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Kapitel 2
ОглавлениеDas Haus der Rivas war im 18. Jahrhundert von einem Grafen erbaut worden. Hundert Jahre später sahen sich seine Nachkommen allerdings gezwungen, es zu verkaufen, weil ihnen das Geld ausgegangen war. Die Vorfahren der Rivas, die schon damals zur Geldelite der Gegend gehört hatten, erwarben es, retteten es Schritt für Schritt vor dem Verfall und machten es zu ihrem Wohnsitz.
Im Grunde war es nicht das Haupthaus, das die Größe des Anwesens ausmachte. Der Grundriß glich einem U, und erst die Flügel, die rechts und links an das Hauptgebäude anschlossen und die Wohnungen der Familienmitglieder beherbergten, machten es zu einem recht imposanten Bauwerk. Die Straße, die vom Dorf heraufkam, führte an der breiten Freitreppe vorüber, bog dann um den Ostflügel herum und endete vor diversen Wirtschaftsgebäuden, Schuppen und Garagen.
Michael hielt vor dem Hauptportal, ließ die beiden Frauen aussteigen und stellte die Tasche des Gastes auf den Treppenstufen ab, bevor er den Wagen in die Garage fuhr.
Laura blickte staunend die Fassade hinauf. Ihr kam das Gebäude größer vor, als sie es aufgrund der Fotos, die ihr Matthias gezeigt hatte, erwartet hatte, und das, obwohl die Seitenflügel von der Straße aus noch gar nicht recht zu sehen waren.
Sie zuckte ein wenig zusammen, als sie die Hausherrin oben auf der Treppe stehen sah.
Mathilda Riva war eine großgewachsene schlanke Frau in den Sechzigern. Ihr weißes Haar und der ein wenig steife Gang, mit dem sie nun die Stufen herabgeschritten kam, verliehen ihr eine gewisse Würde und einen Hauch von Unnahbarkeit. Sie trug ein schmales einfaches Kleid in Dunkelblau, ein Medaillon an einem dünnen goldenen Kettchen war der einzige Schmuck, den sie sich zugestanden hatte. Sie kam auf Laura zu und streckte ihr die Hand entgegen. "Herzlich willkommen auf Riva," sagte sie. Zwar nicht unfreundlich, doch auch nicht mit der Herzlichkeit, die sich Laura gewünscht hätte. Mit abschätzendem Blick musterte sie die zukünftige Schwiegertochter, ließ sich jedoch nicht anmerken, ob sie mit dem, was sie sah, zufrieden war oder nicht. Dennoch rang sie sich ein dünnes Lächeln ab, was Jenny, die sich im Hintergrund gehalten und die Szene neugierig beobachtet hatte, durchaus als positives Zeichen wertete.
"Ich hoffe, du wirst dich sehr wohlfühlen in deinem neuen Heim," sagte die alte Dame.
Laura bedankte sich höflich. Sie überlegte, ob sie sie mit Frau Riva ansprechen sollte, beschloß dann aber, zunächst einmal jegliche Anrede zu vermeiden.
Der Hausherrin war ein großer schwarzer Hund gefolgt, der nun schwanzwedelnd und schnuppernd um Laura herumstrich. Das half ihr, ihre leichte Befangenheit zu überspielen. "Wer bist denn du?" fragte sie und hielt dem Tier ihre Hand hin, um ihm Gelegenheit zu geben, zu schnuppern. Vorsichtig versuchte sie, ihn zu streicheln, und er schien nichts dagegen zu haben.
"Das ist Moritz," antwortete Jenny hinter ihr. "Wenn du dich mit ihm gut stehst, kann dir in diesem Hause nichts Böses widerfahren."
Mathilda warf ihr, trotz eines verhaltenen Lächelns, einen tadelnden Blick zu. "Niemandem wird in diesem Hause Böses widerfahren." sagte sie. Sie legte Laura flüchtig die Hand auf den Arm. "Komm, mein Kind. Gehen wir in meinen Salon und reden miteinander, damit wir uns ein wenig kennenlernen."
"Gern", antwortete die Angeredete und folgte ihr, wobei ihr nicht entging, daß Jenny hinter dem Rücken der Schwiegermutter die Augen gen Himmel hob und zwinkerte.
Mathilda blieb noch einmal stehen und schaute sich nach Jenny um. "Ihr werdet doch auch zum Essen kommen? Ich habe Theresa angewiesen, im Speisesaal für alle zu decken."
"Aber ja, wenn das so ist. Das lassen wir uns natürlich nicht entgehen," meinte Jenny, und an Laura gewandt fügte sie hinzu: "Dann sehen wir uns ja beim Mittagessen im Speisesaal. Vielleicht können wir später bei uns noch einen Kaffee trinken, wir wohnen im Westflügel. Ich denke, daß auch wir uns ein bißchen kennenlernen sollten."
Laura hatte die leichte Spannung zwischen den beiden Frauen bemerkt. Sie mußte also auf der Hut sein, um weder die eine noch die andere gegen sich einzunehmen, dachte sie sich. Sie wünschte, Matthias wäre an ihrer Seite gewesen, das hätte es für sie etwas leichter gemacht.
"Danke", sagte sie und erwiderte Jennys Lächeln.
Die große Eingangshalle ließ Laura einen Moment lang den Atem anhalten. Der Fußboden im Eingangsbereich war in einem kreisförmigen Ornament aus hellem und dunklem Marmor verlegt. Rechts und links davon führten zwei hohe Kassettentüren in die Seitenflügel, und über die breite Marmortreppe in der Mitte, die von zwei dicken Säulen flankiert wurde, erreichte man eine Ballustrade, die in die Räume der oberen Etage führten. Laura war tief beeindruckt. Sie verstand nun, warum sie von Anfang an gespürt hatte, daß Matthias etwas ganz Besonderes war. Sein makelloses Äußeres, sein selbsbewußtes Auftreten, sein charmantes, zuvorkommendes Wesen, das alles paßte hierher in dieses Haus, in diese Familie. Und sie war stolz darauf, nun auch bald dazuzugehören. Gleichzeitig fragte sie sich, wie es die kleine lebhafte Jenny, die etwas aus der Reihe zu tanzen schien, geschafft haben mochte, hier aufgenommen zu werden.
Der Salon der Schwiegermutter in spe wirkte weder altmodisch noch modern. Alte wertvolle Möbel waren kombiniert mit zweckmäßigen Stücken, kostbare Gegenstände hatten ebenso ihren Platz gefunden wie Alltägliches oder einfach nur Schönes.
Nachdem Mathilda in einem Sessel Platz genommen hatte, wies sie auf die Couch. "Setz dich, mein Kind", sagte sie. "Du wirst hungrig und durstig sein nach der langen Reise."
"Ich habe im Krug einen Kaffee getrunken und eine Kleinigkeit gegessen, bevor mich Jenny und Michael abgeholt haben", antwortete Laura. Sie fürchtete, auch Mathilda könnte sie fragen, ob sie ein hübsches Zimmer gehabt und gut geschlafen habe, doch die alte Dame fragte nicht. Sie mochte davon ausgehen, daß eine Kammer in einem Gasthaus einem Vergleich mit den Räumen des Herrenhauses ohnedies nicht standhalten konnte. "Leider haben wir uns nicht schon viel früher getroffen." Sie versuchte nicht, ihr Interesse an der Braut ihres Sohnes zu verbergen, musterte sie ganz offen und mit wachem, prüfenden Blick. Laura verstand das. Wie mochte einer Mutter zumute sein, wenn sie plötzlich mit einer Schwiegertochter konfrontiert wurde, die sie nie zuvor gesehen hatte, und von der sie nicht allzu viel wußte? Wie groß war vielleicht auch ihre Angst, den Sohn nun endgültig an diese andere Frau zu verlieren?
Sie nickte. "Es war zeitlich einfach nicht möglich. Aber Matthias hat mir viel von seiner Familie und von seinem Zuhause erzählt."
"Uns hat er auch sehr viel von dir erzählt, und wir haben uns ganz auf sein Urteil verlassen." Sie lächelte. "Zu recht, wie man nun sieht."
Laura lächelte artig zurück. Sie fühlte sich ein wenig befangen in der Gesellschaft der alten Dame, hoffte aber, daß sich das im Laufe der Zeit geben würde.
Eine junge Frau kam mit einem Tablett herein und servierte Tee und leichtes Gebäck.
"Oder hättest du lieber eine Limonade gehabt? Oder ein Wasser?", fragte Mathilda ihren Gast, während sie eine Tasse zu ihr hinüberschob.
"Nein danke, das ist schon in Ordnung."
"Das ist übrigens Theresa", stellte Mathilda die junge Frau vor. "Sie ist der gute Geist in unserem Hause. Wenn du irgendeinen Wunsch hast, wenn etwas fehlt, oder wenn du etwas geändert haben möchtest, dann sage es ihr, sie wird sich darum kümmern." Sie schaute die junge Frau lächelnd an. "Nicht wahr, Theresa?" Und wieder an Laura gewandt fuhr sie fort: "Per Handy ist sie jederzeit zu erreichen. Ihre Nummer findest du auf der Liste im Gästezimmer."
Theresa verzog den Mund ein wenig, als bemühe sie sich, zu lächeln. Sie war weder häßlich, noch besonders hübsch. Aufgrund ihres nichtssagenden Gesichtsausdrucks und einer Art Uniform, die sie trug, - ein hellblaues Kleid mit einer weißen Schürze, - war ihr Alter schlecht zu schätzen, und es war schwer, sie einem speziellen Mädchentypus zuzuordnen. Ihr dunkles Haar trug sie altmodisch zu einem Zopf geflochten, den sie um den Kopf gelegt hatte.
Als sie gegangen war, begann Mathilda Riva ihrer zukünftigen Schwiegertochter Fragen zu stellen, und Laura bemühte sich, sie zu beantworten, soweit es ihr möglich war. Und soweit sie es für angemessen hielt.
"Matthias hat uns erzählt, daß du deine Eltern sehr früh verloren hast."
"Ich war vierzehn damals. Sie sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen."
"Das muß eine sehr schlimme Zeit für dich gewesen sein. Hattest du jemanden, der sich um dich gekümmert hat?"
"Ja, meine Großmutter. Doch zwei Jahre später starb auch sie, und ich war ganz auf mich gestellt."
"Gab es denn keine Tanten oder andere Verwandte, die deine Erziehung hätten in die Hand nehmen können?"
Laura lächelte flüchtig. "Nein. Zumindest keine, denen ich mich anvertraut hätte."
"Heißt das, du hast ganz allein gewohnt und hast dich auch allein versorgt? Das ist viel verlangt von einem jungen Mädchen diesen Alters."
"Ich hab mich mit einer Freundin zusammengetan, ihr war es ähnlich gegangen, wie mir. Wir haben uns eine kleine Wohnung geteilt, dadurch fühlte sich keine von uns allein. Im Prinzip ging aber jede von uns ihren eigenen Weg und war für sich selbst verantwortlich."
Mathilda schwieg einen Augenblick lang, sie schien sich den Haushalt der beiden unmündigen Mädchen vorzustellen.
"Ich ging noch zur Schule", fuhr Laura fort, "aber ich hatte von Anfang an ein festes Ziel vor Augen: Ich wollte ein gutes Abitur machen und danach Sprachen studieren. Dafür hab ich alles getan."
"Ich hoffe, du hattest auch ausreichend finanzielle Unterstützung?"
Laura blockte ein wenig ab. "Ich habe in jeder freien Minute gejobt. Durch mein Studium wurden meine Sprachkenntnisse immer besser, und schon damals hab ich mir durch Übersetzungsarbeiten etwas dazu verdient." Mathilda nickte, es sah aus, als sei sie zufrieden mit dem, was sie gehört hatte. "Du scheinst ein sehr tapfere Mädchen gewesen zu sein. Es ist gut, wenn eine junge Frau heutzutage genau weiß, was sie will", sagte sie. "Ich denke, Matthias hat eine gute Wahl getroffen."
Zum Mittagessen erwartete man die Familie im Speisesaal, einem großen Raum mit hoher Stuckdecke und Türen, die auf eine Terrasse hinausführten. Einen Augenblick lang blieb Laura am Eingang stehen und schaute sich voller Bewunderung um. Nicht nur der Raum an sich faszinierte sie durch die hübsche, halbhohe Holzvertäfelung, die alten Gemälde in den vergoldeten Rahmen und die mächtigen Kronleuchter an der Decke, sondern auch die lange Tafel, die an Festtagen mindestens dreißig Personen Platz bieten konnte, versetzte sie in Staunen. Heute allerdings blieben die meisten der Plätze leer, es war nur für acht Personen gedeckt. Matthias und sein Vater waren noch nicht aus Heidelberg zurück, deshalb war Laura neugierig, wer außer den Familienmitgliedern, die sie schon kannte, noch zum Essen erscheinen würde. Unschlüssig schaute sie sich um, sie wußte nicht, wohin sie sich setzen sollte.
Mathilda hatte sie beobachtet und quittierte ihr Staunen mit einem fast unmerklichen aber stolzen Lächeln. Sie nahm Lauras Arm und führte sie an das Ende der Tafel, wo sie sich auf den Stuhl setzte, der der Stirnseite am nächsten war. "Komm, mein Kind, setz dich zu mir", sagte sie wohlwollend und wies neben sich. Mit einem Hinweis auf die Stirnseite meinte sie: "Dies ist der Platz des Hausherren, und uns gegenüber, an seiner linken Seite, sitzt normalerweise Matthias als sein ältester Sohn."
Obwohl Laura sehr beeindruckt war, fühlte sie sich nicht sonderlich wohl. Falls derartige Gepflogenheiten wie gemeinsames Essen mit strenger Sitzordnung im Hause Riva zum täglichen Ritual gehören sollten, wußte sie nicht, wie lange sie das würde ertragen können. Sie wollte ihr eigenes Leben führen und nicht nur ein Rädchen im Getriebe einer Großfamilie sein. Sie nahm sich vor, mit Matthias darüber zu reden.
Allmählich fanden sich auch die übrigen Familienmitglieder ein: Michael und Jenny mit ihren beiden Kindern, eine betagte Tante des Familienoberhauptes und deren Pflegerin, eine adelige Dame, deren Namen Laura nicht verstanden hatte.
Jenny und die Kinder brachten ein bißchen Wirbel und Normalität mit sich, denn die zwölfjährige Sandra war schlechtgelaunt und maulte, weil sie keine Zeit mehr gehabt hatte, ihr neues T-Shirt anzuziehen, und der zweijährige Sebastian klopfte ungeduldig lärmend mit seinem Löffel auf den Teller. Jenny gab sich alle Mühe, beide zu beschwichtigen, ihr war nicht entgangen, daß die Schwiegermutter bereits mit leisem Vorwurf zu ihnen herüberschaute. Das allerdings schien sie nicht weiter zu stören, denn lachend und in aller Ruhe nahm sie Sebastian den Löffel aus der Hand, versteckte ihn unter einer Serviette und fuhr dann ihrer Tochter liebevoll über die Wange. "Nach dem Essen, Schätzchen, versprochen."
Sie winkte Laura zu. "Wie du hörst und siehst haben unsere Beiden ihre ganz eigene Art, sich vorzustellen", sagte sie lachend. Sandra war verlegen geworden und warf dem neuen Familienmitglied einen schelmisch lächelnden Blick zu, den Laura mit einem Zwinkern erwiderte.
Inzwischen hatte Theresa begonnen, das Essen aufzutragen, und die Kinder machten lange Hälse, schon bevor alle Schüsseln auf dem Tisch standen. Auch das schien Mathilda nicht sonderlich zu gefallen. Obwohl sie schwieg, behielt sie ihre Enkel doch fest im Blick.
"Einen guten Appetit!", rief jemand, und alle anderen dankten und stimmten mit ein.
Mathilda neigte sich ein wenig zu Laura hinüber. "Einen guten Appetit, mein Kind."
"Danke", antwortete Laura, blickte in die Runde und nickte allen zu. "Danke. Einen guten Appetit."
Matthias' Appartement lag im Ostflügel. Obwohl es sich um einen in sich abgeschlossenen Wohnbereich handelte, war die Tür meistens unverschlossen. Er hatte angeordnet, daß man Laura zunächst das Gästezimmer richtete, das etwas abseits der Wohn- und Schlafräume lag.
Theresa, die Laura mit unbewegter Miene geführt hatte, öffnete die Tür und ließ sie eintreten.
"Danke, Theresa."
Die junge Frau neigte fast unmerklich den Kopf und zog sich wieder zurück.
Laura schaute sich im Zimmer um. Im Gegensatz zu Mathildas Salon und dem pompösen Speiseraum war es einfach aber modern eingerichtet, mit hellen praktischen Möbeln und einer mit dunkelrotem Stoff bezogenen Couchgarnitur. Der Teppich und die hübschen Vorhänge vor den beiden Fenstern, die in einen parkartigen Garten hinausschauten, waren farblich auf die Polster abgestimmt. Es gefiel ihr, daß dieser Raum einmal ihr Arbeitszimmer werden sollte. In einigen Tagen würden ihre Möbel aus Hannover kommen und mit ihnen ihr Computer und die Arbeitsunterlagen. Sie ging davon aus, daß sie nach der Hochzeit, spätestens in etwa vierzehn Tagen, bereits soweit sein würde, ihre Arbeit wieder aufnehmen zu können. Die Zusage ihres Chefs, von Wallberg aus Aufträge für das Übersetzungsbüro erledigen zu dürfen, war ausschlaggebend dafür gewesen, daß sie Matthias' Vorschlag, so bald wie möglich zu heiraten und ihm ins Herrenhaus zu folgen, so schnell akzeptiert hatte. Ihre Flitterwochen wollten sie im Spätherbst mit einem Ski-Urlaub verbinden, bis dahin würde sich auch Matthias für eine Weile von seinen Aufgaben in der Kanzlei freimachen können.
Theresa, oder ein anderer dienstbarer Geist hatte Lauras Tasche vor einem der Schränke abgesetzt. Sie hatte gerade damit begonnen, sie auszupacken und sich nach einem geeigneten Platz für den Inhalt umzusehen, als ihr Handy klingelte. Es war Matthias.
"Hallo Schatz." Er klang gutgelaunt. "Bist du gut angekommen?"
Laura freute sich, seine Stimme zu hören. "Oh ja, alles hat bestens geklappt. Michael und Jenny haben mich heute früh abgeholt, und vorhin haben wir alle zusammen in dem faszinierenden Speisesaal zu Mittag gegessen."
Matthias lachte. "Er ist beeindruckend, nicht wahr? Er wird immer sehr bewundert, wenn wir Gäste haben."
Er machte eine kurze Pause, dann fragte er: "Und wie war die erste Begegnung mit Mutter? Ich wette, du hast einen sehr guten Eindruck auf sie gemacht."
"Wir müssen uns erst noch ein bißchen besser kennenlernen und aneinander gewöhnen", antwortete sie. "Aber ja, sie war sehr nett zu mir, daher glaube ich schon, daß sie mich mag."
"Was nicht sonderlich schwer ist." Matthias lachte wieder, dann fragte er: "Was machst du denn jetzt gerade?"
"Theresa hat mich in mein zukünftiges Büro geführt. Es ist sehr schön. Und nun bin ich dabei, meine Tasche auszuräumen."
"Du kannst das Zimmer ganz und gar in Beschlag nehmen, es gehört dir. Vater und ich werden so gegen fünf Uhr zu Hause sein, dann zeige ich dir alles andere. Vielleicht können wir uns ja schon mal überlegen, wo und wie wir deine Möbel unterbringen, wenn sie ankommen. - Ach Laura, Schatz, du glaubst nicht, wie sehr ich mich freue, daß du jetzt hier bist."
"Ich freue mich auch, Matthias. Ich kann es kaum erwarten, dich endlich zu sehen."
"Es dauert nicht mehr lange. Deine erste Nacht auf Riva...", er lachte leise, "die wird etwas ganz Besonderes werden."
"Ja, bestimmt." Laura mußte flüchtig an die Nacht im Dorfkrug denken, schob die Erinnerung daran aber schnell wieder fort.
"Ich muß Schluß machen, Liebes", sagte Matthias, "die Arbeit ruft. Also bis später."
"Ja, bis später."
Als er aufgelegt hatte, ließ sich Laura in einen der Sessel fallen. Jetzt war sie also bei Matthias im Riva-Haus. Zusammen mit ihm würde sie ihr neues Leben gestalten, so, wie sie beide es sich vorstellten. Daran würde auch Mathilda mit ihrem vornehmen Salon, dem pompösen Speisesaal und der strengen Sitzordnung nichts ändern. Sie würde keine Theresa brauchen, um ihren Haushalt in Ordnung zu halten, keine Köchin, die für Matthias und ihre Gäste kochte. Und dieses hübsche Zimmer, - sie schaute sich zufrieden um, - würde ihr Arbeitszimmer werden und ihr ganz persönlicher Bereich sein. Dafür war sie Matthias dankbar. Sie seufzte tief. Es hatte gutgetan, seine Stimme zu hören, sie war ein Funken Vertrautheit in der neuen noch fremden Welt gewesen.
Als es kurz darauf klopfte, glaubte sie, Mathilda würde ihr einen Besuch abstatten. Unbewußt richtete sie sich auf, gewappnet für alles, was da kommen mochte. Doch es war ein feuerroter Kopf, der nach ihrem "Herein!" durch den Türspalt schaute.
"Störe ich?", fragte Jenny, als sie eintrat. Inzwischen trug sie Leggings und ein weites loses T-Shirt mit buntem Aufdruck auf der Brust.
"Aber nein. Ich habe gerade meine Tasche ausgepackt", sagte Laura. "Und vor einigen Minuten hat Matthias angerufen. Ich kann es kaum erwarten, bis er nach Hause kommt."
Jenny setzte sich lächelnd. "Ich kann mir vorstellen, wie glücklich ihr sein werdet, endlich wieder zusammenzusein."
Laura nickte. "Und so lange!", lachte sie. "Bisher hatten wir bestenfalls ein oder zwei gemeinsame Wochen. Jetzt wird es für immer sein."
"Habt ihr euch nicht beim Plombier-Prozeß kennengelernt, Matthias und du? Er hat uns davon erzählt. Ich war damals froh, daß das Los nicht auf Mike gefallen ist und er nicht nach Hannover reisen mußte", gab sie zu.
Laura beobachtete sie, sie mochte ihr lebhaftes unkompliziertes Wesen. Sie war etwas kleiner und zierlicher, als sie selbst, hatte ein hübsches ebenmäßiges Gesicht, in dem keine einzige Sommersprosse zu entdecken war, woraus Laura schloß, daß das Rot ihres Haares nicht ihrer natürlichen Farbe entsprach. Doch es paßte zu ihr.
"Ich war damals als Dolmetscherin bei dem Prozeß", beantwortete sie Jennys Frage, "und wie es manchmal so ist: Man geht in den Pausen schnell miteinander was essen, kommt ins Gespräch... Zuerst auch zusammen mit den anderen Kollegen...." Sie lachte. "Schließlich waren wir dann nur noch alleine, und später haben wir uns auch abends getroffen und sind zusammen ausgegangen..."
"Ich freu mich, daß er dich gefunden hat. Ich glaube, wir beide werden gut miteinander auskommen."
"Das glaube ich auch."
"Zuerst dachte ich immer..."
"Ja?"
"Ich habe immer befürchtet, Matthias würde niemals die richtige Frau finden."
"Warum denn das?"
"Er ist sehr eigen und penibel, und es ist schwer, ihm alles rechtzumachen. Vielleicht ist dir das selbst schon aufgefallen. Mikey ist da ganz anders, er ist viel lockerer und spontaner, das ist auch der Grund dafür, daß die beiden schon mal aneinandergeraten können." Sie hob die Schultern. "Versteh' mich nicht falsch..."
Laura nickte. "Ich weiß schon, was du meinst. Matthias ist in allem sehr korrekt, er hat seine festen Grundsätze und Prinzipien, von denen er nicht gern abweicht."
Jenny nickte. "Und dadurch wirkt er manchmal stolz und unnahbar. Und ein bißchen humorlos. - Obwohl du ihn sicher auch von einer ganz anderen Seite kennengelernt hast."
Laura mußte lachen. "Oh ja, er kann auch sehr spaßig und lustig sein."
"Ich wollte damit nur sagen, er gleicht Mutter viel mehr, als Mike."
"Mutter? - Es ist seltsam, daß ihr von 'Mutter' sprecht, wenn ihr sie erwähnt. Mir ist das bei Matthias schon aufgefallen. Nennt ihr sie auch so, wenn ihr mit ihr redet?"
"Ja, sie will es so. Sie mag es nicht, wenn man sie 'Mama' nennt. Ich hab das am Anfang gemacht, weil ich es von zu Hause her so kannte, sie hat mich aber gleich darauf hingewiesen, daß sie das nicht möchte. Die Kinder dürfen auch nicht Oma oder Omi zu ihr sagen. Sie ist die 'Großmutter'."
"Und der Schwiegervater?"
Jenny hob die Schultern. "Ich glaube nicht, daß es ihm etwas ausmachen würde, würde man ihn 'Papa' nennen, aber da sie die 'Mutter' ist, ist er eben der 'Vater'."
Laura seufzte. "Ich hoffe, daß ich mich möglichst schnell an alles gewöhnen kann."
"Das wirst du. Und wenn du Hilfe brauchst oder Fragen hast, dann bin ich ja auch noch da."
"Danke, Jenny, das ist lieb von dir. Es ist wichtig für mich, hier jemanden zu haben, an den ich mich wenden kann, wenn Matthias den ganzen Tag über in der Kanzlei ist."
"Das verstehe ich. Und jetzt komm, ich wollte dich eigentlich zum Kaffee abholen."
Laura atmete auf, als sie Jennys Zuhause im Westflügel betrat. Trotz der hübschen Stuckdecke im Wohnzimmer war dort nichts mehr zu spüren von der Herrenhaus-Atmosphäre, die sie doch ein wenig bedrückt hatte. Das Gekreische des kleinen Sebastians, der auf dem Fußboden mit seinen Autos spielte, hallte ihnen schon von weitem entgegen, verstreut herumliegende Spielsachen versperrten ihnen den Weg, und von dem Becher Milch, der auf dem Tisch stand, war die Hälfte verkleckert. Sandra hatte sich inzwischen das neue T-Shirt angezogen und ihr altes achtlos auf einen Stuhl geworfen, darunter lagen ihre Sandalen so, wie sie ihr von den Füßen gefallen waren, als sie sich zum Lesen in einem Sessel eingerollt hatte.
"Oh mein Gott, wie's hier immer aussieht", seufzte Jenny. "Man braucht nur mal fünf Minuten weg zu sein..." Und an Laura gewandt meinte sie: "Sieh zu, daß du irgendwo ein Plätzchen findest und setz dich. Ich kümmere mich solange um den Kaffee."
Laura wandte sich an Sandra, die den Kopf gehoben hatte, als sie hereingekommen waren. "Was liest du denn Schönes?"
Sandra hielt ihr, statt einer Antwort, das Buch hin, damit sie den Titel lesen konnte.
"Ah, das kenne ich, das hab ich früher auch gelesen. Gefällt's dir?"
"Ja, ist echt spannend."
Dann ging Laura neben Sebastían in die Hocke und strich ihm über den Blondschopf. "Formel eins, was?" Der Kleine schaute sie verwundert an, er verstand nicht, was sie meinte. Noch nicht. Aber Sandra im Sessel mußte lachen. Währenddessen hörte man Jenny in der Küche hantieren. Laura stand auf, klopfte an die nur angelehnte Tür und drückte sie ein wenig weiter auf. "Darf ich dir Gesellschaft leisten, Jenny? Oder kann ich dir etwas helfen?"
"Komm nur herein, ich bin gleich soweit." Sie war gerade dabei, die Maschine einzuschalten und stellte die Kaffeedose zurück in den Schrank
"Jenny, darf ich dich mal was fragen?"
"Ja, sicher."
"Ist es eigentlich üblich, daß an jedem Tag alle miteinander im Speisesaal zu Mittag essen?"
Jenny lachte auf. "Du lieber Himmel, das würde mir gerade noch fehlen. Nein, nein, keine Angst, das war nur heute so, wahrscheinlich dir zu Ehren. Normalerweise gibt's das nur an Feiertagen, oder wenn Verwandte zu Besuch kommen. Manchmal sind auch Geschäftsfreunde aus der Kanzlei zu Gast."
Laura konnte nicht umhin, erleichtert aufzuatmen. "Gott sei Dank! Ich dachte schon, man hätte hier gar kein Eigenleben mehr."
Jenny schüttelte den Kopf. "Nein, nein", wiederholte sie, "normalerweise essen nur die Schwiegereltern und die beiden alten Damen dort. Und bisher manchmal Matthias. Er hat zwar drüben eine eigene Küche, - eine sehr schöne sogar, - doch die benutzt er nur äußerst selten. Da setzt er sich lieber zu den Eltern an den Tisch und läßt sich von Theresa bedienen. Aber jetzt, wo du da bist..." Sie rieb die Arbeitsfläche trocken, hielt einen Augenblick inne und beugte sich ein wenig zu Laura hinüber. "Übrigens", flüsterte sie, "vor Theresa mußt du dich in Acht nehmen. Bis vor kurzen hat sie wohl immer noch im Stillen gehofft, daß eines Tages sie die Fau Riva junior werden könnte."
Laura war überrascht. "Theresa?"
"Ja, Theresa." Jenny nickte mit gerunzelter Stirn. "Sie ist nämlich gar nicht das stille devote Seelchen, das sie immer zur Schau trägt. Sie hat es faustdick hinter den Ohren. Und nun, da du hier bist und eure Hochzeit bevorsteht, sieht sie ihre Chancen bei Matthias endgültig wie Sand durch die Finger rinnen."
Laura konnte kaum glauben, was sie gehört hatte. "Und Matthias?", fragte sie, "wie steht er zu ihr?" Vor ihrem geistigen Auge zogen Szenen vorüber, in denen sie ihn beim Techtemechtel mit der jungen Frau in den Ecken der Korridore sah oder in denen sie sich heimlich verschwörerische Blicke zuwarfen, während sie das Essen servierte.
"Oh, da brauchst du keine Angst zu haben." Jenny winkte ab. "Das wäre weit unter seinem Niveau. Er ist bekannt dafür, daß er das Personal eher ignoriert, als daß er ein Wort zuviel mit ihnen wechselt. Nein, nein, von Matthias' Seite hast du nichts zu befürchten. Aber... Ich will dich nicht beunruhigen, es wäre immerhin möglich, daß Theresa versucht, gegen dich zu intrigieren. Du solltest aufpassen und Augen und Ohren offenhalten."
Inzwischen war der Kaffee durchgelaufen. Sie nahm die Kanne von der Maschine und griff nach ihrem Handy, das auf dem Küchenschrank lag. "Mike bastelt in der Garage an seinem Motorrad herum, ich muß ihm sagen, daß der Kaffee fertig ist." Sie tippte eine SMS ein. "Vielleicht mag er sich ja ein Weilchen zu uns setzen."
Die Antwort kam sehr schnell. "Keine Zeit", las sie vom Display ab und lachte wieder. "Typisch Mikey. Zuerst kommt das Motorrad, dann eine Weile nichts, und irgendwann später...," sie machte eine ausladende Handbewegung, "...irgendwann kommt dann die Familie." Sie schien das aber nicht tragisch zu nehmen. "Naja, irgendein Hobby muß man ja haben, oder?"
Sie holte Tassen aus dem Schrank, trug sie auf den Tisch und stellte Milch und Zucker und ein Schüsselchen mit Gebäck dazu. "Hast du eigentlich auch ein Hobby?", fragte sie, als sie sich gesetzt hatten.
Laura überlegte. "Ich lese gern, mag Musik und ..., ja, ich male ein bißchen."
"Oh, ein sehr schönes Hobby. Ich hab früher kleine Geschichten geschrieben. Märchen und Fantasy-Stories. Heute schreibe ich hin und wieder noch mal eine Kolumne für das Ossfelder Tagblatt."
"Oh, worüber schreibst du denn da?"
"Über alles mögliche. Regionale Themen, meine Gedanken über das Weltgeschehen... Allerdings nur sporadisch, wenn mir gerade mal etwas durch den Kopf geht."
"Das finde ich großartig."
"Ja, es macht mir auch sehr viel Spaß. Aber pst!" Sie legte den Finger auf den Mund. "Ich schreibe unter einem Pseudonym. Es muß ja nicht jeder wissen, daß ich dahinterstecke."
"Du meinst die Schwiegereltern?"
"Genau. Ich glaube nicht, daß es ihnen gefallen würde, wenn sie es wüßten."
"Aber mir verrätst du doch dein Pseudonym, oder? Ich werde schweigen wie ein Grab."
Jenny lachte. "Ich bin der
Anstupfer
. Einer, der die Leute 'anstupft', also anstößt und sie so zum Nachdenken bringen will." Sie seufzte tief. "Seit Sebastian da ist, hab ich nur leider nicht mehr so viel Zeit."
Laura sah sich nach den Kindern um. Sie stellte sich vor, wie es sein könnte, wenn Matthias und sie einmal Kinder haben würden. Bisher hatten sie noch nie ausführlich darüber gesprochen.
Jenny rief sie in die Gegenwart zurück. "Vielleicht war es nicht richtig von mir, dich gleich am ersten Tag mit solchen Dingen zu konfrontieren, - du weißt schon...", knüpfte sie an die Unterhaltung in der Küche an und ging davon aus, daß ihr Gegenüber wußte, was sie meinte. "Aber..." Sie zwinkerte ihr zu, um zu signalisieren, daß Sandra nicht unbedingt mitbekommen sollte, worüber sie redeten.
"Du meinst Theresa?", raunte Laura, winkte dann aber ab. "Das ist schon in Ordnung, Jenny. Ich bin froh, daß ich jetzt davon weiß. Dadurch ist es mir viel eher möglich, auf der Hut zu sein."
Laura und Jenny hatten beim Kaffee viel miteinander geredet und auf diese Weise schon ein bißchen mehr über einander erfahren. Sie hatten schnell gemerkt, daß sie sich mochten. Laura gefiel, daß sich die junge Frau, trotz der vornehmen Atmosphäre, die sie umgab, nicht hatte verbiegen lassen, Jenny ihrerseits war froh, daß Laura nicht die unnahbare überhebliche Schwägerin war, die sie, da sie Matthias kannte, erwartet hatte.
"Oh, sie sind da", rief sie, als sich Michael per Handy aus der Garage meldete. "Vater und Matthias sind soeben angekommen."
Laura sprang auf. "Wo muß ich denn hin, wenn ich Matthias begrüßen will?", fragte sie aufgeregt. "Nehmen sie den Haupteingang? - Oh mein Gott, hoffentlich verlaufe ich mich nicht. Ich weiß doch gar nicht mehr genau, wo ich bin."
Jenny lachte. "Sie kommen durch den Osteingang, der führt von der Garage direkt in die Halle. Weber fährt den Wagen immer gleich in die Garage."
Laura war auf den Gang hinausgelaufen. "Weber?", fragte sie über die Schulter zurück.
Jenny folgte ihr. "Weber ist der Chauffeur. Komm, ich bring dich hin, sonst verläufst du dich am Ende wirklich noch."
Auf dem Weg zum Osteinang kam ihnen Matthias schon entgegen. Er lachte, breitete die Arme aus und fing Laura darin auf. "Mein Liebes, wie schön, daß du da bist!", sagte er und küßte sie zärtlich.
"Ich freu mich auch." Ja, jetzt war alles gut, dachte sie, er war ein Vertrauter in dem fremden Haus, in der fremden Welt. Sie kannte ihn, und sie liebte ihn. Erst jetzt konnte sie sagen, ich bin hier zu Hause.
Moritz, der schwarze Hund war aus seinem Korb neben einer der Säulen gekommen. Eifersüchtig schlich er um sie herum und gab nicht eher Ruhe, bis Matthias auch ihn gebührend begrüßt hatte.
Die Schwägerin zog sich mit einem Zwinkern und mit: "Wir sehen uns später", zurück, und Laura rief ihr nach: "Danke für alles, Jenny". Dabei entging ihr nicht, daß Matthias bei ihren Worten kurz die Stirn runzelte. Sie wußte nicht, warum, doch im Augenblick war nicht die richtige Zeit, sich damit zu beschäftigen, denn inzwischen war auch Walter Riva hereingekommen. Sein Haar war so weiß, wie das seiner Frau, und doch war der Eindruck, den er vermittelte, ein ganz anderer. Er hatte lustige Fältchen in den Augenwinkeln, und er zeigte ein breites sympathisches Lachen, als er auf die beiden zuging.
Matthias hatte den Arm um Laura gelegt. "Das ist sie, Vater. Das ist Laura, die hübscheste und gescheiteste Frau, die ich weit und breit finden konnte."
Der alte Mann streckte ihr die Hand entgegen. "Davon bin ich überzeugt", sagte er mit einer angenehmen sonoren Stimme. "Ich heiße dich auf's Herzlichste willkommen, Laura. Ich freue mich, daß wir uns endlich kennenlernen."
Zwei Stunden später versammelten sich alle noch einmal im Speisesaal beim Abendessen. Matthias saß nicht, wie Mathilda es wahrscheinlich für richtig gehalten hätte, zur Linken seines Vaters, sondern neben Laura.
Walter Riva und Matthias sprachen über den erfolgreich abgeschlossenen Gerichtsprozeß, für den sich sowohl Michael als auch Mathilda sehr interessierten, die übrigen Familienmitglieder aber zu langweilen schien.
Sebastian war müde, wollte nicht essen und heulte, Sandra weigerte sich, ihr Handy auszuschalten, weil sie auf einen Anruf ihrer Freundin wartete. Jenny hatte ihre liebe Not, beide im Zaum zu halten.
Laura beobachtete Matthias aus den Augenwinkeln. Sie spürte, daß er hier, in seiner gewohnten Umgebung und inmitten seiner Familie eine etwas andere Rolle innehatte, als die, die er für sie gespielt hatte, wenn er bei ihr zu Hause in Hannover gewesen war, oder wenn sie in einer fremden Gegend einen gemeinsamen Urlaub verbracht hatten. Sie bewunderte ihn sehr, denn er war ein gutaussehender Mann, der selbst nach einem arbeitsreichen Tag wie diesem nichts von seinem perfekten Äußeren und einer gewissen Eleganz eingebüßt hatte. Sie beobachtete auch seinen Vater. Trotz seines Alters war auch Walter Riva noch immer ein stattlicher, attraktiver Mann. Würde Matthias ähnlich aussehen, wenn sie einmal dreißig oder vierzig Jahre lang verheiratet waren? Vielleicht nicht ganz, dachte sie, denn Matthias war ernster und distanzierter, als der alte Herr, der eben eine Anekdote zum Besten gegeben hatte, über die er selbst laut und herzlich lachte, und mit der er sogar Mathilda ein leises Lachen abgerungen hatte. Natürlich lachte auch Matthias, doch sehr viel verhaltener, als sein Vater. Was hatte Jenny über ihn gesagt? Er sei humorlos. Zwar kannte sie ihn auch anders, doch sie mußte zugeben, daß ein Fünkchen Wahrheit dahintersteckte. Sie nahm sich vor, dafür zu sorgen, daß es auch bei ihnen eines Tages ein bißchen lockerer und lustiger zuging.
Dann fiel ihr wieder ein, was ihr Jenny über Theresa gesagt hatte, und sie schaute zu ihr hinüber und sah ihr zu, wie sie am Ende der Tafel die Platten mit Wurst und Käse auffüllte und anschließend mit der Teekanne herumging und nach leeren Gläsern Ausschau hielt. Hatte sich das Mädchen wirklich Hoffnungen gemacht? Natürlich kam es manchmal vor, daß sich der Sohn eines wohlhabenden Hauses in das arme Dienstmädchen verliebte oder es gar heiratete, doch zu Matthias wollte das nicht recht passen. Sie selbst fühlte sich nicht als etwas Besonderes, nur weil Matthias sich für sie entschieden hatte, doch sie hatte einen anspruchsvollen Beruf, und sie wußte, wie sehr Matthias das schätzte. Theresa dagegen hatte wahrscheinlich nicht einmal eine Ausbildung, da sie gezwungen war, einer Familie wie den Rivas ihre Dienste anzubieten. Sie war nicht häßlich, doch es gab auch nichts an ihr, was besonders reizvoll gewesen wäre. Gut, sie mochte netter aussehen, wenn sie etwas anderes trug, als dieses fade hellblaue Kleid mit der weißen Schürze, wenn sie das braune Haar anders frisiert hätte ohne diesen altmodischen Zopf. Dennoch... Jenny hatte recht getan, sie vor ihr zu warnen. In Zukunft würde sie ein Auge auf sie haben.
Nach dem Abendessen zogen sich Matthias und Laura in ihr Appartement zurück, und es gab wohl niemanden in der Familie, der das nicht verstanden hätte. Voller Stolz zeigte er Laura sein Domizil, das nun auch das ihre sein sollte. Das Wohnzimmer war gediegen eingerichtet, mit wenigen, dafür aber sehr exklusiven Möbelstücken und erlesenem Zubehör. Laura fragte sich, ob sie es schaffen würde, diese Eleganz zu erhalten, wenn sie von nun an darin schalten und walten sollte. Hatte ihm ihre kleine Jungmädchen-Wohnung in Hannover überhaupt gefallen?, fragte sie sich. Sie dachte an die Ferien, die sie miteinander verbracht hatten, an die Appartements in den exklusiven Hotels, in denen sie abgestiegen waren. Bisher hatte sie geglaubt, ein kostspieliger Urlaub sei nur seine spezielle Art gewesen, ihr eine wunderschöne Zeit zu ermöglichen. Sie hatte nicht gewußt, daß ein gewisser Luxus generell zu seinem Lebensstil gehörte.
Die Küche war groß und geräumig, und, wie Jenny gesagt hatte, fast unbenutzt. Gut, zumindest die würde sie sich untertan machen, dachte sie. Sie kochte gern, das wußte Matthias, und ganz sicher würde er ihr darin freie Hand lassen. Während sie durch die Räume schritten, machte Matthias Vorschläge, wo man das eine oder andere Stück ihrer eigenen Möbel einbringen oder aufstellen könnte.
"Dein Bücherschrank würde sehr gut in diese Ecke passen, was meinst du? Und wenn wir hier einen Raumteiler anbringen, könnten wir uns eine Eßecke einrichten und dabei dein Sideboard integrieren."
Laura hatte Schwierigkeiten, sich die Kombination beider Einrichtungen vorzustellen. "Ich denke, wir sollten einfach ein bißchen herumprobieren, wenn es soweit ist. Vielleicht passen manche Stücke besser zusammen, als wir es uns jetzt vorstellen können. Und manche vielleicht gar nicht, obwohl wir sie gern beieinander hätten."
Matthias nahm sie in die Arme. "Du hast ja recht, Liebes. Warten wir erst einmal ab, wir können uns schließlich Zeit lassen."
Und nachdem sie sich noch einmal zärtlich geküßt hatten, flüsterte er ihr ins Ohr: "Die Hauptsache ist doch, dir gefällt unser Schlafzimmer. Und ich werde dafür sorgen, daß es dir gefällt. - Komm, ich zeig's dir."
Sie lehnte den Kopf an seine Schulter, während er sie hinüberführte. "Meinst du, ich schlafe in deinem Bett genauso gut, wie du in meinem?", fragte sie.
"Schlafen?", neckte er. "Hast du wirklich schlafen gesagt?" Und dann begann er, ihr unter dem T-Shirt den BH aufzuhaken, und sie löste seine Krawatte und öffnete Stück für Stück die Knöpfe seines Hemdes. Das weckte Erinnerungen in ihr. Erinnerungen, die sie jedoch ganz schnell wieder beiseite schob.