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XX.

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Das Gebiet der Tragödie reicht so weit, als dieser Zweck darin besteht, durch gesetzmäßigen Verlauf der Handlung die Übermacht des Schicksals über die menschliche Kraft zu zeigen und demgemäß die Furcht vor demselben zu erwecken und das Mitleid mit denen, die darunter leiden. Ihr Gebiet hört also an dem Punkte auf, wo das Schicksal nicht mehr als die unwiderstehliche Übergewalt erscheint, sondern wo eine gesetzmäßig verlaufende Handlung solche Schicksale zeigt, in denen umgekehrt die menschliche Kraft maß- und formgebend ist. Dort sind die Umstände stärker als der Mensch: solche Sujets, richtig behandelt, erhalten die Kraft die tragischen Empfindungen und durch sie die ästhetische Freude zu erwecken; hier ist der Mensch stärker als die Umstände: wenn nun derartigen Sujets dasselbe Vermögen, die ästhetische Freude zu erwecken mitgeteilt werden soll, aber nicht durch die tragischen Empfindungen, so entsteht die Frage: welche Empfindungen zu bewirken sind denn sie durch den ihnen innewohnenden Nachahmungszweck bestimmt?

Das Gemüt des Wahrnehmenden bleibt hier von Furcht und Mitleid frei, es ist daher ganz der Beurteilung des Verhältnisses zwischen dem Verhalten und den Willensentscheidungen der Handelnden und ihren Umständen und Geschicken zugewandt; da dieses Urteil nun aber kein logisches, sondern ein ästhetisches ist, also nur entweder nach der Seite des Wohlgefallens oder der des Missfallens entscheidet, da ferner der letzte Endzweck aller künstlerischen Veranstaltung doch immer ist, die Bedingungen für die Entstehung der Hedone, der ästhetischen Freude, hervorzubringen, so kann es nicht anders sein, als dass in diesem Falle die wohlgefällige Empfindung selbst, die durch den Handlungsverlauf erregt wird, unmittelbar in den Nachahmungszweck mit eingeschlossen sein muss, denn ohne dieselbe könnte eine derartige Handlungs-Komposition nimmermehr die Kraft (δύναμις) erhalten, freuderregend zu wirken.

So würde an dem Punkte, wo das Trauerspiel aufhört, das Lustspiel — den Begriff der Lust in dem soeben bezeichneten Sinne genommen — beginnen.

Hier aber erst trifft die Untersuchung auf den Kern der Frage: auf die Frage nämlich, wie kann es geschehen, dass vermittelst der Empfindung des Wohlgefallens an dramatisch nachgeahmten Handlungen der Zweck der Kunst, den Anlass zu der höchsten ästhetischen Lust zu schaffen, erreicht wird?

Die Grenze ist eine scharfe und unzweifelhafte; jenseits derselben verfolgt das Drama seinen höchsten Zweck, wo es dem Inhalte nach, wenn auch in ganz verschiedener Weise, den höchsten religiösen Vorstellungen parallel läuft: es stellt das gewaltige, göttliche Schicksal dar. Diesseits der Grenze stellt es zwar auch Schicksal dar, denn alle Handlung ist von Schicksal begleitet und ist selbst ein Teil des Schicksals, aber es zeigt statt der zerschmetternden göttlichen Gewalt, deren Anerkennung im Gesamtempfinden die Tragödie erzielt, jenen ganzen übrigen Teil des Schicksals, wo das Handeln unmittelbar oder trotz widriger Umstände und mancherlei Irrungen zum erwünschten Ende führt.

Welcherlei Handlungen derart sind nun geeignet, die der dramatischen Gattung eigene Hedone zu erregen?

Im Handeln zeigt sich die höchste Äußerung aller vereinigten Seelenvermögen gleichsam wie die Blüte und die Frucht der Pflanze ist die Gesinnung und das daraus hervorgehende Handeln das Resultat und die Repräsentation des gesamten geistigen Organismus. Es gibt nun eine Tugend des richtigen, guten Handelns, für die der Grieche eine besondere Bezeichnung hat, die Phronesis, die aber im Deutschen durch die Worte Besonnenheit, Verständigkeit, maßvoller Sinn, noch nicht erschöpfend bezeichnet wird, sondern die zugleich die Einsicht und die Herzensgüte einschließt, die Klarheit des Denkens und die Gesundheit des Empfindens. Aristoteles definiert diese Tugend der Phronesis als: das zum bleibenden Besitz gewordene verstandesbewusst wahrheitsgemäße Verhalten im Handeln in Bezug auf das menschlich Gute. Empfindung, Vernunft und Willensbestreben kommen dabei gleichmäßig in Betracht, ihnen allen muss das Attribut der Richtigkeit, der Übereinstimmung mit der Wahrheit innewohnen, und zwar muss das alles nicht nur in Bezug auf einzelne Handlungen stattfinden, sondern als eine unverlierbare Beschaffenheit (ἕξις), für die es kein Vergessen gibt, dem ganzen Wesen eingeprägt sein. Das wäre nicht der Fall, wenn die Phronesis nur auf verstandesbewusster Entscheidung im Handeln beruhte, also nur Einsicht, Verständigkeit wäre.

Obgleich demgemäß die Phronesis ohne die bewusste Mitwirkung des Verstandes und der Vernunft, und zwar beider in wahrheitsgemäß bestimmter Tätigkeit, nicht denkbar ist, so beruht sie ihrem Wesen nach doch darauf, dass die Empfindungs- und Gesinnungsweise ebenso, also auch das Begehrungs- und Willensvermögen, mit solcher Verstandes- und Vernunfttätigkeit sich in völligem Einklange befinden, so dass also diese in jene völlig übergegangen, in allen Äußerungen jener fortwährend gegenwärtig ist. So kann es geschehen, dass, obwohl in Wahrheit die Willensentscheidungen nicht ohne Überlegung und bewusste Wahl nach Vernunftgründen vor sich gehen, sie dennoch als unmittelbare Wirkungen der Empfindungskräfte, als unbewusst und notwendig erfolgende Manifestationen der ethischen Gesamthaltung erscheinen: die Folge davon aber ist, dass sie demgemäß auch unmittelbar, ohne das Dazwischentreten der logischen Reflexion, in ihrer vollen Eigenart durch das Empfindungsvermögen aufgenommen, durch das Empfindungsurteil richtig geschätzt werden können, dass sie rein ästhetisch wahrnehmbar und wirksam sind.

Dazu aber ist notwendig, dass die handelnden Personen nicht allein nach ihrer Empfindungs- und Gesinnungsweise und ihrem Begehrungsvermögen (πάθος, ἦθος, ὄρεξις) so beschaffen sind, wie die Tugend der Phronesis es voraussetzt, sondern dass diese Beschaffenheit in bestimmten Willensentscheidungen zu Tage tritt, und zwar innerhalb so gearteter Umstände, d. h. also in einer derartig eingerichteten äußeren Handlung, dass dieselbe gerade diese ihre so beschriebene Beschaffenheit in das hellste Licht setzt.

Das erste liegt im Bereich der epischen Nachahmung, die für die Darstellung ethischer Beschaffenheit weiten Raum bietet; das zweite, welches für die Nachahmung der Handlung die höchste Vollständigkeit verlangt, kann allein durch die dramatische Darstellung geleistet werden.

Es wäre also die Aufgabe, durch Nachahmung von Handlungen, in denen Phronesis zur Erscheinung kommt, das wohlgefällige Empfindungsurteil hervorzurufen.

Nun äußern sich aber alle Seelenvermögen, die bei der Beurteilung solcher Handlungen in Tätigkeit kommen, nicht allein positiv, sondern mit derselben Stärke, Bestimmtheit, mit derselben unfehlbaren Sicherheit auch negativ. Nicht allein, dass das Leben diese Tätigkeit fortwährend gleichmäßig nach beiden Seiten anregt, so sind auch die positiven und negativen Äußerungen, die sich notwendig gegenseitig komplementär bedingen, unaufhörlich darin begriffen, einander wechselseitig zu berichtigen, zu klären, in sich selber zu befestigen. So steht im Bereich des Verstandes gleichberechtigt der Bejahung des Richtigen die Verneinung des Falschen, Verkehrten gegenüber, im Bereich der Vernunft der Billigung des Guten und der damit verbundenen Freude die Verwerfung des Schlechten, Bösen, und der damit verbundene gerechte Zorn und Abscheu; das Begehrungsvermögen zeigt sich ebenso stark und entschieden in der Verfolgung (δίωξις) des rechten Zieles, wie in der Abwendung, Flucht (φυγή) von dem unrichtigen; die Empfindungen und Gesinnungen endlich nehmen alle diese Stimmen für und wider in sich auf und treten in der entsprechenden Form und Weise in die Erscheinung. Wie nun mit jeder dieser richtigen und gesunden Lebensäußerungen des Empfindungsvermögens, die aus dem richtigen Grunde in der richtigen Form und dem rechten Grade an der rechten Stelle erfolgen, notwendig Lustgefühl, Freude, Hedone verbunden ist — wie denn die Hedone immer und überall als Begleiterscheinung der Tätigkeit auftritt und zwar im höchsten Grade und der reinsten Weise bei dem Maximum der höchsten und reinsten —, also mit der klar erkannten Verneinung, der gegründeten Missbilligung, dem gerechten Zorn ebenso wie mit ihrem positiven Gegenteile: so wird notwendig dasselbe auch stattfinden bei der Tätigkeit der ästhetischen Wahrnehmung gegenüber der Nachahmung von Handlungen, die aus solchen Empfindungsäußerungen hervorgehen, und des dabei sich zur Klarheit herausbildenden ästhetischen Urteils. Auch hier wird die positive und die negative Betätigung unauflöslich verbunden und komplementär bedingt sein, in reziproker Wirkung werden beide sich aneinander berichtigen und sich wechselseitig läutern, bis sie zur Reinheit, also zu ihrem qualitativen Maximum hergestellt, zu einer Quelle reiner und hoher Freude werden (der οἰκεία ἡδονὴ τῆς τοιαύτης μιμήσεως, der dieser Gattung von Nachahmung eigenen Freude).

Es wäre also die Aufgabe neben der wohlgefälligen Empfindung an dem Teile der Handlung, in dem die Äußerungen der Phronesis unmittelbar zur Erscheinung kommen, andrerseits durch die Vorführung ihres Widerspiels die entgegengesetzten Empfindungen zu erwecken und durch die wechselseitige Einwirkung beider aufeinander sie beide zur Reinheit herzustellen. Die durch solche Katharsis erzeugte Ruhe, Harmonie und Erhebung der Seele wäre dann der Abschluss, auf den der Zweck des Ganzen gerichtet sein müsste, mit andern Worten: die bestimmte Art des ästhetischen Genusses, den eine derartige Nachahmung hervorzubringen hätte.

Aus dem innersten Grunde der Sache ist es nun klar, warum in solcher dramatischen Nachahmung die tragische Entwicklung absolut ausgeschlossen sein muss: das Vorwalten der Phronesis ist es ja gerade, wodurch das Wesen der Tragik unter allen Umständen aufgehoben wird. Ja, selbst ein dennoch unglücklicher Ausgang würde daran nichts ändern; eine solche Handlung müsste Trauer erwecken, wäre aber für die Tragödie unbrauchbar, wie z. B. der Opfertod Christi kein tragischer Stoff ist. Freilich würden solche Stoffe, wie die Wirklichkeit ohne Zweifel sie bietet, ebenso für die hier in Betracht gezogene dramatische Nachahmung zu verwerfen sein, weil eben durch die Trauer, mit der sie das Gemüt belasten, dasselbe seine Freiheit verliert.

Dagegen werden nur wenige weitere Schritte in der Untersuchung zeigen, wie enge diese dramatische Gattung mit dem, im gewöhnlichen Sinne so genannten, Lustspiel, also mit der Komödie, innerlich zusammenhängt.

Nächst der höchsten Aufgabe, das Gemüt richtig zu stellen gegenüber dem ungeheuren Rätsel der über allem Menschenwillen thronenden Macht, durch das bloße teilnehmende Anschauen die rechte Ehrfurcht vor seinem Walten erstehen zu lassen und das damit verbundene echte Mitgefühl mit dem unausweichlichen menschlichen Leiden, ist die andere und vielleicht ebenso hohe Aufgabe, das übrig bleibende Gebiet des Lebens zu zeigen, innerhalb dessen "reine Menschlichkeit" die Wechselfälle des Geschickes zu bezwingen vermag, und wo Glück und Unglück als die ebenmäßigen Ergebnisse der Handlungen sich erweisen.

Hier dürfen demgemäß die Furcht- und Mitleidaffekte nur sekundär und vorübergehend ins Spiel kommen; nichts ist in dieser dramatischen Gattung so sorgfältig zu vermeiden, als dass die Komposition der Handlung sie zu stark anwachsen oder etwa gar das dominierende Interesse ihnen zufallen lässt. Die für diesen Zweck zu verwendenden Mittel sind sehr mannigfach.

Das Hauptmittel wird immer sein, dass die Richtigkeit und Kraft in der Gesinnungs- und Handlungsweise, also die Phronesis, in der am meisten bestimmend hervortretenden Person derart überwiegend sind, dass die Sicherheit des entsprechenden Erfolges von vorneherein gegeben ist: ein Umstand, der in alle Verzweigungen der Handlung hinein sich fortwährend geltend machen, den Ton und die Haltung des Ganzen fortdauernd beeinflussen, gleichsam die Atmosphäre des Stückes bilden wird, die dem Zuschauer ein leichteres und freieres Atmen gestattet. In einfachen Handlungen, die ohne Verwickelungen durch ihre eigene Wucht zu ihrem Ziele gelangen, wird dies das einzige zur Verwendung kommende Mittel sein; am meisten bei großen historischen Stoffen, die für eine derartige dramatische Behandlung vorzüglich sich eignen. Als Beispiele dienen Schillers "Wilhelm Tell",1 der zweite Teil von Shakespeares "Heinrich IV." und sein "Heinrich V."; hier wie dort ist der Held nicht allein der Typus männlicher Kraft und Entschlossenheit, sondern zugleich der Repräsentant der Tüchtigkeit eines ganzen Volkes, dessen gute Sache uns mit fester Zuversicht erfüllt.

Anders liegt die Sache bei verwickelten Sujets. Ganz wie bei der Tragödie besteht auch hier die Verwickelung entweder in Peripetie oder in Erkennung, oder einer Vereinigung beider Formen, nur dass umgekehrt die Peripetie hier damit sich vollzieht, dass der Handelnde durch die Willensentscheidungen, durch die er meint, sein Unglück zu besiegeln, sein Glück bewirkt, und dass ebenso die Erkennung die Befürchtung eines nicht vorhandenen Missgeschickes in die Glücksgewissheit verwandelt. Es liegt auf der Hand, dass in diesen Fällen die Erregung von Befürchtungen und mitleidigen Rührungen nicht vermieden werden kann, sondern vielmehr durch die Kompositionsweise der Handlung geboten ist: aber hier zeigt sich mit einer für die Erkenntnis dieser ganzen Gattung sehr förderlichen Evidenz, auf wie ganz andere Weise die sichere Klarheit des Genies diese Fälle behandelt als die bloße Routine, welche die Gattungen vermengt, weil sie keiner gerecht zu werden vermag.

Das Genie ist unerschöpflich in Hilfsmitteln, um jenen Befürchtungen und Rührungen das Beängstigende und Beklemmende zu nehmen und sie für den Zuschauer womöglich ganz aufzuheben; dagegen pflegen die mittelmäßigen Dichter, in der Meinung, die Vorzüge des Tragischen mit der behaglich-freudigen Wirkung des befriedigenden Ausganges zu vereinen, jene bedrohlichen Momente so viel als tunlich zu verstärken und namentlich die Rührungen zu steigern, als ob das schwelgerische Verweilen darin für sich selbst den Kunstzweck bildete, während nichts so sehr geeignet ist, ihn völlig zu vereiteln. Gilt es doch, das Empfindungsurteil so frei als möglich zu halten für die innige Freude am richtigen Tun und für das rechte Gefühl des Verkehrten, mag dasselbe nun in edlem Unwillen sich ausdrücken, im ruhig überlegenen Lächeln besserer Einsicht oder in unwiderstehlich ausbrechendem Lachen.

Auch hier ist Shakespeare der unvergleichliche, nie genug zu bewundernde Meister. Natürlich wird in seinen, dieser Gattung zugehörigen, Stücken jenes Wesentlichste nirgends fehlen, dass diejenige Person, der die entscheidende Einwirkung auf den Verlauf des Ganzen zufällt, mit der Gesundheit und dem natürlichen Geburtsadel der Seele ausgestattet sei, die den Grundbestand der Phronesis ausmachen; ebenso wenig fehlt es in der Mehrzahl seiner Komödien. Es genügt, die Namen Imogen, Porzia, Isabella, Helena, Prospero zu nennen; und wer fühlte sich nicht gedrungen, ihnen sogleich Lessings Nathan und Recha zu gesellen? Für die Komödie sprechen ebenso die Namen Viola und Sebastian, Beatrice und Hero, Rosalinde und Orlando, und neben ihnen nicht minder Lessings Minna, Tellheim und Franziska.

Dieses Haupterfordernis also hat die verwickelte Handlung mit der einfachen gemein. Für die Form der Erkennung aber kommt am meisten das fast durchgehend angewandte Mittel in Betracht, dass die Unkenntnis wichtiger Umstände und Verhältnisse nicht als eine vom Schicksal verhängte vorausgesetzt, sondern dass sie durch absichtliche Veranstaltung in der freundlichen Absicht hervorgebracht wird, um durch ihre Verwandlung in Kenntnis die bestehenden Hindernisse desto glücklicher zu überwinden. Mag nun im Gefolge derartiger Verwickelung selbst für die Mehrzahl der Beteiligten Befürchtung und Rührung, sogar der Schein ernstester Tragik entstehen, so bleibt Alles doch eben für den Zuschauer nur Schein, der glückliche Erfolg ist gesichert und die vollste Gemütsfreiheit für ihn gewahrt. Zu solcher weislichen Täuschung gesellt sich die dieser dramatischen Gattung eigene Art von Peripetie von selbst hinzu, wenn, durch jene veranlasst, die davon Betroffenen in freier Entschließung das für die Wahrung ihrer Integrität scheinbar unvermeidliche Unglück erwählen, und dasselbe sich durch die Erkennung ihnen in das freiwillig verloren gegebene Glück verwandelt. Ein Blick auf die als Beispiele angezogenen Stücke zeigt, wie mannigfacher Variationen diese eine Form fähig ist. So hat in "Maß für Maß" der Herzog die ganze Verwickelung fortwährend in seiner Hand, die ganze Tragik derselben existiert nur scheinbar für die Beteiligten, sie kann das Gemüt des Zuschauers keinen Augenblick ernstlich belasten, wohl aber hat sie zur Folge, dass der auf das Präziseste bestimmten Handlungssituation, die sie erschafft, gegenüber sich fast alle denkbar möglichen Arten des Verhaltens hinsichtlich der geforderten Wahrheit und Richtigkeit im Fühlen, Denken, Begehren und Handeln in typischer Weise auf das Klarste dem Empfindungsurteil darstellen. Die Erkennung bringt der Heldin das verdiente Glück, den Bedrohten Rettung; die Peripetie zeigt, wie gerade die härteste Entsagung der Heldin den sichersten Weg zu diesem Glücke ebnete, während sie auch für Angelo keineswegs eine Wandlung von Glück in Unglück bedeutet, sondern, indem sie ihm die verdiente tiefe Demütigung zuzieht, durch Abwendung der verderblichen Folgen seiner Verirrung ihm die Möglichkeit der Umkehr gewährt; zugleich wird damit dem Zuschauer das volle Gefühl der befriedigten Nemesis erregt, mit welchem Ausdruck die Griechen die Empfindung des gerechten Unwillens bezeichnen. Ein unvergleichliches Muster dieser ganzen Gattung.

Schon an dem Beispiele von "Maß für Maß" tritt eine fernere dieser Gattung eigentümliche Eigenschaft hervor, deren genaue Erörterung wichtig ist, weil aus dem starken Vorwalten derselben, in ähnlichen Fällen wie der vorliegende, höchst verwirrende Schlüsse für das Wesen der ganzen dramatischen Dichtung gezogen sind.

Bei dieser speziellen Gattung hat die Komposition des Stückes den Zweck, durch Handlungen, in denen die Phronesis und die Abweichungen von derselben bis in ihr Gegenteil hinein zur Erscheinung kommen, vermöge ästhetischen Urteils die Empfindungen des Wohlgefallens und der Nemesis in wechselseitiger Läuterung zur höchsten Klarheit und Gewissheit herzustellen und so der Seele in freudiger Erhebung den Genuss vollster Kraftentfaltung nach dieser Seite hin zu verschaffen. Dazu können nun zwar die verschiedenartigsten bedeutenden Handlungen den Anlass geben: es kann sich dabei um Vaterlandsgefühl, um Freiheitsliebe, um Gatten- und Freundestreue, um jedwedes wichtiges Lebensverhältnis handeln; überall bedeutet ja doch die Phronesis die den bleibenden Besitz bildende, das ganze Wesen durchdringende Wahrheit und Richtigkeit des Fühlens, Denkens und Begehrens. Da aber eine jede Handlung und jede Verflechtung von Handlungen diese Fähigkeiten nicht zugleich in ihrer Universalität herausfordert, sondern vorzugsweise nach einer einzelnen Seite hin, wenn auch niemals einseitig oder vereinzelt, so kann es hier geschehen, dass durch den Handlungsverlauf nicht allein das Verhalten bestimmten Lebensverhältnissen gegenüber eine besonders scharfe Beleuchtung erfährt — was diese Gattung mit der Tragödie und überhaupt mit aller dramatischen Dichtung gemein hat —, sondern dass, da bei der Phronesis die Richtigkeit der Einsicht eine so große Rolle spielt, eine bestimmte theoretische Frage in den Mittelpunkt der Handlung tritt, "praktisch" darin zur Erledigung kommt, eine Möglichkeit, die zwar in der Komödie gleichfalls vorhanden ist, die aber der Tragödie notwendig ganz fern liegt. Nur bei der verhältnismäßig geringen Zahl von so gearteten Dramen hat es einen Sinn von der Idee des Stückes zu sprechen, die zwar keineswegs den "Gegenstand" der Nachahmung bildet, wohl aber den Mittelpunkt der Handlung, die demselben dienstbar gemacht ist. Nun aber hat man, was bei diesen einzelnen Dramen so augenfällig zu Tage tritt, auf die ganze dramatische Gattung ausgedehnt, und es ist zu einem sehr weit verbreiteten Irrtum geworden, eine jede dramatische Dichtung auf die ihr zu Grunde liegende "Idee" zu untersuchen. Es ist höchst verkehrt, eine spezifische "Idee" des "Ödipus" oder der "Antigone", im "Othello" oder in "Romeo und Julie", selbst des "Ajas" oder "Coriolan" zu konstruieren; mit vollem Rechte dagegen wird man sie in des Aischylos "Eumeniden" erkennen, wie später des Näheren zu erörtern. Entweder nämlich findet man in allen jenen Tragödien ein und dieselbe Idee, dass unter verhängnisvollen Umständen ein kleiner Fehl den edelsten Menschen ins Verderben stürzt, welche eben die Idee der Tragik selbst ist, oder man gelangt zu Sätzen wie diese, dass leidenschaftliche Liebe, Eifersucht, leicht verletztes Ehrgefühl, zu weit getriebene Pietät oder Wissbegier zum äußersten Unglück führen, die erstlich nicht "Idee" zu nennen sind und zweitens der Wahrheit entbehren, denn alles Derartige wird eben verderblich nur durch die Macht der tragischen Verhältnisse.

In wenigen Stücken tritt die "Idee" als Trägerin der Handlung so deutlich hervor wie in Shakespeares "Maß für Maß": dass nämlich der durch den Titel ausgedrückte starre Rechtsgrundsatz der rücksichtslosen Vergeltung mit wahrer und reiner Menschlichkeit unvereinbar ist, gleichmäßig dem richtigen Denken und dem reinen Fühlen widerstrebend, und dass diejenigen, die seine Durchführung am strengsten verlangen, ihm selbst am ehesten verfallen. Diese Idee trägt die Handlung, aber sie ist keineswegs der Gegenstand der Darstellung, der hier wie überall in der Gattung, der das Drama zugehört, vielmehr der folgende ist: an der so aufgebauten Handlung reine Menschlichkeit in möglichst weitem Umfange und gleicherweise die Abweichungen davon in bestimmtester Klarheit zur Äußerung und damit zur Empfindung zu bringen.

Es liegt auf der Hand, dass durch solche in der dramatischen Komposition von Anfang bis zu Ende sich geltend machende Anlage ein weiteres Mittel gegeben ist, die tief aufwühlende tragische Erregung nicht aufkommen zu lassen, an deren Stelle von Anbeginn die aufmerksame Betrachtung und das ruhig abwägende Empfindungsurteil sich behauptet.

Ein ganz analoger Fall liegt im "Kaufmann von Venedig" vor; auch hier bildet den Mittelpunkt der scheinbar aus den heterogensten Elementen bunt zusammengewebten Handlung eine Idee, die durch den lebensvollen Reichtum dieser kunstvollen Komposition in wahrhaft universeller Weise nach allen Richtungen hin entfaltet ist. Es ist die Idee der wahrhaft richtigen Schätzung und Haltung, der echten Phronesis also, gegenüber der Frage des Erwerbes und Besitzes, die, in ihren tiefgreifenden Beziehungen zu den wertvollsten Lebensverhältnissen vorgeführt, Gelegenheit gibt sowohl die edelste Erfüllung ihrer Forderungen zu zeigen als die Abweichungen davon bis zu ihrer empörendsten Verneinung. Im Vordergrunde steht, wie der Titel es anzeigt, der königliche Kaufmann, dessen reicher Gewinn aus großartiger Vermittlung des Warenaustausches fließt zum allgemeinen Nutzen ohne irgendjemandes Schädigung; seine edle Natur, die ihn zu unbegrenzter Freigebigkeit treibt, schützt ihn doch nicht völlig vor den Gefahren überreichen Besitzes: allzu großer Sorglosigkeit und jener ohne Anlass die Seele belastenden Traurigkeit, die als Begleiterin des Überflusses allzu leicht sich einstellt und die das Stück so bedeutsam an ihm hervorhebt. Ja, dieselbe ist ein höchst wesentlicher Faktor für den Aufbau des Ganzen: diese Apathie und Gleichgültigkeit gegen die eigenen Interessen ist die einzige Stimmung, welche das Eingehen auf den wunderlichen und insidiösen Vertragsvorschlag Shylocks als möglich erscheinen lässt. Es ist überflüssig das in diesem Gegner Antonios bis zur äußersten Konsequenz entworfene Gegenbild nachzuzeichnen; an ihm führt die Handlung eine der vollendetsten Peripetien durch, welche die Bühne kennt. Mit welcher Kunst aber ist die zweite Haupthandlung in diese erste hineingewoben! Die vollendetste Symbolik, das heißt die den reizvollen Schein des Lebens mit der tiefsten Bedeutsamkeit verbindet, ist hier vom Dichter zu Hilfe genommen: ein weiteres dieser dramatischen Gattung in hohem Grade zu statten kommendes Darstellungsmittel. Die rechte Empfindungs-, Gesinnungs- und Handlungsweise, wie sie der Frage des Besitzes gegenüber sich äußert, wird hier allen Proben unterworfen, durch die sie sich in dem Verhältnis wahrer Freundschaft, echter Liebe und darauf gegründeter Ehe bewähren kann. Die Wahl des Kästchens, wodurch Porzia allein gewonnen werden kann, hat, deutlich ausgesprochen, diesen symbolischen Sinn; ebenso das Spiel mit den Ringen, das zudem durch die damit verbundene Täuschung und Erkennung in einer für die dramatische Komposition höchst glücklichen Weise verwertet wird. Denn in dieser Verwickelung verflechten sich nun beide Haupthandlungen, die Peripetie der einen mit der Erkennung der andern, zu einem einzigen Knoten, dessen Lösung das Ganze zum Abschluss bringt, indem sie zugleich für die das Ganze erfüllende Idee die reinste Klärung einschließt; und zwar zu einem Teile durch die Indignation über die Verfehlungen gegen dieselbe und zu einem weit größeren durch die reiche Freude an der Harmonie der vollen Einstimmung mit ihr. Es ist ein Irrtum, wenn man gemeint hat, dass in der Rechtsfindung Porzias ihr Charakter, sowie das ganze Stück, gipfeln: der materielle Inhalt des Spruches rührt von dem gelehrten Bellario her; aber es ist ein sehr schöner Gedanke des Dichters, diese Rettung gegen das formale Recht, welches, wenn auch im Widerspruche gegen das Gefühl, gerade in Bezug auf Besitzverhältnisse die strengste Aufrechthaltung fordert, durch den klugen, klaren Weibessinn zu vermitteln, der hier der Stimme der Natur und der Gerechtigkeit zugleich Geltung verschafft.

Es ist der Triumph der Shakespeareschen Kunst, in der ihm Keiner gleichkommt, dass, wenn er durch die scharfe Ausprägung der Handlung an der in den Mittelpunkt gestellten Idee die schöne Gesundheit und Richtigkeit seiner Charaktere sich glänzend entfalten lässt, er durch den unvergleichlichen Reichtum seiner Handlungskompositionen zugleich die weitesten Konsequenzen dieser Idee zeigt und die Totalität der Charaktere in ihrer ganzen Fülle vorzuführen weiß. Wie in einem mit künstlerischer Weisheit angelegten Gemälde heben die mannigfaltigen Farbennuancen sich gegenseitig, und neben den tiefdunkeln Schatten strahlt die Leuchtkraft der hellen Gestalten in umso entzückenderer Frische. So ist im "Kaufmann" die nebengeordnete, Lorenzo und Jessica betreffende Handlung nicht allein als verstärkendes und erklärendes Motiv für die extreme Aktion Shylocks wirksam, sondern sie dient zugleich sehr wesentlich der Hauptidee, indem sie die totale Zerstörung aller Pietätsverhältnisse durch die Alleinherrschaft der Erwerbs- und Besitzesleidenschaft offen legt; ferner, wie in einer Art von Peripetie gerade das Übermaß dieser Leidenschaft ihren Gegenstand selbst zerstört, und endlich, wie es das gleichsam prädestinierte Schicksal so zusammengehäuften Besitzes ist, durch die achtloseste Verschwendung zerstreut zu werden. In Jessicas Handlungsweise steckt ein tragischer Keim, was mit Unrecht geleugnet worden ist;2 gerade deshalb, weil er durch keine Behandlungsweise hinwegzubringen ist, hat ihn der Dichter lieber ganz ignoriert, was in einer Nebenhandlung angeht, sonst unmöglich wäre. Dieses Ignorieren übersehen zu machen, wendet der Dichter auf diese sonst zurücktretenden Figuren reichen Schmuck der Anmut, der Laune und des Geistes. So dienen sie obendrein mit Graziano und Nerissa als willkommene Folie für Bassanio und Porzia: dieses das Ganze am herrlichsten schmückende Juwel, das unter dem Lichte der die Dichtung erfüllenden Idee seinen Glanz gleichmäßig nach allen Seiten hin ausstrahlt.

Wie enge der Zusammenhang dieser dramatischen Gattung mit dem eigentlichen Lustspiel ist, zeigt eine Vergleichung des "Kaufmann von Venedig" mit Lessings "Minna von Barnhelm", deren Ähnlichkeit größer ist als es auf den ersten Blick scheint. Freilich kommt nur die eine Hälfte der Shakespeareschen Handlung in Betracht: wie hier ist auch bei Lessing die Stellung zu der Frage des Besitzes der ideelle Kern der Handlung; Liebe und Eheschließung bei obwaltender Ungleichheit des Besitzes, daraus entstehende Verwickelung sind hier wie dort die Motive der Komposition; statt der Freundschaft bildet die Ehre den Prüfstein; ein schalkhaft-anmutiges Verwechselungsspiel, wozu in beiden Stücken das Symbol der Treue, der Ring, verwendet wird, das dort nur die Trefflichkeit der auf beiden Seiten herrschenden Gesinnungsweise zu Tage legt, dient hier dem gleichen Zweck in hervorragender Weise und hilft zugleich der Handlung zu dem heiteren Abschluss. Tragische Elemente fehlen in der Anlage dieser Handlung gänzlich; aber ebenso entbehrt sie der eigentlich komischen, obwohl Lessing selbst das Stück ein "Lustspiel" nennt und es auch immer dafür angesehen worden ist. Der neugierige Wirt und der Glücksritter Riccaut sind nur episodisch, und wenn Just, Werner und Franziska echte Lustspielfiguren sind, so sind doch auch sie nur nebengeordnet und vor allem, es sind positive Charaktere, sie wirken weniger komisch als erfreulich; der Hauptcharakter und die Haupthandlung haben nichts Lächerliches an sich, sie sind durchaus ernst. Durch die Darstellung des Fehlerhaften als solchem wohlgefällig zu wirken — die eigentliche Aufgabe der komischen Kunst — ist nicht der Nachahmungszweck dieser Dichtung; ihre im höchsten Grade erfrischende und klärende, wahrhaft erfreuende Wirkung beruht auf einer Einrichtung und Durchführung der Handlung, die dem Stücke den Platz mitteninne zwischen jenen ernsten Dramen und der Komödie anweisen. Die Schicksalsverwickelung spannt die Erwartung sehr ernstlich, ohne sie jemals tragisch zu beunruhigen, und ihr Verlauf dient in vorzüglicher Weise dazu, an der delikaten Frage, die im Mittelpunkte steht, die reine Anschauung gesundester und richtigster Gefühls- und Handlungsweise und mannigfaltiger, wenn auch fast durchweg aus edler Intention hervorgehender Abweichungen davon der Empfindung zu vermitteln und ihr so die Möglichkeit höchster hedonischer Betätigung zu gewähren.

Sicherlich steht diese dramatische Gattung an ergreifender Gewalt der Tragödie nach; doch vermag sie diesen Verlust hereinzuholen und ebenbürtig ihr zur Seite zu treten, vermöge der ihr eigentümlichen Fähigkeit die Resultate reichster Erfahrung und tiefster Einsicht durch die nachgeahmte Handlung im Gefühl lebendig zu machen: ohne Vermittlung der Reflexion die Empfindung mit dem Inhalt echter Weisheit zu nähren und die wahre Freude an ihrer reinen Erscheinung zu erwecken.

Es gibt eine merkwürdige Dichtung Shakespeares, aus seiner spätesten Zeit, deren unaufgeschlossene Rätsel sämtlich sich lösen, wenn man als den Gegenstand der durchaus symbolischen Komposition die Darstellung des Wesens und Wirkens jener dramatischen Gattung selbst erkennt.

Dass "Der Sturm" eine Menge symbolischer Elemente enthält, hat die Kritik von jeher anerkannt: Prosperos ganze Erscheinung, zahlreiche gewichtige Worte aus seinem Munde, die Gestalt Ariels, vornehmlich die seltsame Erfindung Calibans tragen diesen Stempel mit größter, jeden Zweifel ausschließender Deutlichkeit. Doch, wie fast überall gegenüber der symbolischen Dichtung, ist die Erklärung bei dem bloßen Bilde, das der Dichter für seine Ideen gewählt hat, stehen geblieben, als ob damit schon der Inhalt gefunden sei; so hat hier die am meisten frappierende Figur des Caliban die Deutung dabei festgehalten, dass es sich um das Verhältnis der Übergewalt sowohl als der Schwächen der Kultur zu den kannibalischen Urzuständen der Wilden handle, und dass die Einheit der mannigfaltigen Vorgänge des Stückes darin bestände, in diesem Verhältnis die Gegensätze von berechtigter und unberechtigter Usurpation zu zeigen, oder noch allgemeiner, von Besonnenheit und Weisheit auf der einen, von Bosheit und bestialischer Rohheit auf der andern Seite.

Es ist dabei gänzlich übersehen, dass eine derartige Erklärung ihre Aufgabe, die Einheit der Handlung zu zeigen, keineswegs erfüllt, dass sie sich darauf beschränkt, einzelne Charakterzüge der handelnden Personen in Verbindung zu bringen, dagegen den Zusammenhang der drei Handlungen selbst, aus denen das Stück sich zusammensetzt, also das eigentliche thema probandum, außer Acht lässt.

Das einigende Moment der Handlung des Stückes ist, wie der Titel es ankündigt, der Sturm, den Prospero durch seine Kunst erregt; alles, was ferner geschieht, geht in Konsequenz dieses Sturmes vor sich: die durch denselben erschütterten Gemüter der vermöge jener Veranstaltung in seine Gewalt Gegebenen setzt Prospero nach seinem Willen in weitere Bewegung mit Hilfe desselben Ariel, der auch dort seine Befehle vollzog. In diesen Wirkungen besteht die Handlung des Stückes. Nicht dasjenige, was durch diese Handlungen erzielt wird, ist ihr Gegenstand, sondern sie selbst sind es. Zunächst also bei allen durch Prosperos Zaubersturm in das Machtgebiet seiner Insel Eingeschlossenen eine tiefgehende Erschütterung, die, je nach der Verschiedenheit ihrer Gemütsart, bei den Einen schmerzliche Niedergeschlagenheit, tiefe Einkehr in sich selbst erzeugt, die Vorboten eingreifender Sinneserneuerung, bei den Andern Verstockung und Bereitschaft zur äußersten Bosheit; dagegen zeigt Gonzalo die heitere Ruhe und hilfsbereite Fassung einer in sich gefestigten, treuen Seele; und in den Trägern der Nebenhandlung äußert sich eine Mischung von burlesker Angst und possenhafter Rohheit. Die weitere Entwicklung enthält nun weiter nichts als eine gesteigerte Äußerung dieser Dispositionen durch Ariels luftige Vorspiegelungen, und das endliche Ergebnis resümiert sich für die Haupthandlung in folgendem: Zwischen Ferdinand und Miranda knüpft sich ein durch in äußerster Kürze angedeutete Prüfungen gefestigter Liebesbund; in Alonso kommt aufrichtige Reue zum entschiedenen Durchbruch, während Antonios und Sebastians Bosheit lediglich entlarvt wird, ohne dass sie äußerlich bestraft oder innerlich umgewandelt oder auch nur erweicht erschienen. Das ist alles! Dazu kommt freilich das Andere, dass Prospero sich mit diesem Erfolge völlig zufriedengestellt erklärt, dass er seiner Zaubergewalt, da sie ihren Zweck erfüllt hat, entsagt, Ariel, seinen Werkmeister, entlässt und der Restituierung in seine vollen Rechte sicher ist. Wenn so der äußere Verlauf der Haupthandlung ein höchst dürftiger ist — denn im Grunde geschieht nichts außer einer Verlobung; das Attentat Antonios bleibt unvollendet und hat zudem für das Schlussergebnis auch nicht die geringste Bedeutung, alles andere sind rein innerliche Vorgänge — so ist der Inhalt der parallel laufenden Nebenhandlung noch viel geringfügiger: aus der Verbrüderung Calibans mit seinen Spießgesellen entsteht, da der in der Trunkenheit geplante Mordanschlag gar nicht einmal ernstlich versucht wird, in der Tat nichts als der Diebstahl einer Anzahl von Kleidungsstücken, die am Schlusse wieder ausgeliefert werden. Eine innere Verbindung dieser ganzen Partie des Stückes mit der Haupthandlung fehlt ganz und gar; nur insofern ist sie allerdings der andern völlig ähnlich, als die Personen derselben ganz ebenso wie dort in ihren Seelenzuständen von den Wirkungen, die Prosperos Zaubergewalt durch Ariels Vermittlung über sie ausübt, abhängig gezeigt werden.

Shakespeares Kunst war reich genug, um diese Szenen so seltsam und lustig auszustatten, dass die Dürftigkeit der Handlung dadurch verdeckt wurde: aber wo ist in allen seinen Stücken das zweite Beispiel einer Handlung, die für sich selbst so unbedeutend und zwecklos wäre als dieser Kleiderdiebstahl Stephanos und Trinculos, auf den nichtsdestoweniger am Schlusse von Prospero mit besonderem Nachdrucke hingewiesen wird? Es zeigt sich hier wie überall in Anlage und Ausführung des Ganzen, dass bei aller Gegenständlichkeit der Darstellung der eigentliche Zauber, den es ausübt, tiefer liegt, von einem im Inneren verborgenen Ideengehalt ausgehend, der die Form des ganzen Organismus inhaltlich erschaffen hat und jede Bewegung desselben bestimmt.

Aus dem Reiche, worin er herrschen sollte, verstoßen, sammelt Prospero in der Einsamkeit seines Eilandes die Schätze tiefster Einsicht in das Wesen der Dinge und einer Weisheit, die ihm statt der verlorenen Herrschergewalt im Leben die Macht über das Reich der Geister verleiht. Dort hat er sich eine Tochter von wunderbarer Schönheit auferzogen, die unter seiner Leitung in Sinn und Gemüt als sicheren Besitz das lautere Gold seiner Lebensweisheit aufnimmt. Die Handlung des Stückes beginnt nun mit dem Sturm, den seine Kunst erregt, um "seine Feinde, die durch seltene Schickung das güt'ge Glück seinem Strande genähert hat", in seine Gewalt zu bringen. Diesen Sturm schildert die Eingangsszene in voller Anschaulichkeit; Miranda ist in tiefster Seele erschüttert von dem furchtbaren Anblick, "stets noch tobt's ihr im Gemüt" von seinen Schrecknissen: sogleich aber beruhigt sie Prospero: "Fasse dich! Nichts mehr von Schreck! Sag' deinem weichen Herzen: Kein Leid geschah." Und auf ihren erneuten Jammerruf noch einmal: "Kein Leid". Er legt den Zaubermantel ab, um in ruhiger Exposition ihr die Lage und seine Absicht zu erklären. Auch die folgende Szene ist noch ausschließlich der Vorbereitung der Handlung gewidmet, die erst mit dem Auftreten Ferdinands ihren Anfang nimmt: sie orientiert in umfassender Weise über das Wesen Ariels und Calibans, die in höchst absichtlichem Gegensatz einander gegenübergestellt werden, und über ihr Verhältnis zu Prospero, ihrem Meister und Herrn. Diese sehr breit und sorgfältig ausgeführte Szene enthält den Schlüssel des Ganzen.

Es ist hier der Ort und Raum nicht für überzeugende Herleitung und eingehende Begründung der Einzelheiten dieser wunderbaren Komposition; es können nur die Resultate gegeben werden.

Ariel und Caliban, beide sind Geschöpfe der Phantasie; dass sie zueinander im Verhältnis des Gegensatzes stehen, der eine in Beziehung auf den andern gedacht ist, zeigt der Dichter unverkennbar an. Eigens um beide einander gegenüberzustellen, lässt er Ariel, den Prospero fortgeschickt, noch einmal zurückkommen in Gestalt einer Wassernymphe; "ach, schönes Luftbild! Schmucker Ariel, hör' insgeheim!" redet Prospero ihn an, um sogleich sich an Caliban zu wenden: "Du gift'ger Sklav', gezeugt vom Teufel selbst mit deiner bösen Mutter! komm heraus!" Aber nicht nur hat die Phantasie diese Gestalten geschaffen, sie selbst hat in ihnen Gestalt angenommen! Die immerfort sich wandelnden Formen, in denen Ariel erscheint, gehören sämtlich den herrlichen Bildungen der griechischen Mythologie an, es sind die unvergänglichen Verkörperungen des als psychisches Leben aufgefassten Naturwaltens, ewig schön und richtig, verständlich und zauberhaft ergreifend für alle Zeiten, weil der mit regstem Sinn erfassten reinen Betrachtung entsprungen. So ist denn auch sein "zierlich Spüken" durch die ganze Dichtung hin nichts als die bald reizvoll, bald drohend sich kund tuende Kondensation und Abbreviatur wirklicher Naturvorgänge und damit verbundener psychischer Bewegungen. Der Einsicht seines weisen Meisters dienstbar leitet er, unermüdlich geschäftig, die ganze Handlung des Stückes nach dessen Weisung.

Dagegen ist Caliban von widrig zwitterhaft monströser Gestalt, nur fähig zu Schändlichkeit und Bosheit; seine verworfene Sklavennatur kann nur durch despotische Zucht niedergehalten und so allein seine brutale Kraft zu grobem Dienste verwertet werden. Der Lebensodem Ariels ist Freiheit und Grazie, die Sphäre Calibans knechtische Gebundenheit und über die Grenzen der Natur hinausgehende Hässlichkeit.

Nimmt man nun die Geschichte beider hinzu, so enthüllt sich die wunderbar tiefsinnige und reizvolle Symbolik des Dichters.

Wir erfahren, dass Caliban aus einer Verbindung des Teufels mit der Hexe Sycorax hervorgegangen ist, einer Hexe, die "so stark war, dass sie den Mond in Zwang hielt, Flut und Ebbe machte, und außer ihrem Kreis Gebote gab"; auf der Insel, die Prospero zu seinem Reich gemacht, hat sie den missgeschaffenen Sohn zurückgelassen. Ihr Diener war damals auch Ariel, doch "allzu zart geschaffen, entzog er sich ihrem groben Dienst, und ward durch ihre unzähmbare Wut mit ihrer stärkeren Diener Hilfe in einer Fichte Spalt verschlossen". "Ein Dutzend Jahre hielt diese Kluft ihn peinlich eingeklemmt. Sie starb in dieser Zeit;" von dort hat ihn Prosperos Kunst befreit; unter dessen Gebot entfaltet er nun allen Reichtum seiner unerschöpflichen Kräfte in freudigster Tätigkeit. Nur ein Verlangen ist mächtiger in ihm, als diese Freude, Prospero zu dienen: die Sehnsucht nach unbedingter Freiheit in seinem eigenen Reich, den Elementen.

Das scharf ausgeprägte Bild Ariels und sein Verhältnis zu Prospero erhellt mit seinem leuchtenden Farbenglanz diese ganze Erdichtung bis in alle ihre Einzelheiten.

Die reine Güte und tiefe Weisheit, aus dem Reiche, wo sie herrschen sollte, dem tätigen Leben, verbannt, verstoßen, gerade weil sie dem Höchsten nachtrachtet, rettet sich auf die unbewohnte Insel, wo die Luft- und Elementargeister ihr bisher uneingeschränktes Spiel treiben. Kein Zweifel, dass dieses Gebiet den weiten Bereich des mächtigen Phantasiewaltens bezeichnet, kein Zweifel aber auch, dass Shakespeares Genius sich hier keineswegs zu einem Spiel mit allgemeinen allegorischen Begriffen herablässt, sondern dass er einen ganz bestimmten, ihn selbst auf das Nächste und Bedeutsamste angehenden Vorgang zu farbenreichem, dramatischem Leben erhöht hat.

Es ist derselbe Gedanke, dem Schiller in seinen "Künstlern" die folgenden Worte geliehen hat:


Von ihrer Zeit verstoßen, flüchte

Die ernste Wahrheit zum Gedichte

Und finde Schutz in der Kämonen Chor.

In ihres Glanzes höchster Fülle,

Furchtbarer in des Reizes Hülle,

Erstehe sie in dem Gesange

Und räche sich mit Siegesklange

An des Verfolgers feigem Ohr.


Aber was Schiller in seiner pathetischen Weise allgemein abstrakt ausgedrückt hat, ist von Shakespeare in lebendigem Vorgange individualisiert. Er führt uns gleichsam in die Werkstätte seiner ausgereiften dramatischen Kunst und zeigt uns das Wesen der dort tätigen Kräfte bei ihrer Arbeit und in ihren Wirkungen.

Es greift also jener Sinn der echten Phronesis, um seine Geltung im Leben zurückzugewinnen, sich kundzutun, zu dem Mittel, durch Kunst die Geister nach seinem Willen zu zwingen, die dunkeln und wunderbaren Kräfte der Phantasie sich untertan zu machen. Noch ist dies Gebiet wüst, unangebaut; was findet er dort vor? Jene Kräfte, welche die Kunst zu heilsamster Übung erzieht, sind auch zuvor in starker Tätigkeit; aber sich selbst überlassen, sind sie verwildert und wirken höchst unheilvoll. Die Hexe Sycorax, die Mond und Flut bezwingt, ist das Bild des wüsten, dunkeln Wahnes, der in der langen Nacht des Mittelalters dem "gift'gen Moor" der Unwissenheit und Trägheit, der rohen Sinnlichkeit und feigen Angst entstieg; Bosheit und Sünde gesellen sich ihr zu: mit jener Hexe erzeugt der Teufel das groteske Gebilde des sklavisch niedrigen Aberglaubens. Hässlich, abschreckend von Gestalt, tierisch und gefährlich in seinen Äußerungen, von Angst erfüllt und Angst denen erregend, denen er überlegen ist, den seiner Macht Entzogenen ein Gegenstand der Verachtung und des Hohnes, ist Caliban das unübertrefflich erfundene Symbol dieser kranken Ausgeburt verwilderter Phantasie: ein "gift'ger Sklav" dem weisen Prospero, ein "Mondkalb" und "Monstrum" dem trunkenen Stephano, dem schwachköpfigen Trinculo ein Schreckensgebild und eine "marktbare Kuriosität" den weltmännischen Kavalieren des Hofes.

Dieser rohe Aberglaube hat solange die Gemüter beherrscht und jede freiere Regung daraus verbannt; in der überlegenen Weisheit und klaren Einsicht, die einer heiteren, bewusst sich selbst gestaltenden Tätigkeit der Einbildungskräfte freies und segensreiches Walten eröffnet, sieht er die gehasste und gefürchtete Usurpation, die ihn unterjocht, aus seinem Besitze verdrängt. Ihn unterjocht, nicht aber ihn vernichtet, der nicht zu vernichten ist! Mit höchst bewundernswerter Feinheit hat Shakespeare dieses Verhältnis bis ins Kleinste ausgestaltet. Die vielhundertjährige Herrschaft des Aberglaubens hat ihm eine Macht über die Gemüter verliehen, die der Dichter keineswegs gesonnen ist zu entbehren; ja er verdankt, wie Prospero dem Caliban, seinem Studium mancherlei willkommene Kunde. Er lehrte ihn gewissermaßen sprechen und erfuhr von ihm manches fruchtbare Geheimnis, wie die Gemüter zu fassen, zu erschüttern, zu bändigen sind. So nimmt er ihn denn auch in seine Dienste, aber in die engsten Grenzen schließt er ihn ein, und gebraucht ihn nur zu streng bemessener, mechanischer Verrichtung, die durch seinen höheren Zweck erst die Bedeutung erhält. Nicht anders steht Caliban zu Prospero; lediglich um dies Verhältnis zu zeigen lässt Shakespeare den Prospero ihn herbeirufen; und auf Mirandas Gegenrede: "er ist ein Bösewicht, den Ich nicht anseh'n mag," erwidert jener: "Doch, wie's nun steht, ist er uns nötig: denn er macht uns Feuer, holt unser Holz, verrichtet mancherlei, das Nutzen schafft." Dazu nun Calibans wütender Ausbruch: "Dieses Eiland ist mein, von meiner Mutter Sycorax, das du mir wegnimmst. Wie du erstlich kamst, da streicheltest du mich und hielt'st auf mich, gabst Wasser mir mit Beeren drein, und lehrtest das große Licht mich kennen und das kleine, die brennen tags und nachts; da liebt' Ich dich, und wies dir jede Eigenschaft der Insel: Salzbrunnen, Quellen, fruchtbar Land und dürres. Fluch, dass Ich's tat, mir! Alle Zauberei der Sycorax, Molch, Schröter, Fledermaus befall' euch. Denn Ich bin, was ihr habt an Untertanen, mein eigner König sonst; und stallt mich hier in diesen harten Fels, derweil ihr mir den Rest des Eilands wehrt." Das Folgende hebt diesen Zusammenhang der fiktiven Natur des Aberglaubens mit dem Material, dessen die Dichtkunst sich bedient, noch deutlicher hervor, während seine grob gemeine Natur ihn dennoch aus ihrer Gemeinschaft ausschließt.3 Nur ein frappanter Zug sei noch erwähnt: Prospero hat den niederen Gesellen aus seiner Zelle verwiesen und ihn in enges Gefängnis gesperrt, weil "er versucht, die Ehre seines Kindes zu schänden", der holdseligen "Miranda", die das "Wundergebild" der Schönheit selbst ist. Dazu nun die keines Kommentars bedürfende Erwiderung des Unholds: "Ho, ho! Ich wollt', es wär' gescheh'n. Du kamst mir nur zuvor, Ich hätte sonst die Insel mit Calibans bevölkert."

Wenn Prospero somit den Sklaven nur zu gröberem und mechanischem Dienst für seine Zwecke heranzieht, so ist andrerseits dieser selbst — und, wie er, sind es die mit ihm Verbrüderten — der vollen, von ihnen aufs Höchste gefürchteten Wirkung seiner mächtigen Kunst preisgegeben. Die Dichtung schwelgt geradezu darin, an den verschiedensten Stellen und in den grellsten Farben die ängstigende, stechende, geißelnde, krampfig folternde Pein zu schildern, mit der die rächende Kunst die Äußerungen jener dumpfen Verstocktheit und boshaften Brutalität verfolgt, mögen sie nun in verderblichen Anschlägen sich gefährlich zeigen oder in unschädlich platter Gemeinheit sich verächtlich und lächerlich darstellen. Denn natürlich ist das in Caliban verkörperte schlimme Prinzip an zielbewusster, höchst gefährlicher Konsequenz dem Pöbel, um dessen Gunst es buhlt, den es sich dienstbar macht, da es seiner rohen Kraft bedarf, und den es doch beherrscht, bei weitem überlegen; ein paar bunter "Lumpen", ihm zur Lockspeise aufgehängt, genügen, um dessen plumpe Gier abzuleiten und ernstes Unheil zu verhüten.

Dagegen nun in Ariel die reizende Verkörperung jener gefälligen Formen, worin einst die griechische Phantasie, in deren Gestalten er nicht müde wird, sich immer aufs Neue zu kleiden, und dann die ihr verwandte, anmutig dichtende Kraft im modernen Volksglauben die ganze Fülle der Naturprozesse und seelischen Vorgänge als von geistigen und zugleich zu persönlichen Wesenheiten verdichtete Energien geleitet vorstellte: dieser ganze Inbegriff hier als eine einzige, unendlicher Verwandlungen fähige Person gedacht! Es ist gleichsam der Urstoff der Poesie selbst, der durch die Elemente verbreitet ist, unendlich zart und doch von gewaltigen Kräften, jetzt mit sanfter Musik die Gemüter gefangen nehmend, dann sie zum Wahnsinn reizend und wieder mit heiligen Weisen sie beschwichtigend; "mit ihrer Hilfe" vermag, wer diese Geister beherrscht, den Naturkräften zu gebieten, "am Mittag die Sonne zu umhüllen, die grüne See mit der azurnen Wölbung in Kampf zu setzen", "Grüfte zu sprengen und Todte zu erwecken."

Die Symbolik des Stückes löst sich nun von selbst auf.

Es ist leicht verständlich, was Shakespeare im Sinne hat, wenn er auch Ariel als einen abhängigen Diener der Hexe Sycorax anführt, den anmutigen und ganz der Wahrheit des Natur- und Seelenlebens vertrauten Wahnglauben der Poesie. Die leicht gaukelnde Phantasietätigkeit, deren Lebensatem die Freiheit ist, wird zur Entfaltung der ihr innewohnenden grenzenlosen Macht allein fähig durch die strenge und planvolle Leitung der Weisheit. Ohne ihre ebenso liebevolle als unbeugsame Herrschaft liegt die poetische Phantasie in unlösbarem Banne, unterjocht von den finstern und verderblichen Fiktionen des dumpfen Aberglaubens. "Ein allzu zarter Geist" ist Ariel von der schnöden Hexe "in ihrer höchsten, unbezähmbaren Wut" in das engste Gewahrsam verschlossen, wo er für ewig gebannt geblieben wäre, wenn ihn nicht Prosperos aus "seinen geliebten Büchern" geschöpfte tiefe Kunde erlöst und zu neuem Leben erweckt hätte: ein herrliches Bild für die Zaubergewalt, mit der aus langem Schlafe die Wunder der Poesie gleichsam wie auf einen Schlag zum höchsten, reichsten Leben erweckt wurden, zu Shakespeares dramatischer Welt!

Ist es gleichsam die reine Naturgewalt der poetischen Phantasie, die in Ariel sich darstellt, so ist sein Verhältnis zu Prospero durch sein unaufhörlich wiederholtes Begehren nach Freiheit charakterisiert, obwohl er gleichwohl dessen Dienst liebt und gern verrichtet, und sein Begehren ihm auch nicht eher erfüllt werden kann, ja ihm schroff und hart verweigert wird, als bis nach dem völligen Abschluss der Handlung, der sogar noch jenseits des Stückes liegt. Damit ist auf das Genaueste das Verhältnis bezeichnet, in welchem die frei waltende poetische Phantasie zu dem einsichtigen Willen steht, der sie für seine Zwecke ins Spiel setzt; von hier aus lässt der gesamte Plan des Stückes sich klar überschauen. So überraschend es auf den ersten Blick erscheint, Shakespeare hat in diesem seltsamen Stücke geradezu das Wesen jener von ihm so meisterlich beherrschten Gattung dargestellt, welche die Mitte zwischen der Tragödie und dem Lustspiel inne hält. Jns Kurze gefasst würde die Deutung nun so lauten:

Im wirklichen Leben ihres Rechts beraubt findet reine, weisheitsvolle Einsicht in das Wesen der Dinge durch die Kunst das Mittel die verlorene Geltung wiederzugewinnen. Tiefste Kenntnis der Gesetze und Mittel der Kunst verschafft ihr über sie die Herrschaft; sie selbst, die goldene Phronesis, enthält, soweit wahres Glück erworben werden kann, die Gewähr es zu erlangen: "Prospero" daher der bedeutungsvolle Name dafür; sein Zauberbuch und Zauberstab sind die Symbole für das Verhältnis, in das sie zu der poetischen Kunst gedacht ist: Kenntnis ihrer Gesetze und Herrschaft über ihre Mittel. Und nun das Zeichen der tiefsten Einsicht Shakespeares in das Wesen der Kunst: er erkennt es deutlich und wird nicht müde, es auf das Schärfste hervorzuheben, dass es einen Zwang gegen die Freiheit der poetischen Phantasie ausüben heißt, wenn sie in den Dienst des Gedankens gestellt wird. Gleichwohl weiß er sie für seinen Dienst zu gewinnen, aber seine Herrschaft über sie erhält die glänzendste Rechtfertigung. Ist in Prospero die höchste Kultur der Vernunft und des Verstandes repräsentiert, so stellt sich in Miranda die Tochter solcher höchsten Kultur des Geistes dar, die reinste Klarheit, die volle unbewusste Gesundheit und doch zugleich in sich selbst völlig sichere Fassung des Gemütes, die wunderbar schönste Erscheinung, die im Reiche des Seelenlebens erblühen kann. Aus dieser Anlage der entzückenden Schöpfung des Dichters erklären sich alle Äußerungen, die er sie tun lässt, am meisten diejenigen, gegen welche sich der Tadel der Kritik gerichtet hat: jene Äußerungen, die so seltsam gemischt der unmittelbar sich hingebenden Natur und dem unbeirrten sicheren Bewusstsein des eigenen Seelenzustandes entspringen, in dem Munde des eben erblühten Mädchens, wenn man die tiefere Absicht des Dichters übersieht, allerdings befremdlich:


Fort, blöde Schlauheit!

Führ' du das Wort mir, schlichte, heil'ge Unschuld!

Ich bin eu'r Weib, wenn ihr mich haben wollt,

Sonst sterb' Ich eure Magd; ihr könnt mir's weigern,

Gefährtin euch zu sein, doch Dienerin

Will Ich euch sein, ihr wollet oder nicht.


Es ist in Miranda gleichsam der reine Grundstoff verkörpert, aus dem die ganze Reihe der entzückenden Frauengestalten in Shakespeares "Schauspielen" geschaffen ist. Aber welch ein Zeugnis für seinen Kunstverstand, dass er es unwiderleglich vor Augen führt, wie der vernünftige Gedanke die Poesie zu seinem Dienste zwingt, nicht um sich selbst zur Herrschaft zu bringen, sondern um jene wunderbare Tochter aus der Einsamkeit, in der sie ward, zum Glück und zu der gebührenden Geltung im Leben zu führen. Denn allein auf dieses Ergebnis zweckt die ganze Handlung ab. Auch die symbolische Prüfung und schwere, wenn auch kurze Dienstbarkeit, der Mirandas künftiger Gatte unterworfen wird, findet hierdurch ihre Erklärung; wenn auch ein freies Geschenk, so kann der köstliche Preis doch nicht mühelos gewonnen werden: ein höchst treffendes Symbol dafür, dass die dramatische Kunst, so wie ihre hohen Freuden nicht mühe- und schmerzlos genossen werden können, soweit mehr noch von dem, der sich zum Herren ihrer reichen Schönheit aufschwingen will, hartes Ringen, ja schweres Seelenleid fordert. Hier gilt selbst nicht der Adelstitel des Genies als Grund des Erlasses, so wenig der Prinzenrang Ferdinands ihn vor der strengen Probe Prosperos zu schützen vermag.

Dieser herrlichen Tochter ist Prosperos rastloses Bemühen während der ganzen Handlung gewidmet; alle Wirkungen des von ihm erregten "Sturmes" gehen darauf hinaus, die Gemüter der davon Ergriffenen diesem Hauptziele der Handlung, Mirandas Einsetzung in ihre Rechte durch die Ehe mit Ferdinand, willig oder gezwungen dienstbar zu machen.

Die Wirkung und das Wesen der eigenen Kunst darzustellen, ist also der Gegenstand dieses wunderbaren Stückes; und zwar nicht der tragischen oder der komischen Kunst, sondern jener weisheitsvollen Poesie, die in den ernsten Dramen uns bezaubert, in welchen Shakespeare einzig dasteht, denen nur Lessings Nathan an die Seite zu setzen wäre.

Kann es im Grunde in Erstaunen setzen, bei demjenigen, welcher die Gesetze seiner Kunst wie kein Andrer in praktische Anwendung gebracht hat, auch das klare Bewusstsein derselben zu finden?

Wie der "Sturm", den Prospero erregt, das Symbol für die Gewalt ist, mit der die Handlung des ernsten Dramas die Gemüter der Beteiligten ergreift, wie Ariels Walten die unmittelbare Darstellung der Macht einschließt, mit welcher die poetische Kunst des Dichters jene Gewalt verstärkt, ihre Wirkungen vertieft und auf das mannigfaltigste verwendet, so ist das Ziel dieser Handlung, Mirandas Ehebund, das Sinnbild für das Ziel solcher dramatischen Schöpfung: der reinen Schönheit das ihr gebührende Recht, ihr Anerkennung und Geltung zu gewinnen, d. i. sie zur vollen Wirkung gelangen zu lassen.

Die hohe Kunst des Dichters hat hier keinen Zweifel gelassen: die dem äußeren Zusammenhange nach befremdendste Partie des Stückes ist diesem, das Ganze beherrschenden Zwecke dienstbar, wie sie denn auch auf den Höhepunkt der Handlung, in den Beginn des vierten Aktes, wo alle Fäden in einen Punkt zusammenlaufen, gestellt ist. Es ist das mythologische Festspiel gemeint, welches Prospero veranstaltet, um das Verlöbnis des jungen Paares einzusegnen.

Doch ist es erforderlich, auf höchst bedeutsame Züge des wunderbaren Gedichtes hier zunächst noch einen Rückblick zu werfen.

Die Insel, auf die das Stück uns versetzt, ist das Zaubereiland der Phantasie: als solches charakterisiert sie ebenso das wüste Gebaren Calibans wie Ariels "zierliches Spüken". Nun ist es aber nötig, zu erinnern, dass unsere moderne Sprachgewohnheit mit dem Begriff der Phantasie einen seltsamen Missbrauch treibt. Wir sprechen von der Macht, Gewalt, von der schöpferischen Kraft der Phantasie, gerade als ob in ihr der eigentliche Sitz des künstlerischen Vermögens wäre, ja wir sehen die Phantasie wohl als die wesentlichste Ausrüstung des Genies an; während sie doch in Wahrheit nur das Vermögen ist, empfangene Sinneseindrücke beliebig in der Vorstellung zu wiederholen, allerdings sie in beliebig anderer und neuer Anordnung und Zusammensetzung zu wiederholen. Aber die Instanz, die diese Wiederholung sowohl als die neue Anordnung bestimmt, ist nicht in ihr selbst enthalten, sondern sie liegt außerhalb. Welches ist nun diese Instanz? Es ist nicht eine, sondern es sind die sämtlichen Kräfte der Seele, für die durch die Phantasie das ungeheure Vorstellungsmaterial in Bereitschaft gestellt und nach ihrem Gebot neu aufgebaut wird, ohne das keine von ihnen in Tätigkeit treten könnte; ob der Verstand eine Maschine konstruiert, oder die Vernunft eine Gesetzgebung ersinnt, oder ob, wozu im Leben weitaus am meisten die Phantasietätigkeit in Anspruch genommen wird, die Begierden ihre Wünsche formen, ob endlich die wogenden Empfindungs- und Gemütskräfte in freiem Spiele neben der wirklichen Welt sich eine zweite Traum- und Zauberwelt erschaffen. Wenn zu solchem Spiele als der bestimmende Leiter die Vernunft und als der ordnende Aufseher der Verstand hinzutritt, so entsteht die Kunst.

Sicherlich ist regste Bereitwilligkeit und reichste Fülle der Phantasie ein unentbehrliches Attribut des Genies, Vernunft und Verstand treten ihr nur regulierend gegenüber, und gewiss wird Goethes Mahnung immer gelten, "dass die alte Schwiegermutter Weisheit das zarte Seelchen ja nicht beleidige"; aber die Macht, von der sie zur Bildung des Schönen den Impuls empfängt, die eigentlich schöpferische Kraft, ruht in der Tiefe des Empfindungslebens der Seele; ja diese innerste Kraft der Seele — "innere Wärme, Seelenwärme, Mittelpunkt!" — ist es, die im Grunde allein der Phantasie jene unentbehrliche Regsamkeit und Fülle verleiht, d. h. das Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen mit jener feinen Empfindlichkeit, grenzenlosen Aufnahmefähigkeit und nimmer ruhenden Beweglichkeit ausstattet, die mit Recht als die Mitgabe des Genies gelten.

Was wir gewohnt sind, Phantasietätigkeit zu nennen, ist also in Wahrheit keine Tätigkeit der Phantasie, sondern die Tätigkeit eines andern Seelenvermögens innerhalb der Phantasie. Eine solche wird naturgemäß vorzugsweise und am stärksten dann eintreten, wenn wir der überwältigenden Herrschaft der unmittelbar uns umgebenden Eindrücke, Interessen und der durch sie gesetzten Zwecke entzogen werden; das geschieht einmal, wenn wir ruhen und sodann, wenn die Veranstaltungen der Kunst uns dem gewohnten Anschauungs- und Gedankenkreise entreißen.

Beides trifft für die Personen in Shakespeares "Sturm" zu. Mit höchst erstaunlicher Feinheit und Mannigfaltigkeit hat er das Motiv durchgeführt, an der bunten Gesellschaft, die der durch Prospero erzeugte Aufruhr der Elemente an den Strand der Insel geworfen hat, zu zeigen, wie ein jeder unter diesem Eindrucke und in der erzwungenen Befreiung von aller gewohnten Beschäftigung seine Phantasiewelt in Tätigkeit setzt, oder auch, wie es leicht geschieht, von der einmal erregten sich unterjochen lässt. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt jedes Wort des Stückes prägnante Bedeutung. Es sei zum Belege auf die erste Szene des zweiten Aktes hingewiesen, auf die scheinbar absichtslosen Gespräche der neapolitanischen und mailändischen Fürsten und Hofleute, in denen Gonzalo der Hauptredner ist und jene sozialistischen Utopien entwickelt, die damals wie heute ihr aktuelles Interesse hatten. Von all den dort Versammelten ist er der Einzige, dem unter den widrigen Umständen ein gutes Gewissen und ein reiner Sinn die geistige Freiheit bewahrt; bei ihm macht der Zauber der Insel sich nicht anders geltend, als dass sein feiner und gewandter Geist die Welt seiner Vorstellungen zu unterhaltendem Spiele in Bewegung setzt, wenn er das utopistische Ideal eines Staates ohne Obrigkeit, ohne Besitz, Handel und Arbeit halb mit Behagen an dessen Ausmalung, halb mit unverkennbarer Ironie auseinandersetzt, vorzüglich doch um den König zu erheitern und aufzurichten. Dagegen ist dieser, von Schmerz und Reue gefoltert, in dumpfes Brüten versunken; in Antonio und Sebastian endlich verscheucht gewissenloser Ehrgeiz jedes andere Phantasiebild, als das der eigenen Macht und Größe, und erzeugt in ihrer Brust den Vorsatz des scheußlichsten Meuchelmordes. Sie alle, ebenso wie ihre grotesken Gegenbilder, die nur von Angst und gemeiner Gier gelenkt werden, sind in Prosperos Gewalt gegeben. Was kann deutlicher sein als der Sinn des Grundzuges, der nun die ganze Handlung bestimmt? In Prospero hat diese ganze phantastische Zauberwelt ihren Meister; eine überlegene Weisheit bestimmt die Wirkung all dieser Klänge, von denen rings die Insel ertönt, und der Zaubererscheinungen, die überall nach seinem Willen begegnen, und macht die Seelen derer, die nicht von tiefgewurzelter Bosheit ganz verstockt sind, in seinen Händen weich wie Wachs; jene andern aber erschreckt und foltert er bis zum Wahnsinn.

Weisheit und Kunstverstand müssen in dem Zauberreiche der Phantasie regieren, um ihre gefährlichen und in fremden Händen leicht höchst verderblichen Kräfte zum Heile zu verwenden; die schwer zu erfüllende Bedingung aber ist, dass die festeste Leitung dabei doch der Phantasie die freieste Bewegung nach ihren eigenen Gesetzen gestatten muss, immer nur den Schauplatz und die zu lösende Aufgabe ihr anweisend: dafür, wie wir sahen, in der Dichtung das nicht genug zu bewundernde Bild der strengen Dienstbarkeit des luftigen Ariel unter Prosperos weiser Herrschaft, der doch wiederum ohne den tausendgestaltigen Diener nichts vermöchte; zwischen beiden das Verhältnis zartester, herzlichster Neigung, die den strengen Gehorsam in schöne Freiwilligkeit verwandelt; darüber hinaus dennoch immer wieder das unzerstörbare Sehnen der Phantasie nach völliger Freiheit, ihrer eigentlichen Natur.


Prosper: "Frei sollst du sein

Wie Wind auf Bergen:

tu nur Wort für Wort,

Was Ich dir aufgetragen."

Ariel: "Jede Silbe!"


So hat denn nun Ariels unermüdliches Walten in der Verfolgung des Verbrechens und der Bosheit unserer schweren Indignation Genüge getan, es hat die skurrile Gemeinheit unserer Verachtung und dem Spott über ihre unbehilfliche Ohnmacht preisgegeben: das Schwerste bleibt noch zu tun! Was hätte dieses Ganze für Zweck und Sinn, wenn es nur das Fehlerhafte in seiner Verkehrtheit zeigte, wenn es nicht gelänge, ihm gegenüber die unmittelbare Freude an der schönen Erscheinung zu entzünden? Die höchste und reinste Schönheit, von der Weisheit erzeugt und erzogen, so tritt uns in dem Stücke Miranda entgegen. Die Weisheit, aus der Welt verstoßen, gewinnt sich die Geltung in der Welt zurück durch die Schönheit: das ist der Sinn der Handlung des Stückes; denn Prosperos ganzer Plan gipfelt darin, Miranda durch den Ehebund mit dem Königssohne in das ihr gebührende Recht wieder einzusetzen. Leicht verständlich! Denn noch ist ihre Existenz eine abgesonderte in dem Reiche der Einbildung; es gilt ihr reales Leben zu verschaffen, sie in die wirkliche Welt der Erscheinungen überzuführen. Dazu muss Ariel dem Prospero helfen: die Poesie ist der Weisheit das Mittel, um in der Schönheit ihr Bestes der Welt dahinzugeben. So sehr es aber sein Bestreben ist, die herrliche Tochter den Bewerber finden zu lassen, so ist sie doch nur um den Preis mühevollen Ringens und strenger Entsagung zu gewinnen. Wie gern unterwirft sich jener der härtesten Probe: beim ersten Sehen ist er der holden Erscheinung für immer ergeben: "Die Lebensgeister sind mir wie im Traum gefesselt ... Mag Freiheit alle Winkel der Erde sonst gebrauchen: Raum genug hab' Ich in solchem Kerker." Und nun das Verlöbnis und das mythologische Spiel zu seiner Feier: "All deine Plage war nur die Prüfung deiner Lieb', und du Hast deine Probe wunderbar bestanden. Hier vor des Himmels Angesicht bestät'ge Ich dies mein reich Geschenk. O Ferdinand! Lächl' über mich nicht, dass Ich mit ihr prahle: Denn du wirst finden, dass sie allem Lob zuvoreilt und ihr nach es hinken lässt." Ferd.: "Ich glaub' es euch, selbst gegen ein Orakel."

Man hat die strenge Bedingung Prosperos seltsam gefunden, dass er bei schwerem Fluche dem Paar die Vereinigung verwehrt, "bevor der heil'gen Feierlichkeiten jede Nach hehrem Brauch verwaltet werden kann." Dieses Verbot steht im engsten Zusammenhange mit dem nun folgenden noch befremdenderen Spiele. Der Sinn ist dieser: die Schönheit, um die es sich hier handelt, ist nicht die des sinnlichen Reizes, nicht die der heißen, überwallenden Leidenschaft, des stürmischen Entzückens; sie entstammt der Weisheit; klar, mild, reich und tief, ist sie über jeden Preis erhaben: es ist die Schönheit der Idee! Deshalb die scharfe Bedingung, dass, um sie zu erwerben, das lodernde Feuer der Sinne erstickt werden muss, um einer reineren, heiligen Flamme zu weichen. Und wie dem Schoße solcher Schönheit überschwänglich reiche Frucht entsprießt, so erscheint zu ihrer Weihe im Geleit der die Ehe schützenden Juno nicht etwa die Venus, sondern Ceres! Venus mit ihrem üppigen Gefolge ist weit verbannt, während nun jene beiden Göttinnen dem Paare die reichste Segensfülle verheißen.

Was bedeutet es aber, dass mitten in der heiteren Feier Prospero plötzlich im heftigsten Zorne auffährt, da er des Mordanschlages des Caliban und seiner Genossen gedenkt, der um diese Stunde ausgeführt werden soll?

Auf das Klarste hat hier der Dichter seine Absicht an den Tag gelegt. Ist doch die Idee von je und immer dem giftigen Hass und der tückischen Verfolgung des wüsten Wahnes und der brutalen Gemeinheit ausgesetzt, die in diesem Zeichen für ewig verbündet sind. Wie sollte Prospero sich nicht mit heftigem Zorne gegen sie zur Wehr setzen? Er kennt die geistige Natur der Güter, denen dieser Angriff gilt und weiß die Gefahr desselben zu ermessen; doch weiß er ebenso wohl, dass der luftige Schein dieser Ideenwelt das eigentliche Wesen der Dinge bewahrt, während die reale Erscheinung in flüchtigem Wechsel vorüberflieht. Darum die leidenschaftliche Abwehr gegen die niedrigen Mächte, welche diese Güter nicht anerkennen und sie vernichten möchten — "nie, bis diesen Tag," sagt Miranda, "sah Ich ihn von so heft'gem Zorn bewegt" —, und darum der tiefe Ernst seiner Entgegnung: "Seid gutes Muts! Das Fest ist jetzt zu Ende; uns're Spieler, Wie Ich euch sagte, waren Geister, und Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft. Wie dieses Scheines lock'rer Bau, so werden die wolkenhohen Türme, die Paläste, Die hehren Tempel, selbst der große Ball, Ja, was daran nur Teil hat, untergeh'n; Und, wie dies leere Schaugepräng' erblasst, Spurlos verschwinden. Wir sind solchen Stoffs Wie der zu Träumen, und dies kleine Leben Umfasst ein Schlaf." —

So weiß er denn auch durch leeren bunten Schein den gefährlichen Angriff abzulenken, indem er die Gier der plumpen Gesellen durch den glänzenden Trödel ködert, den Ariel ihnen zum Raube aushängt. Aber der trügerische Schein wird jenen zum Verderben; Ariel lockt sie in scheußlichen Sumpf und heißt seine Kobolde "ihr Gebein zermalmen Mit starren Zuckungen, die Sehnen straff Zusammenkrampfen und sie fleck'ger zwicken Als wilde Katz' und Panther".

Das Spiel geht seinem Ende zu; überall sieht Prospero seinen Entwurf gelungen, und seine Güte löst den schweren Zauber der Wahnsinnsangst, mit der er den König und sein Gefolge in Fesseln geschlagen, als er sie so gewaltig ergriffen sieht: "Da sie reuig sind, Erstreckt sich meines Anschlags ein'ger Zweck Kein Stirnerunzeln weiter: geh', befrei' sie. Ich will den Zauber brechen, ihre Sinne Herstellen und sie sollen nun sie selbst sein."

Es würde zu weit führen, die überschwängliche Fülle der Beziehungen, die hier und durchweg bei jeder kleinsten Wendung sich ergeben, erschöpfend darzulegen; nur auf eines sei noch hingewiesen.

Man hat der ergreifenden Rede, mit der Prospero dem mächtigen Zauber seiner Kunst entsagt, eine höchst spezielle Deutung gegeben: es sei Shakespeares eigenes Zurücktreten von der Bühne, er nehme hier feierlich Abschied von seiner Kunst. Ganz abgesehen davon, dass das nicht zutrifft, denn Shakespeare hat nach dem "Sturm" noch das "Wintermärchen" geschaffen, auch konnte er seinen frühen Tod schwerlich voraussehen und hätte bei längerem Leben sicherlich seiner Muse nicht den Laufpass gegeben; aber abgesehen von dem allen: nichts kann verkehrter sein als eine solche Deutung, die den Rahmen des Stückes ganz verlässt und etwas Fremdes, ganz Äußerliches in den kunstvollen Organismus hineinträgt. Die tief bedeutungsvolle Rede erklärt sich auf das einfachste aus dem Zusammenhange selbst.

Solche großen symbolischen Konzeptionen haben das Gemeinsame, dass sie den Vorgang, den sie schildern, als einen allgemeingültigen, typischen darstellen, also als den einzigen seiner Art! Was in der Wirklichkeit in tausenden von Fällen sich vollzieht, immer neu und immer wechselnd, findet hier sein ewig gleiches Vorbild, und was dort nie abgeschlossen werden kann, ist hier vollendet und abgetan.

So kann denn also der Prospero, dessen Werk gelungen ist, — die Weisheit, die mit der Hilfe der Poesie durch die reine Schönheit die Idee in ihre Rechte gesetzt hat — nun die zarten Elfen, mit deren Beistand er die Sonne umhüllt hat und die grüne See mit der azurnen Wölbung in Kampf gesetzt, Grüfte gesprengt und Tote erweckt, ihres Dienstes entlassen, ihnen wie Ariel die versprochene Freiheit wieder zurückgeben: "Doch dieses grause Zaubern Schwör' Ich hier ab; und hab' Ich erst, wie jetzt Ich's tue, himmlische Musik gefordert, Zu wandeln ihre Sinne, wie die luftige Magie vermag: so brech' Ich meinen Stab, Begrab' ihn manche Klafter in die Erde, Und tiefer, als ein Senkblei je geforscht, Will Ich mein Buch ertränken."

Wie einfach und wie tiefsinnig! Niemand war weiter davon entfernt, die Poesie durch den Zwang der Lehre und des Gedankens ihres Adels und ihrer Kraft zu berauben, als Shakespeare. Aber die vollkommene Kenntnis seiner Kunst lehrte ihn, dass es eine dramatische Gattung gäbe, in der die weisheitsvolle Einsicht unmittelbar zur Erscheinung kommen kann: eben jenes ernste Drama, welches auf der Höhe seines Schaffens, in seiner letzten Zeit, ihm so besonders lieb wurde. Aber wie Prospero seine mächtige Kunst nur durch Ariel und seine Elfenscharen auszuüben vermag, und wie Miranda, "die Wunderbare", der Gegenstand ist, auf den all sein Sinnen und Wirken abzielt, so hat die Weisheit nur, indem sie mit Hilfe der Phantasie in der schönen Erscheinung ihre Wirkungskraft offenbart, im Reiche der Poesie zu gebieten. Ist ihr das Werk gelungen, so ist ihre Mission hier erfüllt; sie legt ihren Herrscherstab von sich und lässt der Phantasie ihre volle Freiheit, um fortan nur im eigenen Gebiete zu walten.

Es bleibt noch übrig, einen Blick auf die kontrastierenden Partien des Dramas zu werfen.

Die lose Einfügung dieser grotesk-komischen Szenen, die für sich allein nicht zu rechtfertigen wäre, hört auf, als solche zu erscheinen, wenn sie aus der Symbolik des Ganzen sich erklären.

Wie die freie, das Wohlgefällige bildende Phantasie, so steht dem weisen Meister auch die Phantasie zu Gebot, die in der dumpfen Region des Hässlichen, Brutalen, bewusst Boshaft-Gemeinen ihr Element hat. Hier aber waltet sein Zauberstab mit despotischer Kraft, mit schärfstem Zwange niederhaltend, was seine Absichten kreuzt, sie von vorneherein vereitelnd, auch wo er sie gewähren zu lassen scheint, während er es zugleich versteht, sie mit kluger Absicht für seine Ökonomie zu verwenden.

Derselbe "Sturm", den er veranstaltet, um die Gemüter, die er bezwingen will, in seine Gewalt zu bekommen, dient ihm zugleich als Motor, um die Gemeinheit und die Narrheit ins Spiel zu setzen, um sie der gewohnten Bande entledigt teils von Angst geschüttelt, teils in ihrer vollen Ausgelassenheit zu zeigen: nach der Symbolik des Stückes fallen sie damit dem Repräsentanten jener hässlich-brutalen Phantastik, dem Ungeheuer Caliban, in die Hände. Es ist abermals eine von den bewunderungswürdigen Feinheiten der Dichtung, wie sie den brutalen Trunkenbold Stephano und den schwachköpfigen Narren Trinculo in der selbstgefälligen Täuschung sich gebärden lässt, als ob sie mit dem "Ungetüm" ihr Spiel trieben, während Caliban von den neuen Herren vermeintlich in Freiheit gesetzt, sofort sie vielmehr unter seine Gewalt und Leitung bekommt. Er freilich, das verkörperte Prinzip seines Wesens, erkennt bald genug, dass er es mit jenen platten Gesellen doch nur zu einer plumpen Farce bringt, und fügt sich lieber, die Geißel des Meisters fürchtend, dessen scharfer Zucht. Dieser jedoch erreicht seinen Zweck, jenes edle Dreiblatt, die Bosheit, Gemeinheit und die dumme Narrheit, sich als solche dem Augenscheine darstellen zu lassen, vollkommen, indem er sie einfach eine Weile in ihrem Treiben gewähren lässt und demselben nur die Richtung auf zwei symbolische Aktionen gibt: den Mordanschlag Calibans und jenen wunderlichen Kleiderdiebstahl, dem offenbar eine besondere typische Bedeutung vom Dichter zuerteilt ist.

Beide erklären sich gegenseitig. Was kann verständlicher sein als der Anschlag, durch den die drei sich der Herrschaft auf der Insel bemächtigen wollen, jenem musikerfüllten Eilande, wo Prospero durch Ariel herrscht und seiner Miranda die für sie erhoffte Befreiung erwirkt! Um es kurz zu sagen: jenes durch Caliban vertretene Element wird in der Ökonomie der dramatischen Werkstatt nicht entbehrt, aber nutzbar gemacht nur bei strengster Dienstbarkeit; nichtsdestoweniger strebt es fortwährend selbst darin zu herrschen und die Gemeinheit und Dummheit sind ihm dafür die geeigneten Bundesgenossen. Denselben Sinn hat das frühere Attentat Calibans gegen Miranda, gegen die Reinheit des Gemütes selbst, wodurch er "die Insel mit Calibans zu bevölkern" gedachte. Dass nun aber Shakespeare den Mordplan in den skurrilen Kleiderdiebstahl auslaufen lässt, ist eine Wendung, durch die seine Absicht noch schlagender hervorspringt: Mit der absoluten Herrschaft jener Gesellen in der dramatischen Dichtung hat es gute Wege; wohl aber gelingt es ihnen, von dem Kostüm der Herrlichkeiten des Meisters, das für sie zum Raube offen hingehängt ist, was ihnen am lockendsten in die Augen fällt, zu entwenden und damit herausgeputzt eine Weile zu stolzieren, um alsbald der verdienten Strafe von der rächenden Geißel des Geplünderten zu verfallen. Es ist höchst absichtsvoll und höchst bezeichnend, dass das Stück mit der Exekution jener Drei und ihres angemaßten Treibens abschließt: das Drama hat seine klärende Macht auf dem ernsten Gebiet erwiesen, die reine Schönheit in ihre Rechte gesetzt; nun zeigt es seine reinigende Gewalt gegenüber den niedrigen Elementen. Wo das Niedrige, in welcher Gestalt immer, in dem geweihten Zaubergebiete der Kunst sich eigene Herrschaft anmaßt, mag es auch mit den entwendeten Formen der Kunstübung seine Rohheit umkleiden, da trifft es die schonungslose Verfolgung der echten Kunst, bis es in ihren strengen Dienst zurückgezwungen ist, wo es dann, wie das Stück es ausdrückt, höchstens zu lustiger Verbrämung verwendet wird: "dem Meister die Zelle aufzuputzen".


Go, sirrah, to my cell,

Take with you your companions: as you look

To have my pardon, trim it handsomely.

1

Es mag noch hinzugefügt werden, dass der "Epilog" die im Obigen skizzierte Deutung Wort für Wort bestätigt: nun ist der Zauber zu Ende; was dem Dichter an Kraft bleibt, ist nur die eigene. Zwar, sein Herzogtum hat er gewonnen, die falschen Nebenbuhler überwunden, aber, um nicht auf die einsame Insel seines Träumens und Dichtens beschränkt zu bleiben, um Kraft und Wirksamkeit zu erlangen, muss er die Gemüter seiner Hörer gewonnen haben, sonst ist sein ganzer Plan vereitelt; dieser Plan war: zu gefallen! 4


Let me not,

Since I have my dukedom got

And pardon'd the deceiver, dwell

In this bare island by your spell;

But release me from my bands

With the help of your good hands

Gentle breath of yours my sails

Must fill, or else my project fails,

Which was to please.


"Zu gefallen", durch die in Tätigkeit gesetzte Empfindung die reine und volle Hedone zu erzeugen, ist freilich die Aufgabe aller Kunst; nur insofern sie dieselbe löst, gelangt sie zu Leben und Wirksamkeit. Aber in keiner dramatischen Gattung ist der Dichter so darauf gewiesen, allen Zauber der poetischen Mittel ins Spiel zu setzen, wie in jener Mittelgattung, die sowohl der Wucht der tragischen Affekte als der unwiderstehlichen Kraft der ganz auf die komische Wirkung gebauten Handlung entraten muss, von beiden nur untergeordneten, subsidiären Gebrauch machen darf. Zwischen den erschütternden Schicksalen und den dem Lachen preisgegebenen Vorgängen und Verwickelungen liegt das Gebiet der Zustände und damit verflochtenen Ereignisse, die weder das eine noch das andere sind, ernst ohne tragisch zu sein, fehlerhaft ohne der Komik anheimzufallen, schicksalsvoll dennoch in eminenter Weise, insofern durch die fortlaufende Häufung für sich allein nicht als verhängnisvoll erscheinender Irrungen zuletzt doch bedeutende Entscheidungen sich bereiten. Um derartige ihrer Natur nach lang andauernde, allmählich anwachsende Entwicklungen in den präzisen Ablauf der vor den Augen sich ereignenden dramatischen Handlung zu bannen, wird der Dichter, je bedeutender er sich seine Aufgabe stellt, umso mehr gezwungen sein, die Hilfe der Phantasie in Anspruch zu nehmen, sowohl bei seinem Werke als bei den Zuschauern, die dessen Wirkung erfahren sollen: er wird kühne Verkürzungen, Verdichtungen einer Kette von Einzelvorgängen zu einem einzigen Ereignis anwenden, er wird zur Symbolik greifen, des Wunderbaren sich frei bedienen, über Ort und Zeit hinwegschreiten, hunderterlei in dem äußeren Pragmatismus ignorieren dürfen, wenn das alles ihm nur hilft der inneren Wahrheit zu desto sicherer, vollständigerer, reinerer Wirkung in Anschauung und Empfindung seiner Zuschauer zu verhelfen, d. i. im strengen künstlerischen Sinne "zu gefallen".

Diesen Gesetzen und dieser Technik hat Shakespeare mit der anmutvollsten Phantasie ein selbständiges Leben erteilt und sie zu dem Gegenstande der luftigen Handlung seines "Sturms" gemacht. Er besaß die Zauberkraft, diese Symbolik nicht zur frostigen Allegorie ausarten zu lassen, sondern ihr den Schein frischen, eigenen Lebens zu bewahren; so fesseln uns die Personen und Vorgänge des Stückes durch die feste Bestimmtheit der Realität, die volle, warme Individualität bei aller Phantastik ihrer Erscheinung und ergötzen uns abwechselnd durch das reine Wohlgefallen an sanftem Reiz und edler Würde und durch die klar und sicher empfundene Missbilligung des Fehlerhaften, die hier als eine Mischung aller denkbaren Gradationen sich darstellt: vom verzeihenden Tadel bis zur stärksten Indignation, vom Verlachen bis zur Verachtung und zum Abscheu.

So groß ist Shakespeares Kunst, dass die Wirkung des ganz singulären Dramas eine allmächtige und von jedermann empfundene ist, trotzdem der prüfenden Erwägung hundertfältige Bedenken allenthalben sich entgegenstellen, so lange die strenge Einheitlichkeit der wundervollen Komposition und ihre mit vollkommener Konsequenz bis in die kleinsten Züge festgehaltene Durchführung nicht erkannt ist.

Es erscheint wie eine Probe der Rechnung, wenn man untersucht, wie Shakespeare die im Bilde entworfene Theorie nun in der Praxis angewendet hat. Das "Wintermärchen" ist noch nach dem "Sturm" entstanden und gilt als seine letzte Dichtung; durch die Fremdartigkeit seiner Form fordert es die theoretische Kritik mehr heraus als irgendein anderes der Shakespeareschen Dramen: ein tragelaphisches Zwitterwesen, halb Trauerspiel und halb Komödie. In Wahrheit keines von beiden; wohl aber geeignet den Typus der Gattung scharf ausgeprägt zu repräsentieren.

Tragisch ist weder die Figur des Leontes, noch die der Hermione: der Charakter jenes beruht auf hochgradiger Schwäche und Verkehrtheit, die lustspielartig wirken würden, wenn sie nicht so ernsthaft verderblich sich äußerten; das Geschick dieser ist zwar ein beklagenswertes, aber nicht hoffnungsloses, wie denn in der Tat es sich zuletzt zum Guten wendet. Wie kaum ein anderes illustriert dieses Beispiel das Wesen der mittleren Gattung. Die Eifersucht des Leontes ist weder die rasend vernichtende Leidenschaft eines Othello, noch die skurril polternde und ungefährliche eines Moliereschen Lustspielehemanns. Aber sie ist die krankhafte Grille eines in selbstquälerischer Träumerei befangenen, in sich selbst schwankenden und daher umso mehr dem Wahne des Misstrauens gegen andere preisgegebenen Gemütes, das der Weichheit ebenso zugänglich ist als im Zorne der Verblendung grausamer Härte, der rücksichtslosesten Starrheit fähig bei einer doch immer wieder zur Geltung gelangenden Grundanlage zum Guten und zu liebevoller Hingabe. Als solche ist diese gesamte Anlage gerade hinreichend, um nicht nur das eigene Leben, sondern das der Zunächststehenden durch lang anhaltende schwer lastende Trübsal zu verdüstern. Zur Tragik jedoch fehlen hier alle wesentlichen Bedingungen, wenn man nicht gerade dem eingerissenen verkehrten Sprachgebrauche folgend das Tragische einfach mit jeder Form irgendwelchen Unglücks identifizieren will. Unter solcher an Krankheit grenzenden Reizbarkeit des Gatten sehen wir Hermione völlig schuldlos leiden, indem der Dichter, was ein ganzes Leben mit der unablässigen Quälerei despotischer Laune verdüstern kann, in einem einzigen jähen Ausbruch zusammenfasst. Ein solcher Stoff kann auf keine andere Weise der dichterischen Behandlung fähig gemacht werden, als indem vor allem ihm das jammervoll Bedrückende des schlimmen Ausgangs genommen wird; in der Tat war eine derartige Operation die wesentlichste Veränderung, die Shakespeare an dem von ihm für das Stück benutzten Novellenstoff vornahm. Das musste geschehen, ohne der Handlung die wuchtige Schwere des vollen Ernstes zu nehmen, mit welchem zugleich sie ihre Wahrheit und damit allen Wert eingebüßt haben würde; es ist der Mühe wert, genauer zu beachten, wie Shakespeares Kunst hier verfahren ist. Eine minder durchdringende Kenntnis sowohl der Gesetze des Schicksals als seiner poetischen Nachahmung würde sich damit begnügt haben, nach der Enthüllung von Hermiones Unschuld und der Darstellung von des Leontes Sinnesänderung nun Versöhnung, Friede und Freude eintreten und auf den Jammer die behaglichste Befriedigung folgen zu lassen. Dagegen lässt Shakespeare die unerbittlichen Konsequenzen der Handlung in ihrem ganzen Umfange eintreten, er geht bis an die Grenzen der tragischen Wirkung, ohne doch auch nur für einen Augenblick die Wirkung des Ganzen auf die tragischen Empfindungen zu stellen. Der Sturm, den er erregt, geht zwar mit all seinen Schrecken vor unsern Augen in Szene, aber er ist nicht der Gegenstand seiner Komposition, sondern ein Mittel für ihren eigentlichen Zweck: aus dem Sturme segensvollen Gewinn hervorgehen zu lassen, aus der starken Erschütterung tief greifende Erneuerung und endlich obsiegende Klärung. Er muss also Sorge tragen, dass Furcht und Mitleid bei dem Sturme uns nicht überwältigen; und wenn er es diesmal nicht so lenken kann, dass Prosperos "Kein Leid" hier gälte, so lässt er doch seinen erfindungsreichen Ariel alle Künste aufwenden, um die drohende Schwüle der tragischen Atmosphäre zu verscheuchen, das Gewölk schnell herüberziehen zu lassen und durch die sich zerstreuenden Massen die Aussicht in ein fernes Blau zu eröffnen, das bald mit goldiger Heiterkeit den ganzen Schauplatz einnimmt. Zu diesen Künsten gehört vor allem der bei aller Realistik der Darstellung über das Ganze gebreitete Duft märchenhafter Ferne und der damit verbundenen Willkür in der Handhabung des äußeren Pragmatismus bei aller strengsten Folgerichtigkeit der inneren Entwicklung. Alle die vielgenannten, offenbar höchst geflissentlich begangenen Verstöße gegen Chronologie, Erdkunde und Kostüm, die keineswegs künstliche Feinheit, sondern recht primitive Faktur der theatralischen Maschinerie — es genügt des Orakels und des wie gerufen sich einstellenden Bären zu gedenken — finden hierin ihre Erklärung. Außer diesem stärksten Mittel trägt die vielfach entschieden genrehafte Färbung jener ganzen ersten Hälfte des Stückes, die so gefährlich zur Tragik hinneigt, sehr erheblich dazu bei, die Stimmung zu entlasten und dem tragischen Affekt zu wehren; es sei auf die Szene des Leontes mit Mamillus hingewiesen, auf die Szene der Hermione mit ihren Frauen und mit dem Knaben und endlich auf die derb-verständige, grobkörnige Tüchtigkeit der Paulina, eines so ausgeprägt anti-tragischen Charakters, dass sie allein genügen würde, die Absicht des Dichters kenntlich und wirksam zu machen.

Der strenge Ernst und die volle Wahrheit werden dadurch um nichts geschmälert. Dergleichen tiefe Schäden, wie sie im Charakter und der Handlungsweise des Leontes bloßgelegt werden, lassen sich nicht durch momentane Sinnesänderung heilen, weder subjektiv im Gemüte des Handelnden noch objektiv bei den davon Betroffenen; auch sind ihre Konsequenzen unberechenbar und gehen weit über Absicht und Willen hinaus. An diesem letzteren Punkte liegt ein tragischer Keim in der Handlung, der mit dem Tode des Knaben Mamillus auch zum Aufsprießen gelangt, aber doch nur als Nebenschössling, ohne das Gesamtgepräge der Handlung zu verändern. Die auf den ersten Blick so seltsam und märchenhaft willkürlich erscheinende Handlungsweise der Paulina, dass sie die unschuldige Hermione, trotzdem ihre Unschuld erwiesen und von allen anerkannt ist, trotz der Reue und Verzweiflung des Leontes, nun dennoch ihm auf sechzehn lange Jahre entfremdet und sie dem Leben erst zurückgibt, als in der herangeblühten neuen Generation nach dem Spruche des Orakels "das Verlorene sich wiederfindet", entspricht dem symbolischen Sinne nach, wie nach ihrer tatsächlichen Wirkung auf den Zuschauer, der Wahrheit des Sachverhältnisses. Zuständen und Ereignissen gegenüber, wie die erste Hälfte des Stückes sie schildert, ist lange Entfremdung unvermeidlich: die einzige Gewähr aber der dennoch möglichen einstigen Gewinnung des Glückes liegt in dem entschlossenen, freiwilligen Verzicht auf das eigene Genießen und in der stillen gläubigen Hingabe an die Zukunft. Dies ist der durchsichtige Sinn des Orakels und der demselben entsprechenden Intervention Paulinas, die eben nur als die szenische Verkörperung dieser Resignation zu betrachten ist. Der eigentliche Schwerpunkt des Dramas liegt dann aber in der heiterschönen Heraufführung jener sonnigen Zukunft. Wie der "Sturm" das Mittel ist, Miranda zu erlösen und auf den ihr gebührenden Thron zu führen, so kehrt hier die dem zerrissenen Ehebund entsprossene Wunderblume Perdita Glück verbreitend zurück; und wie in der ersten Hälfte seines Dramas der Dichter sich nicht gescheut hat, zu den dunkelsten Farben zu greifen, so verwendet er am Schlusse die stärksten theatralischen Mittel, um das Freudenfest des wahrhaft und dauernd hergestellten Friedens und Glückes aufs Höchste zu steigern.

An dem "hübschen Aufputz" durch das harmlos niedrig Komische und selbst Possenhafte hat es der Dichter dem Stücke auch nicht fehlen lassen — to trim it handsomely — während jeder Laut des Rohen und Gemeinen strengstens verbannt ist. So stellt es sich in allem seinem Rezept, wenn man dasselbe symbolisch im "Sturm" erkennen will, genau entsprechend dar und damit als die Theorie des "Schauspiels" in besonders prägnanter Weise exemplifizierend.

Aus allem Gesagten zeigt sich deutlich, wie diese Gattung nicht allein um zur höchsten Auszeichnung zu gelangen, sondern um überhaupt nur ihr Ziel nicht gänzlich zu verfehlen, an den Dichter die Forderung eines besonders reichen Maßes von Welt- und Menschenkenntnis und namentlich auch künstlerischer Einsicht erhebt; es gilt hier die Farben besonders fein zu mischen und einen durch den bloßen genialen Instinkt nicht leicht innezuhaltenden schmalen Weg zwischen den absolut zu vermeidenden Extremen der beiden Hauptgattungen hindurch zu finden.

Dass Shakespeare sich der Theorie dieser Kunstgattung deutlich bewusst war, scheint nicht nur die bewunderungswürdige Leichtigkeit und Sicherheit, mit der er sich auf der gefährlichen Bahn bewegt, zu beweisen, sondern auch durch die Symbolik seines "Sturmes" bezeugt zu werden.

Wie kaum eine andere Form möchte diese dem weisheits- und maßvollen Schönheitssinn Goethes entsprochen haben, auch seiner tief gegründeten Abneigung gegen die Heftigkeit und Schwere der spezifisch tragischen Affekte. Und welch ein Feld bot sie seiner unerreichten Kunst dar, direkt durch die bezaubernde Darstellung des Schönen zu wirken! Ob nicht, wenn Lessing dieses Gebiet prinzipiell angegriffen und mit seinem Scharfsinn und mit seiner Autorität die Gesetze dafür aufgestellt hätte, die Theorie hier einmal recht sichtbar der Produktion zu Hilfe gekommen wäre?

Statt dessen blieb nicht einmal auf dem Felde der Theorie des Tragischen die von ihm geschaffene Klarheit ungetrübt; und ein bedeutender Anteil an dieser Trübung ist keinem Geringeren zuzuschreiben, als dem gewaltigsten Tragiker der deutschen Dichtung, unserem großen Schiller!


Fußnoten:


1 Ein Stück, welches freilich bei der überwiegend epischen Natur seines Stoffes im Übrigen eine ganz anomale Stellung innerhalb seiner Gattung hat.

2 Am entschiedensten von Gervinus, in der das Stück betreffenden Abhandlung seines Buches über "Shakespeare"; vgl. 3. Aufl. I. S. 293: in Jessicas Flucht ist ihm "das Unrecht Recht".

3 Es zeigt durchweg die grenzenlose Macht hoher Bildung und Kunst über die in tierischer Dumpfheit gebundene Phantasie; wenn auch widerwillig, selbst hasserfüllt, beugt sich die wüste Rohheit ihrem Machtgebot, durch die Furcht vor ihrer drohenden Strafgewalt bezwungen: "Ich muss gehorchen; seine Kunst bezwänge Wohl meiner Mutter Gott, den Setebos, Und macht ihn zum Vasallen."

4 Die Schlegelsche Übersetzung:

"Geh', Schurk', in meine Zelle,

"Nimm deine Spießgesellen mit: wo du

"Vergebung wünschest, putze nett sie auf" —

ist hier undeutlich; das "sie" der letzten Zeile ist doppelsinnig, da es leicht auf die "Spießgesellen" bezogen wird, und das "you" dürfte wohl als an alle drei gerichtet zu verstehen und mit "ihr" zu übersetzen sein.

Handbuch der Poetik, Band 2

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