Читать книгу Eine Elfe auf Wolke 7 - Dorothea Masal - Страница 5
ОглавлениеKapitel 2
Kurze Zeit später durchstöberten wir bereits unzählige Regale und durchforsteten eine Stange voll behangen mit T-Shirts, Blusen und Hosen nach der nächsten.
»Ich habe absolut keinen Schimmer, was sich meine Mum wünscht.« Paisleys Stimme drang dumpf hinter einem Ständer voller Hüte hervor.
»Na, eine neue Kopfbedeckung denke ich nicht.«
»Autsch, so böse.« Sie grinste frech.
»Was ist mit einem Schal? Ich glaube, so etwas würde auch meiner Mutter gefallen.«
»Gute Idee … Mensch, schau dir doch mal dieses süße Top an.« Paisley griff nach einem Bügel mit einem Top, dessen Print Cinderella samt Glasschuh zeigte. Es war wirklich hübsch und erinnerte mich an meinen Besuch in Disneyland vor einem Jahr.
»Das sieht echt schön aus. Aber sind das nicht nur Kindergrößen?«
Paisley kniff die Augen zusammen und fingerte nach dem Etikett.
»Hey, hübsche Weihnachtselfe«, sagte da plötzlich eine tiefe Stimme hinter mir und ließ mich erschrocken zusammenfahren. Ich hatte nicht bemerkt, dass sich uns jemand genähert hatte. Eine Hand legte sich sanft auf meinen Oberarm. Wollte der mich etwa ausrauben? Entführen kam mir in einem solch belebten Geschäft unrealistisch vor, aber man wusste ja nie. Ein eiskalter Schauer lief mir den Nacken herunter. Nicht einmal das knapp bemessene Kleid hatte das geschafft. Ruckartig drehte ich mich um und rechnete mit dem Schlimmsten. Doch stattdessen blickte ich in mir bekannte nussbraune Augen, die mich wie so oft in ihren Bann zogen. Sie wurden halb von einer braunen, strubbeligen Surferfrisur verdeckt. Sie gehörten einem Jungen, der direkt vor mir stand. Er war einen halben Kopf größer als ich und trug einen schwarzen Kapuzenpulli sowie locker sitzende Jeans.
»Kevin?«
»Mia?«
Überrascht blinzelte ich und starrte in das nun ebenso verblüfft aussehende Gesicht. So viel zu Taschendieb! Vor mir stand kein anderer als Kevin O’Neill, Drummer von »4 United Tones«, der Band meines Bruders. Und nicht nur das. Kevin war einer der begehrtesten Jungs unserer Schule. Was nicht nur an seinen hammermäßigen Beats lag. Er war trainiert, gutaussehend, süß und einfühlsam. Unzählige Mädchen himmelten ihn an. Die Jungs von 4 United Tones hatten mittlerweile schon regelrechten Star-Status in unserer Kleinstadt und Umgebung erlangt und stellten eine harte Konkurrenz zu unseren Footballspielern an der High School dar, was den Beliebtheitsfaktor bei Mädchen anging. Das gefiel den Spielern sowie sämtlichen Jungs an unserer Schule zwar nicht, aber kein Mädchen konnte dem Charme der vier Bandmitglieder widerstehen. Auch wenn die meisten in ihrer Anwesenheit Gelassenheit und Belanglosigkeit vortäuschten. Jede von ihnen hoffte inständig, eines Tages von einem der 4 United Tones-Boys bemerkt und als Freundin auserkoren zu werden. Sehr zu meinem Leidwesen. Denn seit die 4 United Tones bekannter geworden waren, hatten auch schon unzählige Mädchen versucht meine neue beste Freundin zu werden. Nur, um dadurch näher an Kevin, Mike, Blake oder Jonah heranzukommen. Denn als kleine Schwester von Jonah Smith, dem Frontsänger und Gründer der Band, hatte ich natürlich die Möglichkeit, jederzeit mit ihnen abzuhängen. Allein diese Tatsache heimste mir regelmäßig neidische Blicke im Schulflur ein, was mich ziemlich nervte. Gut, es stimmte: Kevin, Blake, Mike und Jonah waren bereits seit dem Kindergarten die besten Freunde und somit war ich praktisch mit ihnen allen aufgewachsen. Selbst für meine Eltern waren sie mittlerweile mehr Familienmitglieder als nur Freunde meines Bruders. Das hieß aber nicht, dass Paisley und ich in unserer Freizeit ständig etwas mit den Jungs unternahmen, so wie das manch eine meiner Mitschülerinnen glaubte. Und einen solch »berühmten« Bruder zu haben, konnte auch ganz schön anstrengend sein. Besonders wenn Jonah wieder einmal ein etwas zu großes Ego an den Tag legte und mir damit tierisch auf die Nerven ging.
Verwundert riss Paisley die Augen auf, als sie den Jungen vor mir ebenfalls erkannte. »Kevin? Hast du dich verirrt?«
Sein überraschter Gesichtsausdruck verwandelte sich in Verwirrung. »Nein, wieso?«
»Nun ja.« Meine beste Freundin wedelte mit dem Disney-Top vor seiner Nase herum und deutete dann durch das Geschäft. »Wenn ich mich nicht total täusche, stehst du hier gerade in einer Damenboutique.«
Sein Blick wirkte einen Moment lang verständnislos. Dann nahmen seine Wangen eine kaum merkliche Rotfärbung an, als er diese Tatsache ebenfalls zu bemerken schien. Seine Augen zuckten unruhig von Paisley zu mir. Binnen einer Sekunde hatte er sich jedoch wieder gefangen. »Du hast eine gute Auffassungsgabe, Sherlock.« Er zwinkerte Paisley zu. Sie kicherte amüsiert, biss sich kaum merklich auf die Unterlippe und senkte kurz ihren Blick. Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen. Flirtete sie da etwa gerade? »Um ehrlich zu sein, suche ich nach einem Geschenk für meine Schwester.«
»Tiara?«, fragte ich, ohne weiter darüber nachzudenken und hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Natürlich Tiara, dachte ich. Schließlich hatte er ja nur eine Schwester. Tiara war sechs Jahre alt und ein wahrer Engel. Ich liebte es, auf sie aufzupassen, wenn Kevin gerade mit der Band probte und Mr. und Mrs. O’Neill keine Zeit hatten. Obwohl Tiara manchmal ein paar sehr verrückte Flausen im Kopf hatte, war sie für ihr junges Alter schon erstaunlich erwachsen und clever. Unsere gemeinsamen Nachmittage versprachen jedes Mal das reinste Abenteuer zu werden.
»Jap.« Auf Kevins Gesicht trat ein Grinsen. »Hey Mia, du kommst doch am Donnerstag wieder zu uns. Tiara freut sich schon riesig darauf. Sie spricht seit einer Woche von nichts anderem mehr. Vermutlich wird sie dir all ihre Weihnachtsgeschenke zeigen und verlangen, dass ihr sie der Reihe nach durchspielt.«
Bejahend nickte ich und konnte mir ebenfalls ein Schmunzeln nicht verkneifen. Die Tatsache, dass Tiara meinen Besuch kaum erwarten konnte, freute mich jedoch mächtig.
»Aber ich muss dich vorwarnen.« Kevin beugte sich ein Stück zu mir vor und flüsterte geheimnisvoll. »Mum will ihr ein Prinzessinnenkosmetikset schenken.«
»Oh«, war meine einzige Antwort. Tiara hatte ein ausgereiftes Faible für Mode und Styling und liebte alles, was auch nur im Entferntesten dieser Thematik angehörte. Dabei hatte sie einen recht guten Geschmack, wenn doch hin und wieder etwas ausgefallen. Ich konnte mir bereits bildlich ausmalen, dass der Donnerstag definitiv einige sehr bunte Stunden versprach.
Kevin schwieg einen Moment und musterte mich ausgiebig in meinem Elfenkostüm. Unbehaglich wand ich mich unter seinem Blick. Für einen Moment hatte ich das Minikleid ganz vergessen.
»Die Kinderklamotten sind übrigens da drüben.« Paisley wies auf die hinterste Ecke des Ladens. Kevin blinzelte und schaute irritiert in die gezeigte Richtung. Dankbar nickte ich meiner besten Freundin zu, die ganz offensichtlich mein Unwohlsein bemerkt hatte.
»Tja, dann will ich wohl mal.« Etwas zögerlich trat Kevin einen Schritt nach vorne. Mittlerweile hatte sich eine kleine Traube an Mädchen in etwa anderthalb Metern Entfernung um uns herum angesammelt und blickte aufgeregt tuschelnd und kichernd zu uns hinüber. Als Kevin keine Anstalten machte, loszulaufen, gab Paisley ihm einen ermunternden Klaps auf die Schulter und schob ihn vorwärts.
Ein plötzliches »Klatsch«-Geräusch erklang, als dabei etwas Kartenähnliches vor meinen Füßen landete. Sofort fasste sich Kevin in die hintere Hosentasche, fingerte suchend nach etwas und bückte sich schnell zu den auf dem Boden liegenden Zetteln hinunter. Doch da war ich bereits in der Hocke und warf einen Blick auf drei bunte, laminierte DIN-A6-Karten. Eine davon war grün, eine gelb und die dritte rot. Sie erinnerten mich an meine Lernkarteikarten aus der Schule, mit denen ich für einen Vokabeltest oder eine Klausur übte. Nur, dass sich auf diesen hier keine Vokabeln befanden, sondern eine Reihe von Stichpunkten aufgelistet war. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass es sich um eine Art To-do-Liste handelte, bei der bereits drei Punkte auf der grünen Karte mit einem Häkchen versehen waren. Mein Blick wanderte über die verschiedenen Karten:
• schmücke den Weihnachtsbaum des Einkaufszentrums mit eigenem Schmuck
• fische eine Münze aus dem Wunschbrunnen
»Moment, was …?« Was sollte das denn bitte schön für eine To-do-Liste sein?
Plötzlich umschlossen Finger die Karten und versuchten sie meinem Griff zu entziehen. Der Stärke nach zu urteilen, musste es Kevin sein. Da hatte er allerdings die Rechnung ohne Paisley gemacht. Diese entriss ihm in Windeseile die Listen. Mit immer größer werdenden Augen überflog sie die Karten und wich dabei geschickt Kevins Versuchen aus, ihr die Karteikarten abzunehmen.
»OMG! Eine Scavenger Hunt. Das ist doch diese abgewandelte Form einer Schnitzeljagd. Krass! Ich dachte, sowas gibt es nur im Fernsehen von irgendwelchen verrückten Promis.« Kevin schaffte es nun endlich, die Karten an sich zu nehmen und beeilte sich, sie wieder in die hintere Hosentasche zu stecken. Paisley allerdings schien die meisten Stichpunkte darauf gelesen und förmlich auswendig gelernt zu haben. »Du hast dir einen Frozen Yoghurt bis zum Gehirnfrost reingeschaufelt?«
Ich konnte nicht sagen, welches Gesicht bei dieser Aussage wahnsinniger aussah. Paisley, die vor Erstaunen, Entsetzen und tiefem Respekt fast zu atmen vergaß oder Kevin, dessen Gesichtszüge im Sekundentakt von Verlegenheit über Wut und Lachen bis hin zu Panik wechselten und er dabei einem unentschlossenen Chamäleon glich. Schließlich endete sein Mienenspiel bei Entsetzen. Sein Kopf zuckte zu mir, so als ob er sich erst jetzt wieder meiner Anwesenheit bewusst wurde. »Ich muss los«, erklang ein undeutliches Nuscheln und er machte ruckartig auf dem Absatz kehrt. Sein Fluchtversuch scheiterte jedoch erneut an Paisley.
»Moment mal!« Sie schien nun richtig in Fahrt zu kommen. Blitzschnell, wie ein Raubtier griff sie nach seinem Arm und zerrte ihn zurück zu dem Cinderella-Kleiderständer. »Wahnsinn, das ist der Hammer!« Meine beste Freundin fasste an Kevins Po (HALLO?!) und holte die drei Karten aus seiner Hosentasche hervor. Begeistert studierte sie diese ausführlicher.
Dieses Mal wehrte sich Kevin nicht, vermied es aber tunlichst, eine von uns beiden direkt anzusehen. Stattdessen starrte er auf das Cinderella-Top, das nun wieder an der Kleiderstange hing.
»Wenn ich das richtig verstehe, sind alle Aufgaben auf der grünen Karte leicht, Gelb bedeutet mittlere Herausforderung und Rot schwer. Bestimmt erhält man dementsprechend unterschiedlich viele Punkte. Moment. … Ah, hier oben steht es ja. Für eine grüne Aufgabe erhält man 25 Punkte, für eine gelbe 50 und eine erfolgreich absolvierte rote Challenge bringt satte 100 Punkte ein.« Langsam dämmerte es mir. Die drei laminierten Karteikarten gehörten also zu einem Spiel oder genauer gesagt, zu einer Art Schnitzeljagd. Dabei gaben die verschiedenfarbigen Karten unterschiedlich schwere Aufgaben vor, bei deren Erfüllung der Spieler sich eine entsprechende Punktzahl gutschreiben durfte. Eigene Christbaumkugeln an den Weihnachtsbaum im Einkaufszentrum zu hängen und Münzen aus dem Wunschbrunnen zu stehlen waren also leicht zu lösende Aufgaben, für die der Spieler jeweils 25 Punkte erhielt. Innerhalb eines festgelegten Zeitraums musste man so viele Aufgaben wie möglich erfüllen. Eine bestimmte Reihenfolge gab es nicht. Jeder Spieler konnte selbst wählen, welche und wie viele der Aufgaben er lösen wollte. Wer am Ende die meisten Punkte hatte, gewann.
»Aber wenn das eine Scavenger Hunt ist, dann benötigt man mehrere Spieler. Also, wer sind deine Mitstreiter?« Paisley blickte neugierig von den Karten auf.
Kevins Antwort beschränkte sich auf ein Schweigen. Aber er brauchte auch nichts zu sagen. Denn plötzlich fiel der Groschen bei mir. Es gab keine Zweifel. Kevins beste Freunde waren die anderen Bandmitglieder. Natürlich kannte er noch viele andere Leute. Doch nur mit den Jungs von 4 United Tones würde er eine solche Aktion durchziehen. Die Scavenger Hunt klang wie ein typischer Vorschlag von Blake, dem E-Bassspieler. Er war mit seinen neunzehn Jahren der älteste der Gruppe und zugleich der Draufgänger in der Band. Er besaß eine große Vorliebe für jegliche Form von Unsinn, den er selbst gerne als Erwachsenenspaß betitelte. Für ihn war das Leben eine einmalige Sache, die man stets auskosten sollte. Mike, der achtzehnjährige Keyboarder, und Kevin galten dabei eher als die Vernünftigen und Ruhigen der Band. Doch wenn Blake und Jonah etwas vorschlugen, dann gaben sie am Ende meistens nach und das resultierte dann in eben solchen verrückten Aktionen wie dieser Scavenger Hunt. Also hätte es mich eigentlich nicht allzu sehr verwundern dürfen, dass nun Kevin als Teilnehmer einer solchen Schnitzeljagd vor uns auftauchte.
»Oh nein! Du spielst das mit Jonah, Mike und Blake.«
Kevins intensiver, schweigsamer Blick ruhte auf mir und verriet alles, was ich wissen musste.
»Das heißt also, dass mein Bruder auch hier im Einkaufszentrum ist!« Entsetzt schnappte ich nach Luft. Kevin nickte ertappt. Automatisch zerrte ich mein Minikleid tiefer Richtung Knie. Wenn mich Jonah in diesem komischen Fummel sah, würde er mich monatelang damit aufziehen und vor versammelter Mannschaft blamieren. Im Prinzip war Jonah echt okay und ich wünschte mir keinen anderen großen Bruder als ihn. Aber geschwisterliche Rivalitäten blieben auch bei uns nicht aus und genau dann konnte so eine Situation echt peinlich und unangenehm werden. Der morgendliche Streit um das Badezimmer, der von Wettrennen aus dem Bett bis hin zu Frisur zerstörerischen Fönduellen reichte, war da nur ein harmloses Beispiel. Ich erinnerte mich nur allzu gut daran, wie ich vor drei Jahren von einem echt süßen Jungen aus der Parallelklasse zu einem Eis essen eingeladen worden war. Das war mein erstes und leider bisher letztes Date gewesen. Denn kaum hatten wir beide das Eiscafé betreten, war auch schon Jonah mit Blake, Mike und Kevin dort aufgetaucht und hatte mich am laufenden Band vor meinem Date blamiert. Angefangen bei peinlichen Kindheitserinnerungen, die er in aller Ausführlichkeit lachend herumposaunte, bis hin zu irgendwelchen erfundenen Eisunverträglichkeiten meinerseits. Seit diesem Tag ignorierte mich der Junge aus der Parallelklasse komplett und Jonahs Geschichten hatten in der gesamten Schule die Runde gemacht. Nein, ich musste definitiv mit allen Mitteln verhindern, dass Jonah mich in diesem freizügigen Kostüm entdeckte. Denn dass er sich eine solche Vorlage für neuen Spott und Sticheleien nicht entgehen lassen würde, lag ja wohl auf der Hand. Wer weiß vielleicht schoss er sogar gleich noch ein paar Beweisfotos und schickte sie als Weihnachtsgrußkarten an alle Verwandten und Bekannten, damit sie den Spaß teilen konnten!
Kevin bemerkte meine hektischen Versuche, den Stoff verlängern zu wollen und zog verwundert die Augenbrauen nach oben. Ich schaute ihn kurz vielsagend an und er schien meine Sorgen endlich zu begreifen. Immerhin kannte er meinen Bruder genauso gut wie ich. »Beruhige dich, Mia. Wenn ich mich nicht täusche, ist er gerade mit der Rolltreppe in den 3. Stock gefahren. Vermutlich um lautstark ein Lied im Elektronikgeschäft in der Musikabteilung mit Testkopfhörern zu trällern.« Ich hielt in meiner verkrampften Haltung inne.
Paisley suchte auf den drei Karteikarten nach der genannten Challenge. »Wieso ist das auf der gelben Karte? Ihr seid eine Band. Das sollte wohl eher unter ›kinderleicht‹ oder ›Aufwärmübung‹ fallen.«
»Nicht jeder von uns ist ein geborener Frontsänger und hat null Hemmungen mit dieser Challenge. Mike und ich wollten dafür mindestens 50 Punkte.«
»Und wie ich hier sehe, hast du dich noch nicht getraut. Das macht 50 Punkte Vorsprung für ihn.« Kevin schien darüber wenig begeistert. Seine Augen verengten sich verärgert zu kleinen Schlitzen und sein Kiefer spannte sich leicht an.
Paisley bekam das allerdings nicht mit. Sie war viel zu vertieft in die Liste. »Was gibt es denn zu gewinnen?«
Nach einem kurzen, unschlüssigen Zögern, schien Kevin zu entscheiden, dass er nun auch ganz mit der Sprache rausrücken konnte. »Der Gewinner darf das Cover unseres neuen Albums aussuchen.«
Ich erinnerte mich daran, dass Jonah neulich Abend schlecht gelaunt gewesen war, weil das neue Album von 4 United Tones in wenigen Wochen veröffentlicht werden sollte, sich die Band aber nicht auf ein Coverdesign einigen konnte. Jeder hatte eine andere Meinung, welcher der Vorschläge es wert war, sie zu repräsentieren. Dieses Wissen ließ meine Vermutung von eben noch einmal überdenken. »Lass mich raten. Das war die Idee von Jonah. Nur er kommt auf solch schwachsinnige Lösungsvorschläge.« Bevor Kevin überhaupt antworten konnte, wusste ich, dass ich richtig lag. Solche Aktionen waren mir aus eigener Erfahrung nur allzu bekannt.
Paisley lachte laut auf. »Stimmt ja, so wie ihr beide früher als Kinder einen Wettbewerb ausgetragen habt, wer es schafft, über den eingefrorenen Weiher in eurer Nachbarschaft zu laufen. Der Gewinner sollte den letzten Rest eurer fantastischen Heilig Abend-Eisbombe bekommen.« Ernsthaft? Musste Paisley ausgerechnet jetzt mit dieser mehr als peinlichen Story anfangen, die ich seit Jahren versuchte zu verdrängen? Durchbohrend starrte ich meine beste Freundin an, um sie zum Schweigen zu bringen. Doch Paisley ließ sich nicht mehr bremsen. Ihr Lachen wurde noch eine Nuance lauter und auch Kevin fiel jetzt mit ein.
»Ich erinnere mich. Du bist eingebrochen und als Jonah dich rausziehen wollte, seid ihr beide reingefallen. Ihr lagt eine Woche lang krank im Bett.«
Genervt stieß ich beide ein Stück von mir weg. Meine Mum hatte damals gleich die Feuerwehr alarmiert und in kürzester Zeit hatte die gesamte Nachbarschaft neugierig am Weiher gestanden. Den letzten Rest der Eisbombe hatte am Ende keiner von uns beiden bekommen; stattdessen hieß es für uns zwei Wochen Hausarrest.
Kevin wich geschickt meinem Stoß aus. »He. Wenn du es genau wissen willst, es war Jonahs UND Blakes Idee. Mike fand mit jeder weiteren ausgedachten Aufgabe mehr Gefallen daran und meinte, es sei bestimmt witzig. Sagen wir es so: Ich wurde überstimmt.«
»Also ich find’s auch echt cool.«
»Paisley!«
»Was denn? Das ist wie so eine coole Auto-Rallye. Bloß zu Fuß und mit Elementen aus ›Flaschendrehen‹. Eben eine abgewandelte Art von Schnitzeljagd.«
»Wahnsinn. Na dann.« Die fehlende Begeisterung stand mir wohl ins Gesicht geschrieben, denn Kevin schmunzelte bei meinem Anblick.
»Und wie beweist ihr, dass ihr die Aufgaben auch wirklich erfüllt habt und nicht einfach schummelt?«
Kevin zog sein Handy aus der Hosentasche. »Mit Fotos und Videos. Immer, wenn wir eine Aufgabe erfüllen, wird es hiermit festgehalten.« Er wischte über das Display und zeigte uns ein Video von sich am Eisstand im untersten Stockwerk des Einkaufszentrums. Hätte ich nicht gewusst, dass es Kevin zeigte, dann hätte ich ihn nicht wiedererkannt. Mit Highspeedgeschwindigkeit schob er sich einen vollen Löffel Frozen Yoghurt nach dem anderen in den Mund. Sein Gesicht wurde dabei mit jedem Bissen mehr zu einer schmerzverzerrten Grimasse, bis er sich schließlich mit den Fingern an die Schläfen gepresst zusammenkrümmte und einen stöhnenden Laut von sich gab. Im Hintergrund ertönten die Jubelrufe einiger Passanten. Paisley klatschte lachend vor Begeisterung in die Hände. Mir hingegen entwich ein schockierter Laut. Nach kurzer Zeit überwand der gefilmte Kevin den Hirnfrost und lächelte gewinnend in die Kamera. Das Video stoppte.
»Du bist unglaublich. Stell das ins Internet und ich werde es als Erster liken.«
Kevin grinste breit und steckte das Handy wieder weg.
»Vielen Dank, Paisley. Ich überleg’s mir.«
»Und wie lange habt ihr für die Aufgaben Zeit?«
»Wir haben um kurz nach 8:00 Uhr angefangen und um 14:30 Uhr ist die Deadline. Dann treffen wir uns wieder und vergleichen den Punktestand.« Er blickte auf die Uhranzeige auf dem Display seines Handys. »Das ist wohl mein Stichwort. Die Zeit drängt. Ich muss weiter.« Er wollte bereits nach den Karten greifen, da drehte sich Paisley entsetzt zu mir um. »Das ist nicht euer Ernst! Auf der roten Karte steht: Küsse einen der zwei Weihnachtselfen von Santa Claus.«
Ich verharrte wie zu Stein gefroren in meiner Bewegung, riss die Augen auf und starrte Kevin an.
»Blakes Idee!«, beeilte er sich zu sagen, als ob das als Entschuldigung zählte. Ich konnte es nicht fassen. Die Jungs hatten eine 100 Punkte-Aufgabe daraus gemacht, Paisley oder mich zu küssen. Als ob er meine Panik bemerkt hätte, beeilte sich Kevin zu ergänzen: »Niemand darf die Weihnachtselfen … äh also euch küssen, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Also sich nicht einfach auf euch stürzen und … « Er verstummte, als ich einen Schritt zurücktrat. Schlimm genug, dass ich in diesem langen T-Shirt herumrannte. Jetzt musste ich auch noch aufpassen, dass mich keines von Jonahs Bandmitgliedern überrumpelte, mir binnen eines Atemzugs die rhetorische Frage stellte, ob er mich küssen durfte und es einfach tat. Na schön, das traute ich eigentlich nur Blake zu. Trotzdem musste ein solches Aufeinandertreffen verhindert werden. Denn trotz ungewohnt freizügigem Outfit würden sie mich sofort wiedererkennen und dann war es nur eine Frage der Zeit, bis Jonah von meinem Weihnachtselfen-Job Wind bekam. Da war Spott mehr als vorprogrammiert. Und noch ein schlimmerer Gedanke breitete sich nun in meinem Kopf aus. Die Jungs kannten mich und damit auch meine beste Freundin Paisley sehr gut. Wir waren alle gute Freunde. Was aber, wenn einer von ihnen nur noch diese 100 Punkte brauchte, um das Cover zu gewinnen? Wie weit würden sie gehen? Der Gedanke, einen von ihnen zu küssen, war mehr als seltsam. Nicht, dass ich rein theoretisch gesehen etwas dagegen hatte, einen gutaussehenden Rockstar zu küssen. Ganz besonders wenn es Kevin war … Moment, was dachte ich da?! Ich bemerkte, wie mein Blick bei diesem Gedanken zu Kevin hinüber gewandert war und meine Augen ihn interessiert musterten. Augenblicklich rief ich mich zur Ordnung. Paisley und ich würden niemanden küssen! Auf keinen Fall durften uns die Jungs in diesem Outfit sehen. Da wir allerdings eine 100 Punkte-Challenge waren, würden sie nach uns Ausschau halten. Ich musste mich verstecken. Und zwar schnell!
»Du darfst Jonah nicht erzählen, dass ich eine der Elfen bin«, wies ich Kevin eindringlich an. »Paisley, wir müssen verschwinden. Sofort!«
»Mia, wir können nicht gehen. Ich brauche noch die Weihnachtsgeschenke und du hast auch noch nicht alle. Schließlich haben wir dafür doch extra den Job angenommen, zu dem wir übrigens auch noch um 14:30 Uhr müssen.«
»Verflixt!« Ich musste gestehen, dass sie Recht hatte. Wir konnten nicht gehen. Zumal mich meine Mum erst nach meinem Dienst um 15:30 Uhr abholen würde und auch Paisleys Mutter jetzt keine Zeit hatte, uns zu fahren. Verdammt! Warum hatte ich kein eigenes Auto?! Dann hätten wir bis 14:30 Uhr irgendwo anders hinfahren können. Kevin besaß zwar ein Auto, aber ich wollte ihn definitiv nicht um Hilfe bitten und damit seine Chance auf das Cover vermasseln. Warum nur hatte ich nicht normale Kleidung angezogen und das Elfenkostüm in einer Tasche zum Wechseln kurz vor unserem Dienstbeginn mitgenommen? So ein Mist! Nachdenklich biss ich mir auf die Unterlippe.
»Ganz ruhig, Mädels. Ich verrate euch nicht.« Kevin hob beschwichtigend die Hände. Von seinem kurzzeitigen Fassungsverlust war nichts mehr zu sehen. Mit einem verschwörerischen Augenzwinkern blickte er zwischen uns hin und her. »Aber ihr könntet mir im Gegenzug etwas Gutes tun.«
Argwöhnisch betrachtete ich sein schelmisches Grinsen. Das war ja klar. Ein WENN - ABER - Handel. Ich wünschte, dieser Tag hätte bei dem Minikleid-Desaster aufgehört. Stattdessen grübelte ich jetzt darüber nach, welche unerwarteten Ereignisse wohl noch auf mich warteten oder vor allem gerade direkt vor mir standen. Wollte Kevin jetzt etwa eine von uns beiden küssen und damit 100 Punkte einsammeln?
»Was willst du, Trommler?« Paisley schien ebenfalls misstrauisch zu werden und kniff abschätzend die Augen zusammen.
Kevin lachte über diese Bemerkung. »Eine der grünen Aufgaben ist es, dass ich einem Mädchen den Lippenstift abschwatzen muss. Ihr seid doch Mädchen und wo wir uns gerade zufällig treffen …« Auffordernd schaute er zwischen uns beiden hin und her. Ich schluckte etwas verlegen. Klar würde ich ihm meinen Lippenstift geben. Wenn ich einen dabei gehabt hätte. Natürlich besaß ich zu Hause ein paar unterschiedliche Töne in meinem Schminktäschchen. Aber ich war noch nie eines dieser Mädchen gewesen, die ständig ihre Schminksachen dabei hatten.
Paisley griff in ihre kleine Umhängetasche, fischte einen knallroten Lipgloss heraus, trug ihn noch einmal auf und streckte ihn Kevin entgegen. »Hier, ist zwar Lipgloss, aber das zählt bestimmt auch.«
Für ihn schien das wenig Unterschied zu machen. Dankbar und erleichtert lächelnd steckte er den Kosmetikartikel in seine Hosentasche. »Na dann, Mädels. Ich muss weiter. Ihr wisst ja, die Aufgaben warten.«
»He. Du wolltest doch etwas für Tiara besorgen.« Noch während ich diese Worte aussprach, wurde mir klar, dass Tiara nicht der eigentliche Grund für Kevins Besuch in der Damenboutique gewesen war. »Oh, warte mal. Kann es sein, dass du nur deswegen zu uns gekommen bist, weil wir die Weihnachtselfen sind und dir 100 Punkte bringen?« Entsetzt über diese Erkenntnis klappte mir die Kinnlade herunter. Kevin mied schlagartig meinen Blick. Er atmete mehrfach ein und aus und schien etwas sagen zu wollen, doch brachte nichts über die Lippen. Seine Hand wanderte verlegen an seinen Hinterkopf.
»Nicht im Ernst!«, rief nun auch Paisley. Sie wandte sich hysterisch grinsend zu mir um. Fehlte nur noch, dass sie vor Freude in die Hände klatschte. »Siehst du? Die Jungs stehen auf unser knappes Outfit.«
Ich warf ihr einen missbilligenden Blick zu und starrte Kevin enttäuscht an. Waren wir nur Mittel zum Zweck für ihn?
Dieser hatte bei Paisleys Kommentar kurz neugierig zu mir hinübergeschaut und musterte mich jetzt erneut interessiert und schmunzelnd.
»Welche von uns wolltest du denn küssen?« Paisleys Frage klang in meinen Ohren total seltsam. Niemals hatte ich mir träumen lassen, einen der Jungs von 4 United Tones zu küssen, obwohl … Bei diesem Gedanken wanderte mein Blick erneut unwillkürlich zu Kevin hinüber. Dieser schwieg und blickte nur nichtssagend auf das Cinderella-Top. »Ich wette Mia. Er hat schließlich DICH angesprochen, nicht mich.«
»Paisley!« Meine Stimme klang schrill und überschlug sich fast. In diesem Moment erkannte ich durch die Schaufensterscheibe ein mir bekanntes Gesicht. Blake! Seine fast schwarzen, kurzen Haare und das markante Kinn waren unverwechselbar. Suchend schaute er sich vor der Damenboutique um. Ruckartig zog ich Paisley hinter den nächstbesten Kleiderständer und von Kevin weg.
»He. Was …?«
»Blake ist da draußen! Wir dürfen ihm nicht auch noch begegnen.«
Meine beste Freundin reckte ihr Kinn und entdeckte den groß gewachsenen Jungen ebenfalls. »Verflixt.«
»Lasst mal, Mädels. Ich denke, ich bin euch noch etwas schuldig. Ich werde ihn ablenken und ihr verschwindet aus dem Laden.« Schon trat er nach draußen zu seinem Freund. Ich war zu überrumpelt, um etwas zu erwidern. Wild gestikulierend redete Kevin nun auf den E-Bassisten von 4 United Tones ein.
»Wir sollten schleunigst von hier verschwinden«, stieß Paisley hervor. Sie hatte Recht. Kevin würde Blake nicht ewig hinhalten können. Bis dahin mussten wir es aus dem Laden geschafft haben. In geduckter Haltung rannte ich hinter ihr her durch den zweiten Ladeneingang. Zu unserem großen Glück besaß das Geschäft sowohl auf der Nordals auch auf der Südseite eine Tür. Denn trotz Kevins Ablenkungsmanöver blieb Blake unbeirrt weiter direkt vor dem Nordeingang der Damenboutique stehen.