Читать книгу Die dritte Stufe - Dorthe Voss - Страница 7
DREI
ОглавлениеUnangenehme Dinge schiebe ich nicht lange auf, sondern erledige sie lieber schnell – damit ich sie hinter mir und den Kopf wieder einigermaßen frei habe. Daher machte ich mich direkt am Montagmorgen auf den Weg zu Herrn Paulsen, um mich für seinen Einsatz neulich zu bedanken.
Als kleine Aufmerksamkeit, wie sie es nannte, hatte meine Mutter mir ein paar Lebensmittel aus unserem Hofladen mitgegeben. Plus die Erlaubnis, ihr Auto zu nehmen, statt mit meinem klapprigen Rad zu fahren.
„Schließlich bist du noch krankgeschrieben und sollst dich nicht zu sehr anstrengen“, hatte sie gesagt.
Doch ich wollte raus, an die frische Luft. Für mein Gefühl hatte ich schon viel zu lange drinnen gehockt. Ich entschied mich, die drei Kilometer von unserem Hof bis zur Strandpromenade zu Fuß zu gehen. Wie Rotkäppchen lief ich also mit meinem Fresskorb los, nicht durch den Wald, sondern vorbei an den Feldern und später auf dem Deich entlang. Glücklicherweise waren jetzt kaum Menschen unterwegs, sodass ich ohne viel Gequatsche einfach die noch kühle Luft und das Wellenrauschen aufsaugen konnte.
In die Freundebücher, die ich während der Grundschulzeit mit nach Hause bekommen hatte, trug ich bei Sternzeichen immer Meerjungfrau ein. Schon früh hatten die Wellen mich angezogen. Im Wasser fühlte ich mich zu Hause. Und daran hatte sich bis heute nicht das Geringste geändert. Ganz im Gegenteil.
Ziemlich erschöpft (vielleicht erschöpfter als wäre ich mit dem Rad gefahren), aber gut durchlüftet, erreichte ich das Haus von Herrn Paulsen. Es lag nur ein paar Meter hinter dem Deich, gleich neben Aal-Andis Räucherstube. Ich liebe den Geruch von geräuchertem Fisch, auch frühmorgens. Dass mir plötzlich übel wurde, musste also an meiner Aufregung liegen. Ich schämte mich so wegen des Unfalls und hatte außerdem Angst, Herr Paulsen könnte wütend auf mich sein. Mich anbrüllen, dass ich zu blöd zum Surfen wäre. Zu gern hätte ich jetzt Katha an meiner Seite gewusst. Sie hätte irgendetwas Aufmunternd-Albernes gesagt und mich damit wenigstens ein klein bisschen abgelenkt. Doch im Gegensatz zu mir hockte sie jetzt im Physikunterricht von Herrn Siemers. Obwohl Physik im Allgemeinen und Energieentwertung im Speziellen absolut nicht zu meinen Favoriten zählten, hätte ich jetzt zu gern mit ihr getauscht.
Zögerlich drückte ich auf den Klingelknopf, wartete einen winzigen Moment und wollte gerade wieder verschwinden, da öffnete sich die Tür.
„Mare? Das ist ja eine Überraschung“, sagte Herr Paulsen und sah mich fragend an. „Wie geht’s dir?“
Erleichterung breitete sich in mir aus. Was hast du denn geglaubt? Dass er dir den Hals umdreht? Das hätte er neulich auch einfacher haben können, hörte ich Katha schon sagen, wenn ich ihr nachher davon berichten würde.
„Hallo … ja … ähm, mir geht’s schon wieder ganz gut“, stotterte ich. Dann fing ich mich etwas. „Deshalb bin ich auch hier. Ich möchte mich dafür bedanken, dass Sie mich ...“, ich atmete tief ein und zum ersten Mal wurde mir schlagartig bewusst, wie ernst die Situation gewesen war, „ ... dass Sie mich gerettet haben.“
Herr Paulsen schwieg. Schnell drückte ich ihm den Fresskorb in die Arme. „Als Dankeschön.“ Noch immer sagte er nichts. Aber wenigstens kramte er zwischen selbst gekochter Himbeermarmelade, Käse aus Schafsmilch und Sanddornlikör herum und lächelte. Schließlich setzte er sich auf eine der Treppenstufen und bot mir den Platz neben sich an. Er erzählte mir von dem Morgen. Von seiner frühmorgendlichen Jogging-Runde am Strand. Von dem Moment, als die Welle mich nach unten zog, aber nicht wieder freigab. Von seinem schnellen Entschluss. Und von der Erste-Hilfe-Aktion.
Ich knetete meine Hände. Irgendwann sagte ich leise: „Tut mir leid, dass ich Sie in so eine Situation gebracht habe.“
Herr Paulsen legte mir seine Hand auf die Schulter. „Die Hauptsache ist, dass es dir wieder gut geht.“ Dann stand er auf. „Jetzt muss ich aber zur Arbeit. Pass auf dich auf, Mare.“
Nach diesem Gespräch konnte ich auf keinen Fall einfach zurück nach Hause laufen, und so entschied ich mich, in der Surfschule vorbeizugucken.
In der Saison vor meinem 15. Geburtstag hatte Nils mich gefragt, ob ich neben der Schule bei ihm jobben wollte. Nils und Papa waren beste Freunde gewesen und hatten kurz nach Peers Geburt gemeinsam die kleine Surfschule aufgebaut. Sie kannten sich von Papas unzähligen Besuchen an der Küste. Dutzende Male hatte Nils ihn angefleht, fest mit einzusteigen. Doch Papa war klar gewesen, dass er mit Mama zusammen den Hof von Oma übernehmen würde. Mein Vater war zwar wegen der Liebe zum Wellenreiten gekommen, blieb aber wegen der Liebe zu meiner Mutter. Den Spagat zwischen Land und Meer hatte er immer gut hinbekommen und seine Leidenschaft war früh auf mich übergeschwappt. Kurz nachdem ich schwimmen gelernt hatte, stand ich das erste Mal auf dem Brett.
Jetzt war es kurz nach zehn, die Surfschule hatte gerade geöffnet. Ich sah Nils und die anderen schon von Weitem. Trotz seiner 49 Jahre passte Nils perfekt in das Bild, das die meisten Leute von Surfern haben: salzwasserblonder Wuschelkopf, leicht gebräunte Haut, durchtrainierter Körper, immer guter Laune.
„Guten Morgen!“, rief ich ihnen zu. Es dauerte nur ein paar Sekunden, da hatten sich alle um mich versammelt. Drückten mich herzlich, sprachen wild durcheinander – stellten aber keine blöden Fragen. Nils und seine Freundin Bine hatten mich bereits im Krankenhaus besucht und ich war mir sicher, dass sie die anderen über alles informiert hatten.
„Schön, dass du da bist. Wir fangen grad an, den Saisonabschluss vorzubereiten“, begrüßte mich Nils und schob leicht zerknirscht hinterher: „Der dieses Jahr wohl ohne dich stattfinden muss.“
So ein Mist! Das hatte ich völlig vergessen. Durch den Feiertag am 3. Oktober und den Brückentag vorher stand ein langes Wochenende an, an dem zum letzten Mal in diesem Jahr einige Besucher kommen würden und die Abschluss-Party stattfinden sollte. „Das schaffe ich schon“, meinte ich. „Und da ich schon mal da bin … kann ich irgendwie helfen?“
Nils lachte laut und legte seinen Arm um mich. „Mare, Mare, deine Mutter weiß sicherlich nicht, dass du hier bist, oder?“
„Hallo? Ich bin 19! Kann ich bitte auch mal selbst entscheiden?“, motzte ich.
Nils zwickte mich in den Arm. „Bine bereitet auf der Terrasse ihre Yoga-Stunde vor, da kannst du ein bisschen helfen“, sagte er und brach in noch lauteres Gelächter aus.
Sehr witzig, dachte ich. Alle hier wussten, dass Surf-Yoga nicht so meins war. Doch bevor ich mich nach Hause schicken ließ, antwortete ich übertrieben freundlich: „Klaro, sehr gerne.“
Die nächsten zwei Tage verliefen ganz ähnlich. Vormittags half ich in der Surfschule bei so wichtigen Dingen wie Regale auswischen. Um unnötigem Stress mit Mama aus dem Wege zu gehen, erzählte ich ihr lediglich von ruhigen Ausflügen zum Strand. Nachmittags kam Katha vorbei, um mich abzulenken und mir Schulsachen zu bringen. Surfen sollte ich laut Doktor Peer noch nicht, was nicht dramatisch war, da es seit meinem Unfall sowieso keine guten Wellen mehr gegeben hatte. Ich hoffte, das würde sich bis zum Wochenende noch ändern und wollte mich wenigstens etwas darauf vorbereiten.
Ich befestigte meine Slackline zwischen den Kirschbäumen im Garten. Darauf zu balancieren machte nicht nur extremen Spaß, die Übungen waren zudem ein gutes Gleichgewichtstraining für das Wellenreiten. Zu meiner Überraschung brauchte ich heute ein paar Anläufe bis das elastische Band mich nicht mehr unkontrolliert zappeln ließ. Doch je mehr meine Gedanken verstummten, desto besser konnte ich mich auf die Bewegungen einlassen. Und plötzlich tauchten sie wieder auf, diese unbegreiflichen Bilder. Ich hatte sie vergessen oder wahrscheinlich eher verdrängt, doch jetzt waren sie wieder da, deutlicher denn je. Dieses Mal konnte ich sie festhalten – bis Mama plötzlich hinter mir stand und mich mit einem schrillen „Was macht du denn da?“ zu Fall brachte. Wie ein kleines Mädchen, das schokoladenverschmiert auf dem weißen Teppich erwischt wurde, rannte ich in mein Zimmer. Ich konnte jetzt nicht mit ihr reden. Auf keinen Fall. Selbst als Katha am Nachmittag wieder zu Besuch kam (das hatte sie für die ganze Woche geplant), schaffte ich es nicht, ihr davon zu erzählen. Das sollte mir erst am nächsten Tag gelingen.
Da Mama über das lange Wochenende zwei Familien erwartete und Renate, ihr einziges Zimmermädchen, krank war, hatte sie mich tatsächlich um Hilfe auf dem Hof gebeten. Das machte sie äußerst selten und auch in diesem Fall war es sicherlich nur ein Vorwand, um mit mir reden zu können. Doch ich gab ihr zu verstehen, dass ich keinen Bedarf hatte. Nicht jetzt. Ich bezog den ganzen Morgen Betten, saugte Staub und putzte die Bäder. Am Mittag merkte ich, dass dieses „von null auf hundert“ vielleicht doch etwas viel war und legte mich für ein Schläfchen aufs Sofa. Wie an dem Tag meiner Krankenhausentlassung schlief ich sofort ein – und wieder träumte ich.
Flocke boxt mit ihrem Kopf gegen das Euter ihrer Mutter. Doller und doller. Ihr kleines Schwänzchen wackelt hin und her. Aber was machst du denn? Warum lässt du sie nicht trinken? Du blödes Schaf bist doch ihre Mama. Szenenwechsel. Katha und ich sitzen im Gras. Katha hält die Milchflasche in der Hand. Sie rechnet nicht mit der Wucht des zarten Lämmchens und fällt hintenüber. Sie lacht. So typisch laut. Flocke springt auf sie drauf. Und beginnt zu blöken. Määäh … määääh … määääh.
Das Geräusch drang immer dichter an mein Ohr. Bis ich schließlich davon erwachte. Doch es war noch immer da. Noch näher und noch lauter. Traum und Realität verschwammen ineinander. Ich sprang auf und lief nach draußen. Den aufkommenden Schwindel ignorierte ich. Mama und Hinnerk, unser Mann für alle Fälle, knieten neben den laut blökenden Schafen im Gras. Flocke lag auf Mamas Schoß. Überall war Blut. Auf Mamas Hose. An ihren Händen. In Flockes Gesicht.
„Die Krähen waren wieder da“, sagte Hinnerk mit zittriger Stimme und blickte mich vom Boden aus verstört an.
Sofort tauchten die Traumbilder von eben wieder auf. Und auch der Traum von neulich, von Frau Lüders fiel mir wieder ein. Das kann nicht sein, dachte ich. Mir wurde schlecht. Ich hielt es nicht mehr aus und lief los. Dieses Mal nicht in mein Zimmer. Ich rannte zu meinem Fahrrad und fuhr so schnell, dass ich kaum atmen konnte, Richtung Strand. Auf dem Deich ließ ich mein Rad fallen und taumelte nach Luft japsend zwischen den Dünen entlang, bis zu meinem Lieblingsplatz. Hier hatte ich oft mit Papa gesessen und die Wellen beobachtet. Die erste Zeit nach Papas Tod war ich oft allein hier gewesen. Meist hatte Peer mich gebracht und auf der anderen Seite des Deiches auf mich gewartet. Eine Weile hatte ich nicht mehr die Wellen beobachtet, sondern nur noch den Horizont. Den Ort, wo sich Himmel und Meer begegnen. Irgendwann hatte ich verstanden, dass ich Papa im Meer noch viel näher war und dass es eine doofe Idee gewesen war, das Wellenreiten aufzugeben.
Langsam beruhigte sich meine Atmung, nicht aber meine Gedanken. Verdammt, was war los mit mir? Ich weiß nicht mehr genau wann, aber plötzlich stand Katha neben mir.
„Hab ich mir doch gleich gedacht, dass ich dich hier finde“, sagte sie ungewohnt leise und nahm mich ohne weitere Worte in die Arme.
Alles brach aus mir heraus. Ich heulte wie schon viele Jahre nicht mehr. Als ich mich beruhigt hatte, war ich so weit, Katha alles zu erzählen. Von den Träumen und davon, dass sie scheinbar im Zusammenhang mit den Todesfällen standen. „Träume ich, während sie sterben? Oder sterben sie, weil ich träume?“, fragte ich.
„Dann träum bloß nicht von mir“, platzte Katha heraus und sah mich entsetzt an.
„Da ist noch mehr“, fuhr ich fort. „Da sind immer wieder diese Erinnerungen, anders als die Träume. Die sind irgendwie – echt.“ Wie sollte ich die Bilder bloß in verständliche Worte bringen, wenn ich sie doch selbst nicht so richtig kapierte. „Ich sehe meinen Körper im Wasser, während des Unfalls. Dann stehe ich irgendwann vor Papa. Ich kann seine Gedanken fühlen. Und ich will unbedingt zu ihm, aber er schickt mich weg. Immer wieder.“ Ich machte eine Pause. Katha war meine beste Freundin so lange ich denken konnte, aber würde sie auch jetzt zu mir halten? „Ich glaube, ich war tot … oder so ähnlich.“ Mit diesen Worten schloss ich meine Erzählung. Wir schwiegen. Nur kreischende Möwen und das Rauschen des Meeres waren zu hören.
Katha schien nachzudenken. Schließlich sagte sie ganz ruhig: „Ich glaube, das nennt man Nahtoderfahrung. Mare, das kann gut sein. Immerhin bist du fast ertrunken und musstest von Herrn Paulsen beatmet werden.“ Katha formte ihre prallen Lippen zu einem Kussmund und zwinkerte mir lasziv zu. Sie wurde immer hibbeliger. „Weißt du noch, das Spiel? Gläserrücken?“
Damals hatte ich nicht an die Kommunikation mit Toten geglaubt und es waren nur die Dunkelheit und unsere Phantasie gewesen, die uns einen gewaltigen Schrecken eingejagt hatten. Und ein Teil von mir sträubte sich auch jetzt, das alles zu glauben. Obwohl es so real erschien.
Wir redeten und redeten bis die Sonne ganz und gar im Meer verschwunden war und wir am ganzen Körper bibberten. Vor Aufregung und vor Kälte. Der Wind hatte aufgefrischt. Vielleicht würde das Surfwochenende doch ganz okay werden. Ich war dank Kathas Hilfe jedenfalls bereit dafür.