine eigene Lust hängt steif über ihren Beinen, zeigt auf sie mit entblößtem Kopf. Brent bemüht sich, Lucia nicht mit seiner Erregung zu berühren. Er will es sich nicht zu einfach machen. Dieser Moment ist rein und klar. Sex dagegen ist auf ein Ziel ausgerichtet. Man erregt sich gegenseitig, befeuern die eigene Lust, bis es kein zurück mehr gibt und der kopflose Wunsch, ineinander zu verschmelzen, alles überlagert. Dagegen ist dieser Augenblick rein und Brents Lust ungerichtet. Sie ist sich selbst genug. Natürlich könnte er seine Anspannung jederzeit zum Sex werden lassen, aber Brent genießt das Besondere. Seine Lust ist ohne Begehren, seine Liebe metaphysisch. Brent genießt die Lust an seiner Lust. Er erfreut sich an der Klarheit dieser körperlichen Regung. Keine Gefahr geht von ihm aus.

Beischlaf vollzieht sich wie das Zusammenspiel kommunizierender Röhren. Eine Flüssigkeit wird in miteinander verbundenen Röhren stets in gleicher Höhe stehen. Unabhängig vom Durchmesser der einzelnen Röhren. Wird der Wasserstand in einer erhöht, gleichen sich beide sofort auf einen mittleren Pegel aus. Gegen Brents Körper ist Lucia schmächtig. Trotzdem kann Brent beim Sex nie mit Sicherheit bestimmen, ob seine Lust aus ihm selbst entstammt, oder ob er ihre Lust in sich spürt, sie verstärkt und zu seiner eigenen macht. Sobald eine weitere Person beteiligt ist, gehört einem die Lust nicht mehr alleine. Sobald man nicht mehr alleine ist, werden die Dinge schwierig.

Das Sprichwort sagt, dass geteilte Freude doppelte Freude bedeutet. Brent hat das nie verstanden. Wer seine Freude teilt, verringert sie. Teilt man Euphorie durch einige Menschen, fühlt sich das an wie Freude alleine. Es ist eine einfache Mengenrechnung: man dividiert die Gesamtmenge der Freude (oder Lust) durch die Anzahl der Beteiligten. Nur wer alleine genießt, kann alles für sich behalten.

Lucia stöhnt. Noch schläft sie, aber ihr Atemfrequenz ist schon erhöht. Brents Zungenspitze schmeckt saure Feuchtigkeit. Er verharrt reglos über ihr. Sie dreht den Kopf, atmet seufzend aus. Die Finger ihrer rechten Hand zucken. Spürt sie ihn im Schlaf? Träumt sie von ihm? Brent tritt den Rückzug an. Langsam, vorsichtig und bis zum Zerplatzen erregt schiebt sich Brent zurück auf seine Seite des Betts. Im Umverteilungsautomatismus seines Körpers, während das Blut sich in seinem Unterleib gesammelt hat, ist Brent jegliches Zeitgefühl verloren gegangen. Das passiert ihm nicht oft. Lucia dreht sich auf die andere Seite, zeigt ihm den mit den kleinen Leberflecken übersäten Rücken. Ein vertrauter Anblick. In seinen schlaflosen Nächten hat Brent die Flecken zu Sternzeichen kartographiert. Er dreht sich vorsichtig auf den Rücken und betrachtet seine Erektion. Sie fühlt sich intensiver an als gewöhnlich. Er spürt das Blut in seinem Schaft mit jedem Herzschlag pulsieren, auf dem Weg durch die Venen, durch die Beine zurück zum Herz, zur Lunge und von dort, mit Sauerstoff angereichert, zum Kopf hinauf.

Die abklingende Erregung macht Brent noch wacher. Aber er zweifelt, dass er wach genug ist, um lesen oder arbeiten zu können. Leise schiebt er sich aus dem Bett. Nackte Füße auf filziger Teppichauslegware. Brent braucht kein Licht um sich zurechtzufinden, in dem scheinbaren Chaos des Schlafzimmers kann Brent seine Schritte blind setzen. An seiner Seite des Betts lehnen Lucias Körperzeichnungen und Aquarellarbeiten, die fremdartigen, bunten Landschaften aus den ersten beiden Semestern. Zwischen Fußende des Betts und dem Regal mit Brents Serien von Wachsköpfen findet er leicht hindurch, muss dann nach links ausweichen, um nicht mit der Hüfte an die beiden massiven, gebäudeartigen Metallobjekte zu stoßen, die er im letzten Semester geformt hatte. Zwei Schritte bringen ihn bis an die Truhe, er der er die Skizzen und Vorstudien seiner ersten beiden Semester versteckt hält, an Lucias Ölgemälde aus dem dritten Semester vorbei, dem einzigen Großformat in ihrer Wohnung. Nie wieder hat Lucia eine so große Fläche bemalt, und Brent hat für Öl sowieso nichts übrig. Vor der Schlafzimmertür lehnt Lucias Rucksack mit den Skizzenbüchern, den Brent beim Aufziehen der Tür noch gerade mit seinem Fuß vom Umfallen bewahren kann.

Die Zeichnungen liegen im Wohnzimmer vor der alten Couch auf dem Boden verstreut. Die Versuche des Abends. Brent hatte an ihnen gearbeitet, bis Lucia nach Hause gekommen war. Es war ein Versuch, die Spannung abzubauen. Er hatte nicht bemerkt, wie viel Zeit vergangen war. Die Kohlepartikel flossen direkt aus seinem Arm aufs Papier, arrangierten sich dort zu Flächen und Formen. Über die einzelnen Bögen hinweg arbeitete Brent, ohne Begrenzung, an einer großen Collage. Er wusste nicht, was sich durch ihn hindurch ereignete. Gefühlszeichnen, nennt Brent das, wenn der Kopf ausgeschaltet ist und der Körper zum Medium einer durch ihn fließenden Energien wird. Was dabei entsteht, entzieht sich der bewussten Kontrolle. Im Nachhinein staunt er dann selbst, was in dieser Abwesenheit entstanden ist.

Schon bevor Lucias Schlüssel an den Metallzähnen des Haustürschlosses schabte, hatte Brent einen Energietiefpunkt erreicht. Mit Lucia in der Wohnung wurde es noch schwieriger. Ihre Anwesenheit stoppte den Fluss der Energie, bog ihm um in andere Kanäle. Brent begrüßte sie mit einem Kuss und sie setzten sich in die Küche, wo sie rauchten und die Reste einer Flasche Wein tranken. Natürlich wollte sie mit ihm über den Tag reden. Bis sie schließlich aufgab und wie zum Trotz von ihrem Freitagabend erzählte. Lucia ließ Brent an ausgewählten Fragmente von Carmens Liebesleben teilhaben. Aber er erfuhr dabei nichts Neues. Es gab diese Gerüchte schon lange, und sie waren nie weit von der Realität entfernt. Carmen besuchte ihren Dozenten nicht nur, um mit ihm über ihre Arbeiten zu sprechen. Keine Neuigkeiten sind schlechte Neuigkeiten. Brent gab sich nur mäßig begeistert.

Lucia muss sein Zögern völlig falsch verstanden haben und begann Brent erneut nach dem Vorfall am Morgen gefragt. Brent musste ihr erst mühsam erklären, dass er mit den Gedanken noch beim Zeichnen gewesen war und sie ihn falsch verstanden hatte. Brent war selbst darüber erstaunt, dass es in seinem Denken keine Rolle spielte, was in der Schule passiert war. Und er wollte nicht mit Lucia darüber sprechen. Noch nicht. Brent wollte den Überraschungseffekt gezielt einsetzen.

Sie hatten das Missverständnis geklärt ohne die Verärgerung groß werden zu lassen. Danach waren sie wie immer gemeinsam ins Bett gegangen. Einer jener kleinen Kompromisse einer dauerhaften Beziehung. Brent weiß, dass er nicht einschlafen wird, aber Lucia mag es, die Schwere seines Körpers neben sich zu spüren. Sie genießt die Verbindlichkeit des kleinen Rituals.

Die Uhr am Videorekorder zeigt blinkend weit nach Mitternacht. Brent hatte recht, er ist viel zu erschöpft zum Lesen. Unruhe und Müdigkeit halten ihn gefangen. Manchmal ist dieser Zustand gut zum Zeichnen. Brent beginnt vorsichtig, dort weiter zu machen, wo er vorhin aufgehört hatte.

Durch die geöffneten Fenster dringt kein Luftzug. Windstille. Die Fauna zirpt, vom Sommerhitzetod des Tages erweckt. Gedankenverloren beginnt Brent Flächen neu zu organisieren. Er knetet und wärmt die dunkelgraue, formlose Masse, mit der er die dunklen Flächen wieder aufhellen kann. Er arbeitet weiße und graue Striche in die dunklen Flächen hinein. Ränder verschmieren, feste Formen weichen auf. Es will ihm nicht gefallen. Brent wendet sich dem nächsten Bogen zu.

Das Zimmer hält die Hitze des Tages. Brents Kniekehlen sammeln Feuchtigkeit, Schweiß läuft an seinen Beinen herunter und tropft langsam auf den Teppich. Jeder menschliche Körper strahlt Wärme ab, die der umgebende Raum aufnimmt. Schon die körperliche Anwesenheit eines Menschen erhöht die Raumtemperatur merklich. Zwei Menschen erhitzen einen Raum doppelte so schnell, wie einer alleine. Sechs Menschen ersetzen eine Heizung. Seit Lucia die Wohnung betrat, hat sich die Raumtemperatur graduell erhöht. Zusammen wehren ihre Körper die Kühle der Sommernacht ab.

Der menschliche Körper ist fragil. Der Organismus funktioniert nur unter geringen Toleranzwerten normal. Ein zerbrechliches Gleichgewicht. Sinkt die Körpertemperatur zu tief, stellt der Organismus seine Arbeit ein. Aber auch ein Zu–viel ist tödlich. Steigt die sie über einen Maximalwert, beginnen sich die Zellen selbst zu zerstören. Es ist nur ein schmaler Grat, auf dem ein reibungsloses Funktionieren gewährleistet ist.

Brent ist auch mit der nächsten Zeichnung unzufrieden. Er blickt zur ersten zurück, sieht was die Veränderungen angerichtet haben. Das Gleichgewicht der Fläche ist zerstört, die Formen sind irreparabel geschädigt. Beide Zeichnungen nicht mehr zu retten. Ärgerlich knüllt Brent sie zusammen und wirft sie in Richtung des Mülleimers. Sie hatten Potenzial gehabt. Brent lässt die Zeichenutensilien liegen und schenkt sich in der Küche einen Whisky ein.

Man muss Feuer mit Feuer bekämpfen.

Es brennt die Speiseröhre hinunter bis in den Magen. Die gefühlte Wärmeabgabe seines Körpers steigt sprunghaft. Ein Ganzkörperschweißausbruch folgt, den Brent hilflos über sich ergehen lässt.

Mit einem weiteren Whisky setzt sich Brent auf das Sofa im Wohnzimmer. Die Zeichnungen zu seinen Füßen sind fremd geworden, sie bedeuten nichts mehr. Er schließt die Augen, aber die Müdigkeit arbeitet gegen ihn. Sie schießt zufällige Gedanken quer durch seinen Kopf. Das Seminar: das Krachen des Zusammenstürzenden Konstrukts. Stefanos Arbeit. Hat er die Laufschuhe schon sauber gemacht? Ein Geschenk für Lucia, die in sechs Wochen Geburtstag hat. Bis dahin wird alles anders sein. Das Semester wird vorbei sein, das Studium beendet. Seine Freunde in alle Himmelsrichtungen verstreut. Bis dahin müssen Entscheidungen getroffen werden. Zukunft muss geplant sein. Hat Lucia Butter eingekauft?

Brent versucht sich auf das Heben und Senken seines Brustkorbs zu konzentrieren. In ihm hört er die brennende Stimme des Whiskys. Im Fenster flackert der wolkenlose Sommernachthimmel über einer sich nur unwillig abkühlenden Erde. Brents Zeiten als Hobbyastronom sind lange vorbei, trotzdem genießt er weiterhin den Anblick eines klaren Sternenhimmels. Man fühlt sich unbedeutend angesichts der milliardenfachen Möglichkeiten. Es gab nur wenige romantische Situationen, in denen Brent sein Wissen anwenden konnte. Die Köpfe zusammen am ausgestreckten Arm entlang einen Stern peilen, das hatte auch bei Lucia funktioniert. Brent grinst, als er sich an ihren ersten, flüchtigen Kuss erinnert. Er mit Lucia in der Kälte auf der Bank vor dem Schulgebäude. Er hatte so getan, als ob ihm die Sternbilder noch vertraut seien. Dabei lag das kleine Spiegelteleskop schon seit Jahren unberührt im Keller seiner Eltern. Brent erfand einige neue Sternzeichen. Lucia gab sich beeindruckt. Und eines führte zum anderen.

Die Müdigkeit setzt Brent zu. Sie verhindert jede Konzentration, sie lässt die Gedanken nicht zur Ruhe kommen. Das Wirbeln im Kopf setzt ein. Ein Teil von Brent befindet sich noch immer auf Reise. Das Zusammenleben war ihm nicht leicht gefallen. Schon das Sesshaft–werden war nach zwei Jahren, die er hauptsächlich mit seinem Rucksack in verschiedenen Ländern verbracht hatte, eine Herausforderung gewesen. Es fiel ihm leichter, weil Brent sich fest vornahm, während der Semesterferien weiter zu reisen. Aber schon bevor er mit Lucia zusammen gezogen war, hatte sich das nicht mehr ergeben.

Brent hatte dieses Studium gewollt. Nicht nur um seine Eltern zu irritieren. Er hatte den Wunsch nach einem neuen Kraftzentrum gespürt. Einer Aufgabe. Nach zwei Jahre war selbst das Reisen langweilig geworden. Giulio und Julia waren die Auslöser, aber es traf sie keine Schuld. Brent hatte das italienische Pärchen in Madrid kennen gelernt und war mit ihnen durch Andalusien gereist. Drei Monate später trafen sie sich wie verabredet in einem kleinen, heruntergekommenen Hostal in Patagonien. Dort wurde das Gefühl von Distanz nur noch größer, das Brent in Andalusien als Schüchternheit zu ignorieren versucht hatte. Nach Südamerika hörte er auf, ihre Mails zu beantworten, weil er nicht mehr das Gefühl hatte, etwas Gemeinsames mit ihnen zu teilen. Er vergaß sie. Acht Monate später begegnete er ihnen zufällig in einem Café in Kalkutta wieder. Zuerst freute er sich und sie verbrachten den Tag zusammen. Fast nahtlos setzten sie ihre Gespräche von früher fort. Es war als ob Marokko, Tunesien, Ägypten, Nigeria und Südafrika nicht stattgefunden hätten. Dann stellte sich heraus, dass sie im gleichen Hotel wohnten wie Brent. Der Reiseführer war stärker als alle Gefühle von Sympathie oder Antipathie. Nach drei Tagen packte Brent seine Sachen und verschwand, ohne sich zu verabschieden. Er floh nach Südostasien. Aber immer blieb das Gefühl, ihnen nur einen Schritt voraus zu sein. Es dauerte ein paar Wochen bis der Entschluss gefasst war, ein halbes Jahr, bis Brent eine geeignete Kunstschule gefunden und sich immatrikuliert hatte. Brents Auswahlkriterien waren einfach: laxe Aufnahmeprüfungen, moderate Studiengebühren und kein übermäßig guter Ruf. Brents Zeichnungen und Fotografien von seiner Reise reichten aus, um ihn zum Kunststudenten zu machen. Es war das Richtige, wenn man nicht allzu ambitioniert war.

Das Reisen war als Herausforderung gedacht gewesen und es hatte entsprechend lange gedauert, bis Brent seinen Fehler bemerkte. Denn beim Reisen änderte sich immer nur das Setting: Städte, Landschaften, Personen. Die Gespräche fingen an, sich immer mehr zu ähneln. Das Studium war der Versuch, diese Entwicklung aufzuhalten. Mit jedem Foto, jeder Skulptur und jeder Zeichnung, die Brent herstellte, drängten sich wieder mehr Fragen in Brent. Bis die Dinge zu schwimmen begannen. Inzwischen war die Konstanz einer Leere gewichen. Eine große, Furcht einflößende Leere, die geformt ist wie Stollen, Höhlen und Verbindungskorridore in einem Berg.

Brent stellt sich vor das geöffnete Fenster und saugt die frische Sommernachluft tief ein. Es duftet nach trockenem Gras.

Ruhige Sommergeräusche. Gelegentliches Grillenzirpen. Akustische Leere. Lucias gleichmäßiger, ruhiger Schlafatmen dringt zu ihm. Mit offenen Fenstern ist die Wand zwischen ihnen für Schallschutzzwecke irrelevant. Ohne die Wand könnte Brent Lucia im Bett fast berühren. Lucias Atmen, sanft und gleichmäßig, beruhigt Brents aufkeimenden Frust über die andauernde Schlaflosigkeit, über die Unfähigkeit weiter zu zeichnen. Über seine unregelmäßig wiederkehrenden Schweißausbrüche. Brent lauscht am Fenster Lucias regelmäßigem Schlafatem.

In einem abgeschlossenen System, einem hermetisch abgeriegelten Raum, werden zwei Pendel nach ausreichender Zeit (abhängig von Anfangsenergie, d. h. Amplitude und Anfangsfrequenz) im Gleichtakt schwingen. Die Luftmoleküle zwischen ihnen werden durch die Pendel verdrängt und bewegt. Die Bewegung der Luftmoleküle transportiert die Schwingungen der beiden Pendel durch den Raum, die Molekülebewegungen der beiden Pendel durchdringen den Raum, überlagern sich und interferieren. Auf diese Weise stehen die beiden Pendel miteinander in Verbindung, vom ätherischen, molekularen Klebstoff zusammen gehalten. Unsichtbar und obwohl das Gewicht der Pendel das der Luftmoleküle um einen kaum vorstellbaren Faktor übersteigt, reichen die schwachen Bindungskräfte des Gases und die Reibungskräfte zwischen ihnen aus, die Bewegungen der beiden Pendel zu verändern und anzugleichen. Es kann sehr lange dauern. Aber der stete Tropfen höhlt den Stein und irgendwann werden sich die Pendel im Gleichtakt bewegen. Brent erinnert sich an Carmens Geschichte auf einer der letzten Partys: Bei einigen Naturvölkern sei es normal, dass Frauen ihre Monatsblutungen gleichzeitig bekommen. Wenn eine Frau neu in die Gruppe kommt, passt sich ihr Körper nach einer Übergangszeit dem Rhythmus der anderen Frauen an. So funktioniert Natur, denkt Brent. Nichts schwingt alleine. Ein beruhigender Gedanke. Brent passt seine Atemfrequenz der von Lucia an. Beide atmen tief und gleichmäßig. Brent lässt seinen Blick über die Sterne gleiten. Atmosphärische Störungen lassen sie funkeln. Ein Satellit zieht schnell und gerade seine Bahn über den Himmel, kündigt das Nahen der aufgehenden Sonne an. Brent atmet Lucias Atem. Gleich wird er sich wieder hinlegen. Mit ein wenig Glück wird er einschlafen. Synchronizität fühlt sich gut an.

Resonanzfrequenz

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