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Goldegg, im Jahre 1715

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Rupert Embacher wollte nach der Trauerfeier zu Ehren des verstorbenen Nikolaus Steiner gerade die Kirche verlassen und hinüber zum Gottesacker gehen. Doch der Pfarrer kam direkt auf ihn zu und hielt ihn am Ärmel fest.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr der verbotenen Religion zugetan seid. Ihr trefft Euch mit Gleichgesinnten«, zischte er und seine Augen funkelten wild.

»Das muss ein Missverständnis sein, Hochwürden. Ich gehöre keiner falschen Religion an«, beschwichtigte ihn der junge Mann und strich sich das Haar aus der Stirn. Der Kirchenmann keifte aufgebracht weiter. »Wartet nur ab, wenn Ihr lutherisches Gedankengut in Euch tragt, werdet Ihr auf ewig in der Hölle schmoren!“

»Mein Vater und ich sind fromme Leute und wir halten die Gebote ein.«

»Nichts haltet ihr ein. Ihr vergiftet mit den ketzerischen Reden die Köpfe der Gläubigen und verursacht Aufruhr. Der Teufel macht sich an eure Seelen heran.«

Rupert schüttelte fassungslos den Kopf. Am liebsten hätte er mit heftigen Worten reagiert, die ihm schon auf seiner Zunge lagen. Doch dann besann er sich. Freundlich, aber bestimmt verabschiedete er sich. Er war verärgert, dass ihn der Pfarrer aufgehalten hatte. Denn eigentlich wollte er mit Maria, der Tochter des Posenigg-Bauern vom Rohrmoos-Hof sprechen, zu der er während der Messe immer wieder hingeschaut hatte. Er beschleunigte seine Schritte, um die Gemeinde, die hinter dem Sarg herlief, einzuholen.

Auf dem Friedhof fiel sein Blick wieder auf die zierliche, junge Frau, die gerade etwas Erde über den Sarg warf und dann der Witwe ihr Beileid aussprach. Auch er schloss sich dem Ritual an. Mehrmals suchte er den Anblick Marias, die einen Kopf kleiner war als er und die mit ihrem Trachtenkleid, dem schwarzen eng geschnürten Mieder und den zu einem Kranz geflochtenen Haaren sein Herz schneller schlagen ließ.

Beim Leichenschmaus trafen sich ihre Blicke. Die junge Frau schaute ihm geradewegs in seine blauen Augen und lächelte ihn an. Ihr sinnlicher Mund und ihr Lachen betörten ihn, besonders dann, wenn sich ihre Grübchen zeigten.

Auf dem Rückweg nach Hause war Rupert aufgewühlt. Er hatte schon mehrmals erlebt, dass die Mädchen aus dem Dorf seine Nähe suchten, um mit ihm zu reden und zu scherzen. Dadurch fühlte er sich geschmeichelt. Sie sprachen in seiner Gegenwart ernsthaft von ihren Träumen und Zukunfts-vorstellungen. Der junge Mann hörte ihnen gerne zu und bestärkte sie in ihren Gedanken und Gefühlen. Aber er verstand es auch, geistreiche Späße zu machen und brachte die Mädchen zum Lachen. Doch Maria löste etwas in ihm aus, was er bisher nicht kannte. Bei ihrem Anblick überkamen ihn körperliche Regungen und das Verlangen nach Zärtlichkeiten.

Manchmal träumte er nachts davon, Maria an verdeckten Stellen zu berühren und das zu tun, was die Natur mit den beiden Geschlechtern vorgesehen hat.

In den vergangenen Jahren hatte er mehrmals wahrgenommen, wie sich seine Eltern ansahen und miteinander sprachen, wenn sie glaubten, unbeobachtet zu sein. Ihm gefiel, wie sein Vater mit den Fingerspitzen sanft über die Wange der Mutter streichelte und ihr mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze stupste, seine Mutter daraufhin ihrem Mann liebevoll etwas ins Ohr flüsterte. Die Zärtlichkeit, die die beiden miteinander verband, wärmte sein Herz. »So muss es also sein«, dachte er jetzt. »Ja, so muss es sein, wenn zwei Menschen zusammengehören, wenn Mann und Frau miteinander glücklich sind.«

Am Abend nach getaner Arbeit stellte Rupert den Besen in die Scheune, zog seine Jacke an, richtete einen prüfenden Blick auf die Hosenbeine und schnippte ein paar trockene Grashalme weg. In diesem Moment kam sein Vater mit dem Wanderstab aus der Haustür, setzte den Filzhut auf und nickte ihm zu.

Die beiden Männer waren zu einem geheimen Treffen der Lutheraner unterwegs, zu dem der Unterwirt Hans Lodermoser aus St. Veit eingeladen hatte.

Der Weg war schmal und schlängelte sich durch ausgedehnte Wiesen und Felder. Der Duft von frisch gemähtem Gras drang in Ruperts Nase. Von hier oben hatte er einen weiten Blick auf die Mühle unten am Taxbach und die dahinter liegenden Bauernhöfe. Am Horizont leuchteten die Felsen der Hohen Tauern, die von der Abendsonne angestrahlt wurden. Das Korn stand hoch und verbarg den Blick auf die Wanderer in der Abendstunde. Hinter ihnen ging die Sonne leuchtendrot unter.

Nun wurde der Weg holprig. Während Rupert aufpasste, dass er nicht ins Stolpern geriet, erinnerte er sich an den Tag, als ihn sein Vater zum ersten Mal zu einer geheimen Versammlung mitgenommen hatte. Es war an seinem sechzehnten Geburtstag. Unbändiger Stolz hatte ihn damals erfasst, denn er gehörte nun zu den Männern, die ein Geheimnis miteinander verband.

»Da sind wir«, sagte der Vater leise und schaute sich nach allen Seiten um. Die Bäuerin öffnete auf ihr Klopfen hin sehr vorsichtig die Tür und winkte ihre Gäste in die Stube. Einige Männer saßen schon auf der umlaufenden Bank oder auf Holzschemeln und sprachen miteinander.

Mit einem freundlichen Kopfnicken wurden die beiden Ankömmlinge begrüßt. Nach kurzer Zeit kamen weitere Männer dazu und die Sitzplätze wurden knapp.

Rupert sah sich um. Er kannte die Männer. Einige waren aus Goldegg, andere aus Schwarzach oder aus St. Veit. Gleich darauf sprach der Unterwirt Hans Lodermoser zu den Gästen.

»Es ist gut, dass ihr gekommen seid«, sagte er und schaute bedrückt in die Runde. »Der Pfarrer verlangt von uns sehr viel. Wir sind aber nicht mit allem einverstanden. Schon seit langer Zeit beklagen wir die Missstände. Wir sträuben uns gegen den Marienkult und glauben nicht daran, dass die Mutter Jesu leibhaftig in den Himmel aufgestiegen ist und nun Gott um die Vergebung der Sünden der Menschen bittet. Wir lehnen die Heiligenverehrung ab, denn wir glauben nicht, dass Gott diese Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat und dass die Bekreuzigung vor einer Figur oder Reliquie Gnade bringen soll. Nur Jesus Christus vermittelt zwischen den Menschen und Gott. Niemand sonst. Wir glauben auch nicht, wie die Getreuen des Papstes uns einreden wollen, dass Gott aus dem Himmel heraus in das Geschehen auf der Welt eingreift und Wunder vollbringt. Das sind falsche Auslegungen.«

Die Anwesenden hörten aufmerksam zu und nickten. Dann redete der Unterwirt weiter. »Wir sehen mit Sorge, dass die Papisten den Anweisungen aus Rom eine größere Bedeutung zukommen lassen, als den Inhalten der Bibel. Wir widersetzen uns, Fastentage einzuhalten, weil sie keine Bedeutung für uns haben. Besonders betroffen macht uns, dass der Pfarrer uns in seiner Ansprache innerlich nicht mitnimmt, dass er keine Worte für uns hat, die uns aufbauen und dass er für uns kein Vorbild ist. Die Messe hält er in lateinischer Sprache, die wir nicht verstehen, und sein Lebenswandel ist wenig fromm. Diese Kirche brauchen wir nicht.«

Es ertönte heftiges, zustimmendes Gemurmel. Als es abge-klungen war und niemand noch etwas vorzubringen hatte, stimmte der Unterwirt ein Lied an. Die Anwesenden sangen voller Inbrunst mit. Rupert wusste, dass es Martin Luther geschrieben hatte und dass er es selbst in der Öffentlichkeit nicht singen durfte.

Hans Lodermoser ergriff wieder das Wort und wandte sich den versammelten Gläubigen zu. »Wir sind hier zusammen gekommen, um Gottes Wort in unserer Sprache zu hören und um daraus Trost und Kraft zu schöpfen.« Dann nahm er die aufgeschlagene Bibel in die Hand, las eine Stelle aus dem Römerbrief des Apostel Paulus vor, verknüpfte sie mit Aussagen von Martin Luther und regte eine Diskussion an.

Nachdem der Unterwirt das geheime Treffen beendet hatte, machten sich Vater und Sohn auf den Weg nach Hause. Rupert gingen viele Gedanken durch den Kopf. Wieder einmal wurde ihm der Konflikt bewusst, in dem er und seine gesamte Familie sich befanden. Entweder musste er sonntags den andächtigen Kirchengänger vortäuschen und sich für seinen Seelentrost heimlich mit den Abtrünnigen treffen oder er bekannte sich zu den Papisten und verschloss einfach die Augen vor der Wirklichkeit. Doch mit dem Glauben, so wie ihn die Kirche vorlebte, war er nicht einverstanden. Das wurde ihm deutlich.

»Was hat der Unterwirt gesagt? Wir müssen keine Bußwerke tun, um von Gott angenommen zu werden. Wir können uns immer seiner bedingungslosen Liebe gewiss sein. Der Pfarrer hat in der Messe noch nie so zu den Gläubigen gesprochen, auch vom Vikar kam nichts dergleichen«, ging es im durch den Kopf. Die Kraft der Worte war so eindringlich, dass es Rupert noch stärker zur Botschaft Martin Luthers hinzog.

Der Mond stand hoch über den Bergen, als Vater und Sohn wieder in Goldegg am Gut Großenberg ankamen. Leise betraten sie das Haus. Alles war ruhig. Die anderen Bewohner schliefen schon.

Rupert ging die Treppe hinauf, öffnete die Tür zu seiner Kammer, die er sich mit seinen anderen Brüdern teilte, und legte sich ins Bett. Seine Gedanken ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Aber er hatte ein gutes Gefühl. »Gottes Wort bedeutet Freiheit«, dachte er. »Es nimmt mir die Sorge um die eigene Rechtfertigung vor Gott und bestärkt mich in allem, was ich tue.« Die Lehre des Reformators beschäftigte ihn noch lange in dieser Nacht, bis er endlich einschlief.

****

»Maria, ich freue mich, dich zu sehen!« Rupert kam gerade aus dem Gasthof Schubhard, gleich hinter der Kirche, hatte sich dort mit einigen Burschen getroffen, ein kühles Bier mit ihnen getrunken und über das bevorstehende Tanzfest gesprochen. Nun wollte er zurück nach Hause. Bei dem Anblick der jungen Frau klopfte sein Herz schneller. Er bewunderte ihre zierliche Figur und hatte das Gefühl, sie sein Leben lang beschützen zu wollen.

»Ich habe gerade einen Korb gesponnener Wolle zur alten Burgsteinerin gebracht«, sagte Maria ein wenig verlegen und blieb dicht bei ihm stehen.

»Magst du am nächsten Sonntag mit mir am See tanzen gehen?«, fragte er und verlor sich dabei in ihren Augen.

»Ja, gerne«, lachte sie ihn strahlend an und errötete dann leicht.

»Ich hole dich von zu Hause ab«, schlug er vor. Sie nickte und erwiderte: »Wir werden bestimmt viel Spaß haben.«

Die Vorfreude ließ den jungen Mann auf seinem Weg nach Hause fast schweben.

Am Abend sollte wieder eine geheime Versammlung stattfinden. Die Lutheraner trafen sich in Schwarzach bei Hans Clingler, dem Holzerbergbauer.

Es war noch hell und warm, als Rupert und sein Vater dort eintrafen, denn der Sommer hatte sich endlich in den Bergen niedergelassen.

In der Stube war es angenehm kühl. Die Fenster waren geöffnet. Weil diese Seite zum Innenhof gerichtet war, hatten die Anwesenden keine Befürchtungen, von ungebetenen Zu-hörern belauscht zu werden.

Hans Clingler begrüßte die Gläubigen. Wegen der dichten Augenbrauen, der zotteligen Haare und durch den langen Bart war nicht viel von seinem Gesicht zu erkennen. Aber seine wachen Augen nahmen die Anwesenden in der Stube nacheinander aufmerksam wahr. Er stimmte das Lied Ein feste Burg ist unser Gott an und alle Anwesenden sangen voller Inbrunst mit.

Dann schaute er auf ein Schriftstück und verkündete: »Von Joseph Schaitberger haben wir einen Sendbrief erhalten. Er schreibt: Wer Jesus suchen will, der schaue nicht im Rosengarten nach, sondern muss das Kreuz auf sich nehmen und ihn an dem traurigen Ölberg suchen. Wenn es heißen wird: Dies musst du glauben oder alles verlassen, so bitte ich euch, macht keinen Gott aus den vergänglichen Gütern, sondern seid beständig im Glauben, weichet nicht von dem, der euch erschaffen und erlöset hat und durch den ihr auch hofft, einmal selig zu werden.«

Der Holzerbergbauer legte das Papier zur Seite, hob den Kopf und schaute wieder in die Runde. »Joseph Schaitberger hält von Nürnberg aus Kontakt zu uns. Ihm ist viel Unrecht geschehen. Doch nie hat er sich einschüchtern lassen, obwohl er vom Erzbischof und seinen Häschern verhört, gefoltert und schließlich ausgewiesen wurde. Nie ist er vom Glauben abgefallen. Immer wieder hat er angemahnt, dass man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen. Auch uns will Joseph Schaitberger Mut zusprechen.«

»Es ist gut, dass er an uns denkt und uns mit seinen Worten bestärkt. Seine Frömmigkeit soll uns als Vorbild dienen. Wir halten an unserem Glauben fest«, bekannte Georg Schwaiger. Michael Burgsteiner meldete sich zu Wort. »Wir müssen auch standhaft bleiben, selbst wenn die Kirchenmänner uns das Leben schwer machen.« Ein zustimmendes Raunen ging durch den Raum.

Hans Lodermoser machte ein finsteres Gesicht und schimpfte: »Sie reden uns einen strengen Gott ein, der jeden bestraft, der die Traditionen nicht pflegt oder seine Sünden nicht vollständig beichtet.«

Die Bauern hatten immer wieder erlebt, dass das Handeln ihres Pfarrers Simon Eckart und auch des Vikars Georg Wanninger nicht ihre Zustimmung fand. Sie waren enttäuscht, weil die Kirchenvertreter ihre Sorgen und Bedürfnisse nicht ernst nahmen und stattdessen zeterten und drohten.

Georg Schwaiger hob die Hand. »Wir wissen, dass Gott uns so annimmt, wie wir sind, selbst wenn unser Handeln in der Vergangenheit nicht immer richtig war. Er bleibt uns immer zugewandt, trotz unserer Unvollkommenheit und trotz unserer Zweifel. Der Glaube an ihn reicht aus. Wir brauchen keine Vermittlung durch den Pfarrer oder die Kirche und den ganzen Sermon. Wir brauchen auch keine Beichte durch einen Pfarrer und die Auferlegung einer Buße. Den Papst lehnen wir ab. Er stört den Religionsfrieden, weil er sich anmaßt, der Stellvertreter Jesu Christi zu sein.«

Hans Clingler nahm die auf dem Tisch liegende Bibel in die Hand. »Ja, leider ist es so, dass sie die Dogmen sogar über die Heilige Schrift stellen. Doch nur was hier steht, hat für uns Gültigkeit. Die Bibel wird durch nichts als durch sich selbst ausgelegt und sie bestimmt die Glaubensinhalte. Das hat Martin Luther gesagt. Gott hat es nicht nötig, Sünden durch das Verbringen im Fegefeuer auszugleichen. Er ist gerecht und nur er allein kann Schuld vergeben. Jeder Gläubige kann direkt mit ihm Zwiesprache halten und wird von ihm angenommen. Gott hat Jesus auf die Erde geschickt, um den Menschen nahe zu sein, um mit dem Teufel zu streiten und ihn zu besiegen. Durch Erzählungen aus der Heiligen Schrift lernen wir Gott besser kennen.«

Der Holzerbergbauer schaute in die Runde und versicherte sich der Zustimmung der Anwesenden. Dann las er das Gleichnis vom verlorenen Sohn vor. Die Zuhörer ließen noch einige Minuten lang den Inhalt still nachwirken.

Vorsichtig formulierte Rupert seine Gedanken. »Bei dem Gleichnis vom verlorenen Sohn ist der Schweinestall der Ort der größten Verzweiflung und auch der Veränderung. Hier entscheidet sich der junge Mann für die Rückkehr und hofft auf die Güte des Vaters. Noch bevor er Worte finden muss, kommt ihm der Vater entgegen und nimmt ihn ohne Vorbehalte und Schuldzuweisungen auf. Es ist eine sehr berührende Erklärung für Gott, die Jesus uns da gibt. In einem anderen Gleichnis erzählt er von einem verlorenen Schaf. Er will damit auf das Bild vom guten Hirten aufmerksam machen und zeigen, dass Gott uns vor dem Verlorengehen bewahrt. Diese beiden Bibelstellen machen uns Mut und geben uns Hoffnung.«

Hans Clingler nickte zustimmend, weil Rupert eine Diskussion über verschiedene Vorstellungen von Gott in Gang gebracht hatte. Georg Hundrieser, der Obereggbauer, saß an der anderen Seite des Tisches und beugte sich zu ihm herüber. »Ja, aus diesen Gleichnissen erfahren wir, dass er niemanden im Stich lässt, auch wenn sich jemand mal falsch verhalten hat.«

»Auch wir sollen Menschen vergeben, wenn sie nicht den richtigen Weg eingeschlagen haben. In der Vergebung steckt eine ungeheure Kraft«, meinte Georg Schwaiger. »Das ist es, was Jesus uns sagen will, wenn er von der Güte seines Vaters erzählt. Probleme werden nicht gelöst, wenn wir nur darauf hoffen, dass Gott sich darum kümmert. Er erwartet von uns Handlungen, die im Glauben begründet sind.«

In Gedanken sah Rupert den zeternden Kirchenmann vor sich und sagte: »Ja, nur wenn wir vergeben, können wir friedlich zusammen leben. Das ist der einzige Weg für uns und der ist richtig. Wir wollen all denen verzeihen, die uns Unrecht getan haben. Doch wie schön wäre es, wenn der Pfaffe an einen Ort der Veränderung gelangen könnte.« Seine spöttisch gemeinten Worte hatten eher einen verzweifelten Beigeschmack, denn er wusste, was alle in dem Augenblick dachten. Der Pfarrer führte nur das aus, was der Fürsterzbischof anordnete, der nicht nur die kirchliche, sondern auch die politische Macht im Land verkörperte.

Doch diese Situation konnten die Männer nur beklagen, ändern konnten sie sie nicht. So tauchten sie weiter in die Diskussion über das Gleichnis ein. Rupert fragte sich, ob es richtig vom Vater sei, für den zurückgekehrten Sohn ein Fest auszurichten, ob er sich seinem anderen Sohn gegenüber gerecht verhalten habe und ob nicht auch der Daheimgebliebene der verlorene Sohn sei. Er regte durch seine Impulse die Diskussion weiter an. Die Anwesenden tauschten lebhaft ihre Gedanken aus. Für sie waren diese Gespräche wohltuende Seelsorge. Zum Abschluss erinnerte der Holzerbergbauer daran, dass auch die Musik für Lutheraner wichtig sei und stimmte ein Lied zur Erbauung der Gäste an.

Rupert hatte durch das Auslegen der Botschaften und durch die Lieder und Gebete einen wertvollen Schatz, den kein Mann der Kirche ihm nehmen konnte.

Kurz nach Sonnenuntergang waren Vater und Sohn wieder zu Hause. Auf dem Hof war es still. Bis auf die beiden Heimkehrer hielten alle Bewohner ihre Nachtruhe. Leise schlich Rupert in seine Kammer, ging zum Waschtisch, goss etwas Wasser aus dem Krug in die Schüssel und wusch sein Gesicht und seine Hände, trocknete sich ab und ließ sich müde ins Bett fallen.

In dieser Nacht hatte er einen unruhigen Schlaf. Seine Träume waren ein Wechselspiel von Angst und Lust zugleich. Er überschritt darin alle Grenzen des Seins. Einmal schreckte er hoch, weil er sich vom Pfarrer verfolgt fühlte, der ihn anbrüllte, weil er den Rosenkranz nicht inbrünstig genug gebetet hätte. Dann erblickte er Simon Hochleitner, der sich hinter einem Holzstapel versteckt hielt und ihn bei den Bibellesungen mit den anderen Männern belauschte. Ganz deutlich sah er das Gesicht von Maria vor sich, wie sie ihn anlachte und wie er dann mit ihr hoch oben auf der Alm tanzte. Doch dann taumelte sie und war auf einmal verschwunden. Er suchte sie überall, doch sie war nicht mehr da. Diese Bilder wiederholten sich bis zum Morgengrauen mehrmals. Schweißgebadet erwachte er und vergewisserte sich durch das hereinbrechende Morgenlicht, dass der Tag bereits begonnen hatte. Das schob die Träume nun endgültig fort und er stand abrupt auf, denn die Arbeit rief.

Nach der Stallarbeit am nächsten Sonntag gesellte er sich zu den anderen Bewohnern des Gutes Großenberg, die an einem großen Tisch unter dem dicken Kastanienbaum saßen. Die Sonne schien, die Luft war klar und die Sicht unendlich weit. Im Süden ragten hinter der Kornmühle am Taxbach, die zum Anwesen gehörte, die steilen Felswände der Hohen Tauern in die Höhe. Im Norden führte der Weg am See vorbei zur Kirche und gleich rechts daneben weiter zum Schloss. Am Horizont streckten sich die Dientener Berge bis in die Wolken.

Vom See klang Musik herüber. »Die Männer proben schon. Dann wird die Tanzveranstaltung bald beginnen«, dachte Rupert. »Gleich werde ich Maria treffen und ihre Nähe spüren. Ich werde sie in die Arme nehmen, ihren Kopf an mein Herz drücken und den Duft ihrer Haut und ihrer Haare einatmen. Bestimmt werde ich dann auch einen günstigen Augenblick finden, um sie zu küssen.«

Die beiden Mägde stellten einen Topf Gemüsebrei, ein Holzbrett mit Rindfleisch und einen Korb mit Brot und Schmalz auf den Tisch und setzten sich dazu.

Tief in Gedanken versunken schlang Rupert seine Mahlzeit herunter. Als er aufstand, wunderte sich über seine Tagträume, die seine Wahrnehmung völlig vom Essen abgelenkt hatten. Voller Vorfreude machte er sich auf den Weg zum Rohrmoos-Hof, den der Posenigg-Bauer bewirtschaftete.

Maria hatte ihr neues Trachtenkleid an und erwartete ihn schon. Der liebliche Duft von Veilchen drang in seine Nase. Vorsichtig nahm er ihre Hand. Sie lächelte verlegen und eine leichte Röte zeigte sich auf ihren Wangen. Dann läutete die Glocke vom Kirchturm. Das war ein Zeichen, bei dem die Gläubigen drei Ave Maria beten sollen. Doch Rupert sah Maria an und schüttelte nur stumm den Kopf. Die beiden jungen Leute liefen dicht nebeneinander hinunter zum See. Als sie eintrafen, spielten die Musiker gerade einen Ländler und Rupert zog Maria sogleich auf den Tanzboden. In der folgenden Stunde ließen sie keinen Tanz aus. Irgendwann bat Maria lachend um eine Pause und um etwas frische Luft. Die beiden setzen sich ans Seeufer, kühlten ihre Füße im Wasser und sprachen amüsiert über den Geiger und den Hackbrettspieler, die durch lustige Einlagen die Stimmung im Saal anheizten. Ihr fröhliches, ungezwungenes Lachen sog Rupert tief ich sich auf.

»Komm, wir gehen ein Stück des Weges, wo wir allein miteinander reden können«, schlug er nach einiger Zeit vor.

Die Sonne stand schon im Westen, strahlte aber noch mit großer Kraft. Die beiden gingen an der Kirche und am Altenhof vorbei bis zum Fuße des Buchbergs. Dort waren die Musik und das Jauchzen der Gäste vom See immer noch zu hören.

»Ach, war das schön.« Maria lachte, breitete die Arme aus, drehte sich einmal um die eigene Achse, machte einige schnelle Tanzschritte und lief einige Meter den Berg hinauf. Etwas abseits vom Weg ließ sie sich ins Gras fallen und atmete laut aus. Rupert ging hinter ihr her und setzte sich neben sie auf die Wiese. Sie blieb auf dem Rücken liegen, machte auf einmal ein ernstes Gesicht und wollte auf das Geheimnis zu sprechen kommen, das sie beide miteinander verband.

»Ihr habt bei dem letzten Treffen über Vorstellungen von Gott gesprochen. Mein Vater hat mir davon erzählt. Er weiß, dass ich mich dafür interessiere.«

Rupert schmunzelte, denn auch seine Schwester Barbara beschäftigte sich mit Glaubensfragen. Als sie noch im Elternhaus wohnte, musste er ihr über die Inhalte der geheimen Treffen berichten. Meist diskutierte sie dann noch mit ihm. Dass sich auch Maria über die Botschaften der Bibel Gedanken machte, freute ihn sehr und weckte seine Neugier.

»Mir gefällt das Bild vom guten Hirten besonders gut. Ich weiß, dass Gott männlich ist. Aber manchmal habe ich ganz eigene Gedanken. Ich weiß nicht, ob ich das sagen darf.«

»Nur heraus damit«, forderte sie Rupert mit einem schelmischen Blick auf. »Wir sind unter uns. Niemand hört uns zu und wird uns schelten.«

»Jeder Gläubige darf sich sein eigenes Bild machen und es wieder ändern. Manchmal stelle ich mir vor, dass Gott in seiner Liebe zu den Menschen wie eine gute Mutter sein kann«, meinte Maria ein wenig gedankenverloren.

Rupert stutzte. Ihm war klar, dass der Vergleich mit einer Frauengestalt falsch war. Solch ein Gedanke war völlig absurd, denn Gott war männlich. Das bedurfte überhaupt keiner Diskussion. Doch er wollte Maria nicht belehren und ihr nicht die eigenen Gedanken verbieten. Wichtig war ihm, das Gespräch weiterzuführen. Deshalb erklärte er: »Beim Lesen der Bibel kann jeder unterschiedliche Vorstellungen von Gott entdecken und auch die vielen Eigenschaften, die ihn beschreiben. Es sind so viele, dass sie sich gar nicht zusammenfassen lassen.«

»Ich bin manchmal unsicher, wie ich Gott in meinen Gebeten ansprechen soll.«

»Du bestimmst ganz allein, wie du dich ihm zuwendest. Niemand kann dir etwas vorschreiben.«

Rupert rutschte etwas näher an Maria heran und sprach mit sanfter Stimme. »Bei unseren geheimen Treffen hören wir Geschichten und deuten die Botschaften. Jeder versucht, den Inhalt auf das eigene Leben zu beziehen, um Hilfen für eigene Entscheidungen zu bekommen oder um sich einfach nur an dem Inhalt zu erbauen. Der Pfarrer gibt uns nicht die Möglichkeit dazu. Wir müssen nur andächtig die ganze Liturgie wiederholen.«

Der junge Mann genoss es, ein Thema zu haben, über das er mit seiner Freundin sprechen konnte. Ihre klare Meinung und ihre Ernsthaftigkeit beeindruckten ihn.

»Viele Bauern in Goldegg sind mit dem Verhalten des Pfarrers und des Vikars nicht zufrieden. Sie haben durch Martin Luther überzeugende Anregungen für ihren Glauben gefunden«, erwiderte Maria.

»Auch in anderen Dörfern hat es viele Klagen über die Kirche gegeben. So ist es nicht verwunderlich, dass aus dem Protest heraus eine geheime Bewegung entstanden ist. Das hat der Hausierer Sinnhuber neulich erzählt. Der hört viel, wenn er unterwegs ist«, meinte Rupert.

Zwei Greifvögel kreisten über dem Buchberg. »Schau mal. Wie majestätisch sie sich bewegen«, flüsterte Maria und setzte sich aufrecht. Rupert nickte und legte den Arm um ihre Schultern, schaute erst nach oben und dann zu ihr hinunter. »Wie makellos ihr Gesicht ist«, dachte er, »und die Haut ist so zart.« Die kirschroten Lippen und die blauen Augen, die sich ihm nun zuwandten, verzauberten ihn. Sein Herz klopfte schneller. Es fiel ihm schwer, seine Erregung unter Kontrolle zu halten. Er beugte den Kopf hinunter und ließ sich durch den Duft ihrer Haare betören. Langsam fuhr er mit den Fingern über ihre Wangen und Lippen, drückte Maria sanft ins Gras und küsste sie auf den Mund. Seine Lippen glitten kosend über ihren Hals und die Innenseite der Ellenbogen, während ihre Hände noch unerfahren seine behaarte Brust, Hals und Rücken erforschten. Rupert öffnete ihr Mieder, entkleidete sie langsam und ging mit seinen Fingern den Höhen und Tiefen des Körpers nach. Schließlich erreichte er einen Bereich, der noch unberührt war, drückte behutsam ihre Schenkel auseinander. Maria atmete immer heftiger. Rupert entledigte sich seiner Kleidung. Die beiden Körper fanden zueinander und bewegten sich lustvoll im gleichen Rhythmus. Ihre Leidenschaft steigerte sich und ihre Bewegungen wurden wilder, bis sich ihre Spannungen entluden und sie erschöpft und glücklich nebeneinander liegen blieben.

Die Luft war warm und ihre Haut war voller Schweiß. Marias geflochtenes Haar hatte sich durch die heftigen Bewegungen aufgelöst und hing offen über ihren Schultern.

»Ich habe dich sehr lieb«, flüsterte er ihr ins Ohr.

»Ich dich auch«, sagte sie leise und küsste ihn zärtlich. Das hohe Gras war noch nicht gemäht und schützte sie vor ungebetenen Blicken.

»Lass uns noch ein wenig den Stimmen der Wiese lauschen«, bat Maria leise und schmiegte sich an ihn.

Kurz vor Sonnenuntergang begleitete er sie bis zum elterlichen Hof. Im Dorf war es still. Die Tanzveranstaltung war beendet.

»Sehen wir uns morgen am Abend?«, fragte Rupert. Maria nickte.

»Wir können hinunter nach Schwarzach, weiter über die Holzbrücke und am Wasser entlang gehen.«

»Das ist eine gute Idee.«

»An der Salzach ist es bestimmt angenehm kühl.«

In dieser Nacht schlief Rupert tief und fest. Als er am nächsten Morgen aufwachte, hatte er ein wunderbar wohliges Gefühl. So ist es also, wenn man liebt und geliebt wird, dachte er. Es ist ein Geschenk Gottes, dass ein Mann und eine Frau so gut zueinander passen.

Tagsüber führten ihn seine Gedanken immer wieder zu der intimen Begegnung zurück, die Maria und ihn zu einem Paar verbunden hatte. Ja, mit dieser Frau konnte er sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen. Mit ihr würde er glücklich werden. Das wusste er.

Am Abend fanden die beiden jungen Leute an der Salzach einen schattigen Platz. Eng aneinander geschmiegt lauschten sie dem Rauschen des Wassers und betrachteten die Farben des Regenbogens, die sich durch die Sonneneinstrahlungen im Fluss zeigten.

»Du, Rup, der Wiesenhuber Hansi hat mich heute lange angestarrt und den Blick nicht von mir gelassen«, sagte Maria auf dem Rückweg nach Goldegg.

»Vermutlich ist er eifersüchtig, weil er weiß, dass wir zusammen sind. Er wäre bestimmt gern an meiner Stelle.«

Sie lächelte, doch dann wurde ihr Gesicht wieder ernst. „Ich habe schon mehrmals gesehen, dass er sich hinter Büschen versteckt und andere beobachtet hat. Er ist mir unheimlich.« Rupert runzelte die Stirn und atmete einmal tief durch. »Ich werde ihm sagen, dass er Ärger bekommt, wenn er dich noch weiter so aufdringlich anschmachtet.«

Der Lutheraner

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