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Husarenstreiche mit erfundenen Identitäten

Gesellschaftliche, soziale und ökonomische Umstände haben immer wieder dazu beigetragen, dass Menschen ihre Identität veränderten oder in eine andere Figur schlüpfen mussten, um sich ein Überleben zu sichern. Dabei ist die Grenze zwischen legalen und illegalen, also kriminellen Handlungsweisen eine hauchdünne, die, bedingt durch Not und dramatische Umstände, ganz schnell überschritten werden kann. So erging es auch Karl May, dem Lieblingsautor vieler Generationen, der sich die verwegenen Abenteuer von Winnetou und Old Shatterhand hinter den Gefängnismauern ausdenken musste. War er dann wieder einmal in Freiheit, so versteckte er sich hinter einem fremden Namen und einer falschen Identität. Legendär hingegen sind die Handlungen des falschen Hauptmannes von Köpenick, der Polizei und Justiz dreist an der Nase herumführte. In Österreichs Hauptstadt lebte zur gleichen Zeit ein Krimineller, der seine Beute unter den Ärmsten der Armen aufteilte und als »Robin Hood von Wien« gefeiert wurde.

Karl May und seine vielen Pseudonyme

Einer, der sich seine Wirklichkeit immer wieder neu erfunden hat und zudem auch einen gewissen Hang zur Kriminalität hatte, war Karl May (1842–1912), der zu den meistgelesenen deutschsprachigen Autoren zählt. Seine Abenteuerromane sind legendär und infizierten Leser vieler Generationen mit dem »Wild-West-Virus«. Auch heute noch sind die Kostüme von Winnetou und Old Shatterhand beliebte und allseits bekannte Karnevalaccessoires.


Bild 1: Die unsterblichen Blutsbrüder Old Shatterhand und Winnetou (Lex Barker und Pierre Brice)

Seinen Lebensunterhalt konnte sich Karl May allerdings lange nicht auf ehrliche Art und Weise verdienen. Immer wieder fiel er als Gauner, Kleinkrimineller und Betrüger auf und verbrachte Jahre seines Lebens hinter Gittern. Weil er sich, um an Geld zu kommen, in einem noblen Geschäft einen Pelzmantel erschlichen hatte, den er umgehend in einem Leihhaus wieder versetzte, wurde er steckbrieflich gesucht. Landstreicherei und viele weitere Delikte hatten ihn schließlich ins Zuchthaus gebracht. Während seiner zahlreichen Gefängnisaufenthalte begann er, seine Schriftstellerkarriere zu planen und legte eine Liste mit mehr als hundert Titeln und Sujets an, erfand Geschichten und schlüpfte in fiktive Rollen. Obwohl er zu keiner Zeit den Wilden Westen bereist hatte und auch nur auf eine sehr begrenzte Anzahl von Reisebeschreibungen in der Gefängnisbibliothek zurückgreifen konnte, entstanden in seiner Fantasie die Abenteuer von Winnetou und Old Shatterhand, die er komplett hinter Gittern zu Papier brachte. Mit der Person des klugen, weitsichtigen und einfühlsamen Winnetou-Freundes Old Shatterhand konnte er sich immer stärker identifizieren und das Ausprobieren der Figuren, aber auch das Erfinden der literarischen Abenteuer half ihm, die Zeit des Eingesperrtseins und der Schmach zu überwinden. So wurden Winnetou und Old Shatterhand womöglich zu den Lebensrettern ihres eigenen Erfinders! Später erdachte sich Karl May eine »passendere« Biografie, denn an sein unrühmliches Vorleben wollte er nicht erinnert werden. Um seine wahre Identität zu verschleiern, benutzte er unzählige Pseudonyme, darunter auch den Mädchennamen seiner ersten Frau, Emma Pollmer.

Der Hauptmann von Köpenick

Ein Geniestreich gelang einem gewissen Friedrich Wilhelm Voigt (1849–1922), der fast zur selben Zeit wie Karl May lebte. Auch er war ein Kleinkrimineller, der sich sein karges Brot durch Diebstähle, Urkundenfälschungen und allerlei Schwindel aufzubessern versuchte, wofür er jedoch immer wieder im Gefängnis landete. Nach jeder Entlassung aus der Haft wurde er mit einem Aufenthaltsverbot für die entsprechende Region belegt, sodass er sich bald nirgendwo mehr niederlassen und vor allem keiner geregelten Arbeit nachgehen konnte.

Ohne Aussicht auf ein besseres Leben startete er an einem Oktobertag des Jahres 1906 den größten und unglaublichsten Coup des Jahrhunderts. Hierzu musste er sich zunächst in einen Hauptmann des preußischen Garde-Regiments verkleiden; dazu kaufte er sich bei verschiedenen Trödelmärkten Teile von Uniformen wie Hose, Hemd, Jacke und vor allem die richtige Kopfbedeckung. So ausgestattet und mit einer großen Portion Mut und Selbstvertrauen versehen heuerte er auf der Straße gleich zwei Trupp vorüberlaufender Gardesoldaten an und unterstellte sie seinem Kommando. Mit der Berliner Stadtbahn ging es im Pulk nach Köpenick. Der falsche Hauptmann brachte die Soldaten dazu, das Rathaus abzuriegeln und alle Ausgänge zu bewachen, damit er in Seelenruhe den Bürgermeister und den Oberstadtsekretär verhaften konnte. Voigt hatte es auf die Stadtkasse abgesehen und ließ den gesamten Barbestand beschlagnahmen. Den begehrten »Heimatschein«, das damalige Äquivalent eines Reisepasses, der ihm das Leben erleichtert hätte, erbeutete er leider nicht. Alles geschah »im Namen seiner Majestät« und der Hauptmann von Köpenick quittierte sogar die Übernahme der Summe. Den Soldaten befahl er, noch eine halbe Stunde lang das Rathaus bewachen, während er selbst sich auf den Weg zum Bahnhof machte. Im Bahnhofsrestaurant leerte er laut Zeitungsberichten noch »ein Glas Helles«, ehe er sich aus dem Staub machte. Zehn Tage später wurde er jedoch verhaftet, da ihn ein ehemaliger Zellengenosse verpfiffen hatte.

Die Geschichte des Hauptmanns von Köpenick ging um die ganze Welt und löste vor allem in Deutschland heftige Diskussionen aus. Die Belustigung und die Schadenfreude wichen der Bestürzung über die Tatsache, dass es einem einzelnen Mann in Uniform derart mühelos gelingen konnte, die Zivilgewalt außer Kraft zu setzen und das Gemeinwesen zu narren und der Lächerlichkeit preiszugeben.

Friedrich Wilhelm Voigt war nach dieser Aktion berühmt; nur zwei Jahre musste er im Gefängnis ausharren, bevor er vom Kaiser begnadigt und vorzeitig entlassen wurde. Danach war er eine Attraktion auf Jahrmärkten und Veranstaltungen, wo sich die Leute gerne mit ihm fotografieren ließen. Im Leipziger Verlag erschien seine Autobiografie unter dem Titel: »Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde. Mein Lebensbild«.

Das literarische Echo auf diese Figur war groß, Drehbuchautoren und Regisseure waren von dem Stoff inspiriert. 1930 verfasste Carl Zuckmayer ein Theaterstück, das auch als Filmvorlage diente. In der ersten Verfilmung spielte Max Adalbert berührend die Rolle des Hauptmannes, die er zuvor auch schon in der Bühnenfassung verkörpert hatte. Die tristen Lebensumstände und die traurige Biografie des Täters sind es, die nachdenklich machen und Sympathie für den unverfrorenen Verkleidungskünstler entstehen lassen.

Der Robin Hood von Wien

Was den Preußen ihr Hauptmann von Köpenick, war den Wienern ihr Einbrecherkönig Johann »Schani« Breitwieser (1891–1919) alias »Robin Hood«. Seine Lebensgeschichte und sein Werdegang sind ebenfalls geprägt von einem Milieu, in dem bitterste Armut, Hunger und Elend herrschten. Als sechstes von zwölf Kindern geboren, war der Junge schon früh ganz auf sich selbst gestellt und verbrachte die meiste Zeit auf den Straßen, in Friedhöfen und im Tierpark. Als Jugendlicher ohne Ausbildung hielt er sich mit Gelegenheitsjobs und kleineren Einbrüchen über Wasser. Später wurde er Mitglied der Räuberbande »Bruderschaft mit schwarzen Larven« und erhielt dort eine »professionelle Ausbildung« als Einschleichdieb und Einbrecher. Diese Gruppe hatte es vornehmlich auf reiche Unternehmer und Kriegsgewinner abgesehen und war auf das Stehlen von Kassen und Aufbrechen von Tresoren spezialisiert. Den jungen Kriminellen ging es jedoch nicht ausschließlich darum, selbst an Geld und Reichtum zu kommen, um im Luxus zu leben wie ihre reichen Opfer. Sie empfanden es als eine große Ungerechtigkeit, dass es einigen Menschen so gut ging, während andere im Elend darben mussten und nicht genug Geld hatten, um ihren Kindern das tägliche Brot zu kaufen. Aus heutiger Sicht gesehen handelte es sich daher nicht um eine Bande gewöhnlicher Krimineller, die schon früh auf die schiefe Bahn gekommen waren, sondern eher um so etwas wie Sozialrevolutionäre, die nach jedem Überfall in die Rolle von Robin Hood schlüpften und dafür sorgten, dass auch die Armen etwas abbekamen. Indem er sich in die Gefolgschaft des als zwar kriminell, aber tief moralisch handelnd anerkannten »Helden« Robin Hood stellte, gelang es Johann Breitwieser, Kraft und Selbstbewusstsein für sich selbst zu schöpfen. So betrachtete er sich nicht als gewöhnlichen gesellschaftlich ausgegrenzten und geächteten »böser Buben«, sondern als Wohltäter, der den Armen und Entrechteten zu Geld verhalf.

Schani Breitwieser war ein gelehriger Schüler und ein begabter Einbrecher dazu. Seine Nachbarschaft verehrte ihn wie einen Helden und tat alles, um ihn vor den Zugriffen der Gerichtsbarkeit zu schützen. Seinen größten Coup landete er bei einem Überfall auf die Hirtenberger Munitionsfabrik, wo er die für damalige Verhältnisse gigantische Summe von einer halben Million Goldkronen erbeutete und unter den Armen verteilte. Er selbst erwarb mit seiner Geliebten unter falschem Namen ein Haus, in dem er sich luxuriös einrichtete. Im Keller befand sich sein »Atelier« mit Einbruchswerkzeugen aller Art. Als die Polizei 1919 das Anwesen stürmte, kam der Einbrecherkönig ums Leben; in den Aufzeichnungen von damals steht kurz und bündig zu lesen: Der Verbrecher wurde »tödlich verhaftet«. An seinem Begräbnis nahmen Zehntausende Menschen teil und der Reporter und Schriftsteller Egon Erwin Kisch würdigte den »Robin Hood von Wien« in seinem Nachruf als einen »Mann der Tat und des Mutes.« So wurde Johann Breitwieser trotz seines frühen Todes zu einer Legende.

Die Not macht bekanntlich erfinderisch und die Gelegenheit Diebe. Karl May, der Erfinder wunderbarer Geschichten, hat seine Fantasie eingesetzt, um sich der harten Wirklichkeit zu entziehen. Bei Winnetou und Old Shatterhand siegt immer die Gerechtigkeit. Darum ging es auch dem Hauptmann von Köpenick und dem »Robin Hood« von Wien. Im Kontext der Zeitgeschichte gesehen, waren ihre Diebstähle und Betrügereien der Versuch, zwischen arm und reich auszugleichen und zu Gunsten der hungernden und leidenden Menschen umzuverteilen. Mit wechselnden Identitäten, verkleidet und versteckt hinter einem Pseudonym, begangen sie ihre Taten – der eine am Schreibtisch und die anderen auf der Straße – und wurden trotzdem enttarnt und entlarvt.

Das Spiel mit der Identität

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