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Flucht ins Ungewisse

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Auftritt Johannes:

Johannes war ein einsamer Schüler, klein, schmächtig und in Selbstzweifeln verstrickt. Die Gedankenmuster, in denen er gefangen war, drehten sich um das Leben und sich selbst. Er wollte Größeres, mehr und bedingungslos Gutes. Seine eigenen Gefühle waren aber von Selbsthass und Hass auf andere erfüllt. Er strebte immer danach mehr zu sein, als er eigentlich war.

Seinen Gedanken konnte er sich nicht entziehen oder sie revidieren. In seiner Jugend besaß er noch nicht die Fähigkeit, zu verdrängen oder wegzuschieben. Er musste es durchkauen oder durchziehen.

Die Lösung suchte er in Gesprächen, aber viel zu oft in Selbstgesprächen. Er war oft allein aber nie einsam. Das Gefühl der Einsamkeit lernte er erst spät in seinem Leben kennen, dann aber so, dass es ihn nie wieder ganz los ließ.

Die Narben einer Trennung bleiben für immer. Johannes steht im Hauptbahnhof in München auf Gleis 23. Er will gehen, da Sarah ihn solange hingehalten hat, bis er sich total verloren hatte. Er will sie einfach nur vergessen. Vor ihm steht jetzt ein neuer Abschnitt.

Ein paar Tauben flattern durcheinander. Der Nachtzug bremst mit einem ohrenbetäubenden Quietschen. Erst in vierzig Minuten wird er sich Richtung Amsterdam in Bewegung setzen. Johannes betrachtet die Tauben, die nun wieder landen. Sie widern ihn an, genau wie die Menschen.

Er wuchtet seinen Rucksack auf den Rücken und sucht die Wagonnummer 23. Als er einsteigt, beschleicht ihn die Sorge, zu wenig mitgenommen zu haben. Er ist als erster im Sechserschlafabteil und kann sich die Pritsche oben links sichern. Zeit seines Lebens war er der Meinung gewesen, dass ihm an nichts fehlt. Nun empfindet er Einsamkeit und fühlt sich wie eine leere, ausgedrückte Tube Zahnpasta. Von seiner Liege oben betrachtet er die nach und nach eintretenden Passagiere seines Abteils. Vier Männer, ein junges Mädchen. Sie schweigen, verstauen ihr Gepäck, werfen Johannes einen bemitleidenden Blick zu, als wüssten sie genau, dass es ihm im Moment schlecht geht.

Der Zug ist seit Stunden in Bewegung und Johannes beginnt, sich unter den Fremden, die auch allein sind, geborgen zu fühlen. Er holt sein kleines Reiseschach hervor und fragt, ob jemand mit ihm spielen will. Das Mädchen wundert sich, schmunzelt und willigt ein. Sie hat wenig Übung und verliert eine Figur nach der anderen.

Johannes bemerkt einen Mann mit fahlem Gesicht, der außerhalb des Abteils im Gang sitzt. Er beobachtet das Spiel mit starrem Blick. Als Johannes Matt setzt, kichert das Mädchen nur und schlängelt ihren langen Körper in die Schlafkabine, ohne ein Wort zu sagen. Johannes muss sofort wieder an Sarah denken und abermals überkommt ihn die Trauer und das elende Gefühl, allein zu sein.

Der fremde Typ klopft an die Scheibe. Er reibt seine Hände an den Taschen.

„Wollen wir spielen?“

Johannes öffnet die Tür des Abteils, tritt langsam hinaus und klappt den Sitz neben dem Mann herunter. Er sieht nicht gesund aus. Sollte er sich vielleicht doch besser schlafen legen und zurück zu dem Mädchen mit den roten Haaren? Warum er nun doch auf dem Gang bleibt, weiß Johannes nicht. Lange Haare hängen dem Fremden in fettigen Strähnen über die Augen. Sein Gesicht hat einen blass grünen Schimmer und ist fast völlig verdeckt von einem wolligen Bart. Seine schnell umherblickenden Augen wirken aber wach und lebendig. Es scheint Johannes fast so, als führe der Fremde etwas im Schilde. Sie stellen die Figuren auf und Johannes fragt zögernd: „Wer beginnt?“

Der Fremde erklärt mit knarzender Stimme: „Weiß fängt immer an.“

„Ja klar“, meint Johannes. „Willst du weiß sein?“

Der Fremde blickt ihn abermals nur stumm an und ein unangenehmes Schweigen entsteht.

„Ich will schwarz sein“, meint Johannes höflich.

Der Fremde eröffnet.

„Wo fährst du hin?“, fragt er.

„Nach Amsterdam.“

„Warum? Was machst du da?“, hakt der Fremde nach.

„Na ja, die Stadt anschauen und wegen dem Kiffen und so“, fügt Johannes hinzu, als er sich seinen Spielpartner näher betrachtet, der theoretisch ein ganz anderes Drogenproblem hat, so blass und hager, wie er ist.

„Aha“, sagt der, und wirkt nicht sonderlich interessiert. Johannes fragt ihn wie er heißt. „Nenn mich Messy“, antwortet dieser und zwinkert ihm verschwörerisch zu.

Auftritt Messy:

Messy hatte immer Probleme mit der Gesellschaft. Es fing schon damit an, dass er als letztes im Sportunterricht in eine Mannschaft gewählt und beim Fußball ins Tor gesteckt wurde. In der großen Pause wurde er von seinen Mitschülern in die Mülltonne gestopft. Aber Messy war ein Kämpfer, der lieber aus der Welt einen besseren Platz macht, als sich zu wehren oder sich gar zu ändern.

Sie spielen schweigend weiter.

Auf einmal fragt Messy: „Wo fährst du hin?“

Überrascht antwortet Johannes: „Nach Amsterdam.“

„Warum? Was machst du da?“

Messy scheint ihm nicht zugehört zu haben.

„Kiffen“, antwortet Johannes jetzt kurz angebunden.

„Aha“, meint Messy. Sie spielen weiter. Der Dialog wiederholt sich noch einmal.

Mit diesem Gegner sollte ich fertig werden, denkt Johannes. Er blickt auf die Situation die sich nun ergeben hat. Er denkt drei Züge im Voraus und erkennt seinen Vorteil. Er will ziehen, doch Messy meint im gleichen Atemzug: „Das würde ich nicht tun.“

Johannes zieht trotzdem, denn schließlich kann er gut Schach spielen. Drei Züge später hat er seine Dame verloren und letztendlich dadurch das Spiel.

Er sagt Messy, dass er jetzt schlafen muss. Dieser nickt. Als er auf seine Pritsche klettert, spürt er noch Messys’ Blick auf sich ruhen. Er schließt die Augen. Lichter ziehen am Fenster vorbei.

Der Nachtzug bewegt sich nur sehr langsam. Nachtzüge scheinen den Regeln des üblichen Zugverkehrs nicht zu gehorchen, denkt er.

Sie tun, was sie wollen, bleiben einfach mal zwei Stunden in einem Bahnhof stehen oder mitten auf der Strecke, rollen an, bremsen ab. Es wird ihm ganz warm und er wird friedlich in den Schlaf geruckelt.

Als er aufwacht ist Messys’ grinsendes Gesicht ungefähr zehn Zentimeter von seinem entfernt.

Johannes erschrickt furchtbar und fährt hoch. Messy zuckt wegen seiner ruckartigen Bewegung zusammen, hält schützend seine Hände über seinen Kopf und duckt sich. Er hat zwei Plastikflaschen in der Hand. Messy lugt vorsichtig durch seine verschränkten Arme und grinst gleich wieder, als er Johannes sieht. Der ist jetzt ungefähr so käseweiß wie Messy.

Der meint: „Ich hab dir Dr. Pepper mitgebracht.“

Johannes schaut verwirrt.

„Du kennst doch Dr. Pepper, oder?“, fragt Messy.

„Ja schon, aber du hast mich erschreckt.“

Messy schaut geknickt aus. Er streckt ihm die Flasche hin und sagt wieder nichts.

Wie ein Hund, der Demutshaltung annimmt, setzt er sich auf den Boden.

Die beiden Männer blicken sich an. Bevor es wieder unangenehm wird, nimmt Johannes die Flasche und sagt danke.

„Magst du Dr. Pepper auch so gern?“

Johannes zuckt mit den Schultern.

„Schau mal“, erklärt Messy mit wichtiger Miene und zeigt auf die 23 auf dem Logo der Flasche. „Das ist Illuminatenstoff.“ Johannes ist ratlos was er mit Letztgesagtem anfangen soll. Er findet den Kriechenden vor sich unangenehm.

„Ich kenn mich da aus, weißt du.“ Messy setzt sich wieder auf seinen ausklappbaren Stuhl außerhalb des Abteils und prostet ihm zu. Johannes erhebt die Flasche zögernd und grinst höflich. Ein Gefühl von Mitleid, wegen Messys’ unbeholfenen Versuch Kontakt zu knüpfen, steigt in ihm hoch.

Messy kramt während dessen seine Kopfhörer aus seiner Jackentasche und schließt sie an einen MP3 Player an. Ziemlich zügig fängt er an, beharrlich mit dem Kopf zu nicken.

Er winkt Johannes zu sich her. Dieser klettert von seiner Pritsche und fühlt sich bei Messy eher an einen Zwölfjährigen erinnert als an einen erwachsenen Mann.

Messy reicht Johannes einen Stöpsel. Aus ihm schallt viel zu laut: „You can´t touch this!“.

Johannes gibt den Ohrstöpsel zurück.

Ernst blickt ihn Messy an und stellt trocken fest: „Hammertime. Möge der Beat mit uns sein.“

Johannes sieht erst aus dem Fenster und dann auf seine Uhr.

„Wir sind bald da“, murmelt er gedankenverloren und überlegt, warum er gerade mit Messy redet und nicht mit den anderen im Abteil. Die junge Frau sollte ihn viel mehr interessieren.

Johannes beobachtet Messy, der wieder mit dem Kopf nickt. Er ist kleiner und dünner, als es ihm am Anfang vorgekommen ist. Er ist zudem anders und irgendwie echter, wobei er nicht genau weiß, wie er es beschreiben soll.

Er blickt hinter sich ins Abteil, in dem ihm die Leute langweilig und bedeutungslos erscheinen. Sie beschäftigen sich damit, sinnlos Dinge in ihre Taschen hinein und wieder hinaus zu packen. Als er wieder zu Messy sieht, bemerkt er, dass der ihn schon wieder beobachtet hat.

Messy sieht ihn nun sehr ernst an und flüstert: „Ich weiß.“

„Was weißt du?“, fragt Johannes entnervt.

Messy lächelt traurig.

„Denk nicht schlecht von ihnen. Sie sind allein. Je mehr es werden, umso mehr empfinden sie die Einsamkeit. Sie haben ihre Zugehörigkeit zur Gruppe verloren. Das ist der Grund, warum sie auch kein schlechtes Gewissen oder Reue mehr empfinden.“

Er will erwidern, dass er nicht schlecht von ihnen gedacht hat, überlegt es sich aber dann doch anders. Soll Messy doch denken, was er will.

„Johannes, wollen wir uns gemeinsam um ein Hostel kümmern? Oder hast du schon was, wo du unter kommst?“

Johannes verspürt den Impuls, dass Messy ihm lästig werden könnte.

Er schluckt ihn hinunter und sagt: „Klar. Machen wir.“, doch ärgert sich noch im gleichen Moment, eingewilligt zu haben.

Der Zug wird langsamer und beide Männer nehmen ihre Rucksäcke.

Sie steigen aus und verlassen den Bahnhof. Es ist sein erstes Mal in Amsterdam und Johannes gefallen vor allem die Fachwerkbauten

Messy geht zu einem Mann, der Flyer für ein Hostel verteilt. Als er zurückkommt, meint er: „Mir nach, es ist gleich in der Nähe.“

„Sollen wir nicht ein bisschen herumschauen, bevor wir gleich das erstbeste Hostel nehmen?“ entgegnet Johannes.

„Können wir, es wird aber dem Verlauf der Dinge, die kommen werden, keine entscheidende Wendung geben.“

Johannes fragt sich, was das schon wieder bedeuten soll. Messy spricht für ihn in Rätseln.

Nachdem sie um zwei Ecken gebogen sind, sehen sie das Hostel, über dessen Eingang ein großes Neonschild hängt, auf dem leuchtend in blauer Schrift „Exil“ steht.

Johannes findet, dass der Name zu seiner Flucht aus München passt.

Die Irrfahrten des Messias

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