Читать книгу Von der politischen Berufung der Philosophie - Donatella Di Cesare - Страница 6

Heraklit, das Wachen und der ursprüngliche Kommunismus

Оглавление

Von ihrem Beginn an bildete das Wachen ein bevorzugtes Thema der Philosophie. Das ging so weit, dass es zu ihrer symbolischen Repräsentation werden konnte, zur ihr vorausgehenden, anschaulichen Metapher, noch bevor die Philosophie überhaupt einen Namen angenommen hatte. Wundersames Aufgehen des inneren Lichts, welches das Wiederauftauchen aus der Nacht anzeigt, Kraft der Mahnung und des Rückrufs, das Staunen des erwachenden Lebens, Rückkehr zu sich: Mehr als alles andere ist das die Philosophie.

Die Helle des Tages vom Mythos gelöst und zu einer metaphysischen Kategorie erhoben zu haben, war das Werk Heraklits, des »Dunklen«, wie er aufgrund seines enigmatischen und orakelhaften Stils genannt wurde. Damit beginnt das Abenteuer des Denkens, das vom Licht des logos geleitet die Welt zur Sprache bringt, die so zum Kosmos wird und sich mit der ununterbrochenen Überschreitung ihres beschränkten und niederen Radius in eine immer weitere, höhere und gemeinschaftlichere Sphäre hinein entfaltet.

Von Heraklits Leben ist nur sehr wenig bekannt. Die antiken Biografen schreiben ihm königliche Abstammung zu. Diogenes Laertius sagt, dass er »stolzen Sinnes, wie kaum ein anderer«11 gewesen sei. Seine fast schon abschätzige Haltung war einem grundlegenden Konflikt mit den Mitbürgern geschuldet, denen er zum Vorwurf machte, seinen Freund Hermodoros nach der gescheiterten demokratischen Revolution ins Exil gezwungen zu haben. Ephesos, die an der Grenze zwischen der kleinasiatischen Küste und dem europäischen Mittelmeer gelegene ionische Stadt, war gewiss noch nicht Athen. Doch fehlte es auch hier nicht an Spannungen. Gekränkt entfremdete sich Heraklit dem politischen Leben und wies das an ihn gerichtete Ansuchen zurück, der polis Gesetze zu geben, die ihm inzwischen von einer schlechten Verfassung regiert zu werden schien. Er zog sich in den Artemistempel zurück, wo er der Legende nach sein in drei Abschnitte unterteiltes großes Buch niederschrieb: den ersten über das Ganze, dann einen politischen Teil und schließlich einen theologischen. Dem Werk wurde später ein künftig oftmals gebrauchter Titel verpasst: Peri physeôs – ganz so, als hätte Heraklit ein Traktat über die physis verfasst, über die als Prinzip und Substanz von allem verstandene Natur. Aristoteles leistete seinen Beitrag, diese beschränkende und irreführende Deutung weiter zu festigen. Gleichwohl existiert auch eine andere antike Tradition, verkörpert durch den Stoiker Diodot, der zufolge das Buch Heraklits abgesehen von einigen Beispielen nichts mit der Natur zu tun hat, sondern ausschließlich politische Themen behandelt: Peri politeias.

Im Übrigen ist vor einem numinos bleibenden Hintergrund die politisch-tragische Inspiration des Denkens Heraklits in den mehr als 120 von seinem Werk erhaltenen Fragmenten unschwer auszumachen. Es spricht darin nicht so sehr der Erforscher des Kosmos als vielmehr der strenge Wächter der Stadt, der Interpret des polemos, jenes Konfliktes und Krieges, der »aller Dinge Vater, aller Dinge König« ist (B 53). Der Streit der polis wird auf die gesamte Wirklichkeit projiziert, um so von Grund auf das sie regierende Gesetz zu erforschen und miteinander zu verbinden, was in seiner Einheit zunächst verstreut und vielfältig erscheint, damit schließlich die palintropos harmoniê, die »gegenstrebige Vereinigung« der Gegensätze (B 51), erfasst werde. Die Stadt bildet damit das hermeneutische Paradigma der Welt.

In jeder Differenz das Eine zu vernehmen: Darin liegt das Verdienst Heraklits, dem anerkannten Wegbereiter der Dialektik. So konnte Hegel schreiben: »Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen«.12 Gleichwohl gilt es, Verzerrungen der historischen Perspektive zu vermeiden. Die Eintracht der Gegensätze, jene rätselhafte Verbindung, von der Heraklit spricht, ist nicht die spekulative Einheit, sondern der plötzliche Übergang, aufgrund dessen sich das Eine unaufhörlich in das Andere wandelt: Leben und Tod, Tag und Nacht, Wachen und Schlaf, Sommer und Winter, Frieden und Krieg. Irrigerweise ist diese Auffassung zu einer Doktrin des ewigen Werdens, des Fließens, zu jenem panta rhei verfestigt worden, von dem sich in den Fragmenten Heraklits jedoch keine Spur findet. Er erwähnt zwar den Fluss – »In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht« (B 49a) –, nur um damit allerdings den Wechsel stets unterschiedlicher Wasser hervorzuheben. Es überrascht daher keineswegs, dass bei Heraklit insbesondere das Feuer, das lebt, indem es sich verwandelt, und sich gemäß den Düften verändert, mit denen es sich vermischt, die gegenstrebige Vereinigung der Gegensätze sinnfällig wiederherstellt.

Diesem Gesetz entziehen sich nicht einmal die Namen, die vielmehr die Gegensätzlichkeiten gerade ans Licht bringen. Heraklit eröffnet die Reihe jener Denker, die auf die Sprache blicken, um die Wirklichkeit zu verstehen. Die den Kosmos regierende verborgene Harmonie ist im logos, gemäß dem alles geschieht, enthalten, dem ewigen und universellen Gesetz, das dazu befähigt ist, das Werden zu regulieren, das seinerseits kein blindes Sichüberstürzen darstellt, sondern ein weises Dahinschreiten vom einen Gegensatz zum nächsten.

Wer aber wird dem logos Gehör schenken wollen? Wer ihn in seiner sibyllinischen Mehrdeutigkeit zu verstehen versuchen? Das ist die eigentliche Frage Heraklits, die bereits eine Mahnung in sich birgt. Taub, abwesend und wie dahinschlummernd, zur Beute von Traumflüssen und partikulären Meinungen geworden und weit entfernt davon, was weise, sophôn, ist, entziehen sich die Sterblichen dem Zuhören. Sie leben in sich selbst zurückgezogen und in sich gekehrt, als schliefen sie, sind Gefangene der eigenen Privatheit, ihrer erstickenden Kleinlichkeit. So wird von Heraklit die grassierende Idiotie angeprangert, die im Griechischen etymologisch – idiotês kommt von idios, »eigen« – auf das Eigentum verweist. Ihnen ist es folglich unmöglich, Zugang zu dem zu finden, was kommun oder gemeinschaftlich, koinon, ist. Heraklit gebraucht die ionische Form xynon, die er im Rahmen eines Wortspiels auf xyn noi zurückführt, d. h. mit noûs, »mit Verstand« (B 114), begabt. Nicht nur ist der Verstand allen gemeinsam, sondern auf den Verstand gründet sich, was gemeinsam ist, das Gemeinsame. Es handelt sich dabei nicht um eine unmittelbare Intuition, sondern um die ordnende Erkenntnis des Kosmos, die sich im logos bündelt und zum Ausdruck gelangt. Ein Idiot ist derjenige, der sich dem Zuhören verweigert, der in der Isolation der Nacht verbleibt und sich dadurch der Teilhabe am gemeinsamen Tag und der gemeinsamen Welt verschließt. Heraklit drückt es folgendermaßen aus: »Die Wachenden haben eine gemeinsame Welt, doch jeder Schlummernde wendet sich nur an seine eigene« (B 89).

Nacht und Tag skandieren, sich gegenseitig überschreitend und abwechselnd, die Zeit. Im Unterschied zur Vorstellung Hesiods jedoch bleiben sie nicht voneinander getrennt. Vielmehr sind sie eins – nur dass sie einander abwechseln, wie es auch die Gegensätze tun. Sie schlagen aber auch nicht wechselseitig ineinander um und bleiben voneinander verschieden. Nacht und Tag weisen über sich hinaus, sie sind Hinweise, mehr noch: Symbole. Die Gegensätze vermehren und multiplizieren sich. Während sich auf dem Grund rätselhaft die letzte Polarität von Leben und Tod abzeichnet – wird es eine Rückkehr vom Tod ins Leben geben? –, verweisen Licht und Dunkel auf Schlaf und Wachen. Heraklit, der erste Metaphysiker des Lichts, macht aus dem Tag jene vom logos verbreitete Weisheit, die in der Klarheit verbindet und vereinigt. Das Wachen wird zum Auftakt der Philosophie.

Der Aufruf zum Wachen kehrt in den Fragmenten unaufhörlich wieder.13 In der Folge wird sich die Philosophie diese Aufforderung zu eigen machen. Denken heißt, an der Wachsamkeit des vereinigenden logos teilzuhaben. »Private Weisheit«, idia phronêsis, ist ein Oxymoron, da das, was im Einzelnen auftaucht – Träume, Bilder, Meinungen, Ideen –, nur eine leere und tote Illusion darstellt. Und eine solche wird es so lange bleiben, wie es nicht den Weg der Gemeinschaftlichkeit findet. Also: Schlaft nicht! Überlasst Euch nicht dem Schlaf der privaten Idiotie! So wiederholt es Heraklit denen zugewandt, die in der Benommenheit leben. »Man soll nicht handeln und reden wie Schlafende« (B 73), gebietet er unmissverständlich. Jedoch gibt es zwei Arten von Schlaf. Rechtmäßig ist der wohltuende und erquickende. Ein Fehler wäre es jedoch, den Tag für die Nacht zu nehmen, Wachen und Schlafen zu verwechseln, wo sie doch jene Plötzlichkeit trennt, die wie ein Feuerstrahl den geheimnisvollen Übergang der Gegensätze in Kraft setzt.

Für Heraklit gilt das für Wachen und Schlaf noch gesteigert. Wer schläft, scheint – obgleich er derselbe ist – ein anderer zu sein, ergatas, »Arbeiter und Wirker« der je eigenen Welt (B 75). Er gleicht einem Toten, der dort ruht, leblos und unendlich weit entfernt. In einem verworrenen, von Clemens von Alexandrien überlieferten Fragment heißt es: »Der Mensch zündet sich in der Nacht ein Licht an, wann er gestorben, erloschen ist; im Leben berührt er den Toten im Schlummer, wann sein Augenlicht erloschen; im Wachen berührt er den Schlummernden« (B 26). Wer dem Schlaf nachgibt, verlässt das koinon, die geteilte Welt, um ganz in die eigene zu versinken, wo er mit den Toten ruht. Der Schlaf gleicht einem kurzen Abstieg in den Hades, in den finsteren Untergrund der Stadt. Und damit ist der schlafende Stadtbürger nicht nur apathisch und alogisch, sondern auch apolitisch und anomisch. Ja, im Grunde hört er auf, ein Stadtbürger zu sein; er schließt sich seinen Toten in der privaten Grabstätte an, die zugleich das Grab des Öffentlichen bildet. Er wälzt sich in seinen Verblendungen hin und her, in seinen Albträumen, im Ersehnten und Erträumten, in seinen Halluzinationen. Jeder ist dabei ganz für sich. Womöglich wacht niemand mehr über die polis, wenn in der Nacht der Stadt die Welt unterzugehen scheint. Aber nein, es gibt eine Ausnahme oder vielmehr zwei: Der weise Gott, der über die Mauern wacht, sowie sein Stellvertreter, der Philosoph, der aufmerksam deren Inneres hütet, damit jenes lichtvolle Offene nicht für immer durch die private Idiotie versperrt bleibt.

Ist die Politik also eine Tochter der Philosophie? Der Philosoph tritt dem vernichtenden Dunkel der Nacht entgegen. Und auch wenn ihr eines Tages alle verfallen sollten, die Stadt bliebe im Denken dieses ihres aufmerksamen und außergewöhnlichen Bürgers behütet und aufgehoben.

Bereits vor Platon und seiner Politeia erfährt die politische Nacht durch Heraklit, den Wächter der Stadt, die höchste Missbilligung. Er richtet den Finger auf den Somnambulismus, der bei seinen Mitbürgern so weitverbreitet ist, dass sie auch bei Tage nicht mehr erwachen wollen; »Nachtwandler« sind sie, nyktipoloi, die, anstatt das geforderte Leben eines gemeinsamen Tages in der Stadt zu führen, mit der Nacht verkehren. Sarkasmus, Verachtung und Enttäuschung leiten die Worte Heraklits, dessen logos des Tages den Raum der griechischen polis und allgemeiner den Bereich der europäischen Politik eröffnet. Die Stadt kann nur dank des koinon, dank des Gemeinsamen und Gemeinschaftlichen existieren, das sich im logos versammelt. Darin liegt der den nomos verbürgende, ordnende Verstand, auf den sich die Stadt gründet. Der logos des Tages enthüllt die Existenz der polis und kündigt die politische Ontologie an: »Wenn man mit Verstand reden will, muss man sich wappnen mit diesem allen Gemeinsamen wie eine Stadt mit dem Gesetz und noch stärker« (B 114).

Kurz gefasst: Ohne das koinon des logos gibt es keine polis. Ohne jenen Zusammenhang des logos, der allen gemeinsam ist und sie verbindet, könnte es keine Stadt geben. Das, was die Stadtbürger zusammenhält, ist das koinon, die gemeinsame Teilhabe am Tag jenseits der nächtlichen Isolation, aufgrund derer die Rückkehr zu sich gleichbedeutend einhergeht mit der Rückkehr in den öffentlichen Raum. Der ursprüngliche Kommunismus des Wachens, zu dessen Hüterin die Philosophie sich macht, ist die Bedingung der politischen Existenz.

Von der politischen Berufung der Philosophie

Подняться наверх