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*** Erstes Kapitel: Ich

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Wenn Fantasien sich um einen geliebten Menschen legen, ist es die Zeit, welche die Magie einer Beziehung zerstört und einen unweigerlich zu einer Entscheidung zwingt, die, ganz gleich wie sie auch ausfallen mag, ebenso unweigerlich den Traum vom Glück in der Liebe auf ewig ein Ende bereiten wird.

Ich konnte gut mit Frauen. Ich kann es immer noch. Nur Glück hatte ich mit ihnen nie. Gudrun, meine erste Frau, versuchte, mir das Leben zu nehmen. Meine zweite Frau Lisa verabreichte mir unbemerkt über Jahre Finasterid.

Allerdings, liebe Leser, gab es auch schöne Zeiten in meinen Ehen. Als ich und Gudrun uns noch ausgezeichnet verstanden, hatten wir viel Spaß miteinander. Ich erinnere mich noch gut an ein Erlebnis, das sich im Oktober 1999 ereignete.

Es war einer jener fürchterlichen Sonntage, die einem vor Langeweile die Kehle zuschnüren. Im Fernsehen lief nichts, was mich interessierte. Das Wetter war für einen Spaziergang zu kalt. Für eine Nummer mit meiner Frau war es zu früh, da sie funktionsuntüchtig im Bett lag. Vor die Wahl gestellt, an Langeweile zu ersticken oder mir auf irgendeine Weise Luft zu verschaffen, entschied ich mich natürlich für Letzteres. Sie müssen wissen: Wenn es eine Fähigkeit gibt, die mich in herausragender Weise charakterisiert, dann ist es die, Lösungen für Probleme in kürzester Zeit zu finden. Lange musste ich deshalb nicht nachdenken. Schnell kam mir eine Idee, die ich sofort umzusetzen begann.

Seit Jahren hielt meine Frau an den Wochenenden einen längeren Mittagsschlaf. Sie schlief dann wie ein Stein. Schlug sie schließlich wieder die Augen auf, befand sie sich stets in einem wachkomaartigen Aufwachprozess, der sich lange hinauszögerte.

An eben diesem Sonntag im Herbst 1999 schlich ich mich auf Zehenspitzen in ihr Zimmer, verstellte das Datum an allen ihren Uhren und legte einen Haufen bunt zusammen gewürfelter Medikamente auf ihren Nachttisch. Zusätzlich platzierte ich einen mit Apfelsaft gefüllten Kathederbeutel, den ich vor Jahren von einem Patienten zum Abschied geschenkt bekommen hatte, neben ihr Bett. Dann setzte ich mich auf den Sessel neben ihrem Nachttisch und breitete eine Decke über meine Knie aus.

Geduldig wartete ich. Geduld ist eine meiner großen Stärken, müssen Sie wissen.

Da Gudrun fast immer zur gleichen Zeit aufwachte, so als geböte eine innere Uhr ihrem Schlaf Einhalt, musste ich nicht allzu lange warten.

Sie lag auf der mir zugewandten Seite. Sie würde mich als erstes sehen, wenn sie ihre Augen öffnete.

Es lief perfekt.

Gudrun rekelte sich. Ein tiefes Stöhnen kam aus ihrem Rachenraum, was mich immer an das Gurgeln eines Ertrinkenden erinnerte, ohne dass die entsprechende Folge eintrat.

Sie sah mich schläfrig an, während ich aufgeregt aufsprang und mir die Decke dabei von den Knien rutschte.

„Gudi, Gudi, du bist wieder da!“ rief ich entzückt.

Ich streckte beide Hände in die Höhe. Ein wenig theatralisch. Ich gebe es zu.

„Oh, mein Gott. Oh, mein Gott!“ schrie ich begeistert.

Ich nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie überschwänglich.

„Was ist los?“ murmelte sie, sichtlich überrascht über meine heftige, für sie ungewohnte Reaktion. Sie wälzte sich schwerfällig auf den Rücken, behielt mich jedoch aus den Augenwinkeln im Blick.

„Du bist wieder da. Du bist wieder da!“ rief ich nach wie vor entzückt.

Sie stützte sich mit den Händen ab und richtete sich langsam ein wenig auf.

„Heh?“

„Mein Gott, Gudi!“ rief, nein, schrie ich.

„Ich habe gedacht, du wachst nie mehr wieder auf!“

Gudruns Gesichtszüge strafften sich. Sie wurde wacher und wacher.

„Wieso sollte ich nicht aufwachen, Schatz!“ murmelte sie immer noch leicht schläfrig und gähnte.

Ich schlug beide Hände vor mein Gesicht, und es gelang mir tatsächlich, einige Tränen zu vergießen.

„Du hast im Koma gelegen, Liebling!“

„Im Koma!“ echote sie. Ihre Augen verdrehten sich. Erst nach rechts, dann nach links.

„Ja im Koma, Gudi. Seit drei Jahren bist du nicht mehr aufgewacht. Du warst im Krankenhaus. Vor drei Monaten habe ich dich nach Hause geholt, weil ich es nicht mehr ohne dich ausgehalten habe!“

Ich küsste wieder ihr Gesicht.

Sie war plötzlich hell wach. Ihr Blick fiel auf den Kathederbeutel.

„Du spinnst doch. Was ist das?“

„Da urinierst Du rein, Gudi!“

Gudrun wurde bleich.

„Achtmal täglich wechsele ich den Beutel aus!“

Ich schob den Kathederbeutel mit dem Fuß vorsichtig unter ihr Bett.

„Das solltest Du nicht sehen, Schatz!“ erklärte ich ihr mit bedrückter Stimme.

Eine leichte Panik schoss in ihre Augen.

„Das kann doch nicht sein!“

Ich nickte eifrig.

„Doch, doch, mein Liebling!“

Mein Gesicht strahlte immer noch vor Freude.

Ich deutete auf ihren Nachttisch, wo sich die Tablettenschachteln häuften.

„Sieh mal, die vielen Medikamente, die ich dir geben muss!“

Ihr Blick verdüsterte sich. Eine schnell aufschießende Panik erreichte ihr Gesicht und breitete sich wie eine sichtbare Infektion aus: Sie erstarrte zu Stein.

„Wie lange war ich weg, sagst du?“

„Drei Jahre, liebe Gudi. Drei fürchterlich lange Jahre!“

Gudrun sah auf ihren Wecker mit der Datumsanzeige.

Hastig griff sie danach. Sie hielt ihn sich dicht vor die Augen. Wie hypnotisiert starrte sie darauf.

„12.03.2002!“ brüllte sie entsetzt und schleuderte den Wecker durch die Luft, als wäre er eine gleich explodierende Bombe.

„Drei Jahre. Drei Jahre!“ schrie sie mit einer für sie bei weitem untypischen Energie.

Sie weinte.

„Eine lange Zeit!“ bestätigte ich ihr mitfühlend und setzte mich neben ihr auf das Bett und streichelte zärtlich ihre Wange.

Sie heulte und heulte, wie ein Kind, das keinen Nachtisch bekommen hat.

Gudrun ließ sich nicht beruhigen.

Immer wieder stieß sie gebetsmühlenartig die zwei für sie schicksalhaften Worte aus: „Drei Jahre!“

Sie weinte ohne Unterlass.

Ich versuchte, sie zu trösten. Es misslang kläglich.

Nach einer Weile wurde es mir zu langweilig, und ich ließ sie alleine.

Ich schloss die Tür hinter ihr.

Gedämpft, aber immer noch deutlich zu hören, weinte und jammerte sie.

Ich stellte den Fernseher auf laut.

Irgendwann am Abend fand sie heraus, dass sie nicht drei Jahre im Koma gelegen hatte.

Eine ganze Woche sprach sie kein einziges Wort mehr mit mir.

Es gab Schlimmeres.

Drei Jahre später ließ ich mich von ihr scheiden. Sie hatte versucht, mir das Leben zu nehmen. Auf eine perfide, hinterlistige Art und Weise.

Mei lafly riders, wir müssen uns darüber im Klaren sein: Die Ehe ist ein Gericht, das nur in den Flitterwochen keine Verdauungsbeschwerden bereitet. Aber selbst die Liebe, die immer einem verhängnisvollen Prozess zunehmender Verzweiflung durchläuft, wird, sowohl im Allgemeinen als auch im Speziellen bei weitem, überschätzt. Ich weiß, wovon ich rede. Wie sagte schon der deutsche Philosoph Martin Heidegger: „Die Hölle, das sind die anderen“. Nie ist man dieser Hölle näher, als in einer Ehe und in der Liebe. Wer dem Irrtum erliegt, sich einen eigenen Uterus der Zweisamkeit bauen zu müssen, um vor der Welt unendlicher Auseinandersetzungen entfliehen zu wollen und um sich in die verlogene Sicherheit einer Beziehung zu flüchten, kann nur scheitern. Allerdings dürfen wir dabei nicht vergessen, dass eine kranke Portion an Optimismus zu jedem einigermaßen gelungenen Leben dazu gehört.

Das Kapitel der Liebe, das Zusammensein mit einer Frau, der man lebenslang vertrauen kann, die einem Geborgenheit gibt, schien für mich abgeschlossen zu sein. Auf ewig. Doch dann lernte ich nur wenige Wochen später Lisa auf dem Oktoberfest kennen. Sie war jung. Hübsch. Vierzehn Jahre jünger als ich. Sehr intelligent, dachte ich damals. Eine Täuschung wie sich langsam herausstellte. Und das Elend begann von neuen und nahm seinen verhängnisvollen Verlauf. Denn auch diese Ehe mit Lisa endete in einer vollständigen Katastrophe. Die Liebe ist eine Illusion, die mit Fantasie gefüttert wird.

Wie Gudrun war auch sie schon bald von Neid auf mich zerfressen. Und auch sie sann darauf, mein Leben zu zerstören. Über Jahre mischte sie ein toxisches Gift unter mein Essen. Der Name dieses verhängnisvollen Medikamentes: Finasterid.

Dieses rezeptpflichtige Medikament hatte sie sich, mit einer für mich bis heute nicht vorstellbaren kriminellen Energie, aus dem Darknet besorgt. Nie wäre ich ihr auf die Spur gekommen, ja hätte nicht einmal geahnt, dass es eine solche gab, wenn sie nicht eines Tages eine Nachlässigkeit begangen hätte, die immer dann wahrscheinlich wird, wenn eine Gewohnheit mit der Zeit die Aufmerksamkeit einschläfert. Ein Moment der Unaufmerksamkeit, der mangelnden Koordination zwischen Fuß und Hand und dem bereits zu früh abgewendeten Blick von dem Ort der vermeintlichen Entsorgung dieses toxischen Präparats führte dazu, dass die Packung neben meinen Treteimer fiel und dort, von ihr unbemerkt, liegen blieb. So fand ich in meiner Küche eine leere Schachtel mit der Aufschrift Finasterid. Ich hob sie achtlos auf und war schon im Begriff, sie mit einer nicht weniger achtlosen Bewegung in den Abfallbehälter zu werfen, als mein Handy klingelte. Ich nahm den Anruf entgegen und spielte nachlässig mit der Packung in meiner rechten Hand. Dabei fiel mein Blick auf die Beschriftung. In nur Bruchteilen von Sekunden wurde diese an und für sich sinnlose Information an mein Langzeitgedächtnis weitergeleitet und dort auf ewig eingespeist. Ich verfüge über ein außergewöhnliches Gedächtnis, liebe Leser, das mich noch nie im Stich gelassen hat. Ich vergesse nichts. Nicht die geringste Kleinigkeit. Übrigens: Der Schlüssel für meinen Erfolg in diesem Leben. Der Name Finasterid lagerte sich ab in den tiefsten Tiefen meines Bewusstseins. Bis zu jenem Tag, wo durch ein Ereignis, dass mein Leben mit einem Schlag auf ewig verändern sollte, es wieder an die Oberfläche meines Bewusstseins gespült wurde.

Ich saß vor dem Fernseher. Wie viel Kummer wäre mir erspart geblieben, wenn ich schon damals misstrauisch geworden wäre. Doch ich hatte Vertrauen zu meiner Frau, tiefes, unzerbrechliches Vertrauen. Abgesehen davon, schluckte Lisa so viele freiverkäufliche Medikamente, die sie sich auf meine Kosten über diverse Internetapotheken aus aller Welt zusenden ließ, dass ich mir damals einfach keine Gedanken machte. Außerdem hatte mich der exzessive Tablettenkonsum meiner Frau noch nie sonderlich interessiert. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass meine Frau im Begriff war, ihren Mann langsam und qualvoll zu vergiften.

So saß ich mit dem beruhigenden und mir Sicherheit vermittelnden Hintergrundgefühl einer unzerstörbaren Liebe vor dem Fernseher, völlig unvorbereitet auf diesen Schicksalsschlag, der mein Leben grundlegend verändern sollte. Ich sagte es bereits.

Ich hatte wahllos durch die Programme geschaltet und sah mir schließlich eine Dokumentation über Haarausfall an.

Ein unscheinbarer und rhetorisch ungeschickter Professor der Dermatologie, den ich in jeder beliebigen Diskussion an die Wand hätte argumentieren können, erklärte auf umständliche Weise die Gründe für den Ausfall von Haaren. Schon wollte ich das Programm weiter schalten, als plötzlich der Name Finasterid fiel. Sofort katapultierte mein Langzeitgedächtnis diesen Begriff in mein Bewusstsein zurück. Und dank meiner herausragenden Fähigkeit, Zusammenhänge in wenigen Augenblicken zu erkennen, fügte ich meinen damaligen Fund, den nun zweifach aufgetauchten Namen Finasterid, den nie von Haarausfall bedrohten Kopf meiner Frau zu einer mich nun alles beherrschenden Frage zusammen: Was zum Teufel wollte Lisa mit einem Medikament gegen Haarausfall?

Sie hatte wunderschönes langes Haar. Auch mein Haar ist immer noch schön und füllig, von nahezu jugendlicher Geschmeidigkeit und dabei wunderbar samtig.

An diesen Moment erinnere ich mich noch genau. Mein Körper spannte sich an. Ein unangenehmes Ziehen konzentrierte sich um die Herzgegend.

Was ich nun erfuhr, ließ meinen Atem stocken, mein Herz zu Eis gefrieren und den Glauben an Liebe und Vertrauen für alle Zeiten verrinnen.

Denn Finasterid führt bei längerer Einnahme nicht nur zur Reproduktion von Haarfolliken, sondern hat auch eine äußerst unangenehme Nebenwirkung. Finasterid führt zu einer ausgesprochen ungesunden sexuellen Appetitlosigkeit.

Seit über einem Jahr litt ich bereits an einer erotischen Verstopfung gigantischsten Ausmaßes, ohne mir über ihren Ursprung auch nur annähernd im Klaren zu sein. Ich liebte meine Frau so sehr. Ich wollte ihr nahe sein. Doch ich hatte kein sexuelles Begehren mehr. Jedenfalls kein nennenswertes. Weder für sie noch für andere Frauen. Wie schwer es mir damals fiel, Lisa einzugestehen, dass ich nicht mehr in der Lage war, sie in vollem Umfang zu befriedigen. Zwar gelang es mir, ein Mittel zu entwickeln, das meine Impotenz wenigstens zu Teilen eindämmte. Doch meine einstige Schaffenskraft stellte sich nie mehr ein.

Und nun erfuhr ich, durch eine zufällig angesehene Dokumentation, dass es nie einen organischen Grund für meine sexuelle Aversion gab, sondern meine Frau mich ganz bewusst und systematisch in eine Unlust getrieben hatte, deren Quelle mir bisher verborgen geblieben war.

Es war ein Verbrechen. Ein scheußliches Verbrechen. Ein Verbrechen gegen die Männlichkeit. Unentschuldbar. Unverzeihlich. Unvergeblich.

Finasterid war der Name, der uns schied. Von einem Augenblick zum anderen. Aber dem nicht genug.

Nicht nur dass sich meine Potenz verflüchtigte. Auch die Hauptwirkung von Finasterid ließ nicht lange auf sich warten. Jedoch nicht auf meinen Kopf. Denn da waren genug Haare. Schöne Haare. Füllige Haare. Jugendlich wirkende Haare. Bis heute (Foto beifügen).

Stattdessen wuchsen mir dort welche, wo sie im Allgemeinen eher unnütz und allzu lästig sind. Zu beiden Seiten der Falte meines Rektums sprossen Haare aus der Dunkelheit. Einst hatte ich sie durch eine jener niederträchtigen Aktivitäten Gudruns verloren. Jetzt kamen sie wieder und waren zahlreicher denn je.

Ich stürmte in Lisas Zimmer. Sie war bei einer Freundin. Ich durchsuchte ihr Zimmer, mit von Tränen verhangenen Augen und mit einem tiefen schmerzhaften Zorn in mir, der mich beinahe zerriss, nach Finasterid.

Ich riss Schubladen auf, zog ihr Bett ab, stemmte die Matratze mit überirdischer Energie hoch. Fündig wurde ich in ihrem Bücherregal. Auf hinterhältige Weise versteckt, fand ich Packungen über Packungen dieses Teufelszeugs in einer schönen alten spanischen Schatulle, die ich Lisa zum dritten Hochzeitstag geschenkt hatte.

Die Verzweiflung machte mich fast blind. Doch ich wollte sehen und ich sah. Mindestens zwanzig Packungen von Finasterid befanden sich darin, zu zwanzig Stück je Streifen. Neben der Schatulle stand eine kleine Schale aus weißem Ton mit einem Stößel.

Dank meiner außergewöhnlichen Kombinationsgabe erkannte ich sofort, wie es Lisa gelungen war, mir Finasterid zu verabreichen, ohne dass ich es bemerkte. Sie musste die Tabletten zu einem Pulver zerrieben haben und hatte es mir dann bei jeder nur denkbaren Gelegenheit unter das Essen gemischt. Hoch dosiert. Jeden Tag. Mit dem freundlichsten Lächeln, das man sich nur vorstellen kann.

Niemals ist Liebe verlorener, als in jenen Augenblicken, wo Enttäuschung und Misstrauen sich zu etwas verbinden, dass sie in eine überwunden geglaubte Fremdheit taucht und so eine Distanz erzeugt, die nie mehr ganz aufgehoben werden kann.

Ich sackte weinend auf dem Boden zusammen. Mein Körper tobte vor Schmerz. Ich krümmte mich, wie ein Fötus im Mutterleib. Ich vermochte kaum atmen.

Nur wer jemals eine Frau über alles geliebt hat und dann von ihr bitter enttäuscht wurde, kann verstehen, wie es mir erging. Stundenlang lag ich ausgestreckt da. Spasmen jagten durch meinen hilflosen Körper. Ich schüttelte mich vor Krämpfen. Dann erhob ich mich langsam, gebeugt und gebrochen. Ich taumelte in mein Arbeitszimmer und stellte mir eine Medikation für den Notfall zusammen. Dank meiner außergewöhnlichen Erfahrung im Umgang mit homöophatischen Mitteln hatte ich schnell die richtigen Globulis gefunden. Ich verabreichte mir 20 Globulis, denn große Probleme erfordern große Mengen. Alle mit der Potenz D12: Arsenicum album, Aconitum napellus, Argentum nitricum, Arnica. Ich legte sie unter meine Zunge und wartete. Die Wirkung trat bereits nach Sekunden ein. Für Leserinnen und Leser die Interesse daran haben, können auf meiner homepage: www.prof.dr.j.raab@hyperglobuli.de zu Sonderkonditionen (30% Preisnachlass) diese äußerst wirksamen Medikamente erwerben.

Ruhig und gefasst, setzte ich mich dann in meinem Sessel und wartete auf Lisas Rückkehr.

Als sie endlich nach Hause kam und mir ein geheucheltes „Hallo Schatz“ entgegenrief, blieb ich stumm. Ich kam gemessenen Schrittes auf sie zu. Die Hände voller Packungen mit Finasterid. Ich schleuderte sie ihr ins Gesicht.

Sie leugnete nichts. Schweigend sah sie mich lange an. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. Es strahlte geradezu vor Erleichterung, als hätte sich eine lange verheimlichte Bürde mit einem Schlag bei ihr gelöst. Das Strahlen verblieb in ihrem Gesicht, während sie, noch immer schweigend, an mir vorbeieilte, in ihrem Zimmer verschwand, hinter sich die Tür schloss und sie diese erst wieder nach etwa einer halben Stunde öffnete.

Sie hatte zwei Koffer in den Händen, einer davon gehörte mir, würdigte mich keines Blickes und verließ, ohne ihr Schweigen zu brechen, die Wohnung.

Ich habe sie nie wiedergesehen.

*

28.08.2016

Hatte in der Nacht unerträgliches Afterjucken. Habe mir eine Creme von der Nachtschwester besorgt. Geiler Arsch und geile Titten, gerade 25 Jahre alt. Jasmin, die Schöne. Kein Interesse an mir. Wohl zu alt. Obwohl ich nicht wie 62 aussehe, eher wie 40. Aber steht wohl nur auf kleine Kinder bis 30 Jahre. Verliebt in einen jungen Krankenpfleger aus der Frühschicht. Schon mal gesehen: Sieht Scheiße aus. Sie endet wahrscheinlich als Brutkasten für viele kleine neue Krankenpfleger. Jugend: Nichts weiter als fehlgeleitete, überschüssige Energie.

Die Creme ist echt gut, lindert den Juckreiz fast sofort. Auch geil.

30.08.2016

Konnte nicht schlafen. Habe mir eine Wiederholung von „Next German Model“ angesehen. Eine Schlachthofatmosphäre mit Todesbolzen, Blut und Metzgermessern ist jeder Casting-Show hoffnungslos unterlegen.

01.09.2016

Wieder einer dieser eingebildeten Ärzte auf dem Flur. Grüßt mich ohne Titel. Es ist schade, das Dummheit nicht weh tut.

In der Kantine einen Horrorfilm gesehen. Mutter und ihre etwa 16jährige Tochter im Streit. Ging heftig zur Sache. Die Tochter: Im Tötungsmodus. Die Mutter: Verzweifelt. Den Tränen nahe. Bin hingegangen. Mich vorgestellt. Kannten mich nicht. Mutter meine Visitenkarte gegeben. Immer dabei. Böse Blicke von beiden. Nicht jeder verdient Hilfe.

Eine bemerkenswerte Beobachtung gemacht. Bei alten Leuten. Stehen sie von ihren Plätzen auf und ist ein Tisch zum Abstützen in der Nähe, verwenden sie eine an Gorillas erinnernde Methode der Fortbewegung, wenn auch hier nur vertikal. Sie ballen ihre Hände zu Fäusten und rollen über die Fingerknochen bis zu den Handknochen ab, wenn sie aufstehen. Sieht lustig aus. Stammen wohl doch vom Affen ab.

Mir erst heute aufgefallen. Weder Gudrun noch Lisa haben sich je dafür bedankt, wenn ich sie mit meiner Rute beglückte. Habe wirklich alles gegeben. Verdammtes Schlampenpack. Auch die anderen nicht. Was soll das? Das kann doch nicht sein. Doch. Eine Ausnahme. Elsa, die Kahle. Letzter Fick in ihrem Leben. Drei Tage danach war sie tot. Krebs. Konnte ihr nicht helfen, außer Gnadenfick. Wusste, dass es das letzte Mal war. Zählt eigentlich nicht. Da bedankt man sich eben.

02.09.2016

Jasmin meinen strammen Max gezeigt.

*

Die Liebe ist eine Umarmung, die sich erst dann zu lösen beginnt, wenn eine falsche Gewöhnung daran sich mit der Gier nach Neuem paart. So sehe ich das. Doch das war nie das Problem in meinen zwei Ehen. Es gab nie eine falsche Gewöhnung an mich. Gudrun und Lisa hätten mich nie betrogen. Ich war für sie der Gott, den sie sich immer gewünscht hatten. Etwas anderes als mich hätten sie nie gebraucht. Nein, was sie von mir trennte, war der blanke Neid.

Wissen Sie lieber Leser, ein weitgehend normales Leben kann ein Mensch nur dann führen, wenn er mit minderen Geistesgaben ausgestattet ist. Für Menschen wie mich hingegen, ist das Leben eine einzige Bürde. Denn überall trifft man auf Neider. Und bedauerlicherweise auch dort, wo Neid nichts zu suchen hat. Nämlich in einer guten und liebevollen Beziehung, wo die Partnerin neidlos die Größe und Intelligenz ihres Partners anerkennt und sich wie selbstverständlich auf den Platz einfindet, der ihr durch ihre eigene geistige Beschränktheit zugewiesen wurde. Sowohl Gudrun wie auch Lisa führten ein eher mittelmäßiges Leben. Sie waren nicht mit besonderen Geistesgaben gesegnet. Trotzdem versuchten sie, mit mir geistig Schritt zu halten. Ein von vorneherein natürlich zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Es hielt sie aber nicht davon ab, es immer wieder darauf ankommen zu lassen.

Es ist ein Fluch, wenn man die eigene Unfähigkeit nicht erkennen kann. Beide gleichermaßen. Dummheit ist für die Dummen keine Last, sondern nur für die, die sie ertragen müssen. Ihre Dummheit menstruierend, vergossen Gudrun und Lisa Tränen der Einfältigkeit.

Was meine beiden Frauen vereinte, war ihr unstillbarer Neid auf mich.

Neid auf meinen Doktor- und Professorentitel.

Neid auf meinen außergewöhnlichen beruflichen Erfolg.

Neid auf meine überdurchschnittliche Intelligenz

Neid auf meine herausragende Reputation

Neid auf meine nahe übermenschliche Beliebtheit bei Frauen.

Und natürlich: Neid auf mein Geld.

Es gehört wahrlich Größe dazu, die eigene Beschränktheit im Vergleich zu einem höheren Wesen wie mir zu erkennen. Auch in meiner Familie war es nicht anders. Die Familie: Ein Pfuhl des Grauens. Ein Tempel gekränkter Eitelkeiten, von Neid und Eifersüchteleien zerfressen. Nie ist man der Verlogenheit, dem nicht eingestandenen Hass und der Niedertracht des Menschen näher als in den Momenten, wo erworbene Abneigung sich mit gezüchteter Liebe mischt.

Ich mache Gudrun und Lisa im Rückblick keine Vorwürfe. Ich habe ihnen vergeben. Doch ich musste erkennen: Jede Liebesbeziehung, welche durch ein Bedürfnis nach Macht angetrieben wird, trägt bereits die unsichtbaren Spuren ihres Unterganges in sich, da jeder Hauch von Rivalität und jedes Begehren nach Überlegenheit nur unweigerlich die diabolische Lust nach Herrschaft in einem zu erkennen gibt.

*

04.09.2016

Bin gelangweilt über den Stationsflur geschritten. Gähnende Leere. Betrat ein Zimmer, deren Tür offenstand. Ein alter Mann, schwer atmend in seinem Bett liegend, die Decke von sich weg gestrampelt. Die abgehungerten Beine, wie brüchige Zweige. Stank nach Greisenfurz. Etwa 80 Jahre alt. Das Gesicht von Falten durchzogen, wie ein dicht gewebtes Spinnennetz. Einige so tief, wie Krater. Arme und Hände in unnatürlichen Winkeln liegend, geradezu spastisch. Ein kaputter Embryo in Rückenlage.

Was ich an Frauen so toll finde: Die Fußnägel sind immer geschnitten.

Die süße Jasmin scheint doch auf mich zu stehen. Schiebt immer ihren Daumen zwischen Zeigefinger und Mittelfinger rhythmisch hin und her. Eindeutiges Zeichen. Gesteigerte Fickbereitschaft. Sigi Freud lässt grüßen. Mal sehen, wann es soweit ist. Ich bin bereit.

05.09.2016

Habe im Wartebereich der Station meine Visitenkarten hinterlegt und meine Zimmernummer darauf geschrieben. Ist ein Zimmer offen und ist niemand da, lege ich meine Karte auf das Bett. Habe meine Sprechzeiten darauf geschrieben.

Jugendlicher in der Kantine. Hat sich hingesetzt, mit Altersstöhnen. Widerlich.

Meine Eltern sind tot. Mir erst heute klargeworden, dass ich eine Vollwaise bin. Aber ich komme damit klar. Das ist nun mal der Gang der Dinge.

Nur Vollgreise. Geriatrische Station. Mein Gott. Wie viel Alter muss man aushalten, wenn man am Leben bleiben will?

Der grausamste Tod, den ich mir vorstellen kann, ist der, zu den Klängen von Andrea Berg zu sterben.

*

Während einer Urlaubsreise meiner Eltern wurde ich am 12. Juni 1954 geboren. Wie jedes Jahr fuhren sie nach Italien zum Gardasee. Mein Vater war ein berühmter Chirurg. Meine Mutter eine angesehene Internistin. Ihre Wehen setzten ein, als sie auf die erste Stufe trat, die zur Lobby eines Fünf-Sterne-Hotels führte.

Man brachte sie umgehend in das örtliche Krankenhaus. Wie mein Vater mir später erzählte, muss es ein wunderbarer Abend gewesen sein. Sinnlichkeit lag in der von Frühlingsduft geschwängerten Luft.

Ich schoss wie ein Torpedo durch den von Spasmen zerschundenen Geburtskanal meiner Mutter. Aber die Nabelschnur verhinderte ein größeres Unglück.

Im Augenblick meiner Geburt müssen die Fenster des Krankenhauszimmers mit einem großen Knall aufgesprungen sein und ein Meer von bunten Funken ergoss sich über den Nachthimmel. Minutenlang starrten mein Vater und meine Mutter wie gebannt auf den wie brennenden Himmel, bis mein Vater mich mit beiden Händen hochriss und mich den Sternen wie zum Geschenk entgegenreckte. Und wie mit einem geheimen Wissen vorab gesegnet, nickte ich den Sternen zu.

So erzählte es mir mein Vater.

Ich war da.

Einst wurden die Söhne von Göttern in der Stunde ihres Erscheinens in der Welt auf eine besondere Weise begrüßt. Und auch meine Geburt war nicht minder ein Zeichen meiner zukünftigen Bedeutung: Der größte Heiler aller Zeiten zu werden.

Wäre ich schon damals, als ich roh von der Hand eines Gynäkologen aus dem Leib meiner Mutter gezerrt wurde, Herr meiner Sinne gewesen, hätte ich diesem Augenblick bereits den gebührenden Respekt gezollt.

Noch heute denke ich oft an diesen Augenblick zurück und stelle ihn mir vor: Die Geburt eines großen Mannes in einem unbedeutenden Stadtkrankenhaus ohne Format und einem Gynäkologen, von dem heute niemand mehr spricht.

*

09.09.2016

Gott sei dank ist meine Verdauung gut. Obwohl. Trotzdem: Lieber einen harten Stuhl als gar keinen.

Denke schon seit Tagen über einen Titel für meine Autobiographie nach. Habe drei zur Auswahl: „Ich, Justus Raab, Heiler der Welt!“; „Der Königsheiler Justus Raab!“; Ein Meister aus Deutschland: Der Königsheiler Justus Raab“. Ich glaube, ich werde mich für den letzteren entscheiden. Hat die nötige Dramatik. Der Untertitel: Memoiren eines Ausnahmegenies. Muss Ruth morgen davon unbedingt in Kenntnis setzen.

Platz im Text für folgende Urlaubsgeschichte finden: Neulich sah ich in einem Hotel eine Frau beim Frühstück. Sie schlang gekochte, allerdings vorher geschälte Eier nacheinander herunter, ohne sie zu kauen. Sie legte auf diese unnachahmliche Weise einen Stock von Eiern in sich an. Endlich erschloss sich mir die tiefere Bedeutung des Begriffs Eierstock.

10.09.2016

Schlecht geschlafen.

Im Fernsehen Bericht über Schuga-Daddys gesehen. Widerlich. Diese alten Säcke suchen sich junge hübsche Frauen und bieten ihnen Monatsgehälter dafür an, dass sie mit ihnen ficken und sie nach wohin auch immer begleiten. Wie tief muss man gesunken sein, umso so etwas zu tun. Unbegreiflich. Obwohl, wenn man genug Geld hat.

Überlege, ob ich den ersten Satz meiner Autobiographie verändern soll. Gefällt mir nicht. Vielleicht so: Fantasien, die sich um geliebte Menschen wickeln, bedürfen nur der Zeit, um in sich zusammenzufallen. Finde es so prägnanter. Austauschen.

11.09.2016

Heute von Jasmin geträumt. Kam des Nachts in mein Zimmer geschlichen, wie eine läufige Hündin. Unter dem weißen Kittel vollständig nackt. Hat sich auf mich gesetzt. Mich geritten wie ein wildes Tier. Kittel geöffnet. Geiles Brustfleisch. War völlig wehrlos. Ließ alles mit mir machen. Jasmin geschrien wie ein Pornostar, nur natürlicher. Fiel auf mich. Rutschte in mich rein, verschmolz mit mir, wie zwei Schmierkäse, die nebeneinander liegend von der Sonne erhitzt, ineinander zerlaufen. Schreiend aufgewacht.

*

Es war im Herbst 2011, ein regnerischer Tag, in dem sich noch der Hauch eines sich verflüchtigenden Sommers mischte (Ich bin ein wahrer Poet).

Ich erinnere mich noch genau.

Ich hatte es eilig an diesem Tag.

In meiner Praxis wartete ein Patient auf mich, der dringend um einen Termin nachgesucht hatte. Er klagte über Herzschmerzen.

Ich bin kein Arzt, der leidende Menschen warten lässt. Ein Patient ist jemand, der in besonderer Weise auf meine Unterstützung angewiesen ist und für den ich von dem Moment an, wo er sich mir anvertraut Verantwortung übernehme. Das unterscheidet mich von den meisten meiner Kollegen.

Ich höre zu.

Ich stelle Fragen.

Ich bin besorgt.

Ich habe Verständnis.

Wahrscheinlich ist auch dies der Grund, warum ich bei meinen Patienten so beliebt bin. Abgesehen von meinen überragenden Heilungserfolgen natürlich, von denen noch später zu berichten sein wird. Ich habe im Umgang mit meinen Patienten nie meinen Professoren- und Doktortitel heraushängen lassen. So einer bin ich nicht. Ich bin immer ich selbst geblieben. Unkompliziert. Ich werde sterben.

Ich befand mich also auf dem Weg zu meiner Praxis. Ich hatte noch nicht gefrühstückt an diesem Morgen. Mein Magen rumorte fürchterlich.

Ich kam an einer kleinen niedlichen Bäckerei vorbei. Die Hausfront stammte aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Leider nicht liebevoll restauriert. Aber immer noch mit dem Charme einer verblichenen Epoche gesegnet. Ich liebte dieses Gebäude. Bäckerei Sonnenfeld, stand auf dem schon im Verbleichungsprozess sich befindenden Schild über der Eingangstür. Seit 150 Jahren ein Familienbetrieb. Alles frisch, alles mit Liebe hergestellt.

Dort gab es die besten Croissants aller Zeiten. Ich beschloss, mir, wie üblich, zwei Croissants zu kaufen und einen Latte macciato.

Doch zu meinem größten Bedauern befand sich eine lange Schlange vor der Theke. Und die Bedienung, eine dürre alte Kuh, die nur entfernt einem Menschen ähnlich sah und die neu sein musste, bewegte sich unsäglich langsam im Takt einer immer wieder aussetzenden Herz-Lungen-Maschine.

Ich war betroffen, geradezu entsetzt.

Ich hatte es eilig.

Ein Patient wartete auf mich.

Womöglich ging es um Leben und Tod.

Ich schüttelte den Kopf. Noch während ich es tat, bewegte ich mich an der Schlange vorbei und zwängte mich zwischen der Kundin, die gerade bedient wurde und dem, der hinter ihr stand.

Die Proteste waren ungeheuerlich.

Es war unglaublich.

Mein Gott, regten die sich auf.

Was mir denn einfiele, schrie eine aufgebrachte Frau, die aussah, als würde sie jeden Moment kollabieren. Ihr Gesicht rundete sich beim Sprechen, als blase sie gerade einen Luftballon auf. Dabei produzierte sie unansehnliche, kleine rote Flecken an Hals und Wangen.

Ein Mann, der weit hinten stand, forderte mich mit unverschämter, quäkender Stimme auf, mich gefälligst wie jeder anzustellen und zu warten.

Wie unsäglich dumm Menschen sein können.

Schließlich war ich nicht jeder.

Und so musste ich mich bedauerlicherweise damit abfinden,

dass diese durch die Reihe verblödeten Kreaturen mir den nötigen Respekt versagten. Der direkt hinter mir Stehende sagte überraschenderweise überhaupt nichts, kuschelte sich jedoch nur auf unverschämte Weise an mich.

Ein Frotteurist.

Wie ekelhaft.

Einer von diesen Menschen, die sich vorzugsweise in überfüllten U-Bahnen und Bussen an einem reiben, um so ihren sexuellen Bedürfnissen nach zu kommen.

Jedem sein Vergnügen, ist meine Devise, solange es nicht mich betrifft.

Ich stieß ihm kurzerhand meinen Hintern in sein sich gerade erhärtendes Genital.

Er quiekte einmal protestierend auf.

Von meinem Blick bestraft, sah er betroffen zur Seite.

Einmal war es Leuten tatsächlich gelungen mich von meiner mir angestammten Position zu vertreiben, so dass ich mich tatsächlich gezwungen sah, meine Stellung aufzugeben, und mich wie ein geprügelter Hund als letzter in eine Reihe stumpfsinniger Zombies einzuordnen. Und obwohl sie sich nicht abgesprochen hatten, verbrüderten sich diese Kretins spontan. Sie folgten einem niederträchtigen und unausgesprochenen kollektiven Impuls der Solidarität und verabredeten sich stillschweigend dazu, sich bei ihren Einkäufen jetzt besonders viel Zeit zu lassen.

Alles nur, um mir zu schaden.

Unglaublich.

Ich hätte sie damals allesamt durch München prügeln sollen.

Aber ich lernte. Das tue ich stets. Ich bin eine lebendige Lernmaschine. Es gibt nichts, was ich nicht lernen kann. Ich bin schnell. Meine Auffassungsgabe ist herausragend und meine Fantasie nicht weniger.

Ich stand also vor der Theke. Vor mir eine Kundin. Eine übergewichtige Frau, die mich überhaupt nicht beachtete. Was hinter ihr geschah, interessierte sie nicht. Ein weiteres Zeichen für den Verfall dieser Welt, wo sich jeder nur um sich selbst kümmert. Sie wollte ihr Geschäft erledigen und dann weg.

Sie roch, wie Tante Josephine unterm Arm.

Dabei hatte sie ein billiges Parfüm aufgelegt, was mir zusätzlich den Atem raubte und ich betete zu unserem Herrn Jesus Christus, mich schnellstmöglich von diesem Übel zu erlösen.

Wie gesagt, sie kümmerte sich nicht um das, was hinter ihrem Rücken geschah.

Dabei wurde es immer lauter. Die hinter mir Stehenden wollten sich partout nicht beruhigen.

Aber wie die meisten kläffenden Hunde beißen sie nicht. Sie plustern sich nur auf und machen sich wichtig.

Einen solchen Haufen von Blindgängern kann man nur auf eine Weise zur Räson bringen?

Ganz einfach.

Die leichteste Übung der Welt.

Funktioniert immer.

Ich drehte mich zu dem lamentierenden Pulk um und begann, zu stottern.

Augenblicklich wurde es still.

Keine Frage, die Stotterer in unserer Welt haben es nicht gerade leicht. Man braucht viel Zeit und Geduld, um sich auf sie einzulassen und, um ihnen überhaupt zuzuhören. Dies wird vor allem dann ein Problem, wenn man es eilig hat.

Und wer hat es heutzutage nicht eilig.

Also stotterte ich und fragte mit dem Gesichtsausdruck eines Menschen, der überhaupt nicht versteht, warum sich alle so fürchterlich aufregen, was denn los sei.

Natürlich zog ich die einzelnen Worte in die Länge, verharrte sogar bei einigen von ihnen für eine Weile, wiederholte Buchstaben, machte hierbei hilflos wirkende Bewegungen mit meiner Wangenmuskulatur wie ansonsten mit einer anderen Muskulatur bei einem akuten Darmverschluss.

Die Frau, die kurz vor dem Kollabieren stand, sah betreten zur Seite. Sie fuhr sich mit ihren wurstigen Fingern durch das noch immer fleckige Gesicht und starrte dann auf ihre Hand, als wolle sie sich selbst hypnotisieren.

Aber alle ließen mich augenblicklich in Ruhe.

Sie hatten verloren.

Und sie wussten es.

Denn jede Diskussion mit mir würde sich unendlich in die Länge ziehen. Intuitiv erfassten sie die Situation und erkannten, dass es besser für sie war, den Mund zu halten und mich nicht weiter zu belästigen.

Wenigstens das begriffen sie sofort.

Ich drehte mich langsam um, erfüllt von einem kleinlichen aber dennoch großen Triumphgefühl.

Ich hatte meinen mir zustehenden Platz in der Reihe erfolgreich verteidigt.

Die Frau vor mir bezahlte.

Ihr Geschäft war erledigt. Es hatte lange genug gedauert. Sie wankte mit ihren verkrüppelten Hüften und einer großen Tüte mit allerlei Brot unter dem Arm aus der Bäckerei.

Hüftdysplasie im letzten Stadium, diagnostizierte ich. Breitbeinig wie ein Seemann und dabei immer wieder das Gewicht von einem Bein auf das andere verlagernd, schaukelte sie sich aus der Bäckerei Sonnenfeld.

Wäre sie eine Patientin von mir gewesen, hätte ich ihr mit dem größten Vergnügen zu einer invasiven Totaloperation der unteren Extremitäten geraten. Und zusätzlich natürlich zu einer Entfernung ihrer überaktiven Schweißdrüsen.

Ich stand jetzt vor der Theke und bestellte stotterfrei meine beiden Croissants und meinen Latte machiato.

Die dürre Bedienung starrte mich mit großen Augen an. Natürlich hatte sie das Geschehen mitverfolgt.

Der Frotteurist hinter mir zuckte zusammen.

Ein ausgesprochen gefährlicher Moment.

Aber ich blieb locker.

Denn in den meisten Fällen verlief es glimpflich.

Denn eines muss man über Menschen wissen: Empörung steht ihnen gut zu Gesicht, wenn sie nicht allzu lange dauert. Und daran haben die Meisten kein Interesse. Wird man nicht sofort ganz klein, erlahmt ihre Widerstandskraft sofort.

Wie alle wollen sie nur ihre Ruhe haben. Ein bisschen kläffen. Sich ein wenig aufblasen, die Schneidezähne wetzen und dann: Schaltet ihr Hirn auf Leerlauf.

Und gut ist.

Umgeben von Menschen, die auf dem immergleichen niedrigen Niveau tanzen und ihre behelfsmäßigen Pirouetten für sehenswert erachten, bleibt man lieber allein. Meine Devise.

Für heute und für die Zukunft.

Ich nahm meine Croissants und den Becher mit Kaffee und verließ gemächlich die Bäckerei.

Ich warf keinen Blick zurück.

*

12.09.2016

Dieser alte Sack vor mir auf dem Flur. Halbblind. Er furzt in einer Tour. Unerträglich. Stinkt nach dem Medikament, dass sie in ihn reinpumpen. Bleibt jedes Mal danach stehen. Dreht sich um, Blick nach unten. Schnüffelt dabei wie ein Köter, wittert die eigene Spur. Lächelt zufrieden. Wenn einem das eigene Furzen Freude bereitet, ist man definitiv alt.

Geburtstagsständchen in Zimmer 4. Eine Horde nichtssagender Weiber. Belangloses Geschwätz. Ich lausche an der halb offenen Tür. Fühlen sich unwiderstehlich im Gruppenrausch.

Nichts weiter als Synchronisationseffekte der Dummheit. Ausleben einer nicht zu leugnenden Schwarmstupidität, wie Vater immer sagte.

Jemand auf der Station gestorben. Arme Sau. Habe ihn nur ein-zweimal gesehen. Sah schon tot aus, als er noch lebte. So ein Leichentuch ist schick, verbirgt alles und zeigt auch alles. Dahinter ein Leichenzug von Verwandten. Erschüttert bis in die Knochen. Weinerliches Pack. Krokodilstränen sicher inklusive. Hätten mich konsultieren sollen. Hätte ihn bestimmt gerettet. Habe wieder Visitenkarten auf die Besuchertische im Gang gelegt und meine Zimmernummer und meine Sprechzeiten darauf geschrieben. Schon am nächsten Tag alle wieder verschwunden. Verdammte Konkurrenz.

Das Jucken hört nicht auf. Eine Kratzorgie nach der anderen. Die ganze Tube befindet sich schon in meinem Arsch. Trotzdem brennt es wie Hölle.

Gudrun ging allen Ernstes davon aus, das, wenn sie nett zur mir war, ich automatisch auch zu ihr nett sein müsste. Nicht zu fassen diese Anspruchshaltung. Na ja, für gewisse Momente schon angebracht.

13.09.2016

Habe meinen Vater erst geliebt, als er alt und schwach war.

Kein Koks mehr da. Muss Keanu anrufen. Brauche dringend Nachschub.

War auf der Geburtsstation. Mutter getroffen. Klagte über schwere Geburt. Sagte ihr, lieber eine schwere Geburt als eine Totgeburt. Fand sie nicht witzig. Seltsame Frau. Verstehen alle keinen Spaß.

Chefarzt hat mich aufgesucht. Allein. Dachte schon, er wolle mit mir die Behandlung diskutierten. Stattdessen droht er mir mit Konsequenzen, wenn ich nicht damit aufhöre, meine Visitenkarten auf der Station zu verteilen. Ignoranter Trottel. Habe mich einsichtig gezeigt. Muss auf andere Stationen ausweichen.

Der Fraß hier bringt mich noch um. Beim China-Mann etwas bestellen. Gut das es Liefer-Service gibt.

*

Es gibt Menschen, flüsterte mein Vater mir an meinem sechsten Geburtstag ins Ohr, die leben ihr Leben ab, wie man einen Anzug abträgt. Während er mich sanft an sich drückte und mir dabei über den Kopf strich, war mein Ohr noch vom Weinen erhitzt und pochte gleichzeitig vor Wut. Nach einer kurzen, aber eindrucksvollen Pause fügte er hinzu: Es sind die meisten.

Sofort versiegten meine Tränen, und ich umschlang, noch immer zitternd, die Beine meines Vaters. Zu jung, um einen solchen Gedanken in seiner ganzen Tiefe zu erfassen, erschloss sich mir dennoch der Sinn seiner Worte. Sie berührten mich augenblicklich, so wie Musik einen berührt, welche den Körper, sobald von den Klängen angesprochen, diesen in eine unaussprechliche Schwingung versetzt und eine Erkenntnis ermöglicht, für die ein Verstand - und sei er noch so ausgebildet - nicht vorbereitet sein kann.

Bereits in diesem jungen Alter von sechs Jahren verfügte ich über eine ganz außergewöhnliche Wahrnehmungsfähigkeit und Intelligenz. Fast spielerisch war ich in der Lage, jedwede Zusammenhänge zu erkennen und durchschaute ohne langes Nachdenken das lächerliche Spiel der Erwachsenen, die einem Kind Interesse an ihm vorheuchelten, aber sich in Wirklichkeit alleine schon durch dessen bloße Anwesenheit belästigt fühlten.

In dieser Welt, in der wir alle gezwungen sind zu leben, ist es nicht leicht, ein herausragender Mensch zu sein. Weder mit sechs noch mit 62 Jahren.

Ein solches Leben macht zu jedem Zeitpunkt einsam, wenn es sich abseits der konventionellen Dramen normaler Existenzen abspielt.

Niemand kann sich das vorstellen. Denn dafür müsste man so sein wie ich.

Als mein Vater mir an meinen sechsten Geburtstag jenen denkwürdigen Satz anvertraute, befand ich mich in der größten Krise meines Lebens.

Dieser Tag, der für mich von herausragender Bedeutung werden sollte, endete auf tragische Weise. Ich erkannte, als er zur Neige ging, dass es Menschen gab, für die ich nichts weiter als nur ein unbedeutender Nebenschauplatz in ihrem Leben war.

In damals noch völliger Unkenntnis von der Verlogenheit und Niederträchtigkeit meiner Verwandten, hatte ich ein Kasperletheater für meine Geburtstagsgäste vorbereitet. Wochenlang entwarf ich Dialogszenen, verwarf sie, konzipierte sie neu, wechselte die Hauptdarsteller aus. Bis ich endlich, mit meinen Bemühungen zufrieden, auf den großen Tag zu warten begann. Und er kam.

Nur eben anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte.

Die Bühne war aufgebaut. Die Vorpremiere am Vortag mit meinen Eltern war fantastisch gelaufen. Sie hatten begeistert geklatscht, ihre Gesichter strahlten voller Stolz. Sie verlangten nach einer Zugabe, die ich ihnen nach einem kurzen Zögern gewährte. In dem Bewusstsein, etwas Großartiges geleistet zu haben, ging ich zu Bett.

Ich konnte kaum schlafen. Ich träumte von Dialogen zwischen Kasperle, dem Polizeiwachtmeister, der Großmutter und dem bösen Krokodil.

Wie ein Boxer, der es kaum abwarten kann, in den Ring zu steigen, musste meine Mutter mich an meinem großen Tag zurückhalten, um nicht sofort jeden einzelnen meiner Tanten und Onkel und meine drei Großeltern, sobald sie durch die Wohnungstür traten, in Beschlag zu nehmen.

Ich musste mich gedulden. Es fiel mir schwer. Die Unruhe stieg in mir an, wie ein immer lauter werdender Staubsauger.

Aber dann. Dann war es endlich soweit.

Mein Herz pochte, mein Körper vibrierte und meine Hände zitterten wie die meines Onkels Gottlieb, die sich erst dann zu beruhigen begannen, wenn mein Vater ihm eine Flasche Bier reichte, die er mit nur wenigen kräftigen Zügen leerte.

Sie waren alle gekommen.

Tante Walpurga, Tante Josephine, Onkel Gottlieb und Onkel Alexander mit dem breiten Grinsen. Meine Großmütter Trude und Elisabeth, die sich nicht leiden konnten und nie miteinander sprachen und mein Großvater Edwin, väterlicherseits.

Doch statt meinen Geburtstag zu feiern, begrüßten sie mich nur kurz, überreichten mir hastig Geschenke, machten nichtssagende Bemerkungen über meine Größe und wie gesund ich aussehen würde. Dann setzten sie sich um den übervollen Kaffeetisch. Sie bedienten sich selbst, schoben sich Kuchenstücke, in die weit aufgerissenen Mäuler, wo der billige Zahnersatz nicht kaschieren konnte, dass sie alle knapp bei Kasse waren. Onkel Gottlieb forderte mit Blicken meinen Vater auf, ihm etwas anderes als Kaffee zu servieren.

Vergeblich versuchte ich, meine Verwandten auf mich aufmerksam zu machen. Ich sprach sie einzeln an, zog mir die Kasperlepuppe über die rechte Hand und setzte sie davon in Kenntnis, dass ich gleich für sie und nur für sie ein Stück aufzuführen im Begriff war, von denen noch Generationen sprechen würden.

Aber Tante Trude hörte nicht zu. Tante Elisabeth nicht, auch nicht meine Onkel und meine Großeltern. Außer zu fressen und zu saufen schien sie nichts zu interessieren. Sie strichen mir nur gleichgültig über den Kopf, ohne mich dabei anzusehen. Sie redeten einfach weiter über ihre belanglosen, leeren Themen und fingerten gierig nach dem nächsten Kuchenstück.

Ich versuchte es ein weiteres Mal, mit dem gleichen Erfolg.

Wie sehr ich sie alle in diesem Moment zu hassen begann. Dieser Hass auf meine Verwandtschaft – ich gestehe es ein - besteht noch heute. Zufrieden lehne ich mich manchmal in meinen von den Bielefelder Werkstätten gefertigten über 2000.00 Euro teuren Sessel zurück und genieße das mich alles erfüllende Gefühl, wenn ich in den Todesanzeigen der Zeitungen vom Ableben eines meiner Onkel und Tanten erfahre.

Wären sie heute hier versammelt, allesamt würde ich sie durch die Straßen meiner Heimatstadt prügeln.

Meine damals so empfundene Ohmacht war grenzenlos. Ein Schlüsselereignis meines Lebens, eingebrannt in mein Gehirn wie eine nicht mehr zu entfernende Tätowierung.

Dabei wollte ich doch nichts anderes als nur ein wenig Aufmerksamkeit. Eine Aufmerksamkeit, die mir insbesondere an diesem Tag zustand.

Ich begann zu weinen, ich tobte. Und plötzlich waren alle still, sahen zu mir herüber und warteten darauf, was jetzt wohl als Nächstes geschehen würde. Natürlich hofften Sie, dass meine Mutter mich zur Ordnung rufen würde.

Doch ich erahnte ihre Gedanken, lief zu meiner Mutter, klammerte mich mit dem rechten Arm um ihr linkes Bein, während ich mit der Kasperlepuppe an meiner linken Hand auf das Kasperletheater zeigte.

Sie begriff sofort, was ich damit anzudeuten versuchte, und mit ihrer klaren Stimme, die zwar leise war, aber die dennoch jeder vernahm, kündigte sie meinen Verwandten an, dass jetzt augenblicklich eine herausragende Darbietung folgen würde, die extra von mir für meine Gäste einstudiert worden war.

Alle wandten sich mir zu.

Für einen Moment spürte ich das Bedürfnis, ihnen meine Verachtung entgegenzuschleudern und ihnen mitzuteilen, dass es nun zu spät dafür sei und ich sie nicht für wert erachten würde, meiner Darbietung zu lauschen. Aber ich besiegte diesen Impuls – wenn auch nur mit äußerster Mühe. Denn es war mein Tag. Nur meiner. Sie waren schließlich nur meinetwegen gekommen. Jedenfalls dachte ich das damals.

Ich verneigte mich anstandshalber vor meinem Publikum und begann mit der Vorführung.

Ich spielte das Stück meines Lebens. Alle Dialoge waren mir präsent. Ich machte nicht den geringsten Fehler. Der Wechsel von einer Figur zur anderen verlief wie von Zauberhand. Ich war großartig.

Sie hörten mir alle zu, und schon war ich bereit, ihnen ihr Fehlverhalten zu verzeihen, als ich die ersten Anzeichen von Langeweile in ihren Augen wahrzunehmen begann. Immer öfter blickten sie zur großen Wanduhr, die uns Großvater Olaf kurz vor seinem Tod geschenkt hatte.

Ich gebe unumwunden zu, dass ich damals die für meine Darbietung vorgesehene Zeit von zehn Minuten ein wenig überzogen hatte. Aber es bereitete mir soviel Vergnügen zu spielen, dass ich unaufgefordert eine Zugabe nach der anderen gab. Ich improvisierte ohne Unterlass. Ich war auf der Höhe meiner Schaffenskraft.

Ich versuchte, die Aufmerksamkeit meiner Verwandten zurückzugewinnen, indem ich lauter sprach und mehr Bewegung in das Spiel der Puppen brachte. Alles ohne Erfolg.

Tante Walpurga und Tante Josephine begannen, miteinander zu tuscheln. Onkel Gottlieb schielte mit seinen wässrigen Augen auf die Flaschen Bier, die auf einer Anrichte wie Puppen nebeneinander aufgereiht standen.

Und selbst meine Großmütter sprachen leise miteinander. Mein Onkel Alexander war eingeschlafen und selbst im Schlaf vergaß er nicht, zu grinsen. Nur meine Eltern hörten mir andächtig zu.

Doch das reichte mir nicht.

Meine Stimme überschlug sich. Ich versprach mich. Und schließlich warf ich voller Zorn die Puppen in das Publikum. Eine flog in die Kaffeetasse von Tante Walpurga und ein Strom von milchfreien Kaffee ergoss sich über ihr weißes Kleid, wie Pech über eine von einem Gericht verurteilte Seele. Sie schrie erschrocken mit ihrer heiseren Stimme und machte sinnlose und gleichzeitig lächerliche Abwehrbewegungen mit ihren Oberarmen, an denen lächerlich kleine Flügel aus wabbeligem Menschenfleisch festgewachsen schienen, die nur zum Hängen und nicht zum Fliegen taugten.

Onkel Alexander schrak auf und Onkel Gottliebs Hände fingen wieder an zu zittern.

Obwohl ich dies alles nur aus den Augenwinkeln wahrnahm und dabei schreiend und weinend in mein Zimmer rannte, spürte ich einen Anflug von Befriedigung durch meinen Körper strömen.

Das war der Moment, wo mein Vater zu mir eilte und mir jene Worte anvertraute, die seitdem zum Motto meines Lebens geworden sind.

*

14.09.216

Habe mir in die Schlafanzughose gemacht, konnte den Scheiß nicht bei mir behalten. Habe nichts davon gemerkt. Irgendwann in der Nacht passiert. Bin sofort ins Bad, habe es ausgewaschen, dann trocken gefönt. Gleiches mit dem Bettbezug. So was von peinlich. Darf keiner wissen. Bin froh, wenn ich wieder zuhause bin. Eigentlich überflüssig hier zu sein. Ärzte haben keine Ahnung. Geben mir Morphium, hoch dosiert. Völlig unnötig. Entspannt aber. Trotzdem: Koks ist besser.

Habe fürchterliche Kopfschmerzen.

Wieder von dieser Patientin belästigt. Alte Schachtel mit Fischmaul. Versucht penetrant, sich alle zu Freunden zu machen. Verteilt kleine selbstgebastelte Geschenke, die sie von zuhause sich hat mitbringen lassen. Gestern auf meinem Bett ein gehäkeltes Deckchen gefunden. Was soll das? Hat es wohl nötig. Wahrscheinlich sich schon als Kind Freunde gekauft. Unerträgliches Gequatsche, dabei gezierte Stimme, als käme sie aus einem Könighaus. Soll wohl intellektuell und fein klingen. Mann angeblich Arzt. Habe ihn einmal gesehen. Vollgreis mit Bart, praktiziert noch. Typ: Wichtigtuer. Ruht angeblich in sich. Alles nur Show. Arme Patienten.

15.09.2016

Visite. Eine Polonaise von Ärzten. Aneinandergeklebt wie Kaugummis. Haben Masken der Wichtigkeit aufgesetzt. Undurchdringliche Barriere aus Kompetenzschrott.

Habe Samen abgeschlagen. Mühsam. Nächstes Mal vorher Koks nehmen oder ein Gebet sprechen: Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich zum Orgasmus komm. Erfüllst du meine Bitte nicht, sorg auch bei anderen für Verzicht. Gott, bin ich witzig.

Brauche dringend neues Kopfkissen. Diese platten Kopfkissen hier bringen mich noch um. Meine Sekretärin anrufen. Soll mir meines von zuhause bringen.

*

Die Geburt eines Kindes ist wie ein Sonnenaufgang. Liebe Leser, gibt es etwas Schöneres als dass eigene Kind bei der Geburt in den Armen zu halten? In dieses kleine zerknitterte Gesichtchen zu sehen und sich der Tatsache bewusst zu werden: Das ist mein Sohn. Es war der schönste Moment in meinem Leben. Wie habe ich mich gefreut. Wie glücklich ich war. Wie nie mehr in meinem Leben zuvor und danach. Ein Triumph meiner Lenden, den ich in den Armen halten konnte. Julius, so nannte ich ihn, strahlte mich an, als er zum ersten Mal seine kleinen Äuglein öffnete. Bereits in diesem Moment wurde mir klar, dass wir beide füreinander geschaffen waren und eine besondere außergewöhnlich starke Verbindung haben und selbst die Liebe eines Kindes zu seiner Mutter bei weitem übertreffen würde. Dieses kleine freundliche Wesen, dieses faltige Menschlein mit den unschuldigen Äuglein. Ich liebte ihn so sehr.

Nicht das seine Geburt so spektakulär verlaufen wäre, wie die meine. Sie war eher still und unscheinbar. Aber nichtsdestotrotz herausragend.

Jede freie Minute verbrachte ich mit ihm. Er war so niedlich, mit seinen großen runden Augen und dem perfekt ebenmäßigen Gesicht, wie eine Babypuppe. Ich war geradezu süchtig nach seinem Lachen. Kitzelte ich ihn aus, schrie er vor Wonne.

Man muss sich allerdings darüber im Klaren sein, dass die Geburt eines Kindes das Leben eines Mannes schlagartig verändert. Leider auch für Gudrun. Sie litt an einer Schwangerschaftsdepression und interessierte sich lange nicht für unser Kind. Die ganze Last ruhte nur auf meinen Schultern. Aber ich beschwerte mich nicht. Ich hatte die Verantwortung gewollt. Ich musste die Verantwortung übernehmen. Von nun an war nur ich für meinen Sohn da. Selbst als Gudrun ihre Depressionen überwand, war das Verhältnis zwischen mir und Julius ohnegleichen. Vergeblich versuchte Gudrun, den Anschluss zu finden. Es gelang ihr nicht. Ich und Julius waren ein Herz und eine Seele.

Während seiner gesamten Kindheit und Jugend war ich ihm ein guter Freund, war ihm nahe, immer bereit, meine Arbeit zu unterbrechen, um für ihn und seine Bedürfnisse da zu sein. Mit Neid blickte Gudrun auf unsere herzliche Beziehung. Er kam nicht zu ihr, wenn er Probleme hatte, sondern stets zu mir. Was konnte ich dafür, dass mein Sohn mich ihr vorzog? Sie war nicht gut genug, um auf annähernd gleicher Höhe mit uns zu kommunizieren. Heute ist er Neurochirurg und schon bald wird er Chefarzt der neurologischen Abteilung sein.

Es gäbe so viele schöne Geschichten über mich und ihn zu erzählen. Doch in meiner Autobiographie geht es leider nur um mich.

*

16.09.2016

Ich habe kein Afterjucken mehr.

17.09.2016

Auf dem Flur zwei Schwule gesehen. Einer Patient hier, in einem auffällig unmodernen Bademantel, der andere wohl sein Stecher. Wie schon der Homosexuelle sagt: Wo die Falte ist, da ist das Paradies.

Halbwüchsige Wichser in weißen Kitteln. Glauben, alles zu wissen. Arrogantes Pack. Keine Ahnung von nichts. Wollen mir was vormachen. Werde hier nicht lange bleiben. Gehe nach Hause. Schon bald. Ich bin Justus Raab. Das werden die schon noch sehen.

Kindheitserinnerung gehabt. Breitete sich im ganzen Körper aus. Geruch in der Kantine als Auslöser. Bratkartoffeln. Hat mich beinahe zum Weinen gebracht. Aber nur beinahe. Ein Justus Raab weint nicht.

18.09.2016

Ich hasse Visiten. Wieder so ein Auflauf von Besserwissern. Alle krank im Kopf. Multiple Deformationen des Großhirns. Diesmal ein großer Junge dabei. Wohl Arzt im Praktikum. Bewegt sich, als hätte er ständig einen Deo-Stick im Arsch.

Fischmaul trägt ihre nutzlos gewordenen Säugearmaturen mit dem Stolz einer Blinden, die nicht mehr sieht, wie sie auf andere wirkt. Werden in künstlichem Schwebezustand gehalten, fixiert durch Riemen und ausstülpbare Stoffe. Verachtenswert.

Morgen werde ich über Gudrun schreiben. Oder erst über Lisa? Eigentlich egal. Fange wohl mit Gudrun an. Schließlich wollte sie mich als erste umbringen, Miststück der Superlative. Wird ein Knaller. Es klopft. Besuch. Wie schön.

***

Hommage an mich

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