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1. VOM WERDEN DES LEBENDIGEN.

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Das Werden des Lebendigen ist und bleibt ein ewiges Mysterium und als solches die große Frage, unter deren Banne die Menschheit von jeher gelebt hat, die Frage nach dem „Woher“, dem „Wie“, dem „Wodurch“ und dem „Wohin“ des Lebens und unsrer selbst.

Wenn das Kind die Frage stellt: „Woher kommen denn die Kindlein“, will es nicht den Zeugungs- oder Geburtsakt wissen, nicht wissen, dass es, wie eine Knospe am Baume, im Mutterschosse gewachsen ist; es will eine Antwort auf jene große, schlichte Frage hören. Aber die Erwachsenen unserer Zeit geraten durch die Frage des Kindes in Verlegenheit. Was alte Weisheit oder Religionen lehren, dass Gott die Welt und die Menschen erschaffen hat, ist für sie inhaltslos geworden, also sagt dies auch dem Kinde nichts. Gott ist nur noch ein Mythos der grauen Vergangenheit, nichts Wirkliches, Existierendes. Das Kind erhält Ausreden und Oberflächlichkeiten zur Antwort. Unbeantwortet und ungelöst versinkt die große Frage in die Tiefen des menschlichen Gemütes, wird vergessen, und so wachsen nun Menschen heran und leben ihr Leben zu Ende, ohne vom Werden und von den großen Zusammenhängen unseres Daseins zu wissen. In der Schule aber lernen sie viele Dinge, sammeln ein größeres intellektuelles Wissen als Menschen früherer Zeiten, nur vom Leben, von den großen und heiligen Mysterien des Daseins und des Werdens, von der Verbundenheit ihres individuellen Atmens im Licht mit dem allgegenwärtigen, alles durchdringenden, alles lenkenden, schöpferischen und erhaltenden Geiste lernen und wissen sie nichts mehr.

Unser Leben ist verbunden mit dem Kosmos und seinem Schöpfer. Der Mensch lebt nicht für sich allein. „Der ganze Kosmos stellt einen korrelationsdynamischen Funktionskomplex des Lebendigen dar“, sagt der große klinische Denker, Prof. Dr. Martin Sihle, in seinem „Weltbild des Arztes“. In diesem Funktionskomplex gibt es korrelative Harmonien, rhythmisches Zusammenklingen, vorbestimmte Gleichgewichte. Sie wirken als Hüterinnen des Lebens und verlassen uns, wenn wir ihrer nicht achten. Ich habe viele Leidende gesehen und kam zu dem Schlusse, dass dem Menschen und seinem Gemüte nichts anderes ebenso notwendig ist, als das lebendige Wissen vom Zusammenhang, von der Verbundenheit, von der Harmonie mit dem Unendlichen. Aber dieses lebendige Wissen erschließt sich nur dem unablässig Suchenden nach dem Mysterium des Lebens. Wo es fehlt, lebt der Mensch als isoliertes Atom in einer Masse anderer isolierter Atome. Er lebt, wie die Wissenden sagen, religiös entwurzelt.1

Die Denker und Weisen aller Zeiten haben das Werden der Welt und des Lebendigen zu ergründen gesucht, die einen, indem sie den Blick nach innen, nach dem geistigen Pol ihrer Seelenwelt, richteten und in einsamer Abgeschlossenheit von der Welt nach Offenbarung suchten; andere, indem sie die Außenwelt erforschten. Eine reiche Fülle von Überlieferungen und die gesamte Naturwissenschaft geben uns von diesem gigantischen Suchen und Finden Kunde.

Berühmt ist der Schöpfungsmythus des Weda, der indischen Weisheitslehre, der in der metrischen Übertragung Deussens also lautet:

Rigveda 10, 129.

1 Damals war nicht das Nichtsein, noch das Sein,Kein Luftraum war, kein Himmel drüber her. —Wer hielt in Hut die Welt; wer schloss sie ein?Wo war der tiefe Abgrund, wo das Meer?

2 Nicht Tod war damals noch Unsterblichkeit,Nicht war die Nacht, der Tag nicht offenbar. —Es hauchte windlos in UrsprünglichkeitDas Eine, außer dem kein andres war.

3 Von Dunkel war die ganze Welt bedeckt,Ein Ozean ohne Licht in Nacht verloren: —Da ward, was in der Schale war versteckt,Das Eine durch der Glutpein Kraft geboren.

4 Aus diesem ging hervor zuerst entstanden,Als der Erkenntnis Samenkeim, die Liebe:Des Daseins Wurzelung im Nichtsein fandenDie Weisen, forschend, in des Herzens Triebe.

5 Als quer hindurch sie ihre Messchnur legten,Was war da unterhalb? und was war oben? —Keimträger waren, Kräfte, die sich regten,Selbstsetzung drunten, Angespanntheit droben.

6 Doch, wem ist auszuforschen es gelungen,Wer hat, woher die Schöpfung stammt, vernommen?Die Götter sind diesseits von ihr entsprungen!Wer sagt es also, wo sie hergekommen? —

7 Er, der die Schöpfung hat hervorgebracht,Der auf sie schaut im höchsten Himmelslicht,Der sie gemacht hat oder nicht gemacht,Der weiß es! — oder weiß auch er es nicht?

Im Buddhismus kommen die Seelen aus dem Nirvana und kehren nach dem Tode dahin zurück. Er erfasste, dass die Menschenseele ein Werk von solcher Größe ist, dass ein Menschenleben zu ihrem Werden nicht genüge, dass hierzu eine Reihe von irdischen Lebensläufen, jeder folgende mit allen früheren zusammenhängend, erforderlich sei. Daher lehrte er die Metempsychose, die Seelenwanderung, welche Lehre, allerdings in veränderter Art, in unserer Vererbungslehre, besonders in der Lehre von der Mneme, eine Neubearbeitung und teilweise Bestätigung gefunden hat.

Die altiranische Lehre, deren großer Meister Zarathustra war, lehrte, dass eine geistige Wesenheit, die alles zum Voraus wusste, Ormudzd oder das „Vorwissen“, die Welt und die Menschen erschaffen habe. Nachher sei das „Nachwissen“ zu den Menschen gekommen, das Wissen von den einzelnen Dingen. Dieses Nachwissen hätte die Menschen zum Bösen, zu Hass und Rachsucht verführt. Das Nachwissen wurde Ahriman genannt.

Die Schöpfungsgeschichte der Bibel lehrt, dass Gott die Welt und den Menschen in sieben Tagen erschaffen habe. Nachher, im Paradies kam das Böse über sie, als sie die Frucht vom Baume der Erkenntnis aßen, auch hier, wie in der altiranischen Lehre, durch das „Nachwissen“.

Im vierten und dritten Jahrhundert vor Christi lehrte der griechische Weise Plato, dass die Ideen das Erste und das Wirkende waren, und dass Welt und Menschen aus ihnen hervorgingen. Sein Schüler Philo von Alexandrien war ein großer Meister der Gnosis, die das Werden der Welt und des Lebendigen aus dem Urlicht, dem Pleroma, hervorgehen lässt. Bauer hat versucht, es wahrscheinlich zu machen, dass Jesus von Nazareth erst als erwachsener Mann nach Ägypten kam und dort ein Schüler Philos wurde. Seine Lehre nennt Gott unseren Vater.

*

Mit der gewaltigen Entwicklung der Naturwissenschaften in den letzten Jahrhunderten wurde die Aufmerksamkeit der Menschheit von den alten Weisheitslehren abgelenkt. Man begann mit wachsender Spannung auf eine neue, wissenschaftliche Lösung der großen Frage zu hoffen. Und die Naturwissenschaft hat sich in der Tat bemüht, eine andere bessere Lösung zu finden. Zuerst gab sie uns die Kant-Laplacesche Weltentstehungstheorie, dann die Lamarck-Darwinsche Abstammungslehre des Lebendigen. Danach war zuerst das einzellige Urlebewesen, aus dem sich dann durch Anpassung im Kampf ums Dasein die ganze Stufenfolge aller Lebewesen bis zum Menschen hinauf entwickelt hätte. Aus dem Primitiven wurde automatisch das Höhere, der Mensch aus dem Affen.

Mit dieser Abstammungslehre wurden die Auffassungen des bekannten Botanikers Linné und des vergleichenden Anatomen Cuvier überwunden. Linné glaubte, dass jede Einzelart von Gott geschaffen worden sei, und Cuvier nahm eine unabhängige Entstehung der einzelnen Arten in verschiedenen Epochen an. Die Darwinsche Lehre siegte und gelangte für eine lange Zeit zur Oberherrschaft in der Naturwissenschaft.

Auch wenn man sich mit der Darwinschen Lehre zufrieden geben könnte, bliebe dennoch die Grundfrage ungelöst. Wie entstand die erste Zelle des einzelligen Urlebewesens? Wie kam sie zu den Bauplänen der so mannigfaltigen Organismen, die nun von ihr abstammten? Wohl entwickelt sich selbst der höchste Organismus aus einer einzigen Zelle, aus der Eizelle, aber aus diesem höchsten, kompliziertesten Organismus geht wieder eine Eizelle hervor, die wiederum alle Potentiale in sich schließt, aus denen ein neuer komplizierter Organismus werden wird.

Was war also zuerst da, die Eizelle oder der komplizierte Organismus, aus dem sie wieder hervorgeht? Da stehen wir ja vor der Frage, die einst, im Jahre 325 n. Chr., das Konzil von Nikäa beschäftigte: War zuerst das Ei oder die Henne?

In der Tat, das Bemerkenswerteste an der Darwinschen Lehre ist die Ausschaltung jeglicher Schöpfertätigkeit bei der Entstehung des Lebendigen und der Arten.

Die Forschung ist indessen nicht bei der Darwinschen Lehre stehen geblieben. Sie entdeckte Lebewesen, die noch nicht zellulären Charakter haben, die prototrophischen Bakterien oder „primitiven Esser“. Osborne sieht in ihnen das erste Glied, von dem aus sich das ganze Reich des Lebendigen aufbaute. Diese Gebilde verstehen schon, sich die ihnen passende Nahrung zu suchen. Sie sind also schon mit zielgerichtetem Handeln begabt!

In diesen Bakterien finden sich Körnchen einer hochkompliziert aufgebauten Substanz, die nirgends fehlt, wo Leben auftritt, das Nuklein bzw. das Chromatin. Von dieser Substanz heißt es: „Die atomare Konstitution des Chromatins übertrifft an Kompliziertheit unendlich alle übrigen bekannten materiellen und Energieformen“ (Osborne). Dieses Chromatin gewinnt nun in der Anschauung des Forschers dominierende Bedeutung als wichtigster Bestandteil aller Zellkerne. Man sieht in ihm den Träger der vererbbaren Eigenschaften, also auch des Bauplanes des aus der Eizelle hervorgehenden Individuums. Das Geheimnis hat sich von der Einzelle verschoben auf das prototrophische Bakterium und von da auf das Chromatin. Wäre aber wirklich das Chromatin der Kern des Lebendigen, so müsste es ja so viele verschiedene Chromatin-Moleküle in der Welt geben, wie da Arten von Lebewesen sind, und wäre das Bakterium aller Dinge Grund, so müsste man erkennen, wie aus ihm eine Einzelle, ein Protozoon wird. Das Bakterium kann doch aus sich heraus kein höheres Lebewesen schaffen, denn dazu fehlt ihm der Bauplan.

Zu einem Tempelbau ist nötig: 1. Einer, der die Idee des Tempels gebiert und den Bauplan macht, das Baumaterial auswählt und herbeischafft und 2. solche, die den Bau ausführen.

Dürfen wir nun annehmen, dass das Chromatin imstande sei, alles dies zu tun? Das wäre doch wohl eine höchst willkürliche und durch nichts begründete Annahme. Auch dieser Weg hat uns in eine Sackgasse geführt.

Die Forschung kennt noch einen andern Weg, den Weg der Analyse. Nachdem die Zusammensetzung der Organismen aus Zellen, dieser aus Kern und Protoplasmaleib, gefunden und in den Zellkernen das Chromatin als Lebensträger erkannt worden war, war man eigentlich schon beim chemischen Molekül angelangt, allerdings bei einem Molekül von fabelhaftem Aufbau. Nun besteht die gesamte lebende Substanz aus Molekülen, aus Materie. Sie lässt sich also chemisch analysieren. Was also wird uns die chemische Analyse der mit dem Leben verknüpften Materie über das Lebendige zu sagen vermögen?

Rund 15 Elementarstoffe dienen als Bausteine all der mannigfaltigen, teils einfachen, teils immer komplizierter werdenden Moleküle der Lebensmaterie. Diese 15 Atomarten sind eine Auswahl aus den 92 bekannten Elementen der Weltmaterie, die nach dem periodischen System von Lothar Meyer und Mendelejew sich ordnen lassen. Jedes dieser Elemente hat seine besonderen Eigenschaften, sein Atomgewicht, seine Wahlverwandtschaften oder Affinitäten, seine elektromagnetischen Kräfte, die einen anziehend, die andern abstoßend; jedes hat seine besonderen Beziehungen zum Lichte, die von der Spektralanalyse erforscht wurden. Nach ihren besonderen Eigenschaften wurden die zum Aufbau der lebendigen Substanz dienlichen aus den 92 ausgewählt, wurde die Menge bestimmt, mit der jedes einzelne Element in den Verband der Lebensmaterie einzutreten hat.

Wer traf die Wahl, wer bestimmte die Mengen? Darüber weiß uns die Chemie nichts zu sagen.

Nun kam die Atomphysik und drang mit weitergehender Analyse noch tiefer ein in das Geheimnis der Materie. Sie zeigte, dass das Atom nicht das letzte Teilchen ist, in das sich die Materie zerspalten lässt. Das Atom ist, wie ein Planetensystem, aufgebaut aus Protonen, Elektronen, Neutronen, alles Teilchen von unvorstellbarer Kleinheit. Während die Protonen und Neutronen einen Kern bilden, kreisen die Elektronen mit unerhörter Geschwindigkeit in Bahnen von verschiedener Entfernung um diesen Kern herum. Das einfachste Atom ist dasjenige des Wasserstoffs. Es besteht aus dem einfachsten Kern und nur einem kreisenden Elektron. Sein Atomgewicht ist 1. In wunderbarer mathematischer Ordnung folgen nun die Konstitutionen der 91 anderen Elemente, deren Kerne in arithmetischer Progression das Vielfache des Wasserstoffkernes sind, wobei die Zahl der kreisenden Elektronen im gleichen Maßstabe wächst. Es zeigt sich also im Reiche der Elemente der Materie das Walten einer erstaunlichen Ordnung.

Die weitere Forschung kommt sodann zur Erkenntnis, dass diese Elektronen, Protonen, Neutronen nicht mehr Materie sind, sondern Wellenbewegungen, Schwingungen des Weltäthers, Schwingungen von unerhörter Geschwindigkeit. Damit ist auf einmal die Materie verschwunden, der Boden unter den Füßen weggenommen. Alles, das Feste, das Flüssige und das Gasförmige hat sich aufgelöst wie der Nebel in der sonnenwarmen Luft. Es bleibt nur noch die Wellenbewegung, die Schwingung des Weltäthers, nur noch die Urenergie. Wir sind gleichsam beim Anfang aller Dinge, heim Chaos, angelangt. Alles, was wir so gut zu kennen glaubten, der Fels, das Eisen, das Gold, der Sauerstoff, das Wasser, die Nahrung, ja unser eigener Körper ist im letzten Grunde keine Materie, sondern Wellenbewegung, Schwingung.

Woher aber Wellenbewegung, Schwingung kommt, und was der Weltäther ist, das weiß uns die Physik nicht zu sagen. Hier endet das analytische Forschen im Unbestimmten (Heisenberg). Das allerdings weiß sie noch zu sagen, dass zum Entstehen einer Schwingung ein Impuls notwendig ist, und dass Schwingungen nur fortdauern können, wenn der Impuls sich wiederholt, d. h. wenn der Impuls erhalten bleibt. Sie postuliert deshalb ein neues Prinzip, das Prinzip von der Erhaltung des Impulses. Aus ihm folgt das schon längst bekannte Prinzip von der Erhaltung der Energie.

Mit eiserner Konsequenz führt uns somit die Naturwissenschaft zu dem logischen Schlusse, dass am Anfang aller Dinge der Welt der Impuls steht. Weiter aber geht die exakte Naturforschung nicht. Es gibt nun keinen exakt-naturwissenschaftlichen Weg mehr, der in das Geheimnis des Lebens hineinführt. Es gibt nur noch den Weg des logischen Denkens.

Doch hat uns die Naturforschung auf ihrem analytischen Wege, auf dem Wege vom Lebendigen zum Chaos, mit ihren wunderbaren Ergebnissen solche solide Stützpunkte für das logische Denken geschenkt, dass wir es damit versuchen dürfen. Das logische Denken aber lehrt uns, dass wir den Weg umgekehrt, vom Chaos zur Materie und von der Materie zum Lebendigen hinauf gehen müssen.

*

Was sagt uns nun das logische Denken auf unserem Wege vom Chaos zur Materie und von da zum Lebendigen?

Wir hörten: der Impuls steht naturwissenschaftlich am Anfang aller Dinge. Zum Impulse, sagt das logische Denken, bedarf es der Initiative, und Initiative ist ein Attribut des Geistes. Mit dem „Geist“ tritt nun plötzlich ein denknotwendiges Prinzip in unsere Forschung ein, ein Prinzip, das nicht mehr exakt-naturwissenschaftlich zu beweisen ist, dessen Existenz jedoch sich durch seine Wirkungen erweist. Diese geistige Wesenheit erteilt und erhält den Impuls, setzt den Weltäther in Bewegung.

Wenn wir nun sehen, wie sich in der Wirklichkeit die Wellenbewegungen zu einer großen Tonleiter, dann zu Protonen, Elektronen, Neutronen, dann zu der arithmetischen Reihe der Atome — gleichsam zu wohlgeordneten, aber immer komplizierter werdenden Klängen —, zusammenfügen und ordnen, dass sich sodann die Atome der 92 Elemente nach bekannten Gesetzen zu noch weit komplizierteren Gebilden — zu Akkorden und Klangspielen —, zu Molekülen zusammensetzen, so führt uns dies zwar noch nicht in das Reich des Lebendigen, wohl aber in das Reich der Ordnungen. Da Ordnung wiederum ein Attribut des Geistes ist, so ist dieses gesamte, grandiose Geschehen und Werden ebenfalls wieder ein Werk, in welchem sich die Existenz und das Walten der geistigen Potenz offenbart. Es wird damit klar, dass schon die gesamte unbelebte Materie durchgeistigt ist.

Wiederum spricht das logische Denken: Wo Schwingung ist, ist auch Spannung zwischen zwei Polen, besteht also Bipolarität. Wo nur zwei Pole sind, entsteht eine einfache, lineare Spannung. Wo viele Pole sind, entstehen vielpolige, komplizierte Spannungen. Spannung ist Gegenwirkung von gegeneinander wirkenden Kräften oder Antagonisten. Aus solchen ein- und vielpoligen Spannungen und Antagonismen setzt sich die leblose Materie der uns bekannten Welt zusammen.

In dieser Welt der Spannungen und Antagonismen tritt nun das Urphänomen des Lebendigen auf. Es besteht darin, dass die Antagonismen in Partnerschafts-Beziehung zueinander gebracht werden, so dass sie zielgerichtete, produktive Arbeit leisten können.

Der Entdecker des Urphänomens des Lebendigen, der größte klinische Denker unserer Zeit, Prof. Dr. Martin Sihle, Direktor der I. Mediz. Universitätsklinik in Riga, dessen Gedankengängen ich hier folge, gibt, um den Verhältniswert Antagonismus-Partnerschaft besser verständlich zu machen, das folgende Beispiel:

„Zwei Männer sind im Begriff, eine produktive Arbeit zu leisten, z. B. einen schweren Sack in einen Warenwagen zu schaffen. Um diese Arbeit zu leisten, ist es notwendig, dass unter anderem zunächst ein antagonistisches Prinzip in Aktion trete. Dieses antagonistische Prinzip kann z. B. derart verwirklicht werden, dass die Arme der Arbeiter, auf denen der Sack durch vorhergehende Manipulationen, dadurch in Spannung versetzt werden, dass beide Arbeiter sich fest an den Händen halten. Die Spannung ist der Effekt der antagonistischen Tätigkeit der Arbeiter, indem der eine nach der einen, der andere nach der anderen Seite zieht. Dieser Antagonismus befördert wohl nicht den Sack in den Wagen. Er tut es auch nicht, wenn die Antagonisten abwechselnd in erhöhte Tätigkeit gelangen, wenn das rhythmische Prinzip eintritt, d. h. wenn bald der eine, bald der andere stärker zieht. Denn in diesem Falle würde der Sack nur hin und her schwanken, in den Wagen jedoch nicht gelangen. Zur positiven, produktiven Arbeit des Hineinschaffens des Sackes in den Waggon ist es notwendig, dass außer dem antagonistischen noch ein anderes Prinzip verwirklicht werde — ein Prinzip, das der Tätigkeit beider Arbeiter gemeinsam ist. Die Antagonisten müssen zu gleicher Zeit Partner sein. Wo aber Partnerschaft ist, da ist Zielstrebigkeit, da ist Finalität. Und zwar kann diese Zielstrebigkeit eine freiwillig bedingte sein, indem beide Arbeiter selbständig eine und dieselbe Idee haben, oder aber sie kann auch erzwungen sein, indem der Arbeitgeber die Idee den Arbeitern eingibt; bzw. die Verwirklichung seiner Idee erzwingt.“

Wir sehen: In die Welt der Spannungen und Antagonismen hinein tritt eine zielstrebige Idee mit dem Willen zur gemeinsamen Aktion, zur Partnerschaft, zum Synergismus, wodurch positive, produktive Arbeit ermöglicht wird. Das ist das Urphänomen des Lebendigen und des Lebens! Das Lebendige wird somit durch eine neue Tat des Geistes, durch einen neuen Akt der Schöpfung, durch die Erschaffung eines neuen Reiches der Ordnungen.

Das Urphänomen des Lebens bedeutet also eine Organisation der Energien oder Ätherwellenspiele der Welt, die sowohl die Materie wie die Strahlungen erfasst und damit neue Gebilde mit zielgerichteter produktiver Arbeitsfähigkeit entstehen lässt. Organisation ist aber wiederum ein Attribut des Geistes.

Aber der Organisator bezieht nur das in seine Organisationen ein, was seinen Bauplänen und seinen Zielen produktiver Arbeit dient. Er verleiht den organisierten Neuschöpfungen die ihnen dienlichen Fähigkeiten oder Potentiale, den spezifischen Bauplan, die Ziele der produktiven Arbeit zur Erhaltung und Fortpflanzung. Er ersinnt den Bauplan und den Werkplan, wählt das Bau- und Werkmaterial aus, leitet den Bau des Tempels und überwacht sein Wirken. Was da verwendet wird und was da geschieht, erfolgt alles nach Ordnungsgesetzen gegenseitigen Ebenmaßes, gegenseitiger Korrelationen.

Jedes Lebewesen hat seine, ihm allein zugehörigen Bau- und Werkpläne als Potentiale ins Leben miterhalten, gleichsam seinen Freibrief vom Schöpfer. Kein höheres geht aus einem niedrigeren Wesen durch Entwicklung hervor. Die Entwicklung vollzieht sich potentiell vor der Schöpfung, im Geiste, und jedes Lebewesen entspricht einer Urkonzeption des Geistes. So auch der Mensch.

Die naturwissenschaftliche Forschung suchte die Welt auf analytischem Wege — chemisch, physikalisch, morphologisch, kausal und formal — zu ergründen. Auf der einen Seite entfernte sie sich dabei immer weiter vom Verstehen der Welt (Heisenberg), auf der andern Seite führte sie uns dorthin, wohin sie nicht wollte — zur Entdeckung der Existenz des Geistes, der Existenz Gottes, wobei sie uns im Höchstmaße einen Blick in sein wunderbares Wirken eröffnete. Geist und Gott lassen sich exakt-naturwissenschaftlich nicht beweisen, wohl aber durch logisches Denken erweisen und am Wirken erfassen. Und dabei ist der Geist das Natürlichste, was es gibt.

Um im Bilde zu sagen, was sich mit Worten nicht sagen lässt, sehen wir nun das Lebendige als ein in riesigen Akkorden aufgebautes Kunstwerk der Schöpfung, als eine grandiose Symphonie. Bei ihrer Aufführung fehlt nichts: Komponist, Dirigent, Partitur und das ganze Orchester sind da. Die größte unter diesen vielen Symphonien ist der Mensch. In ihm kommt das Geistige am stärksten zum Ausdruck. Unser Wesen ist eine Unitas triplex, eine Dreieinigkeit aus Leib, Seele und Geist, also nicht nur eine Leib-Seele-Einheit, sondern eine

Leib-Seele-Geist-Einheit!

Die Seele aber ist der Abkömmling aus der Vereinigung von Geist und Materie im Urphänomen des Lebendigen.

*

Nun wissen wir, „Woher“, „Wodurch“ und sogar „Wie“ wir geworden sind. Der Geist, das „Vorwissen“, Ormudzd, Gott hat in der Tat alles und auch uns erschaffen. In ihm sind alle Fähigkeiten, alle Potentiale vereint vorhanden, und davon hat er uns ein reiches Maß voll zugeteilt. Er ist das Präpotentiale, aus dem alles hervorgeht, alles wird, ohne welches nichts existieren würde.

Das „Nachwissen“ Ahriman, — wenn Sie wollen — der Teufel, hat den Menschen und die Wissenschaftler immer wieder geblendet, so dass sie die Herkunft im Materiellen, im Mechanischen, im Chemisch-Physikalischen suchten und dabei des Geistes Dasein und Wirken, sowie ihre unlösbare Verbundenheit mit ihm vergaßen oder verhüllten oder gar verneinten. So vollzog sich die Entwurzelung der derzeitigen Menschheit.

Der Geist, von dem ich spreche, ist uns nahe, ist in und um uns, ist unser mächtigster und bester Freund. Nicht unser Widersacher ist er, wie heute einige Philosophen sagen. Der Widersacher ist der Antigeist, das „Nachwissen“.

Ein solches Weltbild und solches Wissen ist wohl für jeden Menschen wichtig, am notwendigsten aber ist es dem Arzte und dem Kranken. Was mit uns körperlich oder seelisch geschieht, steht stets im Zusammenhang mit der Unitas triplex. Was aber den Kranken heilt und den Gesunden schützt, das ist der Geist und das Leben in seinem Reiche der Ordnungen.

Fragen des Lebens und der Gesundheit

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