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Erster Tag Donnerstag, 3. Mai 1990

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Die erste Salve erwischt den Mann und die Frau von hinten, die Körper stürzen auf den menschenleeren Platz vor dem Einkaufszentrum. Das Motorrad beschleunigt, zweite Salve im Vorbeifahren, die Leichen zucken unter den Einschlägen. Eine der Glastüren der Brasserie am Passageneingang zerbirst. Die Kellner werfen sich zu Boden. Der Schütze schwenkt unter Freudengeheul seine Maschinenpistole, und der Fahrer gibt mit halsbrecherisch hochgezogenem Vorderrad Vollgas. Der Geschäftsführer hastet zum Telefon. Das Motorrad wendet, quert den Mittelstreifen, biegt auf die fast leere vierspurige Straße ein, fährt über Rot und verschwindet.

Der Anruf geht um 10 : 03 Uhr beim Kommissariat von Levallois ein. Schießerei vor dem Einkaufszentrum. Tote oder Schwerverletzte, die Motorradtäter sind offenbar flüchtig. Um 10 : 45 Uhr betritt Lavorel ohne Anklopfen das Büro. Daquin sitzt vor einem Stapel Notizen am Computer und schreibt einen Bericht über die Ecstasy-Vertriebskanäle in Paris. Kann gerade mal aufblicken.

»Romero ist erschossen worden«, sagt Lavorel. Daquin steht auf, bleich, Kiefer zusammengepresst. »In Levallois, von zwei Kerlen auf einem Motorrad.«

Kurz nach den Morden von Levallois, gegen 10 : 30 Uhr in Argenteuil. Die beiden Kontaktbeamten der Cité Gagarine, eine Reihe vierstöckiger Betonklötze in Pastellfarben, Blau, Rosa, Orange, trinken im gegenüberliegenden Café-Tabac auf der Grenze zur Einfamilienhaussiedlung gerade ein Gläschen Roten, um die guten Beziehungen zur lokalen Bevölkerung zu pflegen, als ein schwarzes Motorrad angerast kommt und mit quietschenden Reifen vor Block C, Aufgang A hält. Zwei Männer, schwarze Montur, schwarzer Helm, steigen ab. Einer von ihnen nimmt eine Maschinenpistole aus der Satteltasche und streckt sie zum Zeichen des Triumphs zweimal zu den Fenstern des Gebäudes hoch, dann stürmen die beiden ins Treppenhaus.

Die Kontaktbeamten blicken sich an, ein Wink zum Wirt: keine Sorge, sind gleich zurück, sie überqueren die Straße, betreten vorsichtig das Gebäude und folgen den Unbekannten in respektvollem Abstand. Nicht schwer, die lachen und rangeln auf der Treppe, grölen unzusammenhängende Satzfetzen. Ein Stockwerk, zwei, drei, dann ihre Schritte im vierten und eine zuschlagende Tür. Die Kontaktbeamten warten einen Moment, steigen hoch in den Vierten, Hand an der Waffe, gehen mit gespitzten Ohren an den Türen entlang. Wohnung 406, kein Zweifel, die beiden Männer sind dort, man hört sie reden, zwei weitere Stimmen, sehr viel gedämpfter, vermutlich weiblich, dann schlagartig ohrenbetäubende Musik. Heavy Metal, flüstert der jüngere Polizist seinem Kollegen zu, der aufs Geratewohl nickt. Sie machen kehrt, schneller Rückzug ins Café-Tabac, Anruf beim Kommissariat von Argenteuil. Es ist genau 11 : 05 Uhr.

Der wachhabende Brigadier leitet die Meldung an verschiedene Polizeistellen weiter und landet schließlich bei dem Doppelmord im wenige Kilometer entfernten Levallois.

Daquin und Lavorel treffen am Tatort ein. Ein breiter Gehweg vor dem Eingang einer Ladenpassage, eigentlich ein ganzes Passagennetz mit Dachgarten, hinter dem drei eher luxuriöse Wohntürme aufragen.

Der Verkehr wird über eine Fahrbahnhälfte umgeleitet, der Tatort ist abgesperrt. Die Leichen wurden bereits weggebracht, nur zwei plumpe Kreideumrisse sind noch da, passend zu zwei dunklen Flecken, der eine groß, der andere kleiner, wie Spuren der Abwesenheit. Und ein paar versprengte Gegenstände, die ein Mann sorgfältig fotografiert. Ein Schlüsselbund. Vermutlich Romeros. Er muss ihn in der Hand gehabt haben. Sein Wagen parkt noch gut fünfzig Meter weiter auf der anderen Straßenseite. Einige Schritte von den Umrissen entfernt ein Damenarmband, aus Gold, wie es scheint, eine Haarspange aus Horn, eine blutverschmierte Plastiktüte, Kratzer und Löcher im Asphalt sowie großflächig verstreute dicke Scherben. In der Brasserie suchen Experten nach Einschusslöchern.

Daquin blickt auf, fast erleichtert, Romeros Leiche nicht sehen zu müssen. Mit dem Tod der Meinen bin ich noch nie klargekommen. Rund um den abgesperrten Bereich drängt sich eine kleine Menschenmenge, viele Frauen, vermutlich Angestellte der Ladengalerie, neugierig, fasziniert, entzückt. Es hat sich schon herumgesprochen, dass ein Polizist erschossen wurde. Von irgendwoher aufgetauchte kleine Jungs machen sich einen Spaß daraus, die Absperrgrenze zu übertreten, ein, zwei, drei Schritte, Sprung zurück, dann verschwinden sie lachend. Bloß nicht denken, dieser Abwesenheit keinen Namen geben. Keine Phrasen. Er dreht sich zu Lavorel um, der aufrecht und mit leerem Blick dasteht.

»Haben Sie eine Ahnung, was Romero hier wollte?«

Lavorel zuckt zusammen. »Nicht die leiseste, Chef. Er war heute früh nicht im Büro. Er hat uns nichts gesagt.«

Auf dem Vorplatz sind die Inspektoren und Techniker der Mordkommission mit Bedacht und präzisen Handgriffen am Werk. Daquin und Lavorel gehen zu ihnen.

»Commissaire Daquin. Ich bin Romeros Chef beim Drogendezernat. Und das ist Inspecteur Lavorel, sein Partner.«

Händeschütteln, gemurmelte Begrüßung, Beklommenheit. Der Staatsanwalt war da, ist schon wieder weg, er bestellt heute Nachmittag einen Ermittlungsrichter. Den Papieren zufolge, die man bei ihr gefunden hat, heißt das zweite Opfer Nadine Speck, sie ist neunzehn Jahre alt und wohnt in Lisle-sur-Seine, nicht weit von hier. Wie es aussieht, kennt man sie in dieser Ecke von Levallois, laut ersten Zeugenaussagen war sie in der Ladengalerie Stammkundin.

»Sie trug ihre Papiere in der Jacke bei sich. Und in ihrer Jackentasche waren außerdem zwei Tütchen, laut Aufschrift Aspégic. Das müssen wir natürlich vom Labor bestätigen lassen. Etwa zwei Mal zehn Gramm.«

Romero trifft sich mit einer Dealerin, die etwas bei sich trägt, das sehr nach Drogenproben aussieht, ohne dass irgendwer im Team davon weiß. Und er wird von Profis erschossen.

Ein Streifenwagen nähert sich, heulende Sirenen, Vollbremsung. Die Mörder wurden geortet, in einer Wohnblocksiedlung in Argenteuil.

Es ist 11 : 43 Uhr. Romero ist seit einer Stunde und vierzig Minuten tot.

Eine Stunde später ist Aufgang A von Block C der Cité Gagarine von Polizeikräften umstellt.

Die Polizisten riegeln sämtliche Gebäudezugänge ab, die Telefonleitungen werden gekappt, das gesamte Treppenhaus A und der Aufstieg zum Dach besetzt, die angrenzenden Wohnungen geräumt. Und man wartet. Die ganze Siedlung wartet. Kein Mensch, keine Regung auf den Freiflächen rings um die Wohnblocks. Niemand an den Fenstern, die die Polizisten von unten überwachen, um jeden Kommunikationsversuch mit den Belagerten zu unterbinden. Und die voll aufgedrehte Musik aus A 406 schallt weiter durch die Siedlung, ein dünner Lärmfilm über einer Stille zum Schneiden.

Daquin und Lavorel, die an der Operation nicht beteiligt sind, setzen sich im menschenleeren Café-Tabac ganz hinten auf eine gepolsterte Eckbank mit rissigem rotem Plastikbezug. Daquin ist eine imposante Erscheinung. Über eins fünfundachtzig kompakte Muskeln, massige Statur, Rugbynacken (er trug lange die Nummer 8), kantiges, glattes, undurchdringliches Gesicht. Mehr als zehn Jahre arbeitet Romero schon unter ihm. Und jetzt dieser brutale und bedrohliche Tod. Gleich wird man etwas mehr wissen. Er überbrückt das Warten mit Cognactrinken. Lavorel, blonder Brillenträger im blauen Blazer, seit fast sechs Jahren Romeros Teampartner, hält sich an Mineralwasser. Mit Romero verbindet ihn eine Kultur, die der Banlieues der Siebziger, immerwährende Verschworenheit, liebevolle Bewunderung für den brillanten Verführer, der er selbst nie war. In Schweigen versunken, hat Lavorel auf Autopilot geschaltet. Obwohl er nicht übel Lust dazu hätte, wagt der Wirt kein Gespräch anzufangen, sondern macht sich hinter seinem Tresen zu schaffen.

Um 14 : 15 Uhr rückt die Elite-Eingreiftruppe RAID an. Jetzt geht alles sehr schnell. Informationsabgleich mit den Verantwortlichen für die Treppenhausabriegelung. Männer aufs Dach, Männer in den Flur im vierten Stock. Akrobatisches Anbringen von zwei kleinen Wanzen an den Fensterscheiben zwecks exakter Lokalisierung der in der Wohnung befindlichen Personen. Alle im hinteren Zimmer. Von der dröhnenden Musik überlagerte diffuse Laute, sie vögeln, sagt jemand. Letzte Feinabstimmung. Eine kurze Explosion, die die Musik kaum übertönt, die Tür von A 406 liegt in Trümmern. In den folgenden zwei Sekunden springen drei Männer durch die Fenster in die Wohnung, fünf weitere drängen durch die klaffende Türöffnung, stürmen allesamt das hintere Zimmer, die Pistolen auf zwei Jungen und zwei Mädchen gerichtet, sehr jung, nackt auf einer Matratze ohne Laken. Sie werden brutal zu Boden gedrückt. Diverse Waffen, darunter die Maschinenpistole, liegen im Nebenzimmer auf dem Tisch. Ein Polizist reagiert sich ab, indem er die Hi-Fi-Anlage umtritt.

Es ist 14 : 30 Uhr. Romero ist seit etwas mehr als vier Stunden tot.

In einem winzigen düsteren Büro im Kommissariat von Levallois auf einer Tischseite Lavorel, auf der anderen einer der jungen Mörder, mit Handschellen an den Stuhl gefesselt. Daquin hat sich rittlings in den Hintergrund gesetzt. Für den Jungen war der Druckabbau brutal: die Explosion, die Bullen mit vorgehaltenen Waffen, der Hagel von Schlägen und Tritten, der ultraschnelle Abgang durchs Treppenhaus, splitternackt, eine Idee der RAID-Männer, die Anziehszene im Mannschaftswagen, umringt von einem Dutzend Bullen, die ihre Angst vergessen wollen. Er zittert vor Kälte und klappert unkontrolliert mit den Zähnen, ohne dass es ihm gelingt, auf Lavorel zu fokussieren, der seinerseits langsam einem fast fünfstündigen Blackout entsteigt und sehr beamtenmäßig beginnt.

»Name, Geburtsdatum?«

Angestrengtes Nachdenken. »Jean Larribi, 25. April 1972.«

Jean Larribi erscheint auf dem Computermonitor. Zwei Festnahmen, im September ’89 und im April ’90, wegen Hehlerei mit gestohlenen Motorradteilen, als Komplize eines mehrfach vorbestraften Automechanikers, einem gewissen Descloux. 1990 saß er sechs Monate im Knast. Der zweite Mann, Blondeau, ist polizeilich nicht bekannt.

Durch die Wand hört man Stimmen und undefinierbaren Lärm.

»Dein Freund«, sagt Lavorel mit einem mehrdeutigen Lächeln. »Wohnhaft?«

»Ich wohne in der Cité Gagarine in Argenteuil, Block C, Aufgang A, Wohnung A 406.«

»Das ist nicht deine Wohnung.«

Larribi fühlt die Blicke wie Nagelbohrer in sein Hirn dringen. Lavorel hockt winzig klein am Ende einer schwarzen Röhre. Immer noch eisige Kälte, unkontrollierbares Zittern.

»Die der Mädchen. Vanessa und Karine.«

»Ihre Nachnamen?«

»Weiß ich nicht. Vorher haben Blondeau und ich in den Kellern der Cité Gagarine gelebt.«

Daquin steht auf, geht ein paar Schritte. »Kürzen Sie ab, Lavorel, wir steuern auf eine zeitgenössische Version von Zwei Waisen im Sturm zu, und daran bin ich nicht interessiert.«

Lavorel fährt fort: »Womit verdienst du deinen Lebensunterhalt?«

Auf der anderen Seite erschüttern zwei dumpfe Schläge die Wand. Larribi fühlt sie in seiner Brust nachhallen.

»Ich arbeite mit einem Automechaniker zusammen.«

»Descloux, ich weiß. Aber worin genau besteht diese Arbeit?«

Larribi befindet sich schlagartig auf vertrautem Terrain, er hört den Lärm der Motoren, atmet den Geruch des verbrannten Öls. »Descloux frisiert Motorräder, und nachts machen wir Rennen im Industriepark Garonor. Da kommt viel Volk, die Leute schließen Wetten ab, und der Sieger kriegt ’nen Anteil. Ich fahr ganz gut damit.«

Lavorel ist riesengroß geworden und schwebt um ihn herum. Nicht wirklich bedrohlich. Wird schon werden.

»Und welche Rolle spielt Blondeau dabei?«

»Er ist mein Leibwächter.«

»Sieh mal an … der pure Luxus.«

»Da sind ’ne Menge Scheine im Umlauf.«

»Und vor dem Rennen Amphetamine?«

»Die helfen …«

»Das Crack, das wir in A 406 in dem Schuhkarton gefunden haben, ist aber nicht für die Rennen. Ist es für den Verkauf?«

Larribi meint, das Knacken des schmelzenden Crackklümpchens zu hören, erschauert unter der sich im ganzen Körper entladenden Lust, lächelt ins Leere. Von wegen Verkauf …

Daquin rückt seinen Stuhl an den Tisch und setzt sich neben Larribi. Eine kleine Ohrfeige, damit er seine fünf Sinne zusammennimmt. »Jetzt reicht’s. Ich erkläre dir die Spielregeln. Das Crack und das übrige Zeug sind uns egal. Du hast zwei Menschen ermordet, einer davon war Polizist.«

»Nicht ich, ich hab nicht geschossen.«

»Das entscheiden wir, später. Und im Gegensatz zu dir ist dein Kumpel nicht vorbestraft. Vorerst kein Anwalt, kein Richter, für die nächsten Stunden keine Drogen. Polizistenmörder, die Wohnung voller Waffen, eine spektakuläre Festnahme, niemand wird sich wundern, dich in Einzelteile zerlegt vorzufinden.« Im Nebenraum eine schnelle Folge dumpfer Schläge, mehrfaches Stöhnen. Daquin lächelt. »So wie deinen Kumpel. Also, du erzählst uns jetzt, wie und warum ihr die beiden getötet habt.«

Larribi ist immer noch benebelt. Doch jetzt spürt er die Gefahr. Er muss hier weg. Er versucht aufzustehen, plumpst auf seinen Stuhl zurück, schüttelt den Kopf. »Ich hab nicht geschossen. Ich weiß nichts. Blondeau hat mich als Fahrer bei einem Coup angeheuert, ohne mir irgendwas zu sagen.«

Der Computerdrucker spuckt ein paar Wörter auf ein Blatt, das Daquin überfliegt. »Blondeau behauptet etwas anderes.« Wedelt mit dem Blatt. »Er behauptet sogar das Gegenteil.« Von der anderen Seite der Wand hört man das Geräusch von splitterndem Holz, vielleicht ein Stuhl, gefolgt von einem kurzen Schrei, dann Stille. »Und das könnte seine endgültige Version sein.«

Daquin steht auf, umschließt mit einer Hand Larribis Hals, Finger auf der Schlagader, und hebt ihn samt Stuhl ein paar Zentimeter hoch. Gefesselt, bewegungsunfähig, schreckensstarr, die Augen aufgerissen, spürt Larribi, wie er das Bewusstsein verliert. Daquin lässt ihn los, er sackt in sich zusammen, schnappt mehrmals nach Luft, beginnt wieder mit Zähneklappern. Mit der Kälte ein hohles Gefühl in der Lunge und endlich die glasklare Erkenntnis, dass er in der Falle sitzt. Aus dem Nebenzimmer hört man Füßescharren und vor dem Kommissariat die Sirene eines Polizeifahrzeugs.

»Los jetzt, erzähl.«

»Blondeau wurde bezahlt, damit er das Mädchen umlegt …«, er stockt, scheint abzudriften. Neuerliche Ohrfeige, nicht sehr fest, nur zur Erinnerung an den Ernst des Lebens, »… ein Unbekannter, achtzigtausend Franc in zwei Raten, eine vorher, eine nachher.«

»Das Geld, das in der Wohnung gefunden wurde?«

Larribi nickt.

»Wie hat er euch kontaktiert?«

»Er hat bei den Mädels angerufen, gestern früh … na ja, früh weiß ich nicht, wir haben geschlafen …«

»Wer wusste, dass ihr dort wohnt?«

Verblüffung auf Larribis Gesicht. Stimmt, wer eigentlich?

»Die Mädels.«

»Dummkopf.« Eine Ohrfeige. »Wer noch? Descloux?«

»Ja, der sicher.« Er zuckt verdrossen die Achseln. »Ich weiß nicht mehr.«

»Weiter. Was hat der Kerl am Telefon gesagt?«

»Er wollte uns beide treffen, mit dem Motorrad und den Waffen. Gestern waren wir verabredet, Punkt siebzehn Uhr an der BP-T ankstelle Porte de Paris in Saint-Denis.«

»Na also. Jetzt wird’s interessant, nutz deine Chance und streng dich an.«

»Er kam gleich nach uns. Wir haben das Motorrad vollgetankt, das war so abgemacht. Er hielt an der Zapfsäule daneben, fing an zu tanken. Dann kam er zu uns rüber, er redete mit meinem Kumpel, schaute in die Satteltasche. Ich hab nicht mit ihm geredet. Blondeau hat geredet.«

»Es ist uns egal, wer mit ihm geredet hat. Was er gesagt hat, wollen wir wissen.«

»Er sagte zu Blondeau, ihr müsst ab neun Uhr dreißig in Levallois auf der Avenue du Général-de-Gaulle sein, eine Frau wird mit dem Bus dort ankommen und zu der Brasserie im Einkaufszentrum gehen, jung, um die zwanzig, eins fünfundsechzig, sehr schlank, rückenlanges blondes Haar. Sie ist um zehn dort verabredet, sie darf diese Brasserie nicht betreten. Wir hielten uns mit dem Motorrad auf dem Parkplatz versteckt, wir haben sie ankommen sehen. Bis wir die Maschine in Gang hatten, war ein Mann bei ihr. Blondeau hat geschossen.«

»Ihr solltet lediglich die Frau töten?«

»Ja.«

»Der Mann wurde zufällig getötet?«

»Ja.«

»Kommen wir auf den Unbekannten an der Tankstelle zurück. Was für ein Wagen?«

»Ein weißer Clio. Das Kennzeichen hab ich mir nicht gemerkt.«

»Du tätest gut daran, sachdienlichere Angaben über den Kerl zu machen.«

Larribi konzentriert sich angestrengt. Lavorel befreit ihn von den Handschellen, er reibt sich energisch das Gesicht. »Um die fünfzig. Ziemlich groß, etwas größer als ich, schlank. Kantiges Gesicht«, er malt es mit beiden Händen in die Luft, »sehr kurzes schwarzes Haar, an der Stirn spitz zulaufend … Gerade …«, er malt erneut, »… schwarze Brauen.«

Daquin wendet sich Lavorel zu: »Bestellen Sie Dumont her, er ist der beste Phantombildzeichner, er soll mit ihm arbeiten. Geben sie ihm inzwischen ein paar kleine Glückspillen, die ihm helfen, seine intellektuellen Fähigkeiten zu reaktivieren.« Zu Larribi: »Wenn das Phantombild, das du von deinem Auftraggeber machst, uns hilft, ihn aufzuspüren, ziehen wir die Möglichkeit in Betracht, dass nicht du geschossen hast. Wenn nicht, belasten wir den einzigen Mann, der uns bleibt.«

Das Büro von Commissaire Gonzalès, Leiter des Kommissariats von Levallois, ist überfüllt und verqualmt, die Atmosphäre angespannt. Zwei Brigadiers stehen etwas verlegen am Fenster. Die beiden mit dem Doppelmord vom Morgen betrauten Inspektoren der Mordkommission, Auberger und Denoël, haben sich an einen Tisch gesetzt, vor sich eine Akte, in der sie tuschelnd blättern, während Gonzalès hinter seinem Schreibtisch lauert und auf einen Block kritzelt. Sie alle sind mit der bisherigen Ermittlungsführung recht zufrieden, aber das vor den Kollegen vom Pariser Drogendezernat zu bekunden – ausgeschlossen. Die stehen gesammelt in einer Ecke des Raums, Daquin und Lavorel nebeneinander, ein Stück dahinter Le Dem, der soeben von der Präfektur am Quai des Orfèvres 36 eingetroffene Dritte im Team.

Gonzalès räuspert sich. »Lagebericht, meine Herren.«

Inspecteur Auberger wendet sich Daquin zu und beginnt: »Die beiden Festgenommenen sind die Mörder, daran besteht kein Zweifel. Die in der Wohnung gefundene Maschinenpistole ist die Tatwaffe. In der Wohnung wurde zudem ein brauner Umschlag gefunden, vierzigtausend Franc in gebrauchten Scheinen, die von dem Auftrag stammen könnten. Außerdem sind beide geständig. Sie schieben sich gegenseitig die Hauptverantwortung zu, erzählen aber im Kern annähernd dieselbe Geschichte. Und wollen kooperieren. Die Beschreibungen des mutmaßlichen Auftraggebers hingegen stimmen nicht überein. Sie variieren zwischen dreißig bis fünfunddreißig und fünfzig Jahre, groß und schlank beziehungsweise mittelgroß ohne weitere Details, kantiges beziehungsweise eher fülliges Gesicht. Die einzigen halbwegs verlässlichen Angaben: pechschwarze Haare und Augenbrauen. Und selbst hier: Der Haaransatz ist nicht derselbe. Für Blondeau hatte der Typ einen ausländischen Akzent, aber Genaueres über die Herkunft war ihm nicht zu entlocken. Der andere weiß nicht. Ein sehr vages Phantombild also, und wenn man ihnen zum jetzigen Zeitpunkt einen Verdächtigen vorführt, droht die Identifizierung ein reines Glücksspiel zu werden. Bei zwei Junkies kaum verwunderlich. Die ersten Überprüfungen an der Tankstelle Porte de Paris haben noch nichts erbracht, weil der Angestellte, der gestern um siebzehn Uhr dort war, inzwischen gegangen ist und erst morgen um vierzehn Uhr wiederkommt. Bis dahin ist er nicht erreichbar.«

»Es stellt sich allerdings eine ernste Frage«, fährt Denoël, der zweite Inspektor, fort. »Das war keine Profiarbeit. Die Ausführenden haben für gewöhnlich nie direkten Kontakt mit dem Auftraggeber. Ist es wirklich denkbar, dass jemand solchen Armleuchtern einen Mordauftrag erteilt?«

»Stimmt schon, das Ganze wirkt etwas stümperhaft«, sagt Daquin. »Das müssen wir im Hinterkopf behalten. Folgt man aber ihrer Version, war kein Polizistenmord geplant. Und der Auftraggeber musste rasch handeln. Nadine Speck hat Romero vor zwei Tagen in der Präfektur angerufen. Wir haben in Romeros Unterlagen den Hinweis auf ein Telefonat mit ihr gefunden, unter den Initialen N.S., vergangenen Dienstag um neun Uhr dreißig. Und auf die Verabredung heute Morgen um zehn in Levallois. Kaum zwei Tage, um den Mord zu organisieren.«

Lavorel und Le Dem betrachten angelegentlich die vor ihnen liegenden Akten. Gewiss, man hat den Hinweis auf Nadine Specks Anruf und die Verabredung gefunden, allerdings in Romeros privatem Terminkalender bei ihm zu Hause, nicht im Dezernat. Und beim Datum vom letzten Dienstag hat er notiert: 9 : 30 N. S. tel. (Martinon). Und der Name Martinon ist sämtlichen Teammitgliedern gänzlich unbekannt. Aber man gibt sich keine Blöße.

Daquin fährt fort: »Achtundvierzig Stunden, um einen Mord zu planen, das ist kurz, wenn man keine Erfahrung hat und auf keine Organisationsstruktur zurückgreifen kann. Und eins müssen wir wohl zugeben: Wir wären den beiden Armleuchtern nie auf die Spur gekommen, wenn sie nicht dummerweise zwei fabelhaften Kontaktbeamten über den Weg gelaufen wären, die während der Dienstzeit einen gehoben haben. Eine recht außergewöhnliche Sachlage, nicht wahr, Commissaire?«

»Waschlappen wie die brüsten sich am Ende immer mit ihren Heldentaten, und über die Junkieszene kommt uns das irgendwann zu Ohren.«

»Sicher, aber zu spät. Außerdem sind Vorstadtpflanzen zarte Gewächse, ein Motorradunfall, eine Abrechnung, eine Überdosis … Nein, ich finde die Durchführung nicht schlecht. Wir werden nämlich noch viel Glück brauchen, um die Spur bis zum Auftraggeber zurückzuverfolgen.« Glück. Wie oft hat er zu Romero gesagt, er sei ein guter, weil vom Glück verwöhnter Polizist?

»Lassen Sie uns jetzt über das Mädchen sprechen«, sagt Gonzalès, den Blick auf eine aufgeschlagene Akte gerichtet. »Nadine Speck war neunzehn Jahre alt, sie wohnte in Lisle-sur-Seine, zusammen mit ihrem Bruder, der dort Stadionwart ist. Ein hochanständiger Typ, dem Commissaire von Lisle-sur-Seine zufolge, der ihn gut kennt, sie treffen sich regelmäßig, um Sicherheitsfragen rund um die Spiele zu besprechen. Ein Arbeitstier, nie auffällig geworden. Das Mädchen scheint keiner nennenswerten Tätigkeit nachgegangen zu sein, strafrechtlich liegt aber nichts gegen sie vor. Der Commissaire von Lislesur-Seine hat Speck persönlich vom Tod seiner Schwester unterrichtet, die er zuvor in der Leichenhalle identifiziert hatte, ohne jedoch zu sehr ins Detail zu gehen. Tatsächlich hat er ihm erzählt, dass sie wahrscheinlich zufällig getötet wurde, bei einer Abrechnung zwischen rivalisierenden Banden …«

Daquin verzieht das Gesicht. Das gefällt mir nicht. Ein Moment Schweigen. Dann sagt er mit undurchdringlicher Miene: »Wir greifen das alles morgen noch einmal auf.« An die beiden Inspektoren der Mordkommission gewandt: »Wir haben um fünfzehn Uhr einen Termin im Büro von Richter Bertrand in Nanterre. Wir werden ihn bitten, uns mit diesem Fall zu betrauen, in Zusammenarbeit mit Ihnen.«

Es ist 19 : 40 Uhr. Romero ist seit fast zehn Stunden tot.

Lavorel fährt auf direktem Weg heim nach Saint-Denis, nicht weit von Levallois. Eine Vierzimmerwohnung in einem Sozialwohnungsbau im Stadtzentrum, neben der Basilika. Seine Frau Francine ist Grundschullehrerin und Stadträtin. Als er zur Tür hereinkommt, sind sie und seine beiden vier- und sechsjährigen Töchter gerade in der Küche und essen unter fröhlichem Gelächter Crêpes, die die Ältere nach Bedarf frisch bäckt. Die Jüngere hat eine Zuckerschnute. Der Clan der Frauen.

»Wir haben nicht so früh mit dir gerechnet, du hast nicht angerufen, dass du zum Essen zu Hause bist …«, sagt Francine und stockt. »Geht’s dir nicht gut?«

Sie lässt die Mädchen in der Küche allein, schließt die Tür, zieht ihn ins Schlafzimmer. Sie ist ein solcher Halt. Es ist nicht sicher, dass er nicht geweint hat. Eine Stunde später schläft er traumlos, vollgestopft mit Schlafmitteln.

Daquin ist ins Drogendezernat am Quai des Orfèvres 36 zurückgefahren. Er lehnt in seinem Sessel, die Füße auf dem Schreibtisch, der Geist träge. Wie viele Cognacs seit heute früh? Mindestens ein Dutzend … Romero auf offener Straße erschossen, dazu eine Unbekannte und Kokain. Hört sich zu Gonzalès sagen: Ein Polizistenmord war nicht geplant. Was weiß ich denn schon? Soll ich mich allein auf die Aussagen dieser zwei Junkies verlassen? Romero, zehn Jahre meines Lebens, kann ich mich so getäuscht haben?

Er sieht sich um. Die Holzschränke voller Akten, die Anrichte mit der Espressomaschine, die große Korkpinnwand, an der sich Nachrichten, Pläne, Adressen, Notizzettel, Termine drängen. Neben dem Schreibtisch der Tisch, die vier Stühle, zweckmäßig und nullachtfünfzehn, Hunderte von Besprechungen mit seinen Inspektoren. Verstörter Blick auf diese vertraute Umgebung.

Daquin steht schwerfällig auf, macht sich einen pechschwarzen Espresso. Stille. Das Büro liegt einsam am Ende eines Flurs im obersten Stock des großen Gebäudes, und sein Fenster geht zum Hof. Allein. Keine Lust, heute Abend allein in das efeuüberwucherte stille Häuschen in der Villa des Artistes zurückzukehren. Blick auf die Armbanduhr. 20 : 30 Uhr. Sam muss noch in der Redaktion sein, er hat Bereitschaft. Anruf.

»Sam, ich brauch dich heute Nacht. Sehen wir uns nachher bei mir?«

Noch ein Espresso. Daquin schaltet den Computer ein, er muss für das Treffen mit dem Richter morgen Nachmittag einen Bericht anfertigen. Mit zu viel Promille und dem Kopf voller Bilder von Sams dargebotenem nacktem Körper. Erstes Ziel, die Ermittlung unbedingt im Drogendezernat behalten. Romero wurde bei einem Treffen mit einem Spitzel erschossen, im Rahmen einer Ermittlung, mit der ich ihn betraut hatte … Welche Ermittlung? Kokain, Levallois … ich brauche einen Anknüpfungspunkt. Eine Folgerecherche im PAMA-Fall vom letzten November, ein Kokainring im Umfeld der Bürotürme von La Défense. Der Doppelmord beweist die Existenz dieses Rings und seine Macht. In Zusammenarbeit mit dem kriminaltechnischen Labor konzentriert sich unsere Ermittlung auf die Waffen und das Geld aus dem Auftrag. Und auf die Identifizierung des Auftraggebers, indem wir uns Romeros Akten noch einmal vornehmen. Was nur wir tun können.

Aufblitzen der kräftigen Schenkel, der Blässe des Hinterns, rund, muskulös.

Auch wenn nichts richtig ins Bild passt, weder die beiden Armleuchter von Mördern noch Romeros fehlende Vorsichtsmaßnahmen noch letztlich das Vorhandensein von zwanzig bis dreißig Gramm Kokain am Tatort. Aber mit solchen Details wird sich der Richter nicht aufhalten. Ich werde ihm sagen, dass in dieser Sache Eile geboten ist. Spuren lassen sich leicht beseitigen, und die Verbindung zwischen den beiden Fällen ist schon jetzt so dürftig … Und natürlich kein Wort über besagten Martinon, solange wir nichts über ihn wissen.

Schluss für heute Abend. Es ist fast elf. Nur noch ein obsessiver Gedanke: Sam nehmen, jetzt. Pralles Geschlecht und surrender Kopf.

Als Daquin heimkommt, liegt der große Raum im Parterre im Dunkeln, doch im Zwischengeschoss brennt Licht. Er steigt die Treppe hoch, Stufe für Stufe, als sei dies die letzte Überlebenschance, als ginge direkt hinter ihm die Welt unter, mit jedem Schritt ein Stück mehr. Sam schläft, liegt nackt auf dem Bauch, die Arme gekreuzt, schwach beleuchtet von einer Lampe auf dem Boden. Seine Silhouette ist irreal, leblos, tot … Leben! Rausch – Begehren, Wut, Alkohol. Tief sitzende Aggression. Daquin dringt gewaltsam in den Körper ein, der sich widersetzt, ersticktes Wimmern ins Kopfkissen, der Leib windet sich, um zu entkommen. Daquin, so viel schwerer, so viel breiter, stemmt sich mit seinem vollen Gewicht gegen ihn. Und der andere gibt plötzlich nach. Da, endlich, der Orgasmus, strahlend hell, gewaltig.

Schlaf nicht ein. Dieser reglose Körper, die Arme um den Kopf gewinkelt, ohne Gesicht und ohne Stimme unter deinem Gewicht. Schlaf nicht ein. Diesen Mann voller Wärme, deinen Geliebten, verlierst du, wenn du einschläfst. Leise flüsternd: Sam, hilf mir da raus.

Eiskalte Dusche, Bademantel. Daquin geht hinunter in die Küche, Espresso machen. Steigt mit einer vollen Kanne und zwei Tassen wieder nach oben, kniet sich neben das Bett, füllt beide Tassen. Sam sitzt an die Wand gelehnt im Schneidersitz auf dem Bett, schmales Gesicht, das feuchte schwarze Haar klebt an der Stirn, wachsamer blauer Blick, Kraft und ein Schuss Angst. Eine unendlich verführerische Mischung. Er nimmt seine Tasse, trinkt kleine Schlucke.

Langes, träges, intimes Gespräch über die Dinge des Lebens, dann: »Wenn ich mich recht erinnere, hast du vor deinem Aufenthalt in den Staaten beim FC Lisle-sur-Seine gespielt, oder?«

»Ja. So vor sechs, sieben Jahren. Da war das längst nicht der Verein, der es heute ist. Damals war es ein Amateurclub. Ich erhielt hier und da Spielerprämien, war aber kein richtiger Profi. Als er in die zweite Liga aufstieg, bin ich nicht geblieben, ich war nicht gut genug.«

»Ich fahre morgen dorthin.«

»Aha, wieso?«

In dem blauen Blick überwiegt schlagartig die Angst. Merkwürdig. »Hat sich so ergeben. Heute wurde bei einer Abrechnung unter Dealern eine junge Frau erschossen, und sie ist die Schwester des Stadionwarts. Ich will mit ihm reden.«

»Ich fahre morgen Abend für die Zeitung hin. Ein wichtiges, womöglich entscheidendes Spiel um die Meisterschaft.«

Sam stellt seine Tasse auf den Boden, zwei Falten auf dem flachen Bauch. Daquin streicht leicht über den Nacken, den das etwas zu lange schwarze Haar verdeckt, fährt die Schulterlinie entlang, berührt die pochende Vene am Halsansatz, streift die Brustwarze, stützt sich auf die flache Hüfte, gleitet zum Rücken, über die weiche, warme Haut im Kreuz, Aufwallung von Zärtlichkeit.

»Lass mich dich lieben, Sam, ganz respektvoll, ganz langsam, und dich befriedigen. Und dann lass mich neben dir einschlafen.«

Abpfiff

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