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VIER

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Der diesjährige Saisonabschluss der Surfschule war für mich besonders wichtig, denn es sollte vorerst der letzte sein, an dem ich dabei war. Wenn alles gut ging, würden Katha und ich im nächsten Sommer unsere Abi machen. Katha hatte vor ein paar Wochen ihre Bewerbung an eine Schauspielschule nach Hamburg geschickt und wartete seitdem ungeduldig auf eine Antwort. Und auch für mich hieß es nach dem Abschluss Sachen packen: Sechs Monate Praktikum in einer Surfschule auf Bali warteten auf mich. Diesen Traumjob hatte mir Nils besorgt. Alle waren neidisch. Nur ich wusste noch immer nicht genau, ob es wirklich das Richtige für mich war, so lange so weit weg zu sein.

„Ach, ich komme dich zwischendurch sehr gern besuchen“, hatte Katha gesagt. Mehrmals. Und Peer hatte gemeint, es sei genau richtig für mich, mal Abstand von allem hier zu bekommen.

Da ich also höchstwahrscheinlich nächstes Jahr um diese Zeit auf Bali sein würde, hatte ich Nils immer wieder angebettelt, mich an diesem besonderen Wochenende arbeiten zu lassen. Irgendwann hatte er nachgegeben. Und meine Mutter hatte auch zugestimmt, schließlich würde ich ab Mittwoch auch wieder zur Schule gehen.

Wie neulich abends in den Dünen schon spürbar, hatten wir tatsächlich noch Wind bekommen. Zum Wellenreiten war es nicht optimal, sodass die meisten Besucher sich zum Kiten oder Windsurfen anmeldeten. Ich hatte mich diese und letzte Saison um das Wellenreit-Training der Kinder gekümmert. Und das tat ich auch an diesem Wochenende. Die Wellen waren eher klein und schwabbelig, doch zum Üben im flachen Wasser völlig ausreichend. Im Sand simulierten wir erst einmal die Bewegungen, die sie auf dem Brett machen würden. Ich zeigte ihnen, wie man sein Brett wachst und erzählte wichtige Dinge über Strand und Meer und Sicherheit. Als heute der dritte und letzte Tag zu Ende ging, schafften es ein paar Kinder sogar, eine kleine weiße Welle zu surfen. Ich spürte, dass ich genau das wollte und war mir für einen Moment ganz sicher, dass ich Bali schaffen würde. Mit diesem kribbeligen Gefühl im Bauch stand ich nun hinter der Bar und kassierte die Getränke, die Bine mixte. Katha tanzte mit ihrem „Sex on the Beach“ in der Hand und einem weit schwingenden, langen Rock im Sand vor dem Tresen. Obwohl es allmählich ziemlich frisch wurde, war die Atmosphäre super. Der Sonnenuntergangs-Himmel war genauso bunt wie die großen und kleinen Lampions, die wir rund um den Getränkestand aufgehängt hatten. Auf dem Schwenkgrill brutzelten Würstchen und Maiskolben, ein paar Kinder hielten auf Stäbe gespießte Marshmallows über das Feuer. Auf den Strandliegen hatten wir Decken verteilt – falls die im Sand steckenden Fackeln nicht genug Wärme spenden sollten. Und als Bob Marleys „Could you be loved“ aus den Boxen schallte, war ich so ausgelassen und glücklich wie nie.

Das Wochenende hatte mich abgelenkt, ich konnte die Erlebnisse der vergangenen zweieinhalb Wochen gut wegschieben. Ich hatte keine weiteren Träume und neue Todesfälle gab es auch nicht zu verzeichnen.

Doch als ich heute Morgen in der Schule ankam, überfiel mich alles wie eine Monsterwelle. Natürlich wollten meine Mitschüler erfahren, was genau passiert war. Ob es stimmte, dass ich fast gestorben wäre. Hätte Katha nicht die meisten Fragen beantwortet oder die dämlichen Sprüche abgewehrt – ich wäre nach Hause geflohen. Vielleicht wäre das sogar sinnvoller gewesen, denn wirklich am Unterricht teilnehmen konnte ich nicht. Mein Kopf schien zu platzten vor wirren Gedanken und ungeklärten Fragen.

Zu Hause verkroch ich mich direkt mit dem Laptop ins Bett. Ich musste unbedingt mehr über die Nahtoderfahrung, wie Katha es genannt hatte, herausbekommen und googelte danach. Neben unzähligen völlig abgedrehten und übertrieben esoterischen Einträgen stieß ich irgendwann auf ein Buch eines niederländischen Arztes. Ich las ein wenig in die Leseprobe rein und fand, dass das schon mehr zu meinen Gedanken passte. Nach kurzem Zögern bestellte ich es mir nach Hause. Niemals hätte ich mir diese Art von Lektüre hier im Dorf in der Buchhandlung gekauft, obwohl ich da sonst ziemlich altmodisch bin. Ich recherchierte weiter und landete wieder einmal bei YouTube. Es war kaum zu glauben, wie viele Menschen offenbar bereits eine Nahtoderfahrung gemacht hatten. Die Hälfte der Befragten war mir zu religiös oder kam mir einfach seltsam vor. Doch ich musste einsehen, dass einiges genau zu meinen Erlebnissen passte.

Als ich den Laptop mit brennenden Augen und neuen Fragen zuklappte, war es bereits dunkel geworden in meinem Zimmer. Mama und Katha hatten in der Zwischenzeit versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen. Meine Mutter, indem sie ihren Kopf ins Zimmer steckte und Katha per Handy. Beiden musste ich jedes Mal versichern, dass es mir gut ging und ich lediglich ein bisschen für mich sein wollte, mit Ausnahme meines Katers, der mir die kalten Füße wärmte.

In der Nacht wälzte ich mich nur umher. Ich war nicht sicher, ob ich träumte oder im Halbschlaf dachte.

Am nächsten Morgen holte ich Katha wie immer zur Schule ab. „Alles klar bei dir?“, fragte sie entsetzt, als sie mir die Tür aufmachte. „Du siehst schlimmer aus als neulich nach deinem Unfall.“

Ich stöhnte. „Lass uns heute nicht darüber reden. Kommst du später mit ins Schwimmbad? Ich möchte ein paar Übungen machen. Und ich muss die Gedanken abstellen.“

Katha hakte sich bei mir ein, drückte mir einen Kuss auf die Wange und sagte nur: „Klar, das machen wir.“ Dann begann sie zu erzählen, wie gespannt sie war, wann und ob überhaupt eine Antwort aus Hamburg kommen würde. Sie improvisierte auf dem Gehweg eine dramatische Szene, die mich vor Lachen fast ersticken ließ. Ablenkung eindeutig geglückt.

Das einzige Schwimmbad bei uns im Dorf war ein offenes Meerwasserbad. Das Wasser wurde zwar ein wenig beheizt, was aber nichts daran änderte, dass uns der Herbstwind kühl um die Ohren wehte. Durch das Surfen war ich an eisiges Wasser gewöhnt, doch Katha brauchte ewig, bis sie sich hineintraute. Während ich im Wasser auf sie wartete, stand sie am Beckenrand und hielt abwechselnd ihre blaulackierten großen Zehen ins Wasser. Obwohl ihr eher rundlicher Körper sicher nicht den Vorstellungen irgendwelcher Schönheitsfreaks entsprach, sah sie in ihrem dunkelbraunen Bikini megasexy aus, und die wenigen männlichen Besucher stierten sie allesamt an. „Katha, wenn du da noch länger stehst, frierst du am Boden fest“, rief ich ihr zu. „Im Wasser ist es wärmer, versprochen!“

Schließlich gab sie sich einen Ruck. „Boah, Mare!“, rief sie und flatterte wild mit den Armen. „Ich glaube, jetzt bin ich untenrum taub.“

Die Typen lachten und boxten sich gegenseitig in die Rippen. Gleich würden peinliche Sprüche folgen. Das wollte ich mir nicht antun und da ich wusste, dass Katha locker allein damit klarkam, tauchte ich ab.

Als ich klein gewesen war, hatte ich immer mit meiner Schwimmbrille in der Badewanne geübt, möglichst lange unter Wasser die Luft anzuhalten. Das hatte erstaunlich gut funktioniert und mir später die Angst vor dem Waschgang beim Wellenreiten genommen. Ich hatte gewusst, dass ich den kurzen Moment unter Wasser aushalten würde. Bis neulich. Seit meinem Unfall saß die Angst ganz versteckt in einer Ecke meines Gehirns und flüsterte kaum hörbare Botschaften. Jetzt, mit dem Kopf unter Wasser, hatte diese blöde Kuh keine Chance. Erst als ich es kaum noch ohne Luftholen aushielt, tauchte ich auf. „Perfekt, geht doch“, keuchte ich und drehte mich suchend nach Katha um. Sie war weg. Für einen kurzen Moment dachte ich, die Typen hätten sie vor den Augen des Bademeisters entführt. Doch sie winkte mir vom wärmeren, winzigen Kinderbecken aus zu. Ich musste an den Spruch denken, über den wir uns schon seit vielen Jahren kaputtlachen konnten: McDonald's hat angerufen. Deine Mutter sitzt besoffen in der Rutsche fest. Und ich hoffte, dass Katha jetzt nicht auf für sie typische Ideen kam. „Ich kraule ein paar Bahnen!“, rief ich ihr zu. Katha nickte und plantschte mit den Füßen.

Zum Wellenreiten gehört kräftiges Paddeln mit den Armen einfach dazu. „Wackelpudding in den Armen ist da nicht von Vorteil“, hatte Papa damals gesagt und im Meer mit mir trainiert. Ich hatte mit dem Bauch auf meinem ersten eigenen Surfbrett gelegen und so kräftig mit den dünnen Ärmchen gerudert wie ich konnte. Doch die Strömung war zu stark für mich gewesen, und so war ich vor Papas Augen einfach abgetrieben. Bis heute weiß ich nicht, warum Papa mich nicht aufgehalten hatte. Mama durfte davon nichts wissen, das hatte ich Papa versprechen müssen – und ich habe es immer gehalten.

Nachdem ich zwanzig Bahnen geschwommen war, war ich völlig fertig, fühlte mich aber deutlich besser als am Morgen. Katha hatte mittlerweile geduscht, die Haare geföhnt und sich angezogen und wartete im Schwimmbad-Café auf mich.

„Na, du Meerjungfrau“, begrüßte sie mich, als auch ich startklar war. „Ich dachte schon, du trainierst für Olympia.“

Ich grinste schief. „Komm, ich lade dich auf ein Kaugummi-Eis ein“, schlug ich vor und lag damit genau richtig.

Katha schaffte es auch in den nächsten Tagen, mich auf andere Gedanken zu bringen. Bis am Montagnachmittag der „Küstenkurier“ vor unserer Haustür lag. Sofort sprang mir die Schlagzeile in die Augen: 22-jähriger Barkeeper ins Koma geprügelt. Polizei sucht Zeugen. Solche Meldungen, egal auf welchen Kanälen, berührten mich oft mehr als gesund war. Katha sagte immer, ich sei halt hypersensibel und fand das ganz niedlich. Mich stresste das ziemlich. Gerade jetzt hätte ich die Zeitung also lieber nicht aufschlagen sollen. Doch ich wollte unbedingt wissen, was da passiert war. Ich stellte meine Sachen im Flur ab, setzte mich an den Küchentisch und begann zu lesen: In der Nacht von Samstag auf Sonntag wurde der 22-jährige Elias Bo S. auf dem Heimweg überfallen. Passanten entdeckten den jungen Mann gegen fünf Uhr morgens in der Fischerstraße. Er wurde ins Klinikum Nord-West gebracht, wo die Ärzte ihn in ein künstliches Koma versetzten. Sein Zustand sei kritisch. Die Polizei sucht nun Zeugen, die den Überfall beobachtet haben könnten. Bitte wenden Sie sich an …

Ich ließ die Zeitung sinken. Neben dem Text war ein Foto abgedruckt, auf dem man diesen Elias Bo in die Kamera lächeln sah. Es schien ein Urlaubsbild zu sein. Obwohl ich ihn nicht kannte, da er offensichtlich nicht aus unserem Dorf stammte, sondern – wie Peer auch – in der Nachbarstadt lebte, schnürte sich mir die Kehle so sehr zu, dass ich kaum noch atmen konnte. Das war selbst für mich unnormal. Ich musste an Papa denken, wie er damals im Koma gelegen hatte. Ich stand auf und versuchte mich an diese Atem-Übungen aus Bines Surf-Yoga-Unterricht zu erinnern. Irgendwann hatte ich mich beruhigt und plötzlich fiel mir ein, woran ich die ganze Zeit über nicht gedacht hatte: Peer würde mir sicherlich etwas zu Nahtoderfahrungen sagen können. Immerhin war er auf der Neurochirurgie jeden Tag mit dem Tod konfrontiert. Ich beschloss, ihn gleich morgen im Krankenhaus zu besuchen. Doch wie sollte ich ihn dazu befragen, ohne zu verraten, dass es um mich ging? Da musste mir definitiv etwas einfallen.

Vorgewarnt oder nach einem Termin gefragt hatte ich Peer nicht. Dann hätte ich es Weihnachten noch einmal versuchen können. Mama war so nett gewesen, mir unseren kleinen Transporter zu leihen. Es hatte etwas Überredungskunst gebraucht, da die Strecke genau an der Stelle vorbeiführte, an der Papa damals verunglückt war. Diese Tatsache trieb meiner Mutter jedes Mal den Angstschweiß auf die Stirn, wenn einer von uns mit dem Auto in die Stadt fuhr. Doch es half nichts, es war die einzige Straße, die unser Dorf mit der Stadt verband. Ich versicherte ihr auch dieses Mal, dass ich besonders aufmerksam und vorsichtig fahren würde und lenkte das Auto vom Hof. Katha hatte ich gesagt, dass ich das allein machen musste und sie hatte es sofort verstanden.

Die Tachonadel keinen Millimeter über der Hundert würde nach genau 13 Minuten das Kreuz zu sehen sein. Papas Tod war heute acht Jahre, sechs Monate und 10 Tage her. Und noch immer schickten wir ihm bei jeder Vorbeifahrt einen Handkuss. So auch jetzt.

Zwanzig Minuten später stellte ich das Auto auf dem Krankenhausparkplatz ab. Mama hatte ich erzählt, dass ich mit Peer über ein Schulprojekt sprechen würde. Dass es sehr eilig wäre, da ich durch den Unfall viel Zeit verloren hätte. Guter Plan, dachte ich. Ob er funktionieren würde, sollte ich erst zwei Stunden später erfahren. Denn so lange ließ Dr. Steffens auf sich warten. Obwohl die garstige Schwester mich kannte und mir immer wieder versicherte, sie hätte ihn über meine Anwesenheit informiert.

„Du hättest anrufen sollen“, rief er durch den Flur und drückte mich ganz fest an sich. Ich habe das Aussehen von Papa und die Figur von Mama, eher klein und zart. Bei meinem Bruder ist es witzigerweise genau anders herum: blonde Haare, dafür groß und kräftig wie Papa. Mit dieser Aufteilung war ich mehr als zufrieden. Natürlich hatte Peer auch jetzt nur einen winzigen Moment Zeit für mich. Vielleicht war das gar nicht verkehrt, denn so musste ich mich kurzfassen und würde mich weniger verplappern. Während ich redete, hasteten immer wieder Ärzte und Schwestern an uns vorbei und ich merkte, wie nervös Peer wurde.

„Puh, so einfach ist das auf die Schnelle nicht zu beantworten“, sagte er, nachdem ich meinen imaginären Fragebogen abgearbeitet hatte. „Ich weiß, solche Berichte hört man immer wieder.“ Er überlegte. „Trotzdem, Mare … aus medizinischer Sicht lässt sich das nicht so einfach belegen.“

„Aber auch nicht widerlegen“, brachte ich ein. In dem Moment piepte es in seiner Hose.

„Sorry, Kleine, lass uns telefonieren. Ich muss los.“ Er drückte mir einen flüchtigen Kuss auf den Kopf und hetzte davon. „Grüß Mama schön und pass auf dich auf!“, rief er noch.

Ich stand mitten im Krankenhausflur und wusste nicht, wohin mit mir und meinen Gefühlen. Es konnte doch nicht alles Einbildung gewesen sein, was ich über die anderen Menschen gelesen und – vor allem: was ich selbst erlebt hatte. Plötzlich fühlte ich mich schrecklich klein und allein. Ich zitterte am ganzen Körper und mir liefen lautlos die Tränen über die Wangen. Doch ich schaffte es nicht, einen Fuß vor den anderen zu setzen und das Krankenhaus zu verlassen. Erst als ich meinte, man würde mich von irgendwoher beobachten, konnte ich mich aus der Starre lösen.

Die dritte Stufe

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