Читать книгу Abgründe der Schönheitschirurgie - Dr. Werner Mang - Страница 6
Götterdämmerung
ОглавлениеDas Buch ist keine Nestbeschmutzung, im Gegenteil. Es ist mein Weckruf zum Wohle der Patienten.
Als Pionier in der Schönheitschirurgie bin ich auf Kongressen immer wieder angeregt worden, doch ein kritisches Buch über die Missstände in der Schönheitschirurgie zu schreiben. In Zeiten von Corona, in denen sämtliche gesellschaftlichen Termine und Veranstaltungen ausfallen, kam mir das gerade recht. Bis vor etwa zehn Jahren war die ästhetische Chirurgie noch eine heile Welt. Was sich aber seitdem bei Ärzten, im Internet und auch in der Vorstellungswelt der Patienten abspielt, ist in höchstem Maß beunruhigend.
Seit bald 35 Jahren verfolge ich die Trends der Schönheitschirurgie mit großem Interesse, doch in der vergangenen Dekade mit wachsendem Entsetzen. Zunächst war es nur eine schreckliche Ahnung meinerseits, doch mittlerweile weiß ich es mit Sicherheit: Die Götterdämmerung hat begonnen. Sie haben richtig gelesen. Wir steuern auf den Abgrund zu. Ein letztes Mal bäumt sich meine Branche auf. Aber wie die Götter der nordischen Mythologie ist die Schönheitschirurgie in ihrer jetzigen Form dem Untergang geweiht. So, wie es ist, kann es nicht weitergehen – ich meine sogar, so, wie es ist, darf es nicht weitergehen! Das Fundament der international anerkannten Bodenseeklinik ist die rekonstruktive Chirurgie an Gesicht, Brust, Bauch und im Bereich der Extremitäten. Sie macht etwa zwei Drittel unserer Eingriffe aus. Das restliche Drittel ist die sogenannte Schönheitschirurgie. Aber nur für diese Operationen und Behandlungen interessieren sich die Medien brennend. Das mediale Interesse richtet sich auf Behandlungen wie Lippenaufspritzungen, Minilifting, Botoxinjektionen, Poimplantate, Fetteinspritzungen, Schamlippenstraffungen, Laserbehandlungen und vieles Weitere.
Das Gruselkabinett der Schönheitschirurgie: Wie aus der einstigen Ohrenanlegung Krakenlippen und Poimplantate wurden
Jeden Tag bin ich Zeuge der schrecklichen Entwicklungen, die unsere Gesellschaft seit einigen Jahren genommen hat. Es ist an Absurdität mittlerweile kaum mehr zu überbieten, welche Wünsche, Forderungen und Vorstellungen der Patienten mir in meiner Arbeit begegnen. Manche verlangen, dass ich ihnen Kinnimplantate einsetze, damit sie ihren Vorbildern Ryan Gosling oder Scarlett Johansson ähnlicher sehen. Andere bitten mich um ein Hinterteil wie Kim Kardashian, auf dem man ein Sektglas abstellen kann. Sixpack-Bauchplastiken, Wespentaillen durch Rippenentnahmen oder zackenförmige Krakenlippen: Es gibt nichts, wonach ich nicht schon gefragt wurde. Patientinnen und Patienten sind oft enttäuscht, wenn ich medizinisch nicht vertretbare Behandlungen ablehne, was in zehn Prozent aller Fälle vorkommt. Ja, richtig: Fast jede zehnte Patientin, die wegen eines Schönheitseingriffs nachfragt, schicke ich wieder nach Hause. Ich bin sehr dankbar, dass ich aufgrund unserer langen Warteliste in der Lage bin, auch mal »Nein« sagen zu können.
Im Gegensatz zu früher werden die Trends immer kurzlebiger und die Wünsche der Patienten stets extremer. Manche scheinen eine Schönheitsoperation gar mit einem Gang zum Friseur zu verwechseln und nicht zu bemerken, dass ihre teilweisen grotesken Vorstellungen von Ästhetik eher in eine Freakshow als in einen Operationssaal gehören.
Die fragwürdigen Begierden vieler Patienten entstehen allerdings nicht allein in ihren Köpfen. Sie werden durch die unbegrenzten Möglichkeiten des Internets hervorgebracht und mithilfe der sozialen Medien verstärkt. Nirgendwo wird so viel gefälscht und manipuliert wie im World Wide Web. Ich spreche mich dafür aus, dass Inhalte entfernt werden, die Jugendlichen schaden. Plattformen wie Instagram und Facebook sollten beschränkt werden, sodass auch Zuckerberg und Co. in die Schranken gewiesen werden. Nicht nur, dass mich Menschen aufsuchen, die extremen Trends nachjagen und sich sehenden Auges verunstalten lassen wollen. Es kommen auch Patienten, die unverantwortlich handelnden Ärzten in die Hände gefallen sind. Bei diesen offensichtlichen Körperverletzungen dürfen meine Kollegen und ich anschließend mit aller Schöpferkraft und Sorgfalt retten, was noch zu retten ist. Unzureichend ausgebildete Ärzte, die den Menschen das Blaue vom Himmel versprechen, halte ich neben der gefährlichen Vorbildfunktion berufsmäßiger »Influencer« von Instagram und Co. deswegen für die schlimmsten Verursacher des Dilemmas, in dem wir stecken.
Die Ausbildung zum plastischen Chirurgen in Deutschland lässt leider sehr zu wünschen übrig. Im schlimmsten Fall hat ein vermeintlich voll ausgebildeter Facharzt für Plastische Chirurgie noch nie selbst eine ästhetische Operation durchgeführt, wenn er seine eigene Praxis eröffnet. Trotzdem darf er dort vom ersten Tag an Schönheitseingriffe durchführen. Wollen Sie so einen »Dr. Frankenstein« an Ihr Gesicht, Ihre Augenlider oder Ihre Hüften lassen? Da ist die Verunstaltung fast schon vorprogrammiert. Nicht nur, dass diese sogenannten »Kollegen« von dem Handwerk, das ich so liebe, wenig Ahnung haben. Sie nutzen die oben genannten Medien und das ganze Spektrum der Bildbearbeitung, um Vorher-Nachher-Fotografien zu erschaffen, die keiner realen Umsetzung entsprechen. Es geht ihnen nicht um den Patienten. Nein, es geht ihnen nur um sein Bestes: Und das ist sein Geld.
Keine Frage, ich bin mit meinem Beruf sehr reich geworden. Doch es ging mir primär immer um eine gute Ausbildung und die Sicherheit der Patienten. Bis zu meinem 38. Lebensjahr habe ich als Oberarzt 7000 D-Mark pro Monat verdient und in der Uniklinik rund um die Uhr dafür gearbeitet. Mit Nichts habe ich mich 1989 selbstständig gemacht. Gründete eine kleine Klinik mit drei Angestellten. Durch eine gute Ausbildung, psychische und physische Fitness und den Glauben an sich und seine Fähigkeiten kann man in Deutschland alles erreichen. Vielen, und leider mittlerweile sehr vielen meiner Kollegen, die besorgniserregende Arbeit verrichten, möchte ich mit Ciceros Worten begegnen, in der Hoffnung, dass sie diese auch verstehen mögen: »Imago est animi vultus.« – »Das Gesicht ist ein Abbild der Seele.« In meinen Augen kommt es einem Unheil gleich, wenn »Scharlatane« an eben diese Gesichter Hand anlegen.
Das nimmt derartige Ausmaße an, dass eine Patientin als Notfall bei uns eingeliefert wurde, die deutliche Rötungen und starke Schmerzen im Bereich der Nase aufwies. Ein vermeintlicher Facharzt hatte ihr bei einem Eingriff einen Schweineknorpel eingesetzt, um den Nasenrücken aufzurichten. Dieses Fremdmaterial hatte sich entzündet und zu einer ausgeprägten Vereiterung geführt. In einem Notfalleingriff mussten wir im Naseninneren die Schleimhaut spalten, aus welcher sich der Eiter entleerte. Der Abstrich ergab, dass die vorhandenen und ursächlichen Bakterien sehr aggressiv waren. Wir entfernten das Fremdmaterial, säuberten den ganzen Nasenbereich, spülten die Wunde mit Antibiotika und legten eine Drainage. Es sollte jedoch vier Tage dauern, bis wir die Entzündung in den Griff bekamen. Gott sei Dank kam die Patientin rechtzeitig zu uns, ansonsten hätten wir Schlimmeres nicht verhindern können.
Als die Entzündung abgeklungen war, galt es, die Nase wiederherzustellen, was mit sehr hohem Aufwand und Kosten verbunden war. Daher warne ich vor übereilten Operationen. Es ist immens wichtig, dass der Operateur auf dieses Gebiet spezialisiert ist. Ein junger Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie hat bis zum Ende seiner Ausbildung in der Regel keine einzige ästhetisch-rekonstruktive Nase operiert. Dennoch darf er es und manche dieser jungen Ärztinnen und Ärzte gaukeln leider nur zu oft etwas vor, was nicht der Realität entspricht.
Mediale Prostitution: Influencer und ihr Einfluss auf die Schönheitsindustrie
Ähnlich gehen auch Influencer vor, wenn sie Bilder von sich bis zur Unkenntlichkeit verändern und so die Aufmerksamkeit naiver Follower auf sich ziehen, damit sie durch Werbung absurde Summen erwirtschaften. Je höher die Anzahl der Follower und ihrer Reaktionen auf die Posts, desto größer der Umsatz.
Auch falsche Vorbilder aus den Medien, von der Yellow Press zu Stars ernannte Nobodys, leben nicht nur vollkommen falsche, sondern sogar gesundheitsschädliche Ideale vor. Fußballerfrauen hungern sich öffentlich zugrunde. Moderatoren lassen sich das Gesicht so straff liften, dass sie wie leblose Fratzen aussehen. Instagram-Sternchen mit Plastikpo und Schlauchbootlippen werden durch das Privatfernsehen in den Adel von Prominenten erhoben und von einer Trash-TV-Sendung in die nächste weitergereicht. Indem die Medien diesen Menschen eine Bühne geben, erlauben sie, dass sich ein neues ästhetisches Normativ in unserer Gesellschaft durchsetzt.
Es ist das Triumvirat des Grauens: manipulierende soziale Medien mit all ihren Auswüchsen, mangelhaft ausgebildete Ärzte, deren unlautere Machenschaften zur Lebensgefahr werden können, und die allgegenwärtige Missgunst, die nicht nur meine Arbeit, sondern die ganze Gesellschaft durchdringt. Ich bin auf jeden stolz, der erfolgreich ist. Vor Erben habe ich jedoch weniger Respekt. Ebenso vor »Möchtegerntypen«, die nur über andere Leute herziehen, mit sich selbst und der Welt unzufrieden sind und mehr sein wollen, als sie sind. Wahre Freundschaften findet man dort selten. Mein persönliches Paradies ist der Bodensee. Wichtig sind mir die Freunde, die mich seit mehr als 50 Jahren begleiten, beim Sport, wie Tennis, Skifahren, Golf, oder beim Stammtisch. Sie sind alle stolz auf mich, den alemannischen Jungen, und auf das, was ich erreicht habe, und das ganz ohne Neid oder Missgunst. Da kann ich mich wohlfühlen. Das ist mein wahrer Reichtum des Lebens. Geld allein macht nicht glücklich.
Der Aufdeckung und Bloßstellung der medialen Meinungsmacher und den daraus resultierenden Abgründen der Schönheitschirurgie widme ich unter anderem dieses Buch.
Ich möchte Sie dazu einladen, mich auf eine Reise zu begleiten. Wir beschäftigen uns mit der heutigen Pseudosociety, der Gesellschaft der Unechten. Wie konnte es dazu kommen, dass wir über Jahrhunderte Schönheitsidealen wie der Nofretete, der Mona Lisa von da Vinci oder dem David von Michelangelo nacheiferten, es jedoch gegenwärtig irgendwelche Emporkömmlinge der sozialen Medien sind, die wir zum neuen Ideal erheben? Es sei hier schon verraten, dass es Letzteren lediglich durch Manipulation und Suggestion gelingt, fast perfekt und ohne Makel zu wirken.
Der Neandertaler und sein Smartphone: Wie Social Media unsere Gedanken steuern
Des Weiteren will dieses Buch den drastischen Anstieg von plastischen Operationen im letzten Jahrzehnt beleuchten. Ich möchte Ihnen erklären, in welchem Zusammenhang dieser Anstieg mit dem Aufkommen der sozialen Medien steht, die ich für die teuflischste Ausgeburt von allen halte. Denn diese Medien machen sich uralte Verhaltensmuster aus der Steinzeit zunutze, die in unserem Gehirn immer noch vorherrschen. Im Grunde ist unser Zerebrum nach wie vor das eines Neandertalers – egal ob wir ein Smartphone in der Hand halten oder nicht. Daher gelingt es Social Media spielend leicht, ein besorgniserregendes Business zu ermöglichen, in dem sich Influencer auf unbewusste Empfänger stürzen und am Ende selbst Opfer ihrer eigenen Prostitution, vielmehr der digitalen Geißelung werden.
Es geht um aufmerksamkeitsheischende Algorithmen, das Spiel um und mit Dopamin und darum, was real umsetzbar oder nur eine digitale Absurdität ist. Was machen soziale Medien mit dem User? Welche Wirkungsweisen nutzen sie – und warum? Weshalb empfinde ich mich mittlerweile eher als Psychologe denn als Arzt für ästhetische Chirurgie und wieso müssen sich Schönheitschirurgen mit Auswirkungen der Nutzung des Internets und Social Media beschäftigen, die in ihrer schlimmsten Form zu Depressionen, Essstörungen oder Entstellungssyndromen werden, also einer Störung der Wahrnehmung des eigenen Leibes?
Vor allem die derzeitige Ausbildung auf dem Gebiet der ästhetischen Chirurgie stelle ich an den Pranger. Ich werde aufzeigen, wie defizitär sie ist und welche schrecklichen Folgen sie für Patienten haben kann. Doch sehe ich auch Möglichkeiten, die Regierung, Universitäten und Ärztekammer umsetzen sollten, um eine solide Ausbildung auf diesem Gebiet auf die Beine zu stellen und unsere Patienten nicht länger zu gefährden – zum Wohle der Patienten. Nur darum geht es in diesem Buch.
Ich schreibe darüber, was ästhetische Chirurgie aus meiner Sicht darf und was nicht. Ich führe an, was im Sinne natürlicher Schönheit getan werden kann und in manchen Fällen auch getan werden sollte, um die individuelle Lebensqualität zu steigern, überhaupt zu gewährleisten.
Unsere Reise wird uns am Ende in die Zukunft führen. Dort werden Sie erfahren, wie sich Schönheit neu definiert, welche Techniken und Möglichkeiten der ästhetischen Chirurgie angewandt werden und was das Morgen für uns bereithalten kann, wenn wir jetzt die richtigen Weichen stellen. Denn auch wenn der Weltenbrand die Götterwelt in Flammen setzt: Aus dem absoluten Chaos geht eine schönere Welt hervor. Es liegt an uns, diese Welt bereits heute zu gestalten.