Читать книгу Der Andere - Doris Bühler - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеEs gab nur einen einzigen Bahnsteig in Wallberg. Das rauchgeschwärzte Dach über den Gleisen ruhte auf dicken hölzernen Pfeilern; eine Uhr, sowie ein uraltes Ortsschild aus weißer Emaille hingen von der Decke herab. Inzwischen verkehrte hier nur noch eine kleine Privatbahn. Wer nach Ossfelden wollte, nahm lieber den Bus.
Obwohl der Zug an diesem Mittwoch zehn Minuten Verspätung hatte, störte das niemanden. Die drei Fahrgäste, die einstiegen, kannten es nicht anders, und der einzige Fahrgast, der ausgestiegen war, - eine junge Frau in rotem Sommerkostüm, - schien nicht in Eile zu sein. Sie stellte ihre Reisetasche neben sich und sah dem Zug nach, wie er einen großen Bogen um ein Sägewerk schlug und schließlich in der Ferne verschwand.
'Das Ende der Welt', dachte Laura Kaufmann amüsiert, während sie sich umschaute. Keine Menschenseele war zu sehen, nur von weitem hörte man Musik, als sei ein Jahrmarkt in der Nähe. Sie wünschte, Matthias hätte sie heute schon abholen können. In letzter Minute hatte er angerufen und sie gebeten, einen Tag später zu fahren. Er hatte in Heidelberg bleiben müssen, um einen wichtigen Gerichtstermin wahrzunehmen. Ihr hatte das nicht gefallen, denn nach der Wohnungsauflösung war sie vorübergehend bei ihrer Freundin Sina untergekommen und wollte deren Gastfreundschaft keinen Tag länger in Anspruch nehmen. Außerdem hatte sie sich auf die Reise gefreut und konnte es kaum erwarten, ihre neue Heimat kennenzulernen, deshalb hielt sie an ihrem Reisetermin fest. Zwar war Matthias etwas verstimmt gewesen, hatte ihr dann aber im Dorfgasthof ein Zimmer bestellt, weil es seinem Bruder Michael erst am nächsten Tag möglich war, sie abzuholen.
Laura nahm ihre Reisetasche auf, sie war nicht sehr schwer. Die meisten ihrer Sachen hatte sie in zwei großen Koffern verstaut, die sie vor ihrer Abreise aufgegeben hatte, und die Matthias später in Ossfelden mit dem Wagen abholen lassen würde.
Vielleicht hätte sie nicht darauf bestehen sollen, direkt nach Wallberg zu fahren, dachte sie. Ossfelden oder gar Heidelberg wären praktischer gewesen. Möglicherweise hätte sich Matthias sogar während einer Pause oder nach der Verhandlung von seinen Kollegen loseisen und mit ihr essen gehen können. Und falls nicht, hätte sie allein etwas unternehmen können. Hier in diesem verschlafenen Nest blieb ihr nichts anderes übrig, als sich beizeiten schlafenzulegen. Was natürlich auch nichts schadete, weil sie auf diese Weise der Familie Riva am nächsten Tag frisch und ausgeruht gegenübertreten konnte.
Vorsichtig überquerte sie die Holzbohlen, die über die Schienen führten. Vom vormals schmucken kleinen Bahnhofsgebäude war nichts übriggeblieben, als ein leerer Raum mit gesprenkeltem, schon rissigem Steinfußboden. An den Wänden hingen noch die vergilbten Reklame-Plakate aus vergangenen Tagen, dazwischen ein ausgedienter Getränke-Automat und ein Zigaretten-Automat, der sogar noch zu funktionieren schien. Die Straße vor dem Bahnhof, ursprünglich geteert, nun aber mit zahllosen Schlaglöchern versehen, verlor sich auf der einen Seite zwischen den Werksgebäuden der Sägemühle, auf der anderen führte sie der Ortschaft entgegen, aus deren Mitte naseweis ein Kirchturm über den Dächern hervorschaute.
Gutgelaunt machte sich Laura auf den Weg in Richtung Dorf, und je weiter sie sich dem Zentrum näherte, desto lauter wurde die Musik. Nicht die blechernen Töne einer Blaskapelle oder Volksmusik, wie sie sie in dieser Gegend erwartet hätte, sondern die neuesten Hits, die zur Zeit auch in den Radiostationen rauf- und runtergespielt wurden. Und während sie über die holperige Straße marschierte, vorüber an den ersten geduckten Häuschen und bunten Blumengärten, ertappte sie sich dabei, daß sie ihre Schritte dem Takt der Musik anpaßte und vor sich hin summte. Auf den Bänken vor den Häusern saßen alte Leute und nutzten die Zeit vor dem Dunkelwerden zu einem kleinen Plausch. Sie hielten inne und murmelten "N’Abend”, wenn sie sie freundlich grüßte. Auf der Straße spielten Kinder. Ein Ball rollte ihr vor die Füße, und sie kickte ihn lachend zurück.
Nach wenigen Minuten hatte sie den Dorfplatz erreicht, eine riesige Kastanie stand in seiner Mitte. Dahinter war das Gasthaus Zum Krug zu sehen, ein altes Fachwerkgebäude, über dessen Eingang ein Blechschild in Form eines Kruges im leichten Abendwind schaukelte. An der Giebelseite des Hauses klebte ein recht modern anmutender flacher Neubau, aus dessen offenstehenden Fenstern die Musik über den Platz hallte, die schon von weitem zu hören gewesen war, - untermalt von Schreien, Rufen und lustigem Gegröle der Dorfjugend.
Der Krug schien das einzige Gasthaus am Platze zu sein. Hinter der schweren Eingangstür führten ein paar ausgetretene Stufen in einen dunklen Hausflur. Die plötzliche Dunkelheit machte es Laura schwer, sich gleich zurechtzufinden, doch dann erkannte sie linker Hand eine Tür mit dem Hinweis
Gaststube
, während rechts eine Treppe in die oberen Stockwerke hinaufführte. Instinktiv duckte sie sich ein wenig, als sie die Tür zur Gaststube öffnete, denn die Holzdecke war niedrig und der Raum so verraucht, daß sie im ersten Moment nicht viel erkennen konnte. Erst auf den zweiten Blick sah sie im Tabakdunst und im spärlichen Licht, das durch die Butzenscheiben hereinfiel, eine Reihe neugieriger Gesichter auf sich gerichtet.
Der Wirt stand hemdsärmelig hinter der Theke und bediente den Bierhahn.
Sie stellte die Tasche ab. “Mein Name ist Kaufmann”, sagte sie zu ihm, “Laura Kaufmann. Für mich ist ein Zimmer reserviert worden.”
Der Wirt schob seinen Zigarrenstummel von der einen Seite des Mundes auf die andere und hielt ihn mit gelben Zähnen fest. “Richtig”, sagte er, während er einen Blick in ein abgegriffenes Heft warf, “Kaufmann. Ein Zimmer für eine Nacht.”
Er wandte sich um, griff einen Schlüssel vom Brett und legte ihn vor seinem Gast auf die Theke.
“Zimmer fünf. Die Benutzung der Dusche am Ende des Ganges kostet zwei Euro extra.”
Eine der Gestalten, die Laura angestarrt hatten, war aufgesprungen und griff sich ihre Tasche. Sie erschrak, doch der Wirt hob beschwichtigend die Hand. “Hannes wird Ihnen ihre Tasche hinauftragen”, sagte er, und an den Mann gewandt meinte er: “Aber vorsichtig, Hannes. Zeig der Lady ihr Zimmer und wo die Dusche ist.”
Hannes, ein gebücktes altes Männlein, forderte sie mit einer einladende Geste und einem fast zahnlosen Lächeln auf, ihm zu folgen. Er führte sie aus der Gaststube hinaus und die gebohnerte Holztreppe hinauf in den ersten Stock. Die Treppe knarrte, es roch muffig und eingesperrt. Die Pflanzen, die auf der Fensterbank und in der Ecke des Flures standen, machten einen mitleiderregenden Eindruck, waren aber trotz der scheinbaren Vernachlässigung standhaft am Leben geblieben. Vor der Tür zu Zimmer Nummer fünf blieb Hannes stehen, noch immer die Tasche in der Hand. Er wartete, bis Laura aufgeschlossen hatte und stellte das Gepäckstück mitten im Zimmer ab. Immer wieder dienernd und mit zahnlosem Grinsen.
“Bitte sehr, die Dame”, sagte er, machte aber keine Anstalten, zu gehen.
Laura griff in ihre Jackentasche, suchte ohne hinzusehen ein Geldstück heraus und drückte es ihm in die Hand. Hannes dienerte wieder und wandte sich zur Tür. Ihm war nicht anzumerken, ob er mit dem Trinkgeld zufrieden war oder nicht.
Entgegen allen Befürchtungen wirkte das Zimmer sauber und ordentlich. Es war nur spärlich eingerichtet: Ein großes breites Bett mit verschnörkelten Knaufen am Kopfende, ein dazu passender Nachttisch, auf dem eine kleine altmodische Lampe in Form eines Blütenkelches stand, ein Schrank und ein Tisch mit einem Stuhl, - das war alles. Die beiden Fenster waren aus je acht einzelnen kleinen Scheiben zusammengesetzt, davor hingen dünne schmucklose Gardinen, aber Laura stellte zufrieden fest, daß man die Übergardinen aus dickem dunkelblauem Stoff zuziehen konnte. Doch zunächst zog sie erst einmal alle Vorhänge zurück, öffnete die Fenster weit und schaute hinaus. Von hier aus konnte sie den Platz mit der Kastanie überblicken. Eine Gruppe Jugendlicher alberte herum und balgte sich. Obwohl inzwischen eine leichte Brise wehte, war die Luft noch immer warm und drückend.
Sie zog ihre Kostümjacke aus, hängte sie über die Stuhllehne und breitete, gähnend und sich streckend, die Arme aus. Sie hatte eine lange Reise hinter sich und war todmüde, und sie hoffte, daß sie trotz der allgegenwärtigen Musik aus dem Tanzsaal und trotz des Lärms der jungen Leute würde schlafen können.
Ganz spontan änderte sie jedoch ihre Pläne. Sie hatte plötzlich Lust bekommen, hinunterzugehen und sich das Tanzvergnügen genauer anzusehen. Sie kam aus einer Großstadt, das Landleben war etwas ganz Neues und Fremdes für sie. Sie fragte sich, ob sich die Dorfjugend mangels einer Diskothek wohl genauso amüsierte wie die jungen Leute in den Städten, die sie kannte. Außerdem glaubte sie, trotz, oder gerade wegen ihrer Müdigkeit und Abgespanntheit viel zu aufgekratzt zu sein, um wirklich schlafen zu können. Der Streß der letzten Tage hatte sich noch immer nicht ganz abgebaut: Die Abschiedsfeier im Kollegenkreis, die Aufgabe ihrer Wohnung in Hannover, die Rennerei in Sachen Unterstellung der Möbel bei einer Spedition... Das alles spukte ihr noch immer im Kopf herum. Zudem war Wallberg nun ihre neue Heimat. Wenn auch die Rivas mit diesen Leuten nicht viel Kontakt hatten, wie ihr Matthias erzählt hatte, so war es doch möglich, daß sie hin und wieder im Dorf zu tun haben würde.
Sie legte ihre Reisekleider ab und nahm aus ihrer Tasche ein leichtes knitterarmes Sommerkleid, das sie in weiser Voraussicht noch im letzten Augenblick eingepackt hatte. Sie legte es aufs Bett und suchte zunächst die Dusche am Ende des Flures auf. Danach fühlte sie sich wie neu geboren. Vor dem Spiegel über der Kommode löste sie ihr aufgestecktes Haar, bürstete die schulterlangen Locken kräftig durch und lächelte gutgelaunt ihrem Spiegelbild zu. Heute abend wollte sie nicht mehr die gefragte Diplom-Übersetzerin und Dolmetscherin sein, die von Aufgabe zu Aufgabe hetzte. Doch auch noch nicht die Frau an Matthias Rivas Seite, die von seiner Familie mit Neugier, und sicher auch mit Skepsis erwartet wurde. Heute wollte sie ganz einfach nur Laura sein, eine junge fünfundzwanzigjährige Frau, die sich unter die Dorfjugend mischte.
Im Saal herrschte lustiges Treiben. Sie blieb eine Weile am Rand der Tanzfläche stehen und beobachtete, was rund um sie geschah. Die bunten Papiergirlanden, mit denen die Decke geschmückt war, mochten von der letzten Veranstaltung übriggeblieben sein. Die Musik kam aus einer alten Musicbox, und die jungen Leute versuchten sich in allen Variationen des Tanzens. Sie lachten, hopsten, alberten herum. Einige zogen Rockn’n Roll vor und legten die tollsten Figuren aufs Parkett, obwohl sie manchmal nicht recht zur Musik passen wollten, andere schienen sich in einer anderen Welt zu bewegen, tanzten engumschlungen und rührten sich kaum vom Fleck.
“Was trinkst du?”, fragte jemand hinter ihr, und als sie sich umwandte, stand da ein junger Mann, der der Kellner zu sein schien, denn er hatte sich ein rotkariertes Geschirrtuch vor die Jeans gebunden.
Laura lächelte ihn an. “Eine Cola bitte”, antwortete sie.
Er zwinkerte und tippte sich an die Schläfe. "Kommt sofort."
Die Cola war eiskalt und tat gut. Laura lehnte sich gegen die Holzverkleidung an der Wand und schaute den Tanzenden zu, und während sie hin und wieder an ihrem Glas nippte, stellte sie fest: Ob in einer Disco oder in einem Dorfkrug, junge Leute wollten Spaß. Sie waren ausgelassen und albern, oder verliebt und verträumt, wie überall. Laura amüsierte sich und fühlte sich wohl mitten unter ihnen.
Irgendwann, - sie wußte nicht, wie lange sie sich schon im Saal aufgehalten hatte, - fühlte sie fremde Blicke auf sich gerichtet, und zwischen den tanzenden Paaren hindurch bemerkte sie auf der anderen Seite des Tanzbodens einen jungen Mann, der unverwandt zu ihr herüberschaute. Für Sekunden begegneten sich ihre Blicke. Er hatte blaue Augen, die von einem so strahlenden Dunkelblau waren, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Sie riß sich von diesem Blick los und widmete ihre Aufmerksamkeit einem jungen Paar, das sich wenige Schritte vor ihr an einem Tango versuchte und damit alle Umstehenden zum Lachen brachte. Doch ohne es zu wollen mußte sie immer wieder hinübersehen zu dem fremden jungen Mann. Obwohl sie versuchte, ihn zu ignorieren, wollte ihr das nicht gelingen. Unverwandt schaute er zu ihr herüber, und immer wieder ertappte sie sich dabei, daß sie seinen Blick erwiderte.
Er trug Jeans und ein kariertes Hemd mit halb aufgerollten Ärmeln und offenstehendem Kragen. Sein Gesicht war ausgesprochen hübsch, mit weichen, sanften Zügen. Das Auffälligste an ihm war jedoch eine Fülle blonden Haares und dann diese unbeschreiblich blauen Augen. Er lächelte, und obwohl sein leicht geöffneter Mund sinnlich und verführerisch wirkte, schien er sich dieser Wirkung selbst gar nicht bewußt zu sein. Laura wußte nicht, ob sie sein Lächeln erwidern sollte, entschied sich dann aber, es nicht zu tun. Stattdessen wandte sie sich erneut den tanzenden Paaren zu.
Doch so sehr sie sich auch bemühte, es half nichts: Die blauen Augen und das faszinierende Lächeln verfolgten sie und zogen sie immer wieder in ihren Bann. Unwillkürlich kam ihr der Vergleich mit einem Engel in den Sinn.
'Der Engel mit dem goldenen Haar und den abgrundtief blauen Augen', dachte sie. Darüber mußte sie lächeln und wußte doch im gleichen Moment, daß der Fremde das als eine Antwort werten mußte.
Mein Gott, sagte sie sich und schüttelte den Kopf über sich selbst, sie war doch nicht hergekommen, um mit der Dorfjugend zu flirten. Doch die Atmosphäre im Saal übte längst eine seltsame Wirkung auf sie aus, eine eigenartige Stimmung hatte sie erfaßt, die sie sich selbst nicht erklären konnte. Musik und Rhytmus pulsierten in ihrem Inneren, die heiße schwirrende Luft nahm ihr fast den Atem. Ihr war, als träume sie... Und dann noch dieser Engel auf der anderen Seite. Ein Stich fuhr ihr in den Magen, als sie erneut zu ihm hinübersah, und ihr Herz begann heftig zu klopfen. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Was war denn nur los mit ihr? So etwas war ihr doch noch nie passiert. Und obwohl sie versuchte, sich dagegen zu wehren, obwohl sie wußte, daß es das Klügste wäre, sich jetzt einfach umzuwenden und zu gehen..., so wußte sie doch auch, daß es dazu bereits zu spät war. Sie verlor sich in diesem tiefen dunkelblauen Blick und alles, was sie denken konnte, war: 'Mein Gott, was macht er nur mit mir!'
Sie sah, wie sich der Fremde einen Weg durch die tanzenden Paare bahnte und langsam auf sie zu kam, - ihr war nicht bewußt, daß sie ihm entgegenging. Sie trafen sich in der Mitte der Tanzfläche. Seine Arme umfingen sie behutsam und zogen sie an sich, und wie in Zeitlupe, ohne zu begreifen, was sie tat, legte sie die Arme um seinen Hals. Der Fremde und sie, sie tanzten wie auf Wolken. Die Umgebung verschwamm, sie konnte nichts mehr denken. Nur noch fühlen.
Er roch nach Wiese und Moos, nach Kräutern, - sie wußte nicht, was es war. Aber sie mochte es. Und während sie tanzten, versank ihr Blick im Blau seiner Augen. Ihrer beider Lippen suchten einander, seine Zunge und seine Zähne liebkosten sie. Sie waren eins, und Laura ließ es geschehen. Es war ihr gleichgültig, ob ihnen jemand zuschaute, ob die Rivas davon erfuhren... Was machte das schon? Umschlungen tanzten sie und tanzten..., und irgendwann später, - sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren, - bewegten sie sich in Richtung Ausgang. Ohne einander loszulassen führte er sie hinaus in die Dunkelheit. Noch immer gierig von den Lippen des anderen trinkend fanden sie sich auf der Rückseite des Hauses wieder. Er hob sie an den Schenkeln hoch und setzte sie behutsam auf den Sims eines zugemauerten Fensters. Ihre Beine umschlangen seinen Körper, ihre Hände verloren sich in seinem Haar. Mit der einen Hand öffnete er ihr Kleid, griff unter ihren BH und streichelte ihre Brüste, die andere fuhr ihren Schenkel hinauf und zog ihr den Slip aus. Sie ließ es geschehen, glaubte zu träumen, ließ sich treiben vom Rausch der Sinne. Sie hielt ihn fest, küßte ihn, während sie die Liebkosungen seiner Lippen und seiner Zunge an ihren Brustwarzen spürte. Als er in sie eindrang, gab sie einen kleinen hilflosen Laut von sich, und bei jeder seiner Bewegungen durchströmte sie tiefstes Entzücken. Mit einem leisen Schrei erlebte sie den Gipfel der Glückseligkeit...
Danach hielten sie einander minutenlang umschlungen. Sie hatten kein einziges Wort miteinander gewechselt.
“Laß uns nach oben gehen, ich hab ein Zimmer hier,” flüsterte sie in seinem Haar, doch er ließ sie noch immer nicht los. Seine blauen Augen schauten sie an, baten weder um Entschuldigung noch triumphierten sie. Mit einer zärtlichen Geste strich er ihr das Haar aus dem Gesicht und lächelte.
Auch Laura hatte keine Schuldgefühle. Das, was geschehen war, hatte geschehen
müssen
. Es war ihr vorbestimmt gewesen, ihn an diesem Tag, zu dieser Stunde zu treffen. Und es konnte, es durfte noch nicht zu Ende sein.
Nachdem sie ihre Kleider in Ordnung gebracht hatten, nahm sie ihn an die Hand und führte ihn zum Eingang des Wirtshauses. Im Treppenhaus brannte nur eine kleine trübe Lampe. Von der Gaststube her war das Gemurmel der Gäste zu hören, hin und wieder ein Lachen oder ein lauter Ausruf.
Laura machte dem Fremden ein Zeichen, ihr zu folgen und legte den Finger auf den Mund. Die Treppe knarrte unter ihren Schritten, aber niemand kam, um nachzusehen. In ihrem Zimmer angekommen schloß sie die Tür hinter ihm und drehte den Schlüssel herum. Sie lief zum Fenster, zog die dunkelblauen Vorhänge zu und knipste die kleine Nachttischlampe an. Im nächsten Augenblick lagen sie sich wieder in den Armen und mit zitternden Fingern halfen sie einander aus den Kleidern.
Trotz seines hübschen weichen Gesichts hatte er muskulöse Arme und sehnige Schenkel, und man sah ihm an, daß er gewohnt war, hart zu arbeiten. Neugierig und ungeduldig erkundeten ihre Hände seinen Körper, entdeckten auf seinem linken Schulterblatt ein pfenniggroßes Muttermal, das fast einem kleinen Schmetterling glich, und lächelnd fuhr sie mit dem Finger darüber. Sie vergrub ihre Nase in seiner Halsbeuge und sog den Geruch seiner Haut in sich ein. Sie streichelte und küßte ihn immer wieder...
Später, als sie sich erschöpft gegenüberlagen, auf die Ellenbogen gestützt, als sie sich lächelnd betrachteten und er ihr noch einmal zärtlich eine ihrer Locken aus der Stirn strich, fragte sie: “Wer bist du?”
Er tippte sich auf die Brust und sah sie fragend an, als wollte er sagen. “Du meinst, wer
ich
bin?”
“Ja.”
Nun tippte er ihr auf die Brust.
“Jetzt fragst du, wer
ich
bin?”
Er nickte.
“Ich bin Laura”, antwortete sie. Und weil sein Blick noch immer forschend auf ihren Mund gerichtet war, wiederholte sie es ganz langsam: "Laura."
Er lächelte und nickte, zeigte ihr seine gespreizten Hände und dann noch einmal zwei Finger. Sie wußte nicht gleich, was er meinte, doch dann begriff sie.
“Zwölf?”, fragte sie.
Auch diesmal war ein Nicken die Antwort.
Dann zeigte er den Daumen einer Hand.
“Eins?” Das war richtig.
Mit seinen Fingern zeigte er nun hintereinander eine Reihe von Zahlen: Zwölf - eins - einundzwanzig - achtzehn - eins, - dann deutete er auf sie.
“Ich?”, fragte sie erstaunt. “Ich bin ‘Zwölf - eins - einundzwanzig - achtzehn - eins’?”
Er nickte lächelnd. Sie schaute ihn verständnislos an, doch dann verstand sie. Er hatte ihr Buchstaben aus dem Alphabet genannt. Sie zählte nach. “Zwölf bedeutet L”, stellte sie fest. “Eins bedeutet A." Sie lachte. "Dann heißt ‘Zwölf - eins - einundzwanzig - achtzehn - eins’ Laura.”
Er lächelte.
“Okay, dann sag mir jetzt, wie
du
heißt.”
Langsam, damit sie es mitbekam, zeigte er seine Finger. Vier - eins - vierzehn - neun - fünf - zwölf.
“Daniel. Du heißt Daniel.” Laura freute sich, daß sie es herausbekommen hatte. Dann wurde sie ernst, küßte ihn behutsam auf den Mund und fragte ihn: “Bist du von Geburt an taubstumm?”
Er nickte, lächelte aber wieder, als wollte er zeigen, daß er seine Behinderung als gar nicht so schlimm empfand, und daß er ganz gut damit zurechtkam.
Sie warf einen Blick auf ihre Uhr und seufzte. “Du solltest jetzt gehen, Daniel", sagte sie. "Morgen früh werde ich abgeholt, und dann sollte ich einen ausgeschlafenen Eindruck machen.” Sie sprach so, daß er sie ansehen und ihr die Worte vom Mund ablesen konnte.
Er nickte und wollte aufstehen, doch sie hatte es sich anders überlegt und hielt ihn am Arm zurück.
"Nein, warte. Bleib noch bei mir, bis ich eingeschlafen bin."
Er nickte, lehnte sich in die Kissen zurück und wies auf seine Armbeuge. Und sie löschte das Licht und kuschelte sich in seinen Arm.
Die Sonne versuchte schon, die dicken blauen Vorhänge zu durchdringen, als Laura am nächsten Morgen erwachte. Sie streckte sich und gähnte, - dann fiel ihr Daniel ein. Er war nicht mehr da. Hatte es ihn überhaupt gegeben?, fragte sie sich. Oder war alles nur ein Traum gewesen? Ein berauschender Traum oder das Resultat ihrer Fantasie, angeregt durch ihre unbewußte Angst, nun ein ganz neues Leben beginnen zu müssen, von dem sie noch nichts wußte?
Nein, es konnte kein Traum gewesen sein, denn auf dem Kissen und im Laken hing noch dieser eigenartige Duft nach Wiese und Moos. Sie schmeckte noch seine Küsse, fühlte seine Hände auf ihrer Haut...
Gleichzeitig wurde ihr klar, wie leichtsinnig sie gewesen war. Sie hatte mit einem ihr völlig fremden Mann geschlafen. Ohne Schutz, ohne darüber nachzudenken, welche Konsequenzen das haben konnte. Ausgerechnet sie, über die Sina oft gelacht hatte, weil sie, entgegen der Freundin, One-Night-Stands bisher immer strikt abgelehnt hatte. - Doch es war schön gewesen. Sie mußte lächeln, wenn sie an ihn dachte. Nie zuvor war sie einem solchen Mann begegnet. Einem Mann, der so ganz anders war, als Matthias.
Doch was wäre, wenn sie jemand beobachtet hätte? Sie wußte, wie eifersüchtig Matthias sein konnte. Hatte er sich nicht manchmal schon darüber geärgert, wenn andere Männer sie in seiner Gegenwart nur bewundernd angeschaut hatten? Würde er die Hochzeit absagen, wenn er wüßte, was letzte Nacht geschehen war? Würde er sie wieder fortschicken? - Unsinn, beruhigte sie sich, niemand aus dem Dorf kannte sie. Und bis jemand herausgefunden hatte, daß sie diejenige war, die in Kürze die Frau Riva jun. sein würde, hätte er längst vergessen, was er gesehen hatte. Dennoch... , sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte: Sie war leichtsinnig gewesen. Wer war Daniel überhaupt, dieser hübsche blonde Engel mit den dunkelblauen Augen? Woher kam er? War er es wert gewesen, daß sie seinetwegen möglicherweise eine vielversprechende Zukunft aufs Spiel gesetzt hatte? - Oh ja, - sie lächelte wieder. Er war ein Zauberer gewesen. Ein Magier. Hätte sie ihn unter anderen Voraussetzungen getroffen, sie hätte ihn niemals gehen lassen. Doch in ihrer Situation war es wohl das beste, nicht wissen zu wollen, wer er war. Wahrscheinlich würde sie ihn niemals wiedersehen, - doch vergessen würde sie ihn nie.
Nachdem sie geduscht, sich frisiert und wieder in das rote Sommerkostüm geschlüpft war, packte sie ihre Sachen zusammen, ging hinunter in die Schankstube und bestellte sich einen Kaffee. Bis auf zwei alte Männer, die in einer Ecke saßen und Zeitung lasen, waren noch keine Gäste da.
"Ein Hörnchen gefällig?", fragte der Wirt. Er hatte schon wieder, - oder immer noch? - einen Zigarrenstummel zwischen den Zähnen.
Laura warf einen schnellen Blick auf das Brotkörbchen auf der Theke. Die Backwaren darin dufteten und schienen frisch zu sein, und sie hatte Hunger. "Ja, gern", sagte sie. Das Letzte, was sie gegessen hatte, war eine Bratwurst gewesen, die sie sich am Abend zuvor schnell auf dem Bahnhof von Ossfelden gekauft hatte, bevor es mit der Kleinbahn nach Wallberg weitergegangen war.
Die breite Schiebetür, die von der Gaststube in den Tanzsaal führte, stand offen, und während Laura aß und ihren Kaffee trank, beobachtete sie die Frau, die mit Besen, Eimer und anderen Putzutensilien bewaffnet dort hantierte, wo sich am Tag zuvor das Jungvolk amüsiert hatte. Noch einmal seufzte sie tief. Das war gestern gewesen, das war vorbei. Heute war ein neuer Tag, und heute würde sie endlich Matthias' Familie kennenlernen.
Sie schaute auf ihre Armbanduhr, Matthias hatte seinen Bruder für halb zehn Uhr angekündigt, er konnte jeden Augenblick hier sein. Sie stand auf und bezahlte ihre Rechnung.
"Vielen Dank, schöne Frau, beehren Sie uns mal wieder", grinste der Wirt.
Sie lachte. "Das wird wohl nicht mehr nötig sein", meinte sie und setzte sich noch einmal, um den letzten Bissen ihres Hörnchens zu verzehren und ihre Tasse leerzutrinken.
Draußen hörte man jemanden die Klinke der Haustüre hinunterdrücken. Sie griff nach ihrer Tasche, doch als sich die Tür zur Gaststube öffnete, kam kein junger Mann herein, sondern eine junge Frau mit feuerrotem Haar, großen Creolen und einem Piercing in der rechten Augenbraue. Sie trug Jeans und eine schwarze Lederjacke mit Achselklappen.
Der Wirt nickte ihr flüchtig zu, und Laura setzte sich wieder. Die junge Frau kam jedoch geradewegs auf sie zu.
"Hey, bist du Laura?"
Erstaunt blickte sie auf. "Ja, die bin ich."
Die Rothaarige streckte ihr die Hand entgegen. "Ich bin Jenny. Matthias hat uns beauftragt, dich abzuholen."
Laura wunderte sich, sie hatte sich die Mitglieder der Riva-Familie ganz anders vorgestellt.
Sie erwiderte den Händedruck. "Nett, dich kennenzulernen, Jenny. Ich hatte eigentlich Matthias' Bruder Michael erwartet."
Jenny lachte. "Der sitzt draußen im Wagen, er wollte nicht mit reinkommen." Sie nahm Lauras Tasche auf. "Komm, lassen wir ihn nicht warten."
Vor dem Dorfkrug parkte ein heller Combi, ein junger Mann stieg aus, als er die beiden Frauen kommen sah.
Das also war Michael, - auch ihn hatte sich Laura ganz anders vorgestellt. Statt eines makellosen Äußeren, statt Anzug und Krawatte, wie sie es von Matthias gewohnt war, trug er einen Dreitagebart und sportlich legere Kleidung. Sein Haar war heller, als das seines Bruders, dazu leicht gelockt und viel zu lang, um korrekt zu wirken.
"Hallo, ich bin Michael", stellte er sich vor, während er Laura die Wagentür aufhielt und ihr die Hand schüttelte. "Ich hoffe, du hattest eine gute Reise."
"Oh ja, danke."
"Und das Zimmer im Dorfkrug?", wollte Jenny wissen. "War das in Ordnung? Hast du gut geschlafen?"
Laura stutzte. War da eine Anspielung herauszuhören?, fragte sie sich. Sollte jemand aus dem Dorf den Rivas ihr Mißverhalten bereits gemeldet haben? "Ich habe wunderbar geschlafen, danke."
Erhobenen Hauptes setzte sie sich in den Fond des Wagens. Noch war sie nicht verheiratet, dachte sie trotzig, noch konnte sie tun und lassen, was sie wollte und war niemandem Rechenschaft schuldig. Außer Matthias vielleicht. Doch selbst, wenn er etwas herausbekommen sollte... Sie konnte die Geschichte ein wenig anders erzählen, als sie sich wirklich zugetragen hatte. Doch am besten wartete sie erst einmal ab, ob es tatsächlich konkrete Anschuldigungen gab, bevor sie sich eine Verteidigungsstrategie zurechtlegte.
Neben ihr auf dem Rücksitz war ein Kindersitz angebracht. "Für wen ist denn der?", erkundigte sie sich.
Jenny auf dem Beifahrersitz schaute sich nach ihr um. "Das ist der Thron von unserem Sebastian. Er ist jetzt zwei."
"Schade, daß ihr ihn nicht mitgebracht habt."
"Unsere Tochter Sandra ist bei ihm geblieben, sie hatte keine Lust, mitzukommen." Sie hob die Schultern. "Sie ist schon zwölf, und die Zeiten, in denen sie gern mit uns spazierenfuhr, sind längst vorbei. Mit Müh und Not haben wir sie dazu bewegen können, mit uns in Urlaub zu fahren, viel lieber hätte sie zusammen mit ihren Freundinnen etwas unternommen." Sie schnallte sich an. "Aber dazu ist sie uns einfach noch zu jung. Wir waren auf Mallorca, das hat ihr dann schließlich auch ganz gut gefallen."
"Wir sind gestern erst zurückgekommen", mischte sich Michael ein. "Zum Glück hab ich noch ein paar Tage zum Verschnaufen, bevor ich wieder in die Kanzlei muß."
Laura dachte daran, wie sehr auch Matthias stets seine freien Tage ohne Gesetzesbücher und Prozeßakten genossen hatte.
"Ab Montag herrscht wieder Anzugspflicht und ein glattrasiertes Kinn", meinte Jenny, und an ihren Mann gewandt fügte sie hinzu: "Und zum Friseur solltest du auch vorher, sonst laufen dir die Mandanten davon."
Michael nickte und startete den Wagen. "Nach dem Urlaub ist es immer verdammt schwer, sich wieder an die Arbeit zu gewöhnen. Eigentlich hätte ich gestern schon an Matthias' Seite sein sollen, ist ein ziemlich kniffeliger Prozeß, den wir da gerade am Hals haben. Aber...", er lachte, "der Boss hat ein Auge zugedrückt und mir noch ein ppar Tage Aufschub gewährt. Und ehrlich gesagt, ich bin froh drum."
Während Michael den Wagen über eine schmale Straße aus dem Dorf hinaus lenkte, schaute Laura neugierig aus dem Fenster. Die Landschaft um Wallberg herum gefiel ihr. Rechts und links gab es Kornfelder, grüne Weiden von kleinen Wasserläufen durchzogen und baumbewachsene Erhebungen. Und schließlich führte die Straße geradewegs auf eine Hügelkette zu, wo auf einer der Anhöhen, - wie ein kleines Schloß, - das Herrenhaus der Rivas stand.
Laura atmete tief. 'Meine neue Heimat', dachte sie, 'mein neues Zuhause.' Ihr Herz klopfte heftig vor Aufregung und Neugier. 'Mein neues Leben mit Matthias.'