Читать книгу Zart und frei - Dr. Carolin Wiedemann - Страница 4
Einleitung
Оглавление2016 beschloss der Bundestag die Reform des Sexualstrafrechts und gab dem Grundsatz »Nein heißt Nein« damit Gesetzesstatus; 2018 folgte die Einführung der Dritten Option, die Möglichkeit des Geschlechtseintrags »divers«. 2019 entschied der Spiegel, seine Ressortleitungen künftig jeweils mit mindestens einer Frau zu besetzen, und die Redaktion der Süddeutschen Zeitung diskutierte, in Artikeln nicht mehr nur das generische Maskulinum zu verwenden. Die Jugendformate der beiden Medienhäuser, Jetzt und Bento, gingen zum Gender-Sternchen über, um auch alle nichtbinären Menschen zu berücksichtigen. 2020 übernahmen die Fernsehstars Joko und Klaas die inklusive, geschlechterneutrale Ausdrucksweise zur Primetime auf ProSieben. Unter dem Hashtag #Frauenzählen bewiesen Feminist*innen, wie sexistisch der Literaturbetrieb ist, während neue Läden eröffneten, die nur Bücher von Frauen und Queers verkaufen. Der Wiener Musiker Mavie Phoenix, der in der Öffentlichkeit zunächst als Frau gegolten hatte, gab bekannt, kein Pronomen mehr für sich zu verwenden, bevor er schließlich das männliche wählte; die Vogue porträtierte ihn daraufhin als einen der wichtigsten Popstars unserer Zeit. Die Rapper von der Antilopen Gang kritisierten erneut mackeriges Verhalten. Und die Künstlerin Janelle Monáe, die sich als pansexuell bezeichnet, also keine Geschlechter begehrt, sondern Menschen an sich, nutzte ihren Auftritt bei der Eröffnung der Oscar-Verleihung 2020, um die Machtverhältnisse der Branche von innen heraus anzuprangern. Sie rief ins Mikrofon: »Wir feiern alle Frauen, die phänomenale Filme gemacht haben«, und weiter: »It’s time to come alive«. Das ist der Aufbruch, jubelten die Fans im Internet: Das Ende der sexistischen Verhältnisse im Film und in der echten Welt ist nah!
Aber da sind wir noch nicht, weder in Hollywood noch andernorts, allen queerfeministischen Errungenschaften zum Trotz. Der Widerstand des Patriarchats gegen seine Überwindung ist groß.
Während in Los Angeles die Oscars verliehen wurden, erklärte sich in Polen eine weitere Gemeinde zur »LGBTIQ-freien Zone« und verkündete, keine Menschen zu dulden, die sich nicht als heterosexuelle cis Frauen oder Männer definieren, wie Gott sie vermeintlich erschuf; in Berlin bespuckten zwei Jugendliche eine 51-jährige trans Frau, besprühten sie mit Pfefferspray und drohten, ihr die Haare anzuzünden. Allein in einem Monat wurden in der Hauptstadt fünf weitere transfeindliche Gewalttaten gemeldet. 2019 war dort laut Angaben des Antigewaltprojekts Maneo die Zahl von Übergriffen, die sich gegen die sexuelle Orientierung oder die geschlechtliche Identität von Menschen richteten, um fast 50 Prozent höher als im Vorjahr. Martin Sellner, Chefstratege der rechtsextremen Identitären Bewegung in Österreich erklärte, der Feminismus bringe Übel, weil er Frauen gegen ihre Natur vom Herd trenne, und Björn Höcke, der nach der Wahl in Thüringen triumphierte, forderte erneut, dass Männer endlich wieder »mannhaft« sein sollten – freilich nur diejenigen, die bei der Geburt als solche galten. Am 8. März 2020 wurde erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine Demonstration zum Weltfrauentag, die feministische Demonstration in Aachen, von Nazis angegriffen. Und ein knappes halbes Jahr später, am 5. September, zerrissen sogenannte Querdenker in Wien auf der großen Bühne einer Kundgebung gegen Corona-Schutzmaßnahmen eine Regenbogenflagge, das Symbol der LGBTIQ-Bewegung, und riefen: »Ihr seid nicht Teil unserer Gesellschaft.«
Am Umgang mit der Frage nach Geschlechtern, nach Identitäten, nach Begehrens- und Beziehungsformen zeigt sich, wie frei unsere Gesellschaft tatsächlich ist und wie gerecht wir sind. An diesen Fragen entscheidet sich, wohin wir steuern. Oft wird jedoch genau das Gegenteil behauptet: Die Postmoderne, Gender-Theorie und queere Aktionen seien irrelevante, elitäre Unterfangen, die unsere Gesellschaften nur spalten und uns auf Abwege bringen würden. Der Feminismus sei über das Ziel hinausgeschossen, als er zum Queerfeminismus wurde, heißt es dann. Ich will in diesem Buch zeigen, wie falsch diese Aussage ist. Dass etwa die Einführung einer Dritten Option Teil einer Entwicklung ist, die alle freier machen kann. Und dass es populistisch ist und den Rechten in die Hände spielt, sich gegen diese Entwicklung auszusprechen und den vermeintlichen »Gender-Wahn« zu kritisieren, wie es der Papst tut, wie es auch liberale Journalist*innen betreiben, etwa die Zeit-Autoren Harald Martenstein, der sich von Feministinnen diskriminiert fühlt, und Jens Jessen, der die #MeToo-Bewegung mit dem Gulag verglich. Und wie es auch Sigmar Gabriel macht, wenn er befindet, die SPD habe sich zu lange mit Homosexuellen und anderen Minderheitenfragen befasst statt mit dem deutschen Arbeiter, wenn er also Klassenpolitik und Queerfeminismus gegeneinander ausspielt statt den Menschen klarzumachen, dass sie gemeinsam um Teilhabe und gegen alle Formen der Ausbeutung kämpfen müssten.
Im Antifeminismus dieser Aussagen zeigt sich das Aufbegehren eines patriarchalen Systems und seiner Hauptfigur, des weißen, heterosexuellen cis Mannes, dessen Ordnungen zunehmend bröckeln. Zum Glück und zum Gewinn aller.
Aller. Das müsse man den Menschen vermitteln, sagte die Kulturwissenschaftlerin Karin Harrasser 2017, die deutschsprachige Ikone des Cyborg-Feminismus. Sie und ihre Kolleg*innen, die postmodernen Theoretiker*innen, so Harrasser, hätten vergessen, die Menschen jenseits der Gender Studies mitzunehmen, als sie begannen, von Cyborgs, von der Überwindung der Geschlechterbinarität und einer anderen Welt zu schwärmen. Das sei einer der Gründe dafür, dass die Menschen jetzt Trump und die AfD wählen. Sie folgte damit gerade nicht dem Anti-Gender-Argument von Sigmar Gabriel, man habe sich zu sehr mit queeren Toiletten befasst und dabei die Arbeiterklasse aus den Augen verloren. Nein, Harrasser meinte, dass sie, die progressiven Intellektuellen, es versäumt hätten, allgemein verständlich zu machen, warum alle von den Gender Studies profitieren.
Verständlich zu machen, dass alle Menschen gewinnen würden, wenn sie queerer werden, wenn sie die vermeintlich natürliche Unterteilung in zwei Geschlechter mit zugeschriebenen Eigenschaften immer weiter hinterfragen, wenn das »Cyborg-Manifest« weniger Utopie wäre, wenn gender, race und class keine Geltung mehr hätten, wenn Grenzziehungen verschwämmen und Herrschaftsverhältnisse verschwänden, wenn die Menschen sich weniger über Gene und Geld miteinander verbunden fühlen würden. Wenn sie stattdessen Familien jenseits von Mutter-Vater-Kind bilden würden, Wahlverwandtschaften, neue Formen der Solidarität jenseits alter Identitäten, wenn sie sich freier und zarter zugleich aufeinander bezögen, wenn sie freier und zärtlicher zugleich miteinander und beieinander schliefen.
Denn es ist nicht nur so, dass Frauen, wie die Ethnografin Kristen Ghodsee kürzlich belegt hat, im Sozialismus besseren Sex haben. Alle hätten besseren Sex, wenn das Patriarchat beendet wäre. Auch darum wird es in diesem Buch gehen.
Während ich im ersten Teil frage, wie sich das Patriarchat eigentlich aktuell konstituiert, wie stark es noch ist, wie beharrlich, und wie es antifeministische Strömungen über verschiedene Lager hinweg mobilisiert, gehe ich im zweiten Teil auf verschiedene gegenwärtige Phänomene ein, die patriarchale Ordnungen herausfordern, indem sie das Verständnis von Geschlecht und Sexualität zunehmend verschieben. Phänomene, die eine Befreiung aus der bürgerlichen Kleinfamilie, aus der Keimzelle der Nation bedeuten und damit andere, neue Formen der solidarischen Verbindung erschaffen: In Kursen zur kritischen Auseinandersetzung mit Männlichkeit lernen Typen, Männlichkeitsanforderungen zu unterlaufen, sie lernen etwa, leiser zu reden und gleichzeitig ihre Bedürfnisse besser zu artikulieren. In polyamoren Beziehungskonstellationen versuchen Menschen die Verquickung von romantischer Liebe und Besitzansprüchen zu überwinden, die überhaupt erst durch die kapitalistische, sexistische Arbeitsteilung entstehen konnte. Beim Co-Parenting kümmern sich Freund*innen-Kreise gemeinsam um Kinder, ganz egal ob sie die biologischen Eltern sind, und bewahren damit Alleinerziehende vor der Prekarität und Paare vor dem Gender-Trouble. Auf sexpositiven Partys wird feministischer Porno gefeiert und Pansexualität genau wie Asexualität, so wie es die Menschen gerade mögen.
Ich will zeigen, dass sich jene neuen Umgangs- und Lebensformen, die von Kritiker*innen oft als elitär oder als neoliberal abgetan werden, nicht nur aus einer queerfeministischen Perspektive als subversiv deuten lassen. Zeigen, dass sie eine emanzipatorische Perspektive für alle bergen, und zwar auch deshalb, weil sie die Herrschaftsverhältnisse, welche die Menschen unterjochen, im Allgemeinen herausfordern.
Das patriarchale Geschlechterverhältnis ist mit der Entwicklung kapitalistischer Ausbeutung innerhalb der gegenwärtigen nationalstaatlichen Ordnung zutiefst verbunden. Angesichts dieser Verknüpfung klärt sich, inwiefern jene antipatriarchalen Phänomene das Potenzial haben, die bürgerliche Gesellschaft und ihren Ausbeutungsapparat im Gesamten zu erschüttern. Alexandra Kollontai sagte: Ohne Sozialismus keine Befreiung der Frau, ohne Befreiung der Frau kein Sozialismus. Und so lässt sich noch immer hoffen, dass wir, wenn es keinen Kapitalismus, keinen Nationalstaat und kein Patriarchat mehr gibt, zart und solidarisch miteinander sein können, geborgen und frei.
Das Buch soll nicht diejenigen umerziehen, die weiter von den tradierten Ordnungen profitieren wollen und daher all jene, die ihnen ihre Privilegien streitig machen, als minderwertig diffamieren. Aber vielleicht kann es denen die Hand reichen, die verunsichert sind, die insgeheim selbst lieber in einer anderen Welt leben würden, aber keine Ideen von ihr haben, die unter Druck stehen, ihre Männlichkeit zu beweisen, Überlegenheit und Erhabenheit zu performen, obwohl sie doch gern freier und gleichzeitig geborgener wären. Und vielleicht kann es auch diejenigen inspirieren, denen das Wort »Gender« noch fremd ist, denen die aktuellen politischen Entwicklungen, der Erfolg von Politikern wie Trump, der AfD und der FPÖ aber Sorge bereiten, die sich fragen, wo der Fortschritt, an den sie einmal glaubten, geblieben ist.
Und es kann hoffentlich denen Mut machen, die sich seit Langem mit sexistischen Geschlechterverhältnissen und anderen Formen der Herrschaft auseinandersetzen, sie bekämpfen und sich selbst aber doch so oft in ihrem Alltag nicht aus ihnen befreien können.