Читать книгу Wege aus der Angst. Psychologische Ursachen und praktische Lösungen - Dr. Rainer Schneider - Страница 4

1. Einleitung

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Liebe Leserin, lieber Leser,

In letzter Zeit häufen sich alarmierende Berichte von Gesundheitsorganisationen, denen zufolge psychische Erkrankungen, darunter angstbedingte, in der Bevölkerung immer mehr zunehmen. Die Hiobsbotschaften werden meistens im Wesentlichen im Hinblick auf wirtschaftliche und finanzielle Implikationen diskutiert und weniger in Bezug auf psychologischen Konsequenzen für die Betroffenen. Das dürfte in einer vom Leistungs- und Wachstumsgedanken getriebenen Gesellschaft nicht weiter verwundern. Aber die Statistiken zeichnen gleichwohl ein besorgniserregendes Szenario: Der Anteil der Menschen, der aufgrund angstbedingter Symptome nicht oder nur noch eingeschränkt berufsfähig ist, steigt derzeit um satte 10-15%! Jenseits von wirtschaftlichen und finanziellen Implikationen zeigen solche Quoten vor allem eines: In unserer Gesellschaft werden mehr und mehr Menschen durch Broterwerb krank. Das muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen! Wenn Arbeit entfremdet, muss Einiges im Argen liegen.

Wie kann es passieren, dass Menschen unter Arbeit leiden, ja, sogar Angstzustände entwickeln?

Antworten gibt es sicher viele. Aber das Beispiel Angst zeigt, dass es sehr vielschichtige Konsequenzen hat. Denn auf eine länger andauernde Angstperiode folgt oft eine Krise. Ist dies nicht der Fall, erfahren die Betroffenen zumindest eine spürbare Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität. Und bei der Angst an sich bleibt es selten, denn es folgen oft weitere psychische bzw. psychosomatische Erkrankungen wie z.B. Depressionen.

Im Beispiel berufsbezogene Angst sind die Ursachen mannigfaltig. Da ist die Angst vorm Versagen; das hat mit Leistungsdruck zu tun. Die Angst vor Mobbing hat mit zwischenmenschlichem Umgang zu tun (aber auch mit Konkurrenz). Und da ist Angst vor Fremdkontrolle durch die Arbeitsbedingungen, was das menschliche Bedürfnis nach Autonomie anspricht. Wenn man nun bedenkt, dass Einiges zusammenkommen muss, bis Menschen vor der eigenen Angst kapitulieren, dann steht es um die Arbeitswelt noch viel schlimmer. Die Zahlen, von denen wir hören, spiegeln also nur den Gipfel des Eisbergs wider. Man kann getrost annehmen, dass noch viel mehr Menschen von Angst am Arbeitsplatz betroffen sind. Noch halten sie einfach wacker durch.

Das Beispiel der Angst am Arbeitsplatz ist nur eines von vielen. Ich habe es zum Einstieg aus einem ganz bestimmten Grund gewählt, der bei fast jeder anderen Form der Angst mitspielt. Die Frage, die sich einem nämlich unweigerlich geradezu aufdrängt ist:

Warum ziehen Ängste überhaupt solche weitreichende Konsequenzen nach sich?

Angst ist ja eine Grundemotion, die wir seit Jahrtausenden erleben. Wäre es nicht logisch anzunehmen, dass wir uns an sie gewöhnt und gelernt haben, mit ihr umzugehen? Angst entsteht weder als völlig neue Emotionsqualität, noch als völlig seltenes Ereignis. Niemand wacht morgens auf und erlebt Angst als eine überraschende Emotion. Angst begleitet uns schon in den ersten Lebensmonaten und währt nicht selten bis zum letzten Atemzug. Ein Leben ohne sie gibt es eigentlich nicht. Und wenn doch, dann nur für einige wenige Menschen, z.B. jene, die Angst aus neurobiologischen Gründen nicht erleben können. Und dieses Menschen sind eigentlich nicht zu beneiden, denn sie bringen sich und andere oft in Gefahr, weil sie Risiken nicht einschätzen können und Leib und Leben aufs Spiel setzen.

Und doch bleibt die Frage: Warum tut sich die überwältigende Mehrheit der Menschen eigentlich so schwer, Angst zu verstehen, geschweige denn zu bewältigen?

Der Grund klingt banal, hat aber komplexe biologische Ursachen. Es ist ein Grundprinzip in der Natur, dass Lebewesen sich Positivem zu- und Negativem abwenden. Nur so ist Überleben überhaupt möglich. Zahlreiche Emotionen und Verhaltensformen, die wir heute haben, entwickelten sich zu einer Zeit, in der das nackte Überleben an der Tagesordnung war. Unsere Emotionen spielten hierbei eine wichtige Rolle und tun es auch heute noch. Emotionen sind Signale, die uns anzeigen, wie wir uns zu verhalten haben. Nun ist Angst negativ besetzt. Das heißt nichts anderes, als dass ihr Erleben unangenehm ist. Angst zu erleben, macht, salopp gesprochen, keinen Spaß. Zumindest für ein bestimmtes Maß an Angst trifft das zu, denn es gibt Formen, die dieses Grundprinzip relativieren. Wir alle kennen z.B. den Nervenkitzel bei einem Abenteuer…

Angst ist, wie Psychologen das nennen, aversiv (Aversion = Ablehnung, Abneigung) und löst somit nahezu reflektorisch vermeidendes Verhalten aus. Ein aversiver Reiz zeigt eine mögliche oder reale Bedrohung oder Gefahr an. Die logischste Reaktion auf Angst ist Schutz. Schutz durch Flucht oder durch Angriff. Manche geängstigte Menschen werden deswegen aggressiv. Statt auszuweichen, gehen sie in die Offensive. Das ist sogar die natürlichste Alternativreaktion der Wahl, wenn Vermeiden nicht möglich ist. Bei Tieren ist das nicht anders: Wenn sie in die Enge gedrängt werden, gehen sie zum Angriff über. Tiere sind sich ihrer Beweggründe nicht bewusst (mit Ausnahme mancher Primaten), doch auch viele Menschen merken gar nicht, dass sie aus Furcht aggressiv werden. Wahrscheinlich, weil sie sich die Angst nicht eingestehen oder weil das Zeigen von Angst verpönt ist. So mancher Wutangriff ist es wert, einmal hinsichtlich seiner Verursachung einmal genauer durchleuchtet zu werden…

Beide Mechanismen, Vermeiden wie Aggression, sind also phylogenetische (stammesgeschichtliche) Anpassungsmuster, die auf den gleichen Mechanismus zurückgehen. Bei Angst fährt das körpereigene autonome Alarmsystem hoch. Unter Angst durchlaufen wir eine Körperschleife, die dazu dient, die Sinne zu schärfen, bestimmte Hormone wie Adrenalin auszuschütten, Muskeln mit Energie zu versorgen usw. Ob man auf Angst mit Flucht oder Angriff reagiert, ist dabei zunächst nicht entscheidend; Angst dient wie angesprochen in erster Linie dem Selbstschutz. Rein teleologisch (zweck-, zielbezogen) betrachtet ist sie somit von großem evolutionsbiologischem Wert.

Psychologen schreiben Angst noch mindestens eine weitere Funktion zu, die ausschließlich auf uns Menschen beschränkt ist. Sie hat mit unserem Intellekt, unserem Bewusstsein, der Komplexität unsere Psyche und unserer Fähigkeit, die Umwelt gestalten zu tun. Angst bzw. der richtige Umgang mit ihr, ermöglicht das, was Psychologen persönliches Wachstum oder persönliche Reife nennen.

Das kann man sehr gut bei Kindern sehen, wenn sie z.B. lernen, eigene Hemmschwellen zu überwinden. Jeder kann sich gut daran erinnern, wie er zum ersten Mal auf ein Fahrrad stieg und Angst hatte, hinzufallen. Über die Welt und sich lernen, heißt tatsächlich oft, Angst auszuhalten. Man kann sogar so weit gehen und sagen, dass Angst eine Vorbedingung für die Reifung der Persönlichkeit ist (1, 2). Reife Persönlichkeiten haben gelernt, sich ihrer Angst zu stellen und sie in das Selbstsystem zu integrieren. Sogenannte „flache“ Persönlichkeiten (dazu gehören auch oberflächlich selbstbewusste) tun das eher nicht.

Lassen Sie mich genauer erklären, was ich mit Integration und Selbstsystem meine. Wir Menschen lernen, indem wir bestehende Wissens- und Erfahrungsmuster angleichen und modifizieren. Aus Erfahrung wird man bekanntlich klug, zumindest wenn man aus ihr wichtige Konsequenzen zieht. In der Psychologie nennt man diese Anpassung Akkommodation. Dazu gehört auch, das Bild über sich und die Welt zu revidieren. Diese Modifikation und Revision ermöglicht eine immer verfeinerte und komplexere Verzweigung von Wissens-Netzwerken. Das semantische Netzwerk von persönlichen Erfahrungen, Werten, Zielen, Bedürfnissen usw. nennt man Selbst(system). Das Selbst ist nicht vollständig bewusst, wirkt aber bei fast allen Situationen, in die man sich begibt und in denen man eine Herausforderung meistern muss. Man kann das Selbst nur in Teilausschnitten bewusst machen, es ist implizit. Aber das Selbst reift eben vor allem an negativ besetzten Erlebnissen. Das ist ein ganz wichtiges Prinzip, das ich in diesem Buch an der einen oder anderen Stelle immer wieder betonen werde. Denn Angst erleben wir immer wieder, selbst wenn wir schon allerlei Ängstigendes durchlebt haben. Das Arsenal an Bewältigungsmöglichkeiten kann also immer weiter ausgebaut werden.

Im Fall der Angst kann man sehr schön sehen, was passiert, wenn man angstauslösende Momente sowie deren Konsequenzen nicht integriert: Sie bleiben als isolierte Erfahrungsfragmente bestehen. Nun fragt sich natürlich, wie man Angst integriert. Das geht, indem man sie sinnhaft auflöst. Man gibt der Erfahrung Sinn und zwar so, dass sie kohärent (zusammenhängend und stimmig) in das Selbst eingebaut wird. So schwächt sich die Angst(quelle) ab und verliert ihren aversiven Charakter.

Wenn diese Integration nicht passiert, bleibt die Angst(quelle) isoliert bestehen. Weil solche negativen Einzelfragmente Stress auslösen, kann man sie nur verdrängen, leugnen oder zu vermeiden suchen. Das kann funktionieren. Aber diese Bewältigungsmechanismen sind selten von Dauer. Sie werden zudem teuer erkauft, denn Angst macht auf Dauer krank, wie zahlreiche Befunde aus der Psychoneuroimmunologie zeigen. Doch auch wenn einem eine Erkrankung erspart bleibt, sind diese Bewältigungsformen nur bedingt zielführend. Man benötigt sehr viel psychische und im wahrsten Sinn des Wortes auch physische Energie, Angst ständig bewusst unter Kontrolle zu halten. Nicht selten treibt sie trotzdem durch die „Hintertür“ ihr Unwesen (z.B. in Träumen, Stresssymptomen, Depression etc.). An der Integration der Angst kommt man somit nicht vorbei, wenn man sie als Dauerstressor abbauen will.

Die Gretchenfrage ist daher: Wie genau integriert man Angst eigentlich?

Angst ist ein sogenannter negativer Affekt, der im Bestrafungszentrum des Gehirns entsteht (3). Vereinfacht ausgedrückt heißt Angst haben aus neurobiologischer Sicht „bestraft“ werden. Diese Bestrafung hält i.d.R. an, bis sich die Situation entschärft oder die körperliche Reaktion abschwächt. Beides kann man geduldig abwarten. Aber auch hier gibt es zeitliche Grenzen, vor allem, wenn die Angstquelle immer wiederkehrt. Und daher auch der aversive Charakter der Angst: Jedes Lebewesen trachtet danach, Bestrafung (kurz- oder langfristig) zu vermeiden. Daher auch entweder Flucht oder Angriff, Leugnung oder Konfrontation…

Wenn man von Bewältigungsmechanismen bezüglich der Angst spricht, muss man unterscheiden, ob sie adaptiv (förderlich) oder maladaptiv (hinderlich) ist. Ein und dasselbe Verhalten kann beides sein. Pauschal lässt sich nicht sagen, welcher Mechanismus adaptiv ist. Dazu ein kleines Beispiel: Jemand, der unter Lampenfieber leidet, kann entweder öffentliche Auftritte meiden oder ganz gezielt aufsuchen. Langfristig wäre z.B. die erste Strategie maladaptiv, wenn er oft in Situationen gerät, in denen er Lampenfieber bekommt. Ansonsten bliebe der durch Angst erzeugte Stress bestehen: Er müsste dann bei jedem öffentlichen Auftritt Qualen durchstehen. Adaptiv wäre hingegen die Vermeidungsstrategie, wenn sie vor negativen Folgen schützte, die in jedem Fall eintreten, aber nicht unausweichlich sind (z.B. ein Auftritt vor feindseligem Publikum).

Damit sind wir beim eigentlichen Thema dieses Ratgebers. Angst zu haben, ist an sich nicht das Problem. Sie ist eine von vielen menschlichen Emotionen, die unser (Er)Leben so facettenreich machen. Die meisten Menschen haben Angst, wenn auch in beträchtlich unterschiedlichem Maße. Ein Problem entsteht, wenn Angst sich übersteigert. Eine Übersteigerung in Qualität und Qualität wird zur Angststörung. Angststörungen gibt es viele: Generalisierte Angststörungen, Panikattacken oder Phobien etwa. Allen ist gemein, dass Angst zu unverhältnismäßigen Angstzuständen werden. Der Begriff Zustand verdeutlicht, dass etwas länger andauert und/oder sich nicht oder nur langsam verflüchtigt. Deswegen entsteht bei Angstzuständen oft das Gefühl der Ohnmacht. Zumindest wenn man den Zustand nicht selbst verändern kann. Wenn Sie so wollen, sind Angststörungen gewissermaßen verselbständigte Ängste: Man kann sie weder völlig vermeiden, noch kann man sie kontrollieren.

Lassen Sie mich zunächst ein paar Worte zu dem Begriff Angststörung verlieren, bevor ich genauer darauf eingehe, was sich dahinter verbirgt. Ich halte das für wichtig, weil ich finde, dass er bei unvorsichtigem Gebrauch das eigentliche Problem verschlimmern kann.

Ich persönlich mag den Terminus nicht. Wenn es ginge, würde ich ihn gerne ganz aus meinem Vokabular streichen. Zum einen mangelt es ihm an Präzision: Stört die Angst oder ist ihr Ausmaß gestört? Zum anderen ist er pathologisierend, was die Betroffenen schnell stigmatisiert. Die klinische Psychologie und vor allem die Psychiatrie haben im Laufe der letzen Jahrzehnte leider eine regelrechte Unart entwickelt, jede Form abweichenden Verhaltens vorschnell zu pathologisieren: Im geplanten, neuen Diagnostikum für Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater, dem DSM-V, sind „Störungen“ vorgesehen, die eher dazu dienen, den Absatzmarkt um vermeintlich behandlungsbedürftige Patienten zu vergrößern, als echte Krankheiten zu behandeln (4). Die Kritik am inflationären Wachstum psychischer Krankheitsbilder hat inzwischen regelrechte Sturmwellen ausgelöst, unter anderem deswegen, weil Pharmaindustrie und richtungsweisende psychiatrische Vereinigungen (z.B. die APA [American Psychiatric Association]) eine verhängnisvolle Beziehung pflegen, die die Unbefangenheit und Unabhängigkeit der Wissenschaft von kommerziellen Interessen mehr als bezweifeln lässt (5-7).

Nüchtern betrachtet ist das, was man mit Störung bezeichnet, objektiv zunächst einmal nur eine Variante eines sehr variablen Spektrums komplexen menschlichen Verhaltens. Nur weil etwas nicht der Norm entspricht, muss es nicht gestört sein. Und selbst die Definition der Norm unterliegt kulturellen, zeitgenössischen und geschichtlichen Einflüssen.

Dazu kommt, dass Psychologie und Psychiatrie viele Verhaltensabweichungen nur unzulänglich verstehen, wie man am Beispiel von Fieberphantasien bzw. -halluzinationen sehen kann. Tatsache ist, dass die Forschung über keine Technologien verfügt, biochemische Störungen oder Dysbalancen im lebenden Gehirn feststellen zu können. Was es jedoch gibt, sind jede Menge Spekulationen über vermeintliche Störungen, und für die werden entsprechende Medikamente entwickelt (8).

Der Begriff Störung trägt somit wenig zur Klärung eines Phänomens bei. Und wer eine Störung hat, wird gerne in eine Schublade mit dem Label >>geistig defekt<< gesteckt.

Leider hat sich der Begriff Angststörung so sehr im Sprachgebrauch etabliert, dass man fast schon sprachliche Verrenkungen machen muss, wenn man ihn umgehen will. Aus diesem Grund behalte ich ihn in diesem Buch bei und bitte Sie, mir dies nachzusehen. Sie werden sehen, dass das nicht weiter störend ist. Ich werde nämlich einen Ansatz vorstellen, der auch ohne die geläufigen klinischen Angststörungs-Etiketten auskommt, was eine Reihe von weiteren Vorteilen hat, die ich an betreffender Stelle nennen werde.

Angststörungen sind weiter verbreitet als man denkt. Man schätzt, dass etwa 15% der Menschen im Laufe ihres Lebens mindestens einmal davon betroffen sind (9). Das sind bei einem durchschnittlichen Lebensalter von etwa 78 Jahren immerhin etwa 12 Millionen Betroffene alleine in Deutschland. Der Trend scheint steigend zu sein, die Prävalenz (Auftretenshäufigkeit) nimmt also zu. Man darf solche Zahlen nicht unkritisch sehen. Denn es werden immer mehr neue Störungen ins Leben gerufen, ohne klar definiert oder nachgewiesen worden zu sein. So ist erklärlich, dass psychiatrischen Diagnosen fast inflationsartig anwachsen. Dabei sollte man klar sehen, dass ein Grund für dieses Anwachsen auch darin zu sehen ist, dass jede neue Diagnose natürlich neue Patientenstämme generiert und damit neue Gewinne.

Dessen ungeachtet sind Angststörungen alles andere als ein Randthema oder gar eine fiktive Konstruktion. Sie können sowohl als eigenständige Krankheiten auftreten, als auch in Kombination mit anderen. Sie können überdies weitere Erkrankungen nach sich ziehen, z.B. psychosomatische Beschwerden. Außerdem sind Angststörungen ausgesprochen hartnäckig und langwierig. Wer Geduld und Leidensfähigkeit hat, sitzt sie aus. Oder er arrangiert sich mit ihnen und erduldet sie als Teil seines Lebens. Beide Strategien sind aus meiner Sicht suboptimal. Denn Angst als chronischer emotionaler Zustand ist nichts anderes als Stress – und überdies ein äußerst negativer, der große gesundheitliche Schädigungen nach sich ziehen kann.

Das Tückische an Angststörungen ist, dass man auf sie konditionieren kann. So entsteht Angst vor der Angst. Das ist besonders belastend, weil das Element der Verselbständigung und Nicht-Kontrolle noch zunimmt. Die Angst vor der Angst ist nicht an spezifische Angstauslöser gebunden. Oft genügt nur die Wahrnehmung eines körperlichen Vorgangs (z.B. erhöhter Pulsschlag) oder die bloße Vorstellung einer bestimmten Situation. Der Prozess der Angstentstehung schaukelt sich dann automatisch auf und der Teufelskreis beginnt.

Natürlich unterscheiden sich Angststörungen in ihrem Schweregrad. Die überwiegende Mehrheit der Menschen, die an einer milden Angstform leiden, kommt auch ohne professionelle Hilfe aus. Es hängt, wie angedeutet, davon ab, ob man adaptiv man mit ihr umgeht. Manche Angstformen sind auch nicht so dramatisch, als dass sie das Leben bedeutsam einschränkten. Wer z.B. eine Spinnenphobie hat, ist in unseren Breitengraden wesentlich besser dran als sein Gegenüber in Australien.

Wer sehr leidet, kommt ohne professionelle Hilfe weniger gut aus. Angst kann so vereinnahmend sein, dass ein normales und selbstbestimmtes Leben unmöglich wird (10). Vor diesem Hintergrund fragt sich, inwieweit dieses Buch bei ausgeprägten Angstsymptomen helfen kann. Milde Angstformen könnte man „einfach so“ aushalten; Millionen Menschen tun dies! Starke Angstsymptome dagegen benötigen die Intervention eines Fachmanns.

Wozu also ein weiteres Angst-Buch?

Lassen Sie mich erklären, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Fangen wir damit an, aus welchen Grünen ich es nicht geschrieben habe. Nicht, um bestehende Angst-Therapien zu ersetzen. Ich bin mir der Begrenzung von Ratgebern bewusst. Ich habe dieses Buch auch nicht geschrieben, jede Form der Angststörung psychologisch minutiös genau zu beschreiben. Wer mehr darüber wissen will, kann sich entsprechende Diagnostika besorgen und sich in die Thematik einlesen (11). Ich beschreibe die verschiedenen Formen auch deswegen nicht, weil der Lösungsansatz, den ich anbiete, eine detaillierte Definition von Angstformen nicht notwendig macht.

Weil das kontraintuitiv klingt, will ich es erklären. Wer sich mit psychischen Diagnosen auskennt, der weiß, dass viele Störungen eher phänomenologisch beschrieben als funktional erklärt werden. Mit anderen Worten: Es wird zwar ausführlich dargelegt, wie ein bestimmtes Störungsbild aussieht, weniger aber, wie es (psychisch) verursacht ist. Um die bei einer Angststörung zugrunde liegenden psychischen Prozesse zu beschreiben, benötigt man eine funktional orientierte Theorie. Sie hilft, Entstehungsursachen zu klären und bietet damit entscheidende Vorteile bei ihrer Behandlung.

Weil ich Psychologe bin, bleibe ich bei der Erklärung von Angst bei psychologischen Mechanismen. Daher bin ich mir der möglichen Begrenztheit meiner Ausführungen bewusst. Angst ist zwar ein psychologisches Phänomen, denn es umfasst Emotionen, die – das ist nicht weiter erläuterungsbedürftig – zentral für das Erleben und Verhalten sind. Trotzdem kann man nicht grundsätzlich auszuschließen, dass es bei einer reich psychologischen Betrachtung zu einer „Überpsychologisierung“ kommt.

Es ist z.B. bekannt, dass die Einnahme mancher Psychopharmaka Angstzustände induzieren kann (12, 13). Wer Medikamente nimmt, die das Potenzial haben, Angstzustände zu induzieren, muss sinnigerweise entsprechende Nebenwirkungen durch Absetzen oder Wechsel der Medikation abstellen. Vor diesem Hintergrund wird ein rein psychologischer Versuch der Angstbewältigung eher von sehr bescheidenem Erfolg gekrönt sein. Auch ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass durch Fehl- und Mangelernährung oder durch Umweltgifte (die inzwischen auf 10.000 angewachsen sind!) der Hirnstoffwechsel so beeinträchtigt wird, dass Angstsymptome begünstigt werden. Das ist zumindest im Fall von Depressionen gut nachgewiesen, obwohl sich viele Patienten und Therapeuten dessen nicht bewusst sind (14). Es gibt nur wenige Krankheiten, die eindeutig monokausal verursacht sind. Wenn Experten sich einem Phänomen aus nur einer bestimmten wissenschaftsdisziplinären Sicht nähern, riskieren sie, es auf nur eine Lösung zu reduzieren. Die Gefahr, andere Erklärungsmöglichkeiten zu übersehen, steigt dann logischerweise.

Grundsätzlich kann ich also nicht ausschließen, dass bei Ihrer ganz speziellen Angst (vorausgesetzt, Sie haben eine!) auch andere plausible, nicht psychologische Gründe ursächlich sein könnten. Wenn Sie einen solchen Verdacht haben, sollten Sie diesem auf die Spur gehen.

Kommen wir nun zu den Gründen, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Erstens will ich einige grundlegende Betrachtungen bezüglich des Phänomens Angst korrigieren. Wenn sie eine so elementare Emotion ist, kann sie kein „Ausrutscher“ der Evolution sein. Das habe ich bereits angedeutet. Angststörungen sind oft überformte Anpassungsmechanismen, die gelernt, aber auch wieder verlernt werden können.

Ich will aber auch zeigen, dass viele Ängste von Dritten induziert werden, die z.B. daraus Kapital schlagen. Diesen Punkt sehen viele Menschen erst, wenn man ihnen seine Bedeutung klarmacht. Induzierte Ängste können so raumgreifend werden, dass sie Angststörungen nach sich ziehen. In diesem Fall ist es sinnvoll, die Angstquelle rational aufzulösen, um sich von ihr frei zu machen.

Hauptsächlich geschrieben habe ich dieses Buch jedoch aus folgendem Grund: Ich möchte Ihnen verschiedene Möglichkeiten anbieten, Ängste selbst zu bewältigen. Dazu benötigen Sie etwas Wissen über psychische Grundfunktionen. Vor allem aber benötigen Sie Techniken, wie Sie Ihre Ängste lösen bzw. integrieren lernen. Das Wissen möchte ich Ihnen in möglichst einfach verständlicher Sprache vermitteln. Allerdings wird es ohne spezifische Fachwörter nicht gehen. Die Techniken sind weitgehend Übungssache.

Ich möchte an dieser Stelle allerdings ausdrücklich auf einen wichtigen Punkt hinweisen. Dieses Buch ist kein Ersatz für eine ausführliche psychologische Differentialdiagnose oder eine therapeutische Behandlung. Insofern Sie mit Ihren Ängsten oder Ihrer Angststörung nicht selbst zurechtzukommen, bitte ich Sie, professionelle Hilfe aufzusuchen. Insofern Sie bereits in entsprechender Behandlung sind oder eine entsprechende Diagnose gestellt wurde, kann Ihnen dieses Buch trotzdem wertvolle Tipps geben, die sich sinnvoll nutzen lassen.

Ich habe in diesem Buch sowohl mein theoretisches Wissen als auch meine praktische Erfahrung als psychologischer Berater zusammengefasst. Mein Hauptaugenmerk liegt weniger auf der Explikation der jeweiligen psychologischen Zusammenhänge, als vielmehr auf der Vermittlung eines praktischen Leitfadens, der praxisbezogen und lösungsorientiert ist. Ich beziehe dabei ein, was vielen meiner Klienten bei der Bewältigung Ihrer Sorgen und Ängste geholfen hat. Trotzdem kann ich Ihnen nicht ersparen, eine gewisse theoretische Bürde auf sich zu nehmen. Der von mir zugrunde gelegte Ansatz macht das notwendig, wenn man meine Schlussfolgerungen nicht vorschnell als unproduktiv oder gar absurd abtun will.

Die persönliche Begegnung zwischen Psychologe und Ratsuchendem ist zwar ein wichtiges Bestimmungsstück einer professionellen Beratung. Trotzdem kann auch ein „unpersönlicher“ Ratgeber wertvolle Dienste leisten, die bei vielen Angstformen zu helfen vermag. Das ist kein Widerspruch. Denn gerade Ängste lassen sich nur bedingt durch therapeutische Gespräche „weg reden“. Im Gegenteil: Die Krux ist ja, dass den Betroffenen bewusst ist, wie irrational oder unangemessen das eigene Verhalten ist. Es fehlt selten an Einsicht! Die Angst hat sich aber verselbständigt, so dass sie sich der vernunftmäßigen Kontrolle entzieht. Dessen ungeachtet ist die persönliche Begegnung sowie der empathische Austausch zwischen Ratsuchendem und Experten natürlich nur bedingt zu ersetzen. Vor diesem Hintergrund glaube ich aber, dass dieses Buch Ihnen helfen kann zu entscheiden, worauf es in Ihrem speziellen Fall bei der persönlichen Begegnung besonders ankommt.

Eines zieht sich in diesem Buch durch wie ein roter Faden: Ich gehe bei der Suche nach den verschiedenen Angstquellen mehr auf psychische Funktionen ein als auf kognitive Inhalte. Dabei folge ich einem Ansatz, der in der akademischen Psychologie noch relativ neu ist, aber mehr und mehr Beachtung findet. Falls Ihnen jetzt noch nicht klar sein sollte, was der Unterschied zwischen Funktionen und Kognitionen ist, so spanne ich Sie noch ein wenig auf die Folter.

Doch so viel schon einmal vorab: Etwas verkürzt könnte man sagen, dass ich weniger beschreibe, welche Denkstrategien helfen oder wie Sie die jeweilige angstbesetzte Situation rational (er)klären sollen (auch wenn ich an der einen oder anderen Stelle dazu Anregungen gebe). Vielmehr gebe ich Ihnen Techniken an die Hand, mit denen Sie selbstregulative Funktionen trainieren, die Angstprozesse abschwächen oder – das wäre der Idealfall – ganz zum Verschwinden bringen.

Gerade bei Angststörungen geht es in besonderem Maße darum, Kontrolle über die eigenen Emotionen, körperliche Abläufe und das psychische Wohlbefinden zu bekommen. Wer schon einmal eine Panikattacke hatte, weiß, wovon ich spreche – die damit verbundenen Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit sind äußerst beklemmend und an sich wieder angstauslösend (Angst vor der Angst). Meine praktische Erfahrung zeigt, dass man diese Automatismen durchbrechen kann, vorausgesetzt, man trainiert die Techniken regelmäßig.

Dieses Buch ist in mehrere Teile aufgebaut. Kapitel 2 behandelt Angst aus einer grundsätzlichen Perspektive und erklärt, warum Sie manche Angstformen getrost nicht so ernst nehmen sollten. Kapitel 3 beschreibt, wann Sie Angst ernst nehmen sollten und gibt Hinweise, wann sie zu einer Störung werden kann. In Kapitel 4 bis 6 gebe ich eine Einführung in eine spezielle Theorie der Psyche, die ich diesem Buch zugrunde lege. Der geneigte Leser kann diese Kapitel nutzen, die psychologische Dynamik hinter Angstphänomenen besser zu verstehen. Kapitel 7 umfasst den eigentlichen Kern des Buches und gibt praktische Anleitungen, wie Sie mit verschiedenen Angstformen umgehen. Im letzten Kapitel gebe ich eine Schlussbetrachtung auf das Thema und stelle es noch einmal in einen größeren Zusammenhang.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Erfolg mit diesem „Angst-Buch“.

Wege aus der Angst. Psychologische Ursachen und praktische Lösungen

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