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Die Atopie des Sokrates

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Sonderbar, verschroben, außergewöhnlich, befremdlich – vielleicht ein Fremder? Zweifellos erstaunlich, unbegreiflich, irritierend. Sokrates ist fehl am Platz, außerordentlich, außer Ortes. Das griechische Epitheton, das nur für ihn geprägt worden zu sein scheint, lautet: atopos.21

Was aber bedeutet atopia? Im Phaidros bezeichnet das Wort die vom Unerwarteten und Unüblichen erzeugte Verstörung. Atopia ist nicht nur eine Seelenregung, sondern charakterisiert denjenigen, der bei den anderen Befremden und Verwirrung hervorruft. So erzählt Alkibiades, der im Gastmahl eigentlich von den denkwürdigen Taten des Sokrates berichten will, schließlich nur von dessen einzigartigen, wunderlichen, exzentrischen Zügen, die deshalb im Gedächtnis der Zeitgenossen und der Nachgeborenen geblieben sind.22

Sokrates ist das personifizierte philosophische Staunen, das thauma schlechthin. Er zieht an und stößt ab, er fasziniert und beunruhigt. Die von ihm hervorgerufene Wirkung wird mit dem Biss einer »Natter« oder mit einem Stromschlag verglichen, wie der von einem »Krampfrochen« erzeugte, der jeden betäubt oder erstarren lässt, der sich ihm nähert und ihn berührt. Sokrates selbst bezeichnet sich als eine stechende »Bremse«.23 Nur wenige erholen sich von diesen Bissen, Stichen, Schlägen und Stößen. Die meisten wanken unter der Last des Traumas und halten frustriert, enttäuscht und gekränkt inne.

Sokrates ist der Archetyp des Philosophen. Das bedeutet, dass die Philosophie von Beginn an höchst befremdlich und verfremdend wirkt. Sie ist nichts für jedermann. Sie besänftigt nicht, sie tröstet nicht, beruhigt nicht. Für einige ist sie unnütze Ablenkung und kindischer Zeitvertreib, während andere in ihr ein gefährliches Spiel erblicken, das betäubt, berauscht und in den Ruin treibt (vgl. Gorgias, 484c-486a). Sie ist nicht leicht zu erlernen. Was wäre das auch für eine Lehre? Im Unterschied zu den Sophisten sagt Sokrates, dass er nichts wisse. Es wird nichts mitgeteilt – nur ein Schlag versetzt.

Sokrates ist außerörtlich, fehl am Platz, atopos. Mit ihm betritt ein neuer Menschentyp die Bühne der Geschichte: der Philosoph.24 Aufgrund seiner einzigartigen Rätselhaftigkeit, die von einer langen Reihe an Philosophen wieder und wieder interpretiert wird, gelangt er zu unsterblichem Ruhm, auch wenn er keine Schriften hinterließ. Er hat jedoch auch nicht geschwiegen; im Gegenteil, er begründete eine neue Gattung: den Dialog. Nach seinem Tod versuchten seine Schüler, die ihn bei der Befragung seiner vielfältigen Gesprächspartner in Erinnerung behalten wollten, den unwiederholbaren mündlichen Dialog in schriftlicher Form wiederzugeben. Von dieser sokratischen Literatur sind jedoch nur Fragmente erhalten geblieben.25 Zwei Quellen wurden hingegen nahezu vollständig und unversehrt überliefert: Die Werke Xenophons, insbesondere die Memorabilien, sowie die platonischen Dialoge. Es war Platon, der ergebene Freund, der loyale und beharrliche Anhänger, der treue, sich mit seinem Lehrer identifizierende Schüler, der feinsinnige Portraitist, der das Bild des Sokrates so stilisierte, dass aus ihm jener neue Menschentyp erwuchs. Der Sokrates, den die Weltgeschichte kennt, ist der Sokrates Platons.26

Wo aber hört Sokrates auf, und wo beginnt Platon? Wie lassen sich mit Gewissheit die von dem einen ausgesprochenen von den vom anderen niedergeschriebenen Worten unterscheiden? Wann also legt Platon die Maske des Sokrates an? Das sind die Fragen, die die Gelehrten lange Zeit umgetrieben haben und die dazu bestimmt sind, ohne Antwort zu bleiben. Denn der entscheidende Punkt ist ein anderer. Sokrates ist der erste Philosoph; mit ihm beginnt die Philosophie.

Was für ein seltsamer Anfang ist das aber, zwischen dem erschütternden Schlag, unbestrittenem Nichtwissen und der endlosen Aufeinanderfolge von Fragen über Fragen? Es handelt sich um ein Wissen, das sich auf ein Nichtwissen gründet. So beginnt die Philosophie – oder besser: beginnt sie auch nicht. Denn wie könnte man mit einer Frage beginnen, deren Voraussetzungen immer in etwas anderem liegen und die aus dem Nichtwissen entspringt? Die Philosophie lässt keinen Beginn hinter sich – sie würde einen guten Ariadnefaden abgeben. Mehr noch: Sie hebt jeden Beginn auf. Nicht im hegelschen Sinne der Aufhebung, sondern weil sie dessen Grund untergräbt. Jede archê ist daher an-archisch. Das, was mit Sokrates sozusagen beginnt, untersteht nicht der Ordnung einer archê. Es ist vielmehr eine innere Spannung, die sich vollziehende Teilung der Philosophie. Die beiden Figuren Sokrates-Platon – Platon-Sokrates lassen diese Aufspaltung anschaulich werden. Gerade deshalb wäre es allzu bequem und übereilt, aus Sokrates nur einen Mythos zu machen oder schlimmer noch: eine Fiktion. Man erinnere sich nur der Umkehrung, die in dem von Derrida in seinem Buch Die Postkarte kommentierten Bild aufscheint, auf dem ein kleiner Platon einem schreibenden Sokrates über die Schulter schaut.27 Diese Spaltung bedeutet für die Philosophie die Möglichkeit, zu überleben. Die Frage muss im Inneren der Antwort verbleiben, das Nichtwissen am Grund des Wissens. Die Philosophie steht stets auf der Kippe, wird von Verlust bedroht und von der Negation auf die Probe gestellt, die sie jedes Mal von Neuem zu verinnerlichen hat. Mit Sokrates erscheint sie als ein Gegengift, als pharmakon, als Heilmittel und Gift zugleich. Die größte Gefahr – so viel lässt sich bereits erahnen – drängt nicht von außen (von Sophisten, Meinungsmachern, Chronisten etc.), sondern aus der Philosophie selbst heran und ist in der Versuchung zu sehen, sich einseitig abzuschließen, um die ihr innewohnende sperrige Atopie loszuwerden.

Sokrates durchstreift die das Gymnasium umgebenden Alleen, hält an den Tischen der Geldwechsler an, steuert sodann auf den Marktplatz zu, diskutiert mit einem namhaften Staatsmann, bleibt nochmals bei einigen Schmieden und Hutmachern stehen, um sodann unermüdlich weiterzuziehen. Was will er mit dieser Fragesucht bloß erreichen? Es scheint, als würde er alles andere einfach vergessen. Sommers wie winters ist er barfuß unterwegs, wie um den Schustern einen Streich zu spielen, stets in denselben zerschlissenen Umhang gehüllt. Ohne Unterlass pflegt er aufzuzählen, was er nicht braucht, und behauptet, nichts zu brauchen wäre göttlich und wenig zu brauchen nahe daran. Skurril ist auch sein Äußeres: hervortretende Augen, eine platte Nase, schwülstige Lippen. Er ähnelt einem Silen oder einem Satyr – wie Marsyas, der trotz seines Äußeren mit seiner Musik zu bezaubern wusste. Unter seinem stolzen, festen und konzentrierten Blick gelingt es auch Sokrates, mit seinen Reden zu betören. Es ist, als verlöre das alte Ideal der Vorväter, die kalogatia, für ihn, der zwar vielleicht etwas »Gutes« hat, agathon, ohne dass ihm dabei jedoch irgendetwas »Schönes«, kalon, anhaftet, an Bedeutung. Wüsste man nicht genau, dass er aus einer alten athenischen Familie stammt, wäre man geneigt, ihn für einen Fremden zu halten.

Einige Mitbürger ergreifen die Flucht, wenn sie ihn in der Ferne erblicken, denn wer sich in eine Diskussion mit ihm verfängt, ist verloren. Andere halten ihn für einen Tagedieb und Taugenichts, sie äffen ihn nach, stellen ihre Verachtung zur Schau, verspotten und beschimpfen ihn; manche erheben gegen ihn gar die Hand. Welcher Sünden haben sich die Athener schuldig gemacht, um mit einem solchen Schwätzer gestraft zu werden? Der dabei noch derart lästig und pedantisch ist? Anstatt in der Werkstatt des Vaters weiterhin den Beruf des Steinmetzes auszuüben, treibt sich dieser wundersame Kopf herum, um lebhaft über unnütze Fragen zu diskutieren, verkehrt spitzfindig die Reden und dreht die Worte um. So zieht er zwischen zwei Scherzen die gängigsten Ideen in Zweifel, darunter auch diejenigen, bei denen alle ausnahmslos übereinstimmen, schwafelt vom Heiligen, erkennt keinerlei Autorität an, ja verspottet sogar den souveränen demos. Und nachdem er diese ganze Reihe von Problemen aufgeworfen hat, löst er kein einziges davon; im Gegenteil: Überheblich lässt er wissen, dass er nichts wisse. In Wirklichkeit findet er nur Gefallen daran, den anderen zu beweisen, dass auch sie nicht wissen, es scheint, als habe er beinahe seine Freude an der Demütigung. Denn wem könnte es gefallen, ein Nichtswisser genannt zu werden, und das auch noch in der Öffentlichkeit? Viele reagieren verärgert und haben von seinen nutzlosen und gefährlichen Haarspaltereien genug. Nur ein paar müßiggängerische, von seinem leeren Gerede eingenommene Jugendliche folgen ihm auf seinen Streifzügen durch die Stadt.

Der Absonderlichkeiten jedoch nicht genug. Seine Widerstandsfähigkeit gegen Hunger, Müdigkeit und Kälte ist sprichwörtlich. Während des Feldzugs nach Potidaia, in jenem bitterkalten Winter, als die anderen Soldaten nicht mehr wussten, was sie zum Schutz noch alles anziehen sollten, ging Sokrates barfuß über das Eis und rief damit den Unwillen seiner Mitkämpfer hervor (vgl. Das Gastmahl, 220a-c). In diesem Heerlager ereignete sich zu einem anderen Zeitpunkt zudem ein komischer und völlig erstaunlicher Vorfall. Alkibiades berichtet davon voller Bewunderung. Sokrates versank für 24 Stunden in einer Überlegung, die eine Art von Trance zu sein schien, in einem obsessiven Traum mit geöffneten Augen:

»Es war ihm etwas eingefallen, und er stand nachsinnend darüber von morgens an auf einer Stelle und, da es ihm nicht vonstatten ging, ließ er nicht nach, sondern blieb immer forschend stehen. Nun wurde es Mittag, und die Leute merkten es und erzählten verwundert einer dem andern, dass Sokrates vom Morgen an über etwas nachsinnend dastehe. Endlich, als es Abend war und man gespeist hatte, trugen einige Ionier, denn damals war es Sommer, ihre Schlafdecken hinaus, teils um im Kühlen zu schlafen, teils um auf ihn achtzugeben, ob er auch die Nacht über da stehenbleiben würde. Und er blieb stehen, bis es Morgen wurde und die Sonne aufging; dann verrichtete er noch sein Gebet an die Sonne und ging fort.« (Das Gastmahl, 220c-d)

Befremdlich muten seine plötzlichen Abwesenheiten und Selbstvergessenheiten an, numinös seine ekstatischen Entrückungen. Es wird erzählt, dass er – sich in sich sammelnd, von der Umgebung sich lösend und jedem Aufruf gegenüber taub – mitunter in ein lang anhaltendes Schwiegen verfiel. Diese Stille musste den anderen mindestens genauso unheimlich erscheinen wie seine Dialoge. Wieder ist es Alkibiades, der bekennt: »Noch viel wunderlicher [atôpoteros], o Sokrates, kommst du mir nun vor, nachdem du angefangen zu reden, als solange du mir schweigend nachgingest« (Alkibiades I, 106a). Die vielleicht bekannteste Episode bildet die Eröffnungsszene des Gastmahls. Als er das Haus der Gastgeber erreicht, muss Aristodemos feststellen, dass Sokrates ihm nicht gefolgt war, und fragt sich, wo er wohl geblieben sei. Der nach ihm ausgeschickte Diener meldet, dass Sokrates unbeweglich im Vorhof des Nachbarn stehe. Der Freund kommentiert: »Denn er hat das so in der Gewohnheit, bisweilen hält er an, wo es sich eben trifft, und bleibt stehen« (Das Gastmahl

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