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Die Mutterliebe als wesentliches Merkmal der „idealen Mutter"

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Unter Mutterliebe wird allgemein die reinste, innigste und selbstloseste Liebe verstanden und damit ist sie stark idealisiert und Teil des Mythos von der „idealen Mutter".

Mutterliebe war schon im Alten Testament ein Thema:

Zwei Frauen streiten sich um einen Säugling. König Salomo soll entscheiden, wer die richtige Mutter ist. Er lässt sich ein Schwert bringen und sagt, er wolle das Kind in zwei Hälften teilen. Daraufhin verzichtet die eine Frau sofort: Lieber soll das Kind bei der anderen aufwachsen, als getötet zu werden. König Salomo wertet das als Zeichen echter Mutterliebe.

Auch heute wird Mutterliebe vielfach immer noch mit selbstloser Aufopferung für die Kinder gleichgesetzt. Die Bindungsforschung beginnt erst heute zu verstehen, wie das große Gefühl einer Mutter entsteht und warum Mütter für ihre Kinder tatsächlich vieles tun, was sie für keinen anderen Menschen auf sich nehmen würden.

Was ist Mutterliebe? Ist sie ein euphorisches Gefühl, das sich direkt nach der Geburt wie auf Knopfdruck einstellt, oder eher eine langsam wachsende Zuneigung? Ist sie ein Trick der Natur, angeboren oder unbewusst erlerntes Verhalten? Wie entsteht dieses Gefühl, das viele als die stärkste Bindung ansehen? Sind es die Hormone, die für Mutterliebe verantwortlich sind, oder doch eher die Erziehung? Denn schließlich gibt es ja auch Frauen, die ihre Kinder misshandeln oder sogar töten - was geschah mit deren Mutterliebe?

Während der Geburt eines Kindes schüttet der weibliche Körper große Mengen an Endorphinen aus. Sie haben schmerzlindernde Wirkung, ähnlich wie Morphine, und sind außerdem angstlösend. Wenn das Kind geboren ist, endet der Schmerz zwar, der Endorphinspiegel ist jedoch nach wie vor sehr hoch: Die Mutter ist quasi high, im Rausch körpereigener Drogen.

Außer den Endorphinen wird noch ein weiteres Hormon während des Geburtsvorgangs ausgeschüttet: das Oxytocin. Es gilt als Bindungshormon und entsteht während der Geburt. Eine weitere Dosis des Botenstoffes schüttet das Gehirn beim Stillen aus. Bereits in den ersten Monaten der Schwangerschaft konnten israelische Forscher nach einer 2007 veröffentlichten Studie schon Oxytocin in stärkerer Dosierung nachweisen, als dies bei nicht schwangeren Frauen der Fall war. Und sie fanden heraus: Je höher der Oxytocin-Spiegel der Mutter während der Schwangerschaft war, desto intensiver beschäftigten sich die Frauen anschließend mit dem Kind und desto stärker waren sie ihm zugewandt. Das wäre eine mögliche Erklärung dafür, warum Mütter ihre Babys auch dann nicht verstoßen, wenn sie in einer Kaiserschnitt-Entbindung unter Vollnarkose geboren wurden.

Bedeutenderer scheinen aber Lernfähigkeit und Erfahrung zu sein, was übrigens nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Affen dazu führt, dass sie Babys adoptieren und liebevoll großziehen können.

Schafe dagegen lehnen ihre Lämmer ab, wenn sie durch Kaiserschnitt unter Narkose zur Welt kommen. Auch wenn ein Lamm direkt nach der Geburt von der Mutter weggenommen wird, nimmt sie es nicht an, wenn man es ihr nur wenig später zurückgibt. Menschen dagegen können Mutterliebe erlernen. Bindungsforscher haben herausgefunden, dass es Frauen, die selbst eine liebevolle, zärtliche Mutter hatten, deutlich leichter fällt, ihre Kinder ebenso zu behandeln.

Bei Menschen, die durch häufigen Umgang bereits viel Erfahrung mit Kindern gesammelt haben, sind keine Hormonschübe mehr nötig, um mütterliches Verhalten auszulösen. Hier genügen kleinere Reize wie beispielsweise der bloße Anblick eines Babys.

Es ist auch richtig, dass sich Mutterliebe im Laufe der Jahre verändert. Sie wird nicht mehr oder weniger, sondern anders. Sie verändert sich mit ihren Aufgaben, und das ist gut und wichtig so! Denn liebten wir einen Dreijährigen auf die gleiche Weise wie einen Säugling oder eine Fünfzehnjährige so wie eine Siebenjährige - dem Kind täte es nicht gut. Damit Kinder sich in der Pubertät ablösen können, brauchen sie die Unterstützung ihrer Mütter, die bereit sind, Distanz zuzulassen. Und einen Dreijährigen, dessen Bedürfnisse wir so umgehend befriedigen wie die eines Säuglings, bringen wir um die „optimale Frustration", die er braucht, um sich gut entwickeln zu können. Eilen Mütter stets herbei, bevor nur eine Träne fließen kann, geben sie jeder Wut nach, weil sie den Zorn des Kindes nicht ertragen wollen, beseitigen sie jedes Unwohlsein, bevor es richtig gespürt wird, dann bringen Mütter ihr Kind um die wichtige Erfahrung, Kummer und Spannung aushalten zu lernen. Nur so kann ein Kind die Erfahrung machen, dass Bedürfnisse und Wünsche nicht immer umgehend erfüllt werden.

Aber nicht immer verläuft die Bindung zwischen Mutter und Kind so störungsfrei.

Bei Müttern, die nach der Geburt eine Depression, auch „Babyblues" genannt, entwickeln, ist die sensible Bindungsphase krankheitsbedingt gestört. Die Mutter leidet an Ängsten, Zwangsgedanken oder Schuldgefühlen und hat ihrem Kind gegenüber zwiespältige Gefühle. Meist ist eine stationäre Behandlung notwendig. Obwohl depressive Mütter stark leiden, gibt es doch zumindest eine positive Prognose: In den meisten Fällen klingt eine postnatale Depression wieder vollständig ab.

Was aber passiert, wenn die Mutterliebe fehlt und sich auch später nicht einstellt? Jede Woche wird in Deutschland ein Baby ausgesetzt. Nur etwa die Hälfte aller Säuglinge überlebt eine solche Verzweiflungstat der eigenen Mutter. Es gibt aber auch Mütter, die grundsätzlich nicht zur Mutterliebe fähig sind.

Darüber hinaus gibt es Frauen, die ihre Schwangerschaft verdrängt haben und dann selbst völlig überrascht von der Geburt sind und in Panik geraten. Im günstigsten Fall für das Kind wird es in der Babyklappe abgelegt.

Eine junge Frau erzählte in einem Interview, sie sei in Panik gewesen, weil sie nichts von ihrer Schwangerschaft bemerkt habe. Allein habe sie entbunden und sich zur Babyklappe des Krankenhauses geschleppt, um ihren Sohn dort abzugeben. Nach einigen Tagen habe sie realisiert, was geschehen sei und gespürt, wie sich eine tiefe Liebe zu ihrem Kind entwickelt habe. Sie sei zum Krankenhaus gegangen, habe sich als die Mutter des anonymen Babys zu erkennen gegeben und ihr Kind zurückgefordert.

Das Beispiel zeigt, dass Mutterliebe oft nur Zeit braucht. Manchmal bleibt sie aber auch ganz aus, vor allem bei Müttern, die selbst keine Wärme, Liebe und Geborgenheit erfahren haben. Wenn die Mutterliebe fehlt, reicht das Spektrum der Folgen für ein Kind, unabhängig von der sozialen Schicht, von emotionaler Kälte über Vernachlässigung bis hin zu körperlicher Gewalt.

Frauen, die nicht erkannt werden wollten, sprachen in einem Interview auch über das Tabu der Kindstötung. Eine junge Frau, die zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde und die unerkannt bleiben wollte, setzte ihr Kind am Tag der Geburt aus und nahm seinen Tod „billigend in Kauf". Ihre kleine Tochter erfror nur wenige Schritte vom elterlichen Haus entfernt. Die Mutter sagt, sie habe sich nicht zu helfen gewusst, einfach nicht gewusst, was sie machen sollte.

„Es gibt nur eine ganz selbstlose, ganz reine, ganz göttliche Liebe, und das ist die der Mutter für das Kind", so beschrieb einst der deutsche Schriftsteller Georg Ebers (1837-1898) Mutterliebe und unterstützte damit den Muttermythos. In einfühlsamer und kompetenter Weise analysiert die Schweizer Psychologin und Psychotherapeutin Gabi Gschwend in ihrem Buch „Mütter ohne Liebe. Vom Mythos der Mutter und seinen Tabus"2 die fatalen Konsequenzen eines überhöhten, romantisierten Mutterideals.

Sie kann auf eine Reihe von guten Gründen verweisen, den Muttermythos kritisch zu hinterfragen. So führe die Vorstellung der unerschöpflichen Mutterliebe zu einer Verdrängung und Verleugnung der negativen Seiten der Mutterschaft und ambivalenter oder auch negativer Gefühle.

Die den Muttermythos verherrlichenden Medien vermittelten ein Bild des Mutterseins als Hort reinen Glücks und permanenter Erfüllung, verschwiegen jedoch beispielsweise die Monotonie, die Einsamkeit und die „gnadenlose Häuslichkeit", die mit der Kindererziehung einhergehe. Gefühle der Frustration, Erschöpfung und auch der Wut lösten vielfach Schuldgefühle bei den Müttern aus, würden jedoch verleugnet und verdrängt, da sie nicht dem Bild einer „guten Mutter" entsprächen.

Dadurch verschwänden sie aber nicht, sondern äußerten sich häufig in destruktiver Weise. Gschwend sieht Lieblosigkeit und familiäre Gewalt als direkte Folge der Normen des Muttermythos. Wer seine negativen Gefühle abkapsele, weil sie mit dem Müttermythos nicht vereinbar seien, der könne auch seine positiven Gefühle wie Liebe nicht spüren.

Die Autorin zeigt, dass die Vorstellung, eine Mutter sei in jedem Fall - zumindest in den ersten Lebensjahren - das Beste für ihr Kind und andere Bezugs- oder Betreuungspersonen die zweite und schlechtere Wahl, eine durch den Muttermythos unterstützte Ansicht ist. Sie plädiert dafür, eine realistischere Sichtweise der Mutter-Kind-Beziehung einzunehmen und auch die Schattenseiten, die dem gesellschaftlichen Bild der „idealen Mutter" nicht entsprechen, ins Bewusstsein zu heben und anzunehmen. Dazu gehören etwa negative Gefühle dem Kind gegenüber, die wohl jede Mutter in manchen Situationen verspürt, aber auch die Existenz „liebloser Mütter", die nicht fähig oder bereit sind, ihr Kind bedingungslos anzunehmen.

Die Abkehr vom vorherrschenden Muttermythos stellt Gschwend sowohl für die Mutter als auch für das Kind als Gewinn dar. Durch die Abkehr von der Tabuisierung und Verleugnung negativer Aspekte werde der Mutter eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der eigenen Mütterlichkeit ermöglicht, die gleichzeitig auch das Bild der „schlechten Mutter" relativiere und somit entlastend wirke. Auf der anderen Seite könne die Abkehr von der Verklärung der Mutter-Kind-Beziehung auch die Augen dafür öffnen, dass es destruktive Mutter-Kind-Beziehungen durchaus gebe. Obwohl es sich um ein gesellschaftlich brisantes Thema handelt, zeichnet die Autorin ein realistisches Bild, dass die Mutter-Kind-Beziehung meist zwischen den beiden Polen der allumfassenden Liebe zu jedem Zeitpunkt einerseits und massiver Ablehnung und Destruktivität andererseits angesiedelt sei. Glück, Zärtlichkeit und das Gefühl der Verbundenheit fänden darin ebenso Platz wie Enttäuschung, Wut und Frustration, die Vorstellung symbiotischer Verschmelzung ebenso wie ein ausgeprägtes Individuationsbedürfnis, also alle Facetten, die andere Liebesbeziehungen auch aufwiesen.

Nach den Erfahrungen der Therapeutin stelle der Verzicht auf den Muttermythos sowohl für die Mutter als auch für das Kind einen Gewinn dar, weil die Abkehr von der Verklärung der Mutter-Kind-Beziehung auch die Augen dafür öffne, dass destruktive Mutter-Kind-Beziehungen durchaus weit verbreitet seien. Die Therapeutin erwartet von einer Durchbrechung des Muttermythos auch eine verstärkte soziale Kontrolle des Kindeswohls.

Als Fazit bleibt, dass die Mutter-Kind-Beziehung wohl in den allermeisten Fällen zwischen den beiden Polen der „allumfassenden Liebe zu jedem Zeitpunkt" einerseits und „massiver Ablehnung und Destruktivität" andererseits angesiedelt ist.

Raus aus der Mutterfalle

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