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Präzession

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Eine gute Art, die Woche ausklingen zu lassen und eines dieser Rituale, die wichtig geworden sind. Die dem Leben Stabilität geben. Stefanos vom Rauchen kratzige Stimme beschließt die Woche wie es früher die Stimme von Brents Mutter getan hat. Aber das ist schon sehr lange her. Heute beschließen Brent und Stefano nicht nur eine Woche, es ist ein ganzes Semester. Ein Studium. Sie haben sich wie beinah jeden Sonntag in den vergangenen vier Jahren in der kleinen Kneipe des Studentenwohnheims verabredet, das nur ein paar hundert Meter von der Schule entfernt liegt. Auf diese Weise haben sie unzählige Wochen nach– und sich auf das Kommende vorbereitet. Aber heute kann Stefano gar nicht genug von der Vergangenheit bekommen. Brent schnaubt genervt aus der Nase, als Stefano erneut anfängt.

»Das war eine Show! Du hättest es sehen müssen. Komplettes Chaos. Dieser Lärm! Phantastisch. Und nach deinem Abgang: totale Stille.«

Stefano erstarrt für eine Sekunde.

»Als ob die Zeit einfriert. Film–still. Keiner rührt sich.«

Stefano breitet die schlacksigen Arme aus und holt tief Luft.

»Und dann plötzlich das Vogelzwitschern. Total irres, absolut lautes Vogelgezwitscher. Die Welt dreht sich doch weiter. Nur der Seminarraum bleibt erstarrt. Zeitblase. Nullpunkt.«

Stefano setzt die Bierflasche an die Lippen und nimmt einen tiefen Schluck.

»Du hast echt was angerichtet. Keiner hat sich gerührt. Die Simpson hat die Stunde beendet ohne ein Wort und uns nach Hause geschickt. Ich meine: Hallo? Es ist ja nicht so, dass wir noch eine Ewigkeit Zeit hätten, bis zum Abgabeschluss. Aber ich glaube, die war von uns allen am fertigsten.«

Stefano lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Er lächelt Brent an und schüttelt den Kopf.

Obwohl noch keine achtundvierzig Stunden vergangen sind, beginnt Brents Erinnerung bereits zu verblassen. Ein Film, der nach dem Belichten falsch fixiert wurde. Übertragungsverluste beim Transfer ins Langzeitgedächtnis. Erst durch das Gespräch mit Stefano wird Brent die Bedeutung wieder klar. Eine Zäsur. Ein irreversibler Vorgang. Entropiesteigerung. Brents persönlicher schwarzer Freitag. Die Kurse müssen gestützt werden. Alle werden sie am Dienstag mit der steigenden Aufregung eines zu Ende gehenden Semesters weiter machen. Kontinuierlich. Weiterführung der letzten Wochen, Monate, Jahre. Nur für Brent tut sich jetzt wieder die verschwommenen Leerstelle auf, die er auch am letzten Freitag gespürt hatte. Zwischen letztem Freitag und nächsten Dienstag liegt nur dieses Wochenende, aber es kann trotzdem noch alles geschehen.

Natürlich ist es nie so gewesen, wie es Stefano erzählt. Brent erinnert sich genau: an den Augenblick des Stillstands, er, Brent, war Teil dieses Stillstands, sein Auslöser. Carmen brach die Bewegungslosigkeit und als Brent handeln musste, hat er sich der Situation entzogen. Stefanos Erzählung wird mit jedem Bier, mit jedem erneuten Durchgang dramatischer. Das passt zu ihm. Er steigert sich zu einer größtmöglichen Wirkung, exakt wie in seinen Arbeiten.

Stefano beginnt immer mit einem Experiment, einer Idee, die er dann ausprobiert und steigert. Das war schon damals so gewesen, als sie beim Essen auf die Idee mit der Salzkruste kamen. Ursprünglich war es sogar Brents Idee gewesen, aber Stefano hat sie aufgegriffen, durch dekliniert, sich an ihr abgearbeitet. Brent ist nicht nachtragend und weiß so einen Einsatz zu respektieren. Im Nachhinein betrachtet, war es wirklich naheliegend. Die Kartoffeln mit Salzkruste erinnerten Brent an Salinenfelder, die er auf seiner Reise in Südfrankreich gesehen hatte. Eine tödliche, gleißend weiße Landschaft, mit einer dicken, festen Salzkruste überzogen, die Erde, Pflanzen und Steine in ihre krümelige Todesfinger nahm. Es wurde ein langer Abend, an dem sie viel tranken. Eines führte zum anderen und am Ende hatte Stefano die Idee, Alltagsobjekte mit einer Salzschicht zu überziehen. Zuerst war es nur ein Besteck, Messer, Gabel und Löffel, die er mit eine Salzschicht überzog, testweise, und dann eine Leinwand, Stillleben mit Tomate drapierte. Das war natürlich ironisch gemeint, aber ihr damaliger Dozent bemängelte die Selbstbezüglichkeit der Arbeit. Später kamen noch Blätter aus Papier dazu, die sich zu dünnen, flachen Salzschichten verwandelten. Die letzte Arbeit war der Kotflügel eines Schrottautos. Die Idee war gut, Stefanos Umsetzung ebenso. Den salzige Kotflügel verkaufte er sogar, was ihm neben dem Geld ein einseitiges Interview in der Samstagsausgabe der Tageszeitung einbrachte. Brent freute sich mit Stefano über diesen Erfolg, aber er machte sich auch darüber lustig, in dem er ihn immer wieder daran erinnerte, dass sein Salzflügel im Ausstellungsraum eines Autohändlers lag, was niemand an ihrer Schule für eine angemessene Präsentation hielt.

Stefano leert seine Flasche und starrt Brent einen zu langen, für ihn aber wahrscheinlich dramaturgisch durchdachten Augenblick in die Augen.

»Also wenn ich ganz ehrlich bin… Für mich sah es aus, als ob du zugeschlagen hast. Ich meine, das ganze Ding war darauf ausgelegt, den Bezug zum Boden so fragil wie möglich zu gestalten, das eigene Gewicht und die Schwerkraft zu leugnen, die an jedem Fragmente gezogen hat. Man fragte sich doch ununterbrochen, wie dieses riesige Ding auf diesem schmalen Fuß überhaupt stehen konnte? Und dann gehst du da mit dem Hammer ran. Das konnte doch nicht anders ausgehen. Ehrlich!«

Eine Schulerinnerung. Punkte mit Pfeilen an der Tafel, darum ein weißes Kreiderechteck. Die Gesamtsumme aller Kräfte eines freien Systems ist Null! Das bedeutet: es wirken keine Kräfte nach außen. Das heißt aber keineswegs, dass in diesem System keine Kräfte wirken. Nur heben sich diese Kräfte in ihrer Gesamtwirkung gegenseitig auf. In einem Kristallgitter gibt es eine Menge von Anziehungs– und Abstoßungskräften. Zwischen Atomen, Elektronen und so weiter. Aber solange keine Kraft von außen einwirkt, befindet sich das System in einem Zustand der Stabilität. Anders formuliert: die Gesamtsumme aller Kräfte eines nicht–freien Systems reduziert sich auf die Summe der äußeren Kräfte. Um ein freies System zu erhalten, müssen die äußeren Kräfte auf Null reduziert werden.

Natürlich hat es sich nicht so zugetragen. Brent erinnert sich genau: wie er zu Stefano schaute, bevor er den Hammer nahm, dass Stefano seinen Blick nicht erwiderte, weil er ganz und gar in seinen Holztorso versunken war. Mit dem Hammer wollte Brent die Metallplatte bearbeiten, auf der die Struktur befestigt war. Die Platte war massiv, damit nichts ins Schwanken geraten konnte. Stefano konnte ihn gar nicht gesehen haben, unmittelbar bevor das Gebilde, seine Abschlussarbeit, durch die plötzliche Zuführung von Energie in Form eines mechanischen Impulses aus dem Zustand eines labilen Gleichgewichts geriet. Drehmoment und Hebelwirkung durch die am Schwerpunkt ansetzende Gravitationskraft taten dann das ihrige. Das konnte nicht lange gut gehen. Und vor allem passierte es zu schnell für Brent, der nicht mehr reagieren konnte. Trotzdem: die von Stefano dramatisierte Version war interessanter als die Wahrheit.

»Du hast es darauf angelegt, oder?«

Brent beschließt, die Frage zu ignorieren. Sie haben sich beide so oft darüber unterhalten, dass ein Kunstwerk für sich selbst und nur aus sich heraus spricht und keine Erläuterung seines Erschaffers bedarf. Nur schlechte Kunst muss erklärt werden, gute Kunst weckt das Interesse, selbst herausfinden zu wollen, selbst zu experimentieren, die eigenen Gedanken und Assoziationen spielen zu lassen. Brent begegnet Stefano mit einem Schweigen das klarmacht, dass keine Antwort kommen wird.

Stefano runzelt die Stirn.

»Hörst du überhaupt zu? Du sitzt hier autistisch auf deiner Bank und sagst kein Wort. Ich könnte mit der Backsteinmauer hinter dir sprechen, das wäre aufregender. Soll ich den ganzen Abend alleine reden? Es wäre hilfreich, wenn du etwas beträgst.«

Brent hat in Gedanken die möglichen Antworten und Erklärungen längst durchgespielt. Nun lässt er den Sprengsatz, den er seit Stunden in sich trägt, ohne weitere Worte platzen.

I am a time–bomb. Ticking, ticking time–bomb.

»Es ist vorbei.«

Backdraft. Das Feuer bekommt frischen Sauerstoff. An der frischen Luft entfalten die Worte erst ihre Wirkung. Die akustische Materialität der Worte legt sich schwer auf Brents Schultern und drückt ihn mit Eisenbändern auf seine Sitzbank. Schnell fügt er hinzu: »Ich werde die ganze Sache hinschmeißen.« Das macht es nicht leichter. Er hatte gehofft, dass es sich ausgesprochen leichter anfühlt.

Seit sie in Dr. Kroiters Einführungsveranstaltung zufällig nebeneinander gestanden haben, waren Brent und Stefano Freunde. Und diese vier Jahren markieren die längste Freundschaft in Brents Leben. Natürlich haben sie sich in dieser Zeit verändert, Brent ist zwanzig Kilo schwerer geworden, Stefano hat einige Haare verloren. Aber die geistige Verbindung blieb davon unberührt, die Ironie und die noch seltenere Eigenschaft, den anderen dabei ernst zu nehmen.

Stefano hatte den Einführungsvortrag ihres neuen Rektors mit bissigen Bemerkungen kommentierte. Der übergewichtige und schmierige Mann, der mit schütterem Haar vor dieser Gruppe junger Männer und Frauen stand, machte es ihnen leicht. Aber was Stefano sagte war tiefgründig und wohl überlegt, bliebt nicht bei flachen Zoten über Kroiters Äußeres und damit hatte Brent schon am ersten Tag seines Studiums gefunden, was er während der Jahre seiner Reise mit den flüchtigen, geistig wenig anregenden Bekanntschaften vermisst hatte. Stefano sprach ebenso ironisch–abfällig über sich und seine Kommilitonen wie über Kroiter. Für Brent, der die letzten Jahre gereist war, öffnete sich ein neuer Horizont und er begann zu verstehen, was er vermisst hatte. Wer immer nur unter Fremden lebt, verliert die Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen. Und wenn alle Bezugspunkte verschwinden verliert man die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen.

Mit seiner Ankündigung hatte Brent jetzt alle Vorteile klar auf seiner Seite. Ehrliche Verblüffung zeigt sich in Stefanos Gesicht. Damit konnte er nicht gerechnet haben.

»Du willst Simpsons Kurs schmeißen? Das geht nicht, es ist dein Abschlusskurs.«

Brent zögert. Das Vergnügen war jetzt ganz auf seiner Seite. Er legt eine kurze Pause ein, bevor er den kurz rasierten Kopf schüttelt und sich gedankenverloren im Nacken kratzt. Er schiebt die umgekrempelten Ärmel seines Hemdes einige Zentimeter weiter nach oben – eine der wenigen Dinge, die er sich bei seinem Vater ab geschaut hatte – stützt sich mit den Ellenbogen auf den Tisch und lässt sein Kind in die Mulde seiner Hände fallen.

»Ich meine das Studium. Es ist vorbei. Ich hab keine Lust mehr. Ich schmeiße es hin.«

Stefanos Augen wandern von rechts nach links und wieder zurück. Brent hat es geschafft, und das passiert selten genug. Brent lächelt. Stefano bestätigt Brents Punktsieg indem er mit unverhohlenem Unverständnis nachfragt.

»Jetzt wegen dieser Sache?«

Brent genießt das kurze Gefühl, Stefano für einige Augenblicke im Netz zappeln zu sehen.

»Macht das einen Unterschied?«

Natürlich muss er merken, dass Brent ihn hinzuhalten versucht. Dafür kennen sie sich zu lange, und Stefano ist zu klug.

»Es macht einen gewaltigen Unterschied! Ob du schon länger frustriert bist und endlich einen Anlass für den Absprung gefunden hast, oder ob du wie ein quengeliges Kind zu weinen anfängst, weil dein Lieblingsspielzeug kaputt gegangen ist. Im ersten Fall stimme ich dir zu, denn du hast etwas Besseres verdient, als diese Kleinstadtkunstschule. Im anderen Fall kann ich nur sagen: mach keinen Unsinn. Hör auf zu weinen und sieh zu, dass du das noch irgendwie hin bekommst. Es lohnt sich nicht. Nicht jetzt.«

Brent schiebt seine Lippen verächtlich nach vorne. Eine Bewegung, die er sich von Stefano ab geschaut hat. Da aber kaum jemand seine eigene Mimik kennt, kann Brent sich diese kleine Frechheit erlauben.

»Gerade von dir hätte ich ein besseres Argument erwartet als ausgerechnet den bescheuerten Abschluss. Du sagst doch immer: Ein Diplom, mit dem man nichts anfangen kann.«

Um den Druck noch zu erhöhen, fügt Brent kurzentschlossen und unfreundlicher als beabsichtigt hinzu: »Du enttäuschst mich, Stefano.«

Stefano braucht nur wenige Augenblicke, um sich von der Überraschung zu erholen, sein Gegenangriff kommt schnell, direkt und überraschend.

»Hast du Stress mit Lucia?«

Wieder einmal hat Brent Stefanos Lust an der Provokation unterschätzt. Wahrscheinlich ahnt er längst, wohin Brent das Gespräch steuern möchte. Und nun versucht er, ihm eine eigene Richtung zu geben. Oder es ist ein intuitiver Abwehrreflex. In beiden Fällen sieht Brent sich gezwungen, die Gegenattacke sofort zu unterbinden.

»Vielleicht solltest du dich eher darum kümmern, zu verstehen, was ich dir sagen will, statt wie eine eifersüchtige Geliebte herum zu giften.«

Stefanos Kehlkopf hüpft einige Male, dann zündet er sich mit ruhigen Fingern eine Zigarette an.

»Du hast recht. Das war unter der Gürtellinie.« Er beginnt das bedruckte Deckpapier von der Zigarettenpackung abzureißen. »Was willst du denn machen? Zurück zum Reisen? Weltflucht durch Weltreise?«

Brent lässt seinen Körper nach hinten, gegen die kühle Backsteinmauer sinken und kopiert Stefanos Körperhaltung. Er könnte vergnügt sein, aber die Situation ist dafür zu ernst.

»Du kannst es nicht lassen. Oder? Du kennst mich zu wenig, um über mein Reisen urteilen zu können.«

»Das stimmt, aber ich weiß, dass du auf der Suche warst und letztlich nichts gefunden hast.«

»Es ist unfair, dein Halbwissen gegen mich zu verwenden.«

»Es ist nicht schwer, eins und eins zusammen zu zählen. Dafür kenne ich dich doch schon lange genug. Dafür haben wir zu viele Gespräche wie dieses geführt.«

»Du verkennst den Ernst der Situation!«

Stefano lässt die leere Bierflasche in seiner Hand rotieren. Die Worte hallen in ihr nach. Sie klingen hohl. Die linke Augenbraue bewegt sich überraschend und fragend auf den zurückweichenden Haaransatz.

»Du bist mir weniger ein Rätsel, als du es dir selbst bist.«

Ohne eine Replik abzuwarten quetscht Stefano sich aus der engen Wandnische und schlendert durch die Studentengruppen zum Tresen. Sonntagabend. Die Palästina–AG hat im Gemeinschaftsraum direkt nebenan getagt. Inzwischen sind die arabischen Studenten herüber gekommen, träufeln Tabascosauce auf ihre Chips und trinken eiskaltes Bier aus kleinen Flaschen. Brent grinst verlegen. Auch dieser Abend wird noch lange dauern.

Stefano lehnt am Bartresen, er wechselt einige Worte mit dem Studenten dahinter. Er hat ihn bestimmt beim Vornamen angesprochen, denkt Brent. Stefano ist so ein Typ. Er merkt sich Namen. Er freut sich, wann immer er ein bekanntes Gesicht sieht und lässt den anderen an seiner Freude Teil haben. Brent dagegen muss Platz haben, Räume in denen er keine sozialen Verpflichtungen verspürt. Diese Kneipe ist wie eine Fortsetzung seiner Reisen: man fühlt sich nie unwillkommen, aber auch nie wirklich heimisch. Die perfekte Mischung. Hier kann er sich voll und ganz auf das Gespräch konzentrieren. Sonst nichts. Keine Verpflichtung gesellig zu sein. Aus diesem Grund hat Brent sich entschieden, keine Nähe zu den Menschen in dieser Kneipe entstehen zu lassen, obwohl ihm einige der Gesichter im Laufe der letzten Jahre vertraut geworden sind. Aber er verabscheut die Unhöflichkeit, ein fremdes Zusammensein mit der eigenen Präsenz zu stören. Das Bedürfnis nach Geselligkeit ist immer aufdringlich. Schon ein freundschaftlicher Gruß kann ein Besitzanspruch bedeuten und eine fremde Zweisamkeit belasten. Auch die Exklusivität ihrer Freundschaft verteidigt Brent. Eine Notwendigkeit, die Stefano trotz seiner Scharfsinnigkeit vernachlässigt.

Als Stefano mit zwei Flaschen Bier und einem Teller salziger Erdnüsse zurück kommt, ergreift Brent sofort die Initiative. Um zu vermeiden, dass Stefano sich schuldig fühlt, beginnt er ansatzlos und schnell zu sprechen.

»Du kennst mich weniger, als du meinst. Was sind vier Jahre? Du kennst mich als Student. Gut. Du kennst den Studien–Brent. Und du hast ein paar Eindrücke von meinen Reisen im Kopf. Fragmente, die ich dir erzählt habe. Aber du solltest nicht glauben, alles zu kennen. Damit machst du es dir zu leicht. Es gibt noch viele andere Brents. Es gibt Dinge an mir, von denen du nicht einmal ahnst, dass sie existieren.«

Stefano zuckt mit den Schultern.

»Na gut, Studien–Brent. Was gedenkst du denn zu machen? Lass mich wissen, was dein B–Plan ist. Es muss doch ein Exit–Szenario geben, bei deinem bewegten Leben.«

Brent ist nicht sicher, ob Stefano sich wirklich einlässt, oder ob er bereits die nächste Attacke vorbereitet.

»Ganz ehrlich?«

Brent fixiert Stefano über den Hals seiner Bierflasche hinweg. Der Rauch ihrer Zigaretten, die im schwarzen Plastikaschenbecher zwischen ihnen glimmen, fängt sich in Stefanos langen Haaren. Qualm von vielen Gesprächen, aus vielen Mündern. Die billigen Wandlampen werfen nur schwache Lichtflecken ins Dämmerlicht. Auch die Kerze auf der mit dicken Wachsresten überzogenen Weinflasche spendet kein Licht, lässt lediglich Schattenflecken durch Stefanos Gesichter zittern. Es ist Zeit für die nächste Überraschung.

»Ich denke darüber nach etwas ganz anderes zu machen. Etwas handfestes. Ein anderes Leben. Ein anderes Studium. Informatik vielleicht. Oder Maschinenbau.«

Brent kann sehen, wie sich Stefano bemüht, die Verwunderung nicht anmerken zu lassen. Sein Gesichtsausdruck changiert zwischen Belustigung und Ärger. Seine Gedanken lassen sich ablesen: Macht er sich über mich lustig? Meint er das ernst? Was ist in ihn gefahren? Stefano kämpft, aber er hat wenig Chancen. Jetzt kann er nur noch ein guter Verlierer sein.

»Informatik?«

Das fremdartige Wort poltert aus Stefanos Mund, schlägt dumpf zwischen ihnen auf den Tisch, wo es liegen bleibt. Es sieht nach Steinkohle aus, schimmert feucht und metallen. Kleine Bruchstücke haben sich von ihm gelöst und auf dem dunklen Holz des Tisches verteilt. Stefano klingt irritiert.

»Wie kommst du denn darauf?«

Brent fährt

»Drei Jahre altsprachlich–naturwissenschaftliches Gymnasium. Physik–Mathematik–Leistungskurs, Abiturnote Einskommadrei. Ich hatte Ehrgeiz und sogar Interesse daran. Das ist der Brent, der Programmiersprachen beherrscht und Software schreibt. Nur so zum Spaß. Du weißt, wie das mit dem Gehirn ist: alles bleibt irgendwo gespeichert. Ein neuronales Netz. Ich habe vor acht Jahren einen Preis für ein Schulprojekt gewonnen: die Computersimulation eines neuronalen Netzes. Alle Informationen schlummern in organischen Zellkonfigurationen, man kann nur nicht nach Belieben darauf zugreifen. Man kann versuchen, zu vergessen, aber das Vergessen lässt sich nicht steuern. Und ich habe mich schließlich damit abgefunden, dass es nicht passieren wird. Alles hat seinen Platz. Im Gedächtnis, aber auch im Leben. Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, diesem Teil von mir wieder mehr Platz einzuräumen.«

Brent zieht sein Hemd zurecht, das über seinem Bauch spannt und redet weiter.

»Dieses Studium macht mich krank. Das Selbstverständnis dieser Leute kotzt mich an. Ihre Blasiertheit ekelt mich. Die Ignoranz der Naturwissenschaften und Techniker ist wenigstens weniger überheblich.«

Er lässt Stefano die Chance, etwas auf seine Ausführungen zu erwidern. Aber Stefano ist noch mit seiner Überraschung beschäftigt. Er lässt die Chance ungenutzt vorüber ziehen.

»Alles ist nützlich. Aber wir in unserem selbstverliebten, egozentrischen Kunstuniversum sind so ahnungslos. Technik? Naturwissenschaften? Fehlanzeige! Diese Künstler, Lehrer und selbsternannten Intellektuellen, die ohne fremde Hilfe keine Mail verschicken können finde ich lächerlich. Da hat niemand eine Vorstellung, was passiert, wenn er die Enter–Taste auf seinem Computer drückt. Noch schlimmer finde ich, dass die meisten nicht einmal Interesse haben, es herauszufinden. Und dann verströmen sie diese unglaublichen Arroganz, die ganze Welt erklären und verstehen zu können. Wir tun, als verfügen wir über das wichtige und richtige Wissen, nur weil wir ein paar Artikel über Andy Warhol und Judith Butler gelesen haben, ein Seminar über die frühen Kubisten belegen und wissen, wie Duchamp das Kunstsystem verarscht hat. Ästhetik, Kunstgeschichte und Theorie. Das ist uns wichtig, und wenn ein mittelmäßiger Galerist einem uninteressierten Kunden dein Bild aufschwatzen konnte, weil es farblich zur Wohnzimmereinrichtung passt, nennt man das Erfolg.«

Brent wartet auf eine Reaktion, doch Stefano schaut ihm regungslos aber interessiert zu.

»Dieses Studium geschieht im luftleeren Raum. Und ich will wieder atmen können. Kennst du die beiden Hauptsätze der Thermodynamik?«

Stefano schüttelt langsam den Kopf.

»Damit bist du nicht alleine. An unsrer Schule kann dir sicher niemand sagen, was sie sind und warum sie für alle physikalischen und chemischen Prozesse so zentral sind. Es ist, als ob man Kunst sammelt, aber noch nie von Picasso gehört hat.«

»Oder von den Impressionisten?«

»Du fängst also langsam an, mich zu verstehen?«

»Allgemeinwissen einer modernen Gesellschaft! Anforderungen eines technisierten Zeitalters! So in dieser Art? Jetzt verstehe ich wenigstens deine Arbeiten. 'Entropiemessung einer Paarbeziehung', 'Resonanzfrequenz'. Jetzt macht vieles Sinn. Nein. Sinn macht es nicht. Es erklärt ein wenig, wie du auf diese merkwürdigen Titel gekommen bist. Schräg, mein Freund, ganz schräg. Aber großartig. Nur: Warum gleich alles hinschmeißen? Das verstehe ich nicht. Du meinst das ernst, oder?«

Brent grinst.

»Würdest du es mir denn glauben?«

Stefano zuckt mit den Schultern.

»Und ein anderes Studium anfangen?«

»Warum nicht?«

»Du spinnst.«

»Wenigstens bin ich in der Situation, mir es aussuchen zu können.«

Stefano fährt sich durch die Haare. Dann rümpft er die Nase.

»Deine fundamentale Kritik an unserem Studium und den Personen, die uns unterrichten, hat nicht zufällig etwas mit einem Ausflug zu tun, den wir beide vor drei Wochen zusammen unternommen haben?«

Mit dieser kleinen Bemerkung hat Stefano es wieder geschafft. Blitzartig ist er zum Gegenangriff übergegangen. Ansatzlos. Totale Überrumpelung. Es bleibt nichts anderes übrig, als sich darauf einzulassen.

»Du meinst, es könnte etwas damit zu tun haben?«

»Ich denke, es geht nicht nur um Kunst versus Technik, Geisteswissenschaft versus Naturwissenschaft und so. Wir haben auch einen ästhetischen Konflikt. So in der Art: Live–Art versus Objektkunst. Wie sieht es damit aus?«

Brent zögert, dann beschließt er, diesem Weg doch noch eine Weile zu folgen.

»Vielleicht.«

Stefanos Lachen enthält eine Spur Anerkennung.

»Du willst es wirklich wissen, Brent. Respekt! Du machst keine halben Sachen.«

Um ehrlich zu sein – und Brents Anspruch, ehrlich gegenüber sich selbst zu sein, ist im Laufe der letzten Jahre unablässig gewachsen – hat Brent den Ausflug auf das Live–Art–Festival mit Stefano noch nicht mit seiner jetzigen Situation in Zusammenhang gebracht. Aber Stefano kann mit seiner Vermutung nicht ganz falsch liegen. Da gibt es eine Spannung, ganz tief, mit dem sich oft überraschende Erkenntnisse ankündigen. Ein innerliches Zittern wie das Vibrieren einer zum Bersten gespannten und dann angeschlagenen Saite. Es erinnert ihn an das Gefühl von Entspanntheit bei gleichzeitiger geistiger Anregung. Wie an diesem Abend in der ehemaligen Kirche. Vielleicht hatte es damals schon angefangen. Und bis heute nicht aufgehört? Vielleicht war es schwächer geworden, weil niemand diese Faszination teilte, aber es war niemals verstummt. Wie der Ausläufer eines Erdbebens auf der anderen Seite des Globus, dessen Schockwellen auch in der Ferne noch zu messen sind. Brent gibt sich etwas entrüstet:

»Tu nicht so, als ob dich das ruhig gelassen hätte.«

»Habe ich nie behauptet.«

»Dann tue doch nicht so verwundert.«

Stefano hebt abwehrend die Hände: »Ich will mein Lebenskonzept nicht wegschmeißen, nur weil ein paar Musiker in einer alten Kirche Cage gespielt haben.«

»Du vergisst die Käfige. Die Videoprojektionen. Und vor allem vergisst du diese unglaubliche Musik. Dieses Klanggebilde. Die Texte. Als ob die Musik nur für sie gespielt wird. Diese Stimmen. Diese absolut paranoiden Texte.«

»Schon klar. Very Rilke, mein Freund. So Du–Musst–Dein–Leben–Ändern–mäßig. Ein bisschen zu romantisch für meinen Geschmack, aber vielleicht ist es ja die richtige Zeit für große Gefühle.«

»Es formt sich aus, der Gegenstand liegt schon im Stein verborgen, muss freigelegt werden von seiner Hülle. Nicht der Stein ist es, der den Gegenstand zum Kunstwerk macht.«

Stefano rückt auf seinem Platz herum, setzt sich schließlich kerzengerade auf und seinen belehrenden Zeigefinger aus. In Brents dozierenden Ton fährt er fort:

»Es ist das Nichts, das ihn umgibt. Das Nichts, dass wir als Künstler aus dem Stein herauszuschlagen haben.«

Sie lachen. Dann prosten sie sich zu und Brent schüttelt den Kopf. Stefanos Stimme klingt jetzt fast melancholisch.

»Mensch, was waren wir begeistert. Ich meine, der Weichler ist nun nicht gerade ein Ästhetikexperte, aber wir haben seine Worte wie Drogen aufgesogen. Der hätte uns alles erzählen können und wir hätten es für die größte Erkenntnis dieser Welt gehalten. Erinnerst du dich? Da gibt es einen Studienanfängerstefano, der mit einem Studienanfängerbrent zusammen hier in dieser Kneipe sitzt und beide fühlen sich großartig bei dem Versuch, vor gedachte Gedanken als ihre eigenen zu empfinden.«

Brent ballt die Hand zur Faust und lässt sie auf eine Erdnuss nieder fahren.

»Ich habe keine Lust mehr, mich ins Nichts zu arbeiten. Einem Gegenstand auf den Leib zu rücken und ihn Stück für Stück zum Nichts machen, bis nur noch ein Werk übrig bleibt, was man im Idealfall Kunstwerk nennt und einen riesigen Haufen Abfall. Das ist scheiße.«

»Und was haben diese Performer, was du in deinen Arbeiten nicht findest?«

»Leben!«

»Blödsinn. Das liegt nur an dir.«

»Nein. Es liegt am Material. Ich habe keine Lust mehr, mich mit totem Material auszudrücken. Mein Material muss leben. Ich muss selbst zu meinem Material werden.«

Der Keller beginnt sich zu leeren. Das ist jeden Samstag das Gleiche, die Palästinenser brechen alle gleichzeitig auf und nur noch eine handvoll Gäste bleiben übrig. Brent beobachtet die Arbeit des Studenten hinter der Theke. Mit langsamen, kreisenden Bewegungen fährt er konzentriert über den polierten Holztresen, während er mit der anderen hin und wieder zum Abschied für einen der Gehenden hebt.

Manchmal kommt die Klarheit vollkommen unerwartet.

»Es muss etwas passieren.«

Stefano lässt ihm die Zeit, damit sich die Gedanken setzen können.

»Nachdem du deine Abschlussarbeit selbst zerstört hast, wird zwangsläufig etwas passieren.«

Brent seufzt, aber Stefano scheint Spaß an der neuen Situation zu finden.

»Da wir das nun geklärt haben, sollten wir anfangen uns Gedanken zu machen, wie du mit der Situation in der Schule umgehst. Jetzt alles hinzuschmeißen wäre irgendwie schon daneben.«

Widerwillig stimmt Brent zu.

»Es wäre einfach.«

»Und unehrlich.«

Es war nicht perfekt gewesen, aber es hatte eine gewisse Schönheit besessen. Ein glatter Übergang. Ein Studium endet, ein neues fängt an. Ein Abschlusszeugnis ist Brent nie wichtig gewesen. Er stemmt sich aus dem Spalt zwischen Tisch und Sitzbank und steuert zur Theke. Ohne ein Wort stellt Brent die leeren Bierflaschen auf die saubere Theke. Er zahlt so, dass er genügend Wechselgeld für den Zigarettenautomaten zurück bekommt. Als er zur kleinen Sitzecke in der Wand zurückkommt, bläst Stefano den Rauch seiner letzten Zigarette in einem scharfen Strahl nach oben.

Brent stellt die Flaschen polternd auf den Tisch.

»Hast du schon einen Plan, wie es weitergehen soll?«

»Bis eben wusste ich noch nicht einmal, dass es überhaupt weitergehen würde.«

Stefano nickt. Seine Augen funkeln vor Freude.

»Außerdem würdest du dir einen riesigen Spaß entgehen lassen.«

Brent ist zu müde, um seinen fragenden Blick hinter einer abgeklärten Fassade aus Langeweile zu verbergen. Aber Stefano versteht Brents Schweigen wie immer genau richtig. Es ist eine Aufforderung.

»Ich hab da eine Idee.«

Stefano lächelt verschmitzt.

»Und ich glaube, es ist eine gute Idee. Wir machen die Zerstörung einfach zum Schlusspunkt deiner Arbeit. Aufbau und Zerstörung. Das passt doch super zum Titel! Damit könntest vielleicht noch etwas retten. Und etwas von deinem Frust los werden.«

Stefano lässt sich von Brents noch fehlender Begeisterung nicht zurückhalten.

»Außerdem könntest du den Laden ein wenig aufmischen. Und du könntest deine neu entdeckte Leidenschaft fürs Performative ausleben.«

Brent seufzt: »Diese Gespräche bringen meist mehr Schwierigkeiten ein, als sie lösen.«

»Genau, mein Freund.«

Stefanos Lächeln wird breiter. Er schweigt bis sich auch auf Brents Gesicht ein Lächeln andeutet. Dann prosten sie sich zu.

»Genau.«

Resonanzfrequenz

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