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Susanne

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Schweiz. Winter 2008.

Seit Dienstbeginn heute morgen um acht piept es ununterbrochen. Talstation hier, Bergstation da. Ein Ski- oder Snowboardunfall nach dem anderen. Das Wetter der letzten Tage trägt Mitschuld daran: tagsüber herrlicher Sonnenschein und des nachts strenger Frost. Das lässt den Schnee über den Tag schmelzen und sulzig werden. In der Nacht friert er dann knüppelhart. So ist dann beinahe jeder Sturz ein „Treffer“: ausgekugelte Schultern, verdrehte Knie, Wirbelsäulen- und Schädelhirnverletzungen. Das ganze Programm...

Giovanni, Hinrich, Bjarne und ich sitzen ausgelaugt um kurz vor sieben endlich mal für etwas längere Zeit auf dem Sofa der Rettungswache. Essen, trinken, Wunden lecken.

Zur gleichen Zeit klingelt in der Notrufzentrale das Telefon.

„Rettungsleitstelle Bern. Was können wir für Sie tun?“

Der Stimme nach ist ein Kind am anderen Ende der Leitung.

„Mein Papa ist krank. Schläft und zuckt!“

„Mit wem spreche ich denn?“

„Mit Susanne.“

„Bist Du allein?“

„Ja. Mama ist mit Oma spazieren!“

„Wo bist Du denn? Weißt Du wo Du wohnst?“

„Wir sind in den Skiferien.“

„Susanne, warte mal. Nur ganz kurz!“

Der Disponent der Rettungsleitstelle öffnet rasch an seinem Computer ein Programm zur Ortung von Festnetztelefonnummern. Der Monitor zeigt ihm innerhalb von Sekunden die Adresse jenes Apparates an, von welchem aus Susanne anruft. Während er nun die Alarmierung von Notarzt und Rettungswagen vorbereitet, spricht er gleichzeitig wieder mit der jungen Anruferin.

„Atmet Dein Papa?“

„Er grunzt!“

„Kannst Du ihn wecken?“

„Hab ich schon versucht. Er schläft. Und zuckt!“

„Mach Dir keine Sorgen. Gleich kommen Leute, die sich um Deinen Papa kümmern!“

Ein letzter Klick am Computer und kurze Zeit später piept es bei uns gleichzeitig in vier Hosentaschen.

„Krampfanfall. Unterheiderstrasse 15“ steht auf dem Display des Alarmmelders.

„Irgendwann muss es aber auch mal aufhören. Die Pisten sind längst geschlossen!“, sagt Hinrich und steht vom Sofa auf.

„Alles hat ein Ende nur die Wurst hat zwei...!“ bekommt Hinrich eine gesungene Antwort von Giovanni, der sich schon seine Stiefel anzieht.

Gemeinsam gehen wir in die Fahrzeughalle. Blaulicht an und los.

„Susanne, kannst du schon allein die Wohnungstür aufmachen?“, fragt der Disponent derweil die kleine Anruferin.

„Ich bin schon acht!“

„Super! Dann pass jetzt mal gut auf: wenn Du ein Auto mit Sirene hörst, dann öffnest du ganz schnell die Tür und lässt die Männer rein, die Deinem Papa helfen wollen. Dann zeigst Du den Männern gleich wo dein Papa liegt!“

Schon nach drei Minuten erreichen wir die angegebene Adresse in einer Ferienhaussiedlung. In der geöffneten Wohnungstür steht ein kleines Mädchen im Schlafanzug. Wir schnappen unsere Ausrüstung und gehen zu dem Kind.

„Hallo, hast Du uns angerufen?“

Das Mädchen schaut mich schüchtern an und nickt.

„Wie heißt Du denn?“

„Susanne!“

„Was ist denn passiert?“

„Mein Papa liegt oben im Zimmer und zuckt!“, antwortet mir Susanne, dreht sich um und rennt auch schon die Treppe ins erste Obergeschoss hinauf. Wir können ihr kaum folgen. Oben angekommen zeigt die kleine Susanne auf Rainer, ihren Vater, der auf dem Fußboden liegt. Sein Gesicht ist tiefblau und zur Fratze verkniffen, seine zuckenden Arme sind vor den Brustkorb gebeugt und Schaum quillt Mund. Er röchelt. Das Vollbild eines Krampfanfalles.

Und die acht-jährige Tochter sieht das hier alles mit an...

„Bjarne, geh mit Susanne ins Nebenzimmer! Spielt irgendwas!“

Das Kind muss irgendwie abgelenkt werden. Jedenfalls raus hier aus dem Zimmer. Zum Glück lässt sich die Kleine darauf gleich ein. Der junge Sani und Susanne verlassen das Zimmer. Dann beginnen wir, jetzt nur noch zu dritt, mit unserer Arbeit.

„Mach mal gleich den Sauerstoffsensor an den Finder und dann die Absaugung fertig!“, sage ich zu Giovanni und dann weiter zu Hinrich:

„Sauerstoff mit Maske. Fünfzehn Liter! Danach Dormicum mit Vernebler!“

Ich knie mich neben Rainer und beginne mit der Untersuchung. Er reagiert nicht auf meine Frage, ob er mich hören kann. Dann ein Blick in Rainers Augen. Das gelingt erst nicht, der Krampfanfall lässt ihn die Augen fest zusammenkneifen. Irgendwie schaffe ich es dann doch, mit beiden Händen die Lider kurzzeitig auseinander zu drängen, so dass ich das Schwarze in Rainers Augen sehen kann. Auf beiden Seiten sind die Pupillen mittelweit gestellt.

Giovanni reicht mir den Absaugkatheter. Vorsichtig schiebe ich das Schlauchende zwischen Rainers Lippen hindurch und versuche nun so gut es geht den blutigen Schleim wegzusaugen. Ich bin nicht sehr erfolgreich, kann nur wenig rote Spucke von den Lippen und aus den Wangentaschen entfernen. Der Krampf lässt Rainer seine Zähne so fest zusammen-beißen, dass ich nicht in die Mundhöhle gelangen kann. Immerhin wird das Röcheln aber doch weniger.

Ich setze Rainer nun die Maske mit dem Sauerstoff auf sein Gesicht.

„Was sagt die Sättigung?“

„84% Sauerstoffgehalt im Blut!“, antwortet mir Giovanni, der den besten Blick auf unseren Überwachungsmonitor hat.

Kurze Zeit später klettert der Sauerstoffgehalt dank Absaugen und Sauerstoffmaske.

„Jetzt 89%“

Rainer krampft unverändert. Hinrich reicht mir nun das Medikament, mit dem ich den epileptischen Anfall stoppen möchte.

„Hier! Zwei Milliliter Midazolam. 5 Milligramm pro Milliliter. Samt MAD.“

MAD ist die Abkürzung für „Mucosal Atomization Device“. Das ist ein kleiner Spritzenaufsatz, der (samt Spritze) auf ein Nasenloch aufgesetzt wird. Drückt man nun den Spritzeninhalt aus der Spritze, so wird das flüssige Medikament durch das MAD in Sprühnebel verwandelt, quasi atomisiert. Dieser Medikamentennebel ist so fein, dass er optimal durch die Nasenschleimhaut (med.: Mucosa) in die Blutbahn auf-genommen wird. Von hier aus gelangt der Wirkstoff dann an seinen Bestimmungsort, in diesem Fall in das Gehirn.

Die Möglichkeit, Medikamente über die Nasenschleimhaut zu verabreichen anstatt in eine Vene zu injizieren, ist gerade bei Krampfanfallpatienten und bei kleinen Kindern ein großer Vorteil: im Krampfanfall ist es ausgesprochen schwierig, einen Tropf zu legen, da der Patient seine Arme nicht ruhig hält. Bei Kindern, vor allem bei Babys mit speckigen Armen, ist das Tropflegen ohnehin eine Herausforderung. Und noch ein Vorteil: das MAD-Verfahren tut nicht weh.

Ich nehme Rainer kurz die Sauerstoffmaske vom Gesicht. Er krampft ohne Unterlass. Nun spraye ich jeweils einen Milliliter in jedes Nasenloch. Insgesamt 10 Milligramm des Sedativums sollten reichen. Nach einer kleinen Ewigkeit lässt Rainers Zucken nach. Sein Gesicht entspannt sich zusehends und seine Arme sacken kraftlos neben sich auf den Boden. Er scheint jetzt zu schlafen. Ich schaue ihm nun noch einmal in die Augen. Alles in Ordnung, auch die Pupillenreaktion, als ich mit meiner Taschenlampe in Rainers Augen leuchte.

„Dann verkabeln wir ihn jetzt komplett, und ich lege noch einen Tropf. Danach fahren wir ihn in die Neurologie!“

Nachdem unser Patient an den Überwachungsmonitor angeschlossen ist und die erste Infusion läuft, legen wir ihn gemeinsam auf unser Bergetuch, um ihn ins Erdgeschoss zu tragen. Just in diesem Moment öffnet sich unten die Haustür. Wir hören eilige Schritte die Treppe emporkommen, dann steht eine aufgeregte Frau neben uns.

„Oh Gott, was ist passiert?“, fragt mich die schockierte Dame mit weit aufgerissenen Augen.

„Ihr Mann hatte einen Krampfanfall. Ihre Tochter hat uns per Telefon alarmiert. Das hat sie super gemacht. Nun ist Susanne nebenan. Ein Kollege von uns kümmert sich um sie!“

Die Frau scheint fürs Erste erleichtert, daher frage ich sie:

„Ist Ihr Mann Epileptiker? Kennen Sie das? Hat er schon mal gekrampft?“

„Nein. Das ist das erste Mal. Mein Mann hat Lungenkrebs nach 25 Jahren an der Zigarette. Und seit drei Wochen wissen wir jetzt auch von Metastasen in seinem Gehirn.“

Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Ich halte kurz inne und frage dann:

„Hat Ihr Mann in den letzten Tagen über neue Probleme geklagt? Kopfschmerzen? Übelkeit?“

„Ja. Seit zwei Tagen war ihm ständig schlecht.“

„Ihrem Mann geht es jetzt soweit ganz gut und sein Kreislauf ist stabil. Alle gemessenen Werte sind in Ordnung. Wir bringen ihn nun runter ins Auto und dann zur Überwachung in die Neurologie. Sie können ja später nachkommen!“

Rainers Frau nickt. Ihr stehen die Tränen in den Augen.

Wir starten mit dem Rettungswagen in Richtung Krankenhaus. Als ich gerade anfange das Einsatzprotokoll auszufüllen, fängt Rainer unver-mittelt erneut an zu krampfen. Sein ganzer Körper wird von einem heftigen epileptischen Anfall erfasst.

„Halt an!“, ruft Giovanni durch die kleine Luke in die Fahrerkabine. Hinrich hält sofort am Seitenstreifen der Kantonsstraße an.

„Gib mir nochmal Midazolam!“ sage ich zum Sani, da schlägt in der gleichen Sekunde der Monitor Alarm: die Sauerstoffsättigung ist auf 89% gefallen, der Puls auf 48. Ein kurzer Blick in Rainers Augen. Die rechte Pupille ist nun deutlich grösser als die linke.

„Verdammt! Hirndruck!“

Es passt alles zusammen: die Metastase, die Übelkeit, das Krampfen und nun noch die Kreislauf- und Atemverlangsamung!

Tochtergeschwülste von bösartigen Tumoren führen im Kopf häufig zu einem Hirnödem, also einer Wasseransammlung im Gehirn. Das Ödem wird durch die Tumorzellen verursacht, welche die umliegenden Blutgefäße und Zellen schädigen und für Flüssigkeiten durchlässiger machen. Diese Wassereinlagerungen rund um den Tumor lassen das Hirn anschwellen und erhöhen so den Druck innerhalb des Schädels.

Anzeichen für eine Erhöhung des Druckes innerhalb des knöchernen Schädels sind Kopfschmerzen, Übelkeit, Bewusstseinsstörungen, Krampfanfälle, Störungen des Atemantriebes und der Herzfrequenz.

„Erst rasch Midazolam, dann Intubation und danach Dexa!“

Giovanni gibt mir jetzt eine weitere Spritze mit dem krampfdurchbrechenden Medikament, welches ich diesmal direkt in die Vene spritze. Nun beatme ich Rainer zunächst mit dem Maskenbeutel und unterstütze damit seine eigene Restatmung. Hinrich und Giovanni machen in der Zwischenzeit alles bereit für die Intubation: Narkosemedikamente aufziehen und das Material zur Beatmung vorbereiten. Als alles bereit liegt, legen wir Rainer in ein künstliches Koma. Von nun an übernimmt eine Maschine sein Luftholen.

„Hier, Dexamethason. 100 Milligramm!“, sagt Hinrich und reicht mir das Medikament.

Dexamethason ist ein Kortisonpräparat, das bei erhöhtem Hirndruck angewendet wird. Es führt innerhalb von etwa einer Stunde zum (teilweisen) Abschwellen des Hirnödemes.

Nachdem ich die 100 Milligramm gespritzt habe, überprüfen wir noch einmal die Kreislaufwerte und setzen dann unsere Blaulichtfahrt fort. Nach gut 30 Minuten erreichen wir die Klinik, wo uns die Mitarbeiter der neurologischen Intensivstation längst erwarten. Nach einer kurzen Übergabe machen wir uns auf den Rückweg zur Wache.

Dieser Einsatz hat mich sehr angegriffen. Rainer und die kleine Susanne rasen durch meinen Kopf. Was passiert mit Rainer? Was wenn die kleine Tochter die Notfallnummer nicht gewusst hätte? Wie lange wird Susanne noch das Leben mit ihrem Vater teilen? Furchtbar...

Kurz bevor wie unsere Rettungswache wieder erreicht haben, bitte ich Giovanni nochmal bei der kleinen Susanne vorbeizufahren.

Als ich klingele, öffnet mit Susannes Oma die Tür. Ich erzähle ihr rasch, wie es Rainer bis zu seiner Einlieferung in der Klinik ergangen ist. Sie hingegen erzählt mir, dass ihre Tochter schon zur Klinik los-gefahren ist. Dann frage ich die alte Dame, ob ich nochmal kurz mit ihrer kleinen Enkelin sprechen kann.

„Susanne, komm nochmal runter. Hier ist jemand, der mit dir reden möchte!“

Kurze Zeit später kommt die Achtjährige schüchtern die Treppe heruntergeschlendert.

„Hallo Susanne, ich wollte dir nur noch eben vorm Schlafengehen sagen, wie toll Du das vorhin gemacht hast, als Dein Papa so gezuckt hat!“

Susanne schaut verlegen zu Boden.

„Woher kanntest Du denn diese wichtige Telefonnummer?“

Sie grübelt einige Sekunden, dann antwortet sie wie aus der Pistole:

„Das haben wir im Kindergarten gelernt!“

„Wahnsinn“, denke ich. „Die Notrufnummer kennen viele Erwachsene nicht!“

Dann will ich mich von den beiden verabschieden, da schießt es mir wie ein Blitz in den Kopf:

„Ich glaube Du hast heute Deinem Papa das Leben gerettet! Du bist eine richtig große Lebensretterin!“

Mehr kann ich nicht zu dem kleinen Mädchen sagen. Ich habe einen riesigen Kloß im Hals...

Nachtrag:

Ich weiß nicht, was das Schicksal für Rainer und Susanne weiter geplant hatte.

Blaulicht und Blutmond

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