Читать книгу Eine Elfe auf Wolke 7 - Dorothea Masal - Страница 6
ОглавлениеKapitel 3
»Was machen wir denn jetzt?« Mein Puls hatte sich in den letzten Minuten um das doppelte beschleunigt. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass mein Aushilfsjob als Weihnachtselfe in diesem Minikleid das einzige Übel an diesem Tag sein würde. Stattdessen sorgte meine Arbeitsuniform jetzt auch noch dafür, dass ich mich in die Hetzjagd eines Kinofilms hineinversetzt fühlte. Und leider war ich die Verfolgte. Der Umstand, dass gleich vier Jungs nach einem Mädchen im Weihnachtselfenkostüm suchten, das sie nur allzu gern küssen wollten, schien auf den ersten Blick wie eine tolle Weihnachtsromanze zu klingen. Aber leider war das keine romantische Komödie.
»Auf jeden Fall nicht in Panik ausbrechen.« Zur Verdeutlichung zog mich Paisley von der gut besuchten Eingangstür der Damenboutique weg und hinter sich her in eine Traube einkaufswütiger Menschen, die sich ihren Weg Richtung diverser Geschäfte bahnten. »Pass dich dem Tempo der anderen an. Dann fallen wir weniger auf.«
»Selbst im Schneckentempo würden wir auffallen. Hast du etwa schon das Elfenminikleid vergessen?! Wenn mich Jonah darin sieht, bin ich erledigt.«
»Dann sorgen wir einfach dafür, dass er uns nicht zu Gesicht bekommt.«
»Haha. Und wie? Sollen wir uns etwa in der Damentoilette einsperren und warten, bis es nach 14:30 Uhr ist?«
»Natürlich nicht. Das wäre albern. Wir brauchen schließlich noch unsere Weihnachtsgeschenke und um 14:30 Uhr beginnt schon unser Job. Dann sind die Jungs ja hoffentlich schon wieder aus dem Einkaufszentrum verschwunden.«
»Wie kannst du jetzt an Geschenkekaufen denken?« Ich blickte immer wieder unsicher über meine Schulter. Das merkwürdige Gefühl beschlich mich, dass wir beobachtet wurden. War etwa schon einer der 4 United Tones-Jungs auf uns aufmerksam geworden? Vielleicht eilte bereits Mike, Blake oder Jonah hinter uns her, um sich leicht verdiente 100 Punkte zu holen. Jeden Moment rechnete ich mit einer Hand auf meinem Arm, die mich herumwirbelte und jemandem, der mir einen Kuss auf die Lippen drückte. Ich erschauderte. Bildete ich mir das nur ein oder bewegte sich da ein junger Mann hinter der Menschentraube eilig auf uns zu? Plötzlich hatte ich den Eindruck, alle umstehenden Menschen starrten uns an. Warum richtete nicht gleich einer einen Scheinwerfer auf uns und schrie laut: »Hier sind die Weihnachtselfen!«. Himmel, wurde ich jetzt schon paranoid?
»Wir sollten uns am besten aufteilen.«
»Was?«, schockiert blieb ich stehen und brachte damit eine junge Frau mit großen Einkaufstüten hinter mir dazu, fast in mich hineinzulaufen. Laut schimpfend schüttelte sie verärgert den Kopf und sah mich entrüstet an. Ich beeilte mich, eine Entschuldigung zu murmeln. Fing ja schon super an mit dem unsichtbar bleiben und unauffällig verhalten. Paisley stoppte ebenfalls und griff erneut nach meiner Hand, nur um mich sogleich wieder in Bewegung zu setzen.
»Pass auf. Ich habe noch keine Ahnung, was ich meiner Mutter kaufen soll. Das mit dem Schal ist im Prinzip eine gute Idee. Aber vielleicht fällt mir noch etwas Ausgefalleneres ein. Dafür weiß ich schon ganz genau, was ich meinem Vater schenken möchte; etwas aus dem Elektronikgeschäft. Und da wir jetzt wissen, dass Jonah, Mike und Blake nach uns Ausschau halten, sollten wir versuchen uns immer möglichst kurz in allen Geschäften aufzuhalten. Das heißt, nicht lange nach Geschenken suchen, sondern zielstrebig vorgehen und wachsam bleiben. Kevin wird uns mit Sicherheit im Auge behalten. Aber eher, um uns zu helfen und uns zu decken. Die Chance auf einen Kuss von dir hatte er ja schließlich schon und er hat sie nicht genutzt.«
»Würdest du bitte damit aufhören! Ich fühle mich in diesem Aufzug sowieso schon total lächerlich. Und jetzt darf ich auch noch vor Jonah wegrennen.« Ich strafte meine beste Freundin mit einem verärgerten Blick.
»Gut, pass auf. Für meinen Vater werde ich ein neues Videospiel besorgen. Er liebt es, nach der Arbeit seine Sachen in die Ecke zu stellen und entspannt am Fernseher oder Computer eine Runde zu zocken. Das hilft ihm, vom Arbeitsalltag abzuschalten. Zumindest behauptet er das. Ich glaube ja, er ist nie richtig erwachsen geworden und liebt es einfach immer noch, irgendwelche Miniaturautos zu Schrott zu fahren.« Sie kicherte kopfschüttelnd.
»Allerdings wird Mum wenig begeistert davon sein …« Für einen Moment war Paisley in Gedanken versunken. Vermutlich in der Überlegung, ob sie jetzt ihrem Vater oder doch lieber ihrer Mutter einen Gefallen tun sollte. Eilig räusperte ich mich, um sie wieder auf unser eigentliches Problem aufmerksam zu machen. »Entschuldige, wo waren wir? Ach ja. Um nicht unnötig hier im Einkaufszentrum herumzuirren, werde ich am besten jetzt gleich in das Elektronikgeschäft im 3. Stock gehen und das Geschenk kaufen.«
»Aber da befindet sich doch laut Kevins Aussage gerade mein Bruder Jonah. Wenn er dich sieht und erkennt, dann braucht er nur eins und eins zusammenzuzählen. Schon weiß er, dass ich dieses Jahr die zweite Weihnachtselfe bin. Wir sind beste Freundinnen. Da ist das doch klar.«
»Ich werde natürlich aufpassen, dass mich niemand bemerkt.« Das war leichter gesagt als getan. Niemand konnte seine Augen überall haben. Mittlerweile war das Einkaufszentrum wie erwartet überdurchschnittlich gut gefüllt. Egal in welche Richtung ich blickte, überall eilten bunt gekleidete Menschen durch die Passagen und blickten in die Schaufenster, stets auf der Suche nach den letzten Geschenken. Man hatte keine Chance, die vier Jungs in der Masse auszumachen. Wahrscheinlich hätte sich auch ein Promi im Einkaufszentrum aufhalten können und ich hätte ihn nicht erkannt. Andererseits lag auch etwas Wahres in Paisleys Worten.
»Und was soll ich in der Zwischenzeit machen?«
»Du kannst ebenfalls was für deine Mum oder deinen Dad besorgen.« Gute Idee. Ich konnte ja schlecht die ganze Zeit hier herumstehen, die Menge nach den 4 United Tones-Boys absuchen und darauf warten, dass Paisley zurückkam. Mir fiel ein, dass es im Erdgeschoss ebenfalls eine große Damenboutique gab. Wenn Blake und Kevin also das neue Modegeschäft angesteuert hatten, war ich dort vielleicht sicher und konnte mich in »Ruhe« nach einem Schal für meine Mutter umschauen.
»Schön. Ich werde im Erdgeschoss nach einem Geschenk für meine Mum suchen und anschließend etwas für meinen Dad besorgen.«
Paisley nickte zufrieden. »Dann treffen wir uns in einer halben Stunde wieder hier.«
Zwar war ich immer noch nicht hundertprozentig von diesem Plan überzeugt, stimmte jedoch zu. Mir behagte der Gedanke, als Treffpunkt einen Ort zu wählen, der unmittelbar in der Nähe von der neuen Damenboutique lag, allerdings wenig. Kevin hatte uns hier bereits entdeckt. Warum sollten das nicht auch die anderen aus der Band tun? Doch im Grunde war es egal, wo wir uns wiedertrafen. Die Jungs konnten überall sein.
Auf dem Absatz kehrtmachend eilte ich in leicht geduckter Haltung Richtung Rolltreppe und zwängte mich dort zwischen eine fünfköpfige Familie, um optimalen Sichtschutz zu bekommen. Obwohl ich wusste, dass es keinen großen Sinn machte, sich in der Menge nach den Jungs umzuschauen, wanderte mein Blick unaufhörlich umher. Mein Bauch grummelte nervös und die Angst, jeden Moment entdeckt zu werden, jagte mir einen Schauer über den Rücken.
Kaum hatte ich die Damenboutique im Erdgeschoss betreten, fühlte ich mich zum ersten Mal wieder etwas sicherer. Wie ich erleichtert feststellte, befand sich im Laden nur eine Handvoll Frauen. Somit also schon mal nicht Blake, Mike oder Jonah. In möglichst gemäßigtem Tempo steuerte ich auf die Ecke mit den bunten Schals und Tüchern zu. Ich wollte auf keinen Fall unnötig Aufmerksamkeit erregen, indem ich halb durch den Laden rannte, nur um endlich aus der Schusslinie zu kommen. Meine Beine fühlten sich jedoch merkwürdig steif an und ich hatte den Eindruck, mehr zu watscheln als wirklich zu laufen. Als ich schließlich das rettende Regal mit den Schals erreicht hatte, atmete ich tief durch. Hier war ich im Sichtschutz unzähliger Ständer, Regale und Schaufensterpuppen und zudem noch in der hintersten Ecke des Geschäfts. Dieser Standort versprach die optimale Möglichkeit, das Treiben um mich herum im Auge zu behalten und dabei selbst unerkannt zu bleiben. Nach einem letzten prüfenden Blick erlaubte ich mir, meine Konzentration auf die Auslage mit Schals und Tüchern zu richten. Die Frage war, welche Farbe passte am besten zu den braunen Haaren und den grünen Augen meiner Mutter? Ich durchwühlte die große Kiste mit Tüchern und Rundschals, um ein geeignetes Exemplar zu finden. Am Ende befanden sich ein blauer Seidenschal und ein grünes, gemustertes Tuch in der engeren Auswahl.
»Pst.« Für eine Sekunde hielt ich reglos inne. Hatte da nicht gerade jemand etwas geflüstert? Ich lauschte einen Moment. Doch da war nichts. »Psssst!« Ich drehte mich überrascht zur Seite. Das Geräusch schien von hinter mir zu kommen. Aber da stand niemand. Hatte ich mich etwa gerade verhört? Meine Aufmerksamkeit wanderte wieder zu den Schals in der Kiste, als erneut ein »Pst!« ertönte. Dieses Mal war es deutlicher zu vernehmen. Ich drehte mich suchend einmal um die eigene Achse. Weit und breit war niemand zu sehen. »Pst, Mia.« Da war es schon wieder. Und es kannte meinen Namen. Mein Herz begann automatisch schneller zu schlagen. Dann entdeckte ich plötzlich zwischen zwei großen Kleiderständern voller Dessous einen braunen Haarschopf. Nein, das konnte nicht sein …
»Mia, du musst mir helfen.« Geduckt winkte Kevin mich wild gestikulierend zu sich hinüber.
Etwas verunsichert machte ich mich mit dem blauen Schal für meine Mutter auf den Weg zu ihm. Skeptisch beäugte ich dabei den restlichen Laden. Versteckten sich hier etwa noch mehr Leute?
Kaum hatte ich die Dessous-Ständer erreicht, zerrte mich Kevins kräftige Hand nach unten. Ich war so überrascht, dass ein leises Quieken meiner Kehle entwich.
»Aua, sag mal, geht’s noch? Hast du etwa einen Griff aus Stahl?«
»Entschuldige. Sind wohl die Drummermuskeln.« Er schmunzelte. Erst jetzt entdeckte ich in Kevins Hand einen roten Spitzen-BH. Verblüfft starrte ich darauf und spürte, wie mich diese Situation unweigerlich etwas verlegen machte. Was machte er mit Unterwäsche aus der Frauenabteilung? Und noch dazu mit so einem Teil? Er bemerkte meinen schockierten Blick und schien mit sich zu ringen, das Kleidungsstück entweder vor mir zu verstecken oder offen darüber zu sprechen. Ich hätte Variante A bevorzugt, doch wie ich meinen Tag heute kannte, musste es natürlich auf B hinauslaufen.
»Dieser BH …« Und da war es auch schon. »Also, ich … bräuchte dringend deine Hilfe.«
»Auf keinen Fall werde ich dir helfen, dieses Teil anzuziehen.« Seine Augen nahmen einen verständnislosen Blick an. Mir schwante Böses. »Oh nein. Vergiss es. ICH werde das gewiss nicht anziehen!«
»Das verlange ich doch auch gar nicht. Obwohl das bestimmt nice an dir aussähe.« Er zwinkerte mir verschmitzt zu.
»Kevin!«
»Was denn?«
»Ich habe rote Haare. Damit beißt sich in der Regel jedes rote Kleidungsstück, egal wie klein bemessen es ist.« Am liebsten hätte ich mir den Mund zugehalten. Warum konnte ich nicht einfach schweigen und das Thema fallen lassen? Nein, natürlich musste ich, wie immer wenn ich nervös war, unablässig wie ein Wasserfall plaudern.
»Paisley könnte das schon eher tragen. Aber diese Spitze. Brrrrrr.« Unauffällig kniff ich mir in den Arm. Es tat höllisch weh, half aber, mich zum Schweigen zu bringen.
»Schon gut. Eigentlich sollte ich keine Witze machen, die dich aus der Fassung bringen.« Super, er hatte es also auch bemerkt. »Schließlich will ich ja etwas von dir.«
»WAS?!« Das klang jetzt irgendwie zweideutig.
»Äh, ich meine, ich brauche deine Hilfe.« Kevin fuhr sich durchs Haar. Ganz offensichtlich machte ihn dieses Gespräch ebenfalls nervös, obwohl er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Oder lag es an der Situation, dass wir zusammen hinter einem Unterwäscheständer versteckt in der Frauenabteilung kauerten und das nur von unserem Gespräch über einen der wohl anzüglichsten BHs, die ich je gesehen hatte, getoppt wurde?
»Hör zu. Ich versuche gerade eine der gelben Aufgaben zu lösen. Ich habe schon ein paar grüne erledigt. Aber die bringen nur 25 Punkte. Wenn ich das Cover aussuchen will, dann muss ich mich etwas mehr anstrengen. Die anderen werden bestimmt nicht vor ein paar gelben oder roten Challenges haltmachen.« Ganz besonders nicht mein Bruder, dachte ich. Jonah schreckte nie vor einem Spaß zurück. Er war zwar absolut gut erzogen und würde nie etwas Unüberlegtes, Unmoralisches oder Illegales tun. Aber alles darüber hinaus hatte noch nie ein Problem für ihn dargestellt. Ich vermutete sogar, dass entweder er oder Blake die Scavenger Hunt gewannen.
»Und was hat dieses Ding mit deiner gelben Challenge zu tun?«
»Ich muss etwas aus der Frauenabteilung kaufen. Aber keinen Pulli, Shirt oder Hose. Sondern Dessous.«
»Schön. Dann kauf den BH doch einfach. Wo ist das Problem?« Ich verstand immer noch nicht, wozu Kevin meine Hilfe benötigte. »Falls du dir Geld leihen willst, tut mir leid. Ich brauche das noch für meine Weihnachtsgeschenke.«
»Mia, ich würde dich nie um Geld bitten.« Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich einen verletzten Gesichtsausdruck bei ihm auszumachen. Doch bevor ich genauer hinsehen konnte, lag wieder der alte, intensive, durchdringende Blick in seinen Augen. Sofort verfluchte ich mich für meine unüberlegte Aussage und wandte etwas beschämt den Kopf zur Seite. Denn es war wirklich lächerlich, zu glauben, dass Kevin mich nach Geld fragte. Seine Familie war reich. Sein Vater besaß eine renommierte Plattenfirma, bei der auch die Band meines Bruders seit einem halben Jahr unter Vertrag war. Kevins Mutter unterstützte mit ihrer eigenen Stiftung das örtliche Kinderkrankenhaus und genoss auch sonst, als sehr engagierte Frau in der Gemeinde, ein hohes Ansehen in unserer Stadt. Trotzdem waren die O’Neills kein bisschen eingebildet oder überheblich. Ganz im Gegenteil. Unsere Eltern kannten sich schon sehr lange, was vor allem von der engen Freundschaft zwischen Kevin und Jonah herrührte. Jeden Sommer luden uns die O’Neills immer wieder zum BBQ ein.
»Wo liegt dann das Problem?«, beeilte ich mich weiterzusprechen. »Wenn du die Kasse suchst, die ist gleich hier links um die Ecke.« Ich deutete mit dem Finger in die entsprechende Richtung. »Da kannst du den BH in Windeseile bezahlen und verschwinden.«
»Ich würde ja zur Kasse gehen. Aber direkt daneben steht meine Mum.«
Oje. Jetzt verstand ich sein Dilemma. Welcher Junge wollte schon von seiner Mutter beim Dessous-Shoppen gesehen werden und noch dazu mit so einem Teil. »Soll ich sie ablenken?«
»Ich dachte eher an kaufen.«
»Was?!« Bevor ich auch nur blinzeln konnte, hatte mich Kevin bereits auf die Füße gezogen, mir drei Zwanziger in die Hand gedrückt und in Richtung Kasse gestoßen. Ich stolperte, verlor fast den Schal, auf dem ich beinahe noch ausrutschte und kam direkt vor der Kasse zum Stehen. Die Verkäuferin musterte mich, streckte die Hand aus und wartete ungeduldig, dass ich ihr die Ware zum Scannen hinüberreichte. Mein Blick wanderte fassungslos von dem Spitzen-BH zu Kevin, der wieder hinter dem Regal abgetaucht war und so tat, als ob er sich den Schuh neu band. Auffordernd nickte er mir zu und reckte den Daumen nach oben. Oh, wenn ich den in die Finger bekam, drehte ich ihm den Hals um.
Zu allem Übel unterbrach nun Mrs. O’Neill ihr Gespräch mit einer älteren, mir unbekannten Dame neben der Kasse und blickte erfreut zu mir hinüber. »Mia, wie schön dich zu sehen. Wie geht es dir?«
Nichts anmerken lassen! Blickkontakthaltend und Smalltalk führend überreichte ich der mittlerweile genervten Verkäuferin meine Ware. Selbstverständlich so, dass der BH von dem Schal meiner Mum komplett verdeckt wurde.
»Sehr gut. Danke. Wie geht es Ihnen? Was macht Tiara? Das Babysitten am Donnerstag steht doch noch, oder?« Na klasse. Und schon wieder plauderte ich ununterbrochen.
»Tiara kann es kaum erwarten. Sie freut sich schon sehr auf euer ›Treffen‹.« Sie deutete mit den Fingern zwei Anführungszeichen in der Luft an. Ich verstand sofort, was sie damit sagen wollte. Tiara hasste das Wort »Babysitten«. Sie empfand sich schon zu alt für eine Nanny und tat lieber so, als ob wir jedes Mal einen »beste-Freundinnen-Abend« zusammen veranstalteten. Ich liebte die Kleine wirklich dafür. Allerdings hatte ich jetzt nicht den Nerv, mich über Tiaras liebenswerte Eigenheiten zu amüsieren. Erleichtert registrierte ich, dass die Verkäuferin begann, die Ware in den Computer einzuscannen - angefangen bei dem Schal. Mrs. O’Neill interessierte das zum Glück nicht. Sie war in unser Gespräch vertieft.
»Ich habe vorhin mit deiner Mutter telefoniert. Ihr seid herzlich eingeladen, morgen zum Weihnachtsbrunch bei uns vorbeizukommen.« Biep! Nun war auch endlich der BH eingescannt.
»Wow, cool. Das klingt toll.« Ich freute mich trotz Anspannung wirklich über die Einladung. Doch dann kam der Augenblick, bei dem ich am liebsten im Erdboden versunken wäre. Mrs. O’Neill war im Begriff, unser Gespräch zu beenden und sich der nett aussehenden Lady hinter ihr wieder zuzuwenden, als die Verkäuferin lautstark über die Theke sprach: »Die Spitzen-BHs sind heute im Angebot. Leider stand das auf diesem Preisschild nicht mit drauf. Sie sparen fünf Dollar. Das macht dann zusammen 49,25 Dollar. Tüte?«
Mrs. O’Neill, von diesem Geschrei jetzt doch angelockt, senkte den Blick auf die Verkaufstheke. Ihre Augen weiteten sich, als sie den roten Spitzen-BH bemerkte, der unverkennbar mitten auf Mums Schal thronte. Natürlich schön aufgeklappt, sodass sie die volle Pracht des zarten Stoffs betrachten konnte. Mein Gesicht leuchtete wie eine Tomate. Ich musste schlucken und konnte auf die Tütenfrage nur bejahend nicken. Schon spürte ich Mrs. O’Neills überraschten Blick auf mir und wandte mich so cool wie möglich an sie.
»Das ist ja super. Sogar günstiger. Ist ein Weihnachtsgeschenk.« Ich bezweifelte, dass sie auch nur ein Wort davon glaubte und stellte mir vor, wie sie spätestens morgen beim Brunch mit meiner Mum ein mütterliches Unter-Vier-Augen-Gespräch führen würde. Meine Mutter würde mich in den nächsten Wochen sorgenvoll beobachten und sich fragen, ob das eine pubertäre Phase war, auf die man besser aufpassen sollte.
Eilig griff ich nach der Plastiktüte, würdigte Kevin, der immer noch am Boden kauerte, keines Blickes und hetzte aus dem Laden. Erst draußen im Foyer neben einem großen, geschmückten Tannenbaum blieb ich stehen. Tief einund ausatmend versuchte ich meinen Puls wieder zu beruhigen. Da spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.
»Hey Mia, das war echt super von dir. Vielen Dank.« Wortlos drückte ich Kevin die Tüte in die Hand. Erstaunt sah er mich an. »Ist alles okay?«
»Du hast mich gerade vor deiner Mutter blamiert. Dank dir denkt sie jetzt, ich habe ein pubertäres Unterwäscheproblem. Und das wird sie bestimmt meiner Mutter erzählen. Weißt du, was für peinliche Szenen ich die nächsten Wochen zu erwarten habe?«
Er verzog verständnisvoll das Gesicht. »Das tut mir leid, Mia.«
Ich schnaubte verärgert.
»Du hast echt was gut bei mir.«
Das mäßigte die Bloßstellung von gerade eben nur ein bisschen. Meine Hände zitterten vor Verärgerung. Ich starrte Kevin immer noch sauer an. Dann begriff ich, dass es im Prinzip auch egal war. Jetzt hatte Mrs. O’Neill sowieso schon einen falschen Eindruck von mir. Dies ließ sich nicht mehr ändern. Dafür hatte Kevin gerade 50 weitere Punkte verdient und war damit seinem Traum, das Cover auszusuchen, einen Schritt näher. Ich bemühte mich, meinen Ärger herunterzuschlucken und ausschließlich an seine Gewinnchancen zu denken. Schließlich gönnte ich ihm den Sieg am meisten. Denn sein Gestaltungsvorschlag hatte mir auch am besten gefallen.
Immer noch betreten beäugte mich Kevin von der Seite. Stille lag zwischen uns und er schien krampfhaft zu überlegen, wie er die Situation retten konnte. Ich schnaubte noch einmal geräuschvoll aus und gab nach. »Schon gut. Erzähl das aber bloß nicht Jonah.«
Sofort kehrte das schelmische Grinsen zurück in sein Gesicht. Er griff in die Plastiktüte und zog den blauen Schal für meine Mutter daraus hervor. Den hatte ich wegen der peinlichen Szene total vergessen. Schnell holte ich einen Zehndollarschein aus meiner kleinen Umhängetasche, um Kevin das Geld dafür zurückzugeben. Da schüttelte er sofort entschieden den Kopf und beharrte darauf, mir den Schal zu bezahlen. »Das bin ich dir schuldig.« Ich mochte es zwar nicht, dass mir Kevin eins meiner Weihnachtsgeschenke kaufte, aber er bestand trotz meiner vielen Einwände weiter beharrlich darauf. Schließlich gab ich nach.
»Also nochmal sorry, dass ich dich da mit hineingezogen habe. Und vielen Dank für deine Hilfe. Das war echt große Klasse von dir.« Ich grinste schief. Was sollte man auch darauf antworten? Kein Ding? Komm zukünftig gerne wieder auf mich zu?
»Ich muss weiter. Die Zeit rennt.« Er hob zum Abschied kurz die Hand und machte sich auf den Weg zur nächsten Aufgabe.
Etwas unschlüssig blieb ich zurück. Der BH-Vorfall hatte mich ziemlich aus dem Konzept gebracht. Ganz zu schweigen von Kevins Kommentar, dass mir das rote Teil bestimmt gut stünde. Hatte er das ernst gemeint? Und wieso stellte er sich meine Wenigkeit in Unterwäsche vor? Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Dieser Tag wurde von Minute zu Minute verrückter.
Ich brauchte noch ein Geschenk für meinen Vater. Das gestaltete sich allerdings deutlich schwieriger als bei meiner Mutter. Was sollte ich einem Mann schenken, der den ganzen Tag im Büro saß und schon alles hatte, was er brauchte? Eine neue Krawatte? Einen Becher mit #best-Dad-ever? Einen Strickpullover? Diese Frage hatte ich mir schon seit Tagen gestellt. Es nützte nichts. Ich brauchte Paisleys kreativen Einfallsreichtum. Sie hatte bestimmt auch eine gute Idee für meinen Dad. Alles war besser als ein Paar handgestrickter Wollsocken oder eine Grillschürze mit Sixpack darauf!