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DIE PROPHEZEIUNGEN DER WEISEN

Dörthe Haltern

Copyright: © 2010 Dörthe Haltern

Coverdesign: © 2012 Lukas von Ekesparre

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN: 978-3-8442-6301-5

Band 1

Die Prophezeiungen der Weisen

PROLOG

Müde saß Kao auf dem harten Stuhl, wusste nicht mehr, wie er sein Gewicht noch verlagern könnte, um eine weniger schmerzhafte Stelle an seinem Gesäß zu finden. Stunden saß er bereits in der finsteren Halle, die nur durch ein paar wenige unruhig flackernde Kerzen beleuchtet war, mit dem Ellenbogen auf dem Schreibpult vor ihm gestützt. Um ihn herum das leise Flüstern seiner Leidgenossen, die gar nicht zu merken schienen, wie sie vor sich hin murmelten. Hier das Kratzen von einer Feder über Papier, dort ein verhaltenes Räuspern.

Kao wagte einen scheuen Blick in die Runde. Die edlen, schmalen Gesichter der Anderen starrten konzentriert auf die leeren Seiten vor ihnen, die sie emsig beschrieben. Seltsamerweise wirkten sie aber auch zufrieden, fast schon glücklich, was Kao so gar nicht nachvollziehen konnte.

Im Grunde hatte er sich für sein weiteres Dasein etwas Besseres vorgestellt, als das Studium eines Gelehrten aufzunehmen, eines Alk, wie es hier genannt wurde. Erträumt hatte er sich ein Leben voller Abenteuer, durch die weiten Lande zu ziehen und die Informationen zu sammeln, die von den Sammlern von ihnen hier zusammengetragen wurden, um die Geschichte festzuhalten, wie einst die Weisen vor ihnen. Dass er auf der Seite derer sitzen würde, die in verstaubten Hallen saßen, umrahmt von mächtigen Regalen gefüllt mit einer schier unendlichen Anzahl Bücher, nein, das hätte er nicht ahnen können.

Seufzend starrte er auf das Chaos vor sich, strich genervt einige widerspenstige Strähnen seines braunen Haares hinter die spitzen Ohren und versuchte aufs Neue, die kaum leserlichen Krakeleien zu entziffern, die ihm helfen sollten, weitere Bücher zu füllen.

Er nahm seine Feder, als würde sie Zentner wiegen und führte sie, mit seiner sauberen, feinen Handschrift über die noch unbeschriebenen Seiten Papier.

Die Räder rollten. Riesige Ungetüme in der schwarzen Finsternis. Ununterbrochen drehten sie sich, unaufhaltsam, Tag für Tag. Nur die Nacht über nicht, aber das machte keinen Unterschied, denn hier herrschte die ganze Zeit über tiefste Nacht...

STALCA

Die Räder rollten. Riesige Ungetüme in der schwarzen Finsternis. Ununterbrochen drehten sie sich, unaufhaltsam, Tag für Tag. Nur die Nacht über nicht, aber das machte keinen Unterschied, denn hier herrschte die ganze Zeit über tiefste Nacht. Eine endlose Nacht, eine trostlose Nacht, denn es standen weder Mond noch Sterne am Himmel, die Trost auf einen neuen Tag geben könnten. Aber im Prinzip war dies unsinnig, denn es gab ja sowieso keinen neuen Tag, also warum sinnlos Mond und Sterne anstarren?

Wer einmal hier eingekehrt war, kommt nie wieder hinaus. Warum sollte er auch, denn jeder der hierher kam, kam niemals freiwillig. Sie alle hatten eine Gemeinsamkeit: Sie stammten meist von demselben Volk ab. Nur ab und zu verirrte sich ein Strafgefangener, der aber nur noch seine restlichen zwei oder drei Tage genießen durfte. Dann war er meistens schon wieder fort, auf dem Weg in eine bessere Welt vielleicht. Oder auf dem Weg in dieser schrecklichen Welt wiedergeboren zu werden. Aber so unendlich grausam konnten die Götter doch gar nicht sein.

Vielleicht starben aber tatsächlich unheimlich viele Verzweifelte umsonst, weil es keine Hoffnung für sie gab. Keine Erlösung, kein Entkommen, kein absolut Garnichts. Grausam war sie wirklich diese Welt. Wahrscheinlich bis in den Tod hinein. Da gab es keine andere Möglichkeit, als auszuharren, um im nächsten Leben einfach weiter auszuharren, ohne dass man von seinem Ausharren zuvor je etwas erfahren würde. Oder man verbrachte so schlimme Taten, dass man es beim besten Willen nicht verdient hatte wiedergeboren zu werden und starb. Aber die meisten hatten Angst vor dem Tod und hüteten sich davor. Denn sie meinten sicherlich zu Recht, der Tod könne keine Erlösung sein, wenn die Götter ihn doch als Bestrafung einsetzten.

Einigen, die aber mit Sicherheit von Dämonen besessen sein mussten, war es völlig egal, was später mit ihnen geschehen würde und sie versuchten einfach nur im Jetzt zurechtzukommen und wer ihnen dabei im Weg stand wurde, sofern dies überhaupt möglich war, aus dem Weg geschafft. Aber zurzeit war es eher anders herum der Fall: Bevor sie es überhaupt versuchen konnten, waren sie schon selbst tot. Und wenn sie dann tot waren, wurde ihnen hier sicherlich kein angemessenes Begräbnis nach allen Regeln und Vorschriften gestattet, also waren sie vermutlich dazu verdammt auf Ewigkeit in dieser Welt herumirren zu müssen. Manchmal begegnete man auch solchen Geistern. Die nicht zur Ruhe kamen, weil man ihnen den Weg zu den Toten versperrt hatte. Ob die Menschen dies wohl mit Absicht taten, oder wussten sie es einfach nicht besser?

In den meisten Fällen lachten sie über ihre Bräuche, verabscheuten sie zum Teil und ließen sie verbieten. Heimlich mussten sie den Göttern treu bleiben. Hinter Häuserwänden in den Schlammgassen, die sich durch das kleine Dorf hinter der Mine schlängelten. Blockhütten waren es, aus unterschiedlichsten Materialien zusammengezimmert und mit Glück einem dichten Dach. In den Winterzeiten war es eisig kalt, denn es gab keine Fenster in diesen Häusern in den seltensten Fällen eine Tür. Es gab auch keine Einrichtung, sofern sich nicht selbst jemand etwas gezimmert hatte. Natürlich hatten sie bei sich zu Hause keine selbstgezimmerten Betten oder andere Möbel.

Er lebte zusammen mit seinem Freund, dessen Mutter und Geschwister zusammen. Seine eigene Familie war, so hoffte er, in einer besseren Welt gelandet. Ab und zu sehnte er sich nach seiner Heimat, den rauen, fast immer mit Schnee bedeckten Bergen zurück, denn diese kannte er noch aus seiner Kindheit. Doch mit jedem Tag länger in der Welt der Menschen gingen diese Erinnerungen verloren. Immer und immer wieder erzählte er sich selbst von dem Nomadenleben, dass sie auf ihrer ständigen Flucht gelebt hatten, aus Angst er würde sich an gar nichts mehr erinnern können. Ja, das war seine größte Furcht, denn er wusste, dass er dann nicht nur Kindheitserinnerungen an eine bessere Zeit verlieren würde. Es war noch mehr. Es war die Erinnerung daran, wer er wirklich war, denn zu seinem Entsetzen bemerkte er, dass es immer mehr in seinem Umkreis vergaßen.

"Wir müssen hier weg.", flüsterte er in die Dunkelheit hinein, aus der die gleichmäßigen Schläge einer Spitzhacke ertönten. "Einen Fluchtplan erstellen und einfach weg."

Die Schläge verstummten und eine Zeitlang war nur das regelmäßige Rollen der Räder zu hören. Der Räder. In der Dunkelheit sah er die schmalen Augen seines Freundes kurz in dem kargen Licht einiger Lampen aufleuchten.

"Du spinnst.", murmelte sein Freund nur und arbeitete weiter. Klack, klack, machte es gedämpft in den Tiefen der Mine. Nur seine groben Umrisse waren zu erkennen, dass er fast selbst aussah, wie ein Felsen. "Arbeite lieber weiter und höre auf solche Gedanken zu spinnen oder willst du mich alles alleine machen lassen?"

"Ich meine es ernst, Túlak.", redete er weiter auf ihn ein. "Wenn wir es schaffen hier herauszukommen und Hilfe zu holen, dann können wir zurückkehren und alle befreien. Und jeder kann wieder tun, was er will. Die Minen werden wieder uns gehören und wir werden die Menschen aus dieser Gegend vertreiben können. So, dass sie niemals wieder kommen werden."

Túlak lachte. Ein leises, grausames Lachen war es, weil es einfach nicht aus dem Grund gelacht wurde, aus dem man lacht. "Du spinnst wirklich." Diese Worte waren noch viel grausamer. "Es gibt keine Hilfe. Und wenn doch, glaubst du doch nicht wirklich an das, was du gerade alles aufgezählt hast. Es wäre schön. Sicherlich, aber es ist nur ein Traum. Ein schöner, zwischen lauter Albträumen, aber mehr ist es nicht und es lässt sich auch nicht irgendwie verwirklichen. Merke dir das. Merke dir das gut., denn sollten sie dich bei einem Versuch erwischen hier wegzukommen, und es wird auch nur ein Versuch sein, werden sie dich an die Räder schnallen und dann werden wir für einen Moment noch ein anderes Geräusch als nur das Knirschen von Holz hören und darauf kann ich gut verzichten."

Túlak beugte sich zu ihm herüber und sah den Trotz in seinen schwarzen Augen aufblitzen. Ein Trotz, der bereits begann wirre Pläne zu schmieden. Pläne, deren Durchführung er sich als Ziel setzen und an denen er kläglich scheitern würde. Dafür erntete er eine schallende Ohrfeige mit der flachen Hand, so dass seine Wange schmerzhaft brannte.

"Vergiss es, Stalca. Sonst sehe ich mich dazu gezwungen, sie aus deinem Kopf heraus zu prügeln."

Stalca sagte gar nichts, sondern lehnte sich nur an die Felswand zurück. Er hatte nichts zu sagen, konnte nichts sagen, denn immerhin war Túlak um einige Jahre älter als er selbst. Gegen Ältere etwas zu sagen war nicht nur unverschämt, es war geradezu undenkbar. Weisheit entwickelte sich mit zunehmenden Alter und wie konnte ein Jüngerer weiser sein als ein Älterer? Túlak hatte mit Sicherheit Recht. Es war gefährlich und nahezu wirklich nur ein Traum. Ein Held zu sein und ein ganzes Volk aus der Gefangenschaft zu befreien. Wenn es möglich wäre, hätte es sicher schon jemand vor ihm getan und das hatte seines Wissens keiner. Doch ein gut durchdachter Plan würde zumindest schon einmal ihn hier heraus bekommen müssen. Fort von den sich ewig drehenden Rädern.

"Selbst wenn es irgendwie möglich wäre, würde ich dann sicher nicht mit dir kommen.", unterbrach Túlak wieder die Stille. Mit Worten, die völlig überraschend kamen. "Ich habe meine Familie hier. Meine Mutter, Brüder und Schwestern. Entweder alle, oder gar keiner. Wenn jemand tatsächlich entkommen sollte, werden sie es an seiner Familie auslassen und so etwas kann ich nicht riskieren. Aber du bist allein."

Er hielt eine Weile inne und Stalca wagte es nicht ihn in seinen Gedanken zu unterbrechen. "Wenn du wirklich vorhast hier zu verschwinden, kann ich dich nicht aufhalten. Dann kann es niemand. Aber höre auf mich, wenn ich dir sage, dass dir kein noch so guter Plan eine Hilfe sein wird. Verlasse dich nicht auf Pläne, schon viele sind daran gescheitert. Wenn es dein Schicksal sein sollte, dann nutze den Augenblick. Denn dieser wird dann kommen."

Stalca starrte ihn noch immer nur an. Gerade eben noch hatte sein Freund ganz andere Dinge gesagt, aber vielleicht war dieser Traum in ihm fast genauso groß, wie sein eigenes Verlangen frei zu sein. Ihrem Volk war es im Laufe der Geschichte nur kurze Zeit vergönnt gewesen frei zu sein. Sie hatten schon lange unter anderer Herrschaft gelebt, aber sie hatten ihren Herren mit Liebe gedient. Und sie waren keine Sklaven gewesen. Doch ihre Herren waren fort, einfach fort. Von dieser Welt verschwunden, wohin auch immer. Und ihnen folgten weitere. Zwerge, das Volk der Dunkelelfen. Die Trolle, Könige der Berge und Wälder. Mit jedem weiteren dieser Völker, das verschwand, verschwand ein Stück von dem, dem die Menschen einmal untertan waren. Die Kraft und Lebensenergie der Natur, die Macht der Götter, die Magie. Sie verschwand Stück für Stück, spürbar. Schmerzhaft spürbar für viele.

In Stalcas Adern floss anderes Blut, als in denen seiner Verwandten. Es war wildes Blut, gemischt mit dem seiner Ahnen und er besaß einen größeren Freiheitsdrang als manch anderer. Er verlangte frei zu sein. Frei, wie es sein Volk noch vor einigen Jahren war. Das freie Volk der Isk.

"He, ihr da!", ertönte die missklingende Stimme eines Menschen durch die dunklen Gänge. "Was sitzt ihr da so faul herum, he? Habt ihr nichts zu tun oder muss ich euch erst zeigen, wie ihr zu arbeiten habt?"

Das Geräusch einer knallenden Peitsche erklang. Die beiden Isk sahen sich an. Túlaks Blick eine stumme Warnung, Stalcas voller Zorn, doch sie packten ihre Hacken und arbeiteten weiter. Sie konnten sich keinen Ärger leisten. Das hatten sie schon zu oft getan.

Der Mensch ließ sie in Ruhe. Zufrieden, als er die gleichmäßigen Schläge wieder hörte. Vielleicht auch ein wenig enttäuscht darüber, dass er schon so schnell Erfolg gehabt hatte.

"Geht doch!", rief er ihnen noch zu, bevor er sich abwandte und seine Kontrollrunde weiterging. "Faules Pack."

Der Tag war gerade erst angebrochen, doch die Luft war bereits unerträglich stickig und es herrschte eine bedrückende Wärme, die das Arbeiten erschwerte. Sie waren weit entfernt von dem Knirschen der Räder, doch das machte vieles nicht besser. Es waren einige Tage vergangen seit Stalca mit Túlak gesprochen hatte und sie waren weit vorangekommen. Immer tiefer hatten sie sich in die Mine gegraben, auch wenn viele bereits murrten und bezweifelten, ob dies richtig war, denn sie hatten Angst davor, was sie dort unten erwarten würde. Doch ebenso groß war auch die Angst vor den Menschen und so blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als den Befehlen und der Gier nach reichen Vorkommen zu folgen.

Zuerst hielt Stalca die ganzen Ängste vor der Tiefe für unbegründet, doch auch er begann die nicht sichtbare Nähe von irgendetwas zu spüren, dass er selbst nicht zuordnen konnte. Doch es war da und es verbreitete eine Unruhe, vor der auch die Menschen sich fürchteten, denn sie glaubten, die Kontrolle verlieren zu können. Also griffen sie härter durch als sonst und schon einige, die versucht hatten, die Mine wieder zu verlassen, hatten dies zu spüren bekommen. Dies hieß allerdings nicht, dass sich dadurch etwas an der herrschenden Stimmung geändert hätte.

Wenn Stalca sich umsah, blickte er in angespannte Gesichter von wild arbeitenden Isk, die so versuchten ihrer Angst zu entkommen. Aber ab und zu begann das Licht zu flackern. Dann hoben alle ihre Köpfe und würde es nicht jedes Mal schnell wieder zur Ruhe kommen, würde Panik ausbrechen in den engen Stollen, denn vor was sich die Isk am meisten fürchteten, war die ununterbrochene Dunkelheit.

Wortlos arbeitete auch Stalca sich immer weiter durch die dichten Steinwände hindurch. Neben ihm war Túlak schwer beschäftigt, doch er wirkte nicht bei der Sache. Sie schafften es immer wieder zusammen zu sein, auch wenn die Menschen es sicher nicht gern sehen würden, wüssten sie davon, denn sie befürchteten heimliche Zusammenschlüsse gegen sie, wo sie mit Sicherheit auch Recht haben würden. Aber heute schien keiner bereit zu sein auch nur ein einziges Wort zu sprechen und Stalca fühlte sich keineswegs wohl dabei. Denn dadurch herrschte eine unheimliche Stille, die nur von dem Klacken der Spitzhacken unterbrochen wurde. Selbst die Menschen waren still. Einige von ihnen sahen ebenfalls nicht sehr glücklich aus und das sonderbare Gefühl, dass irgendetwas in der Nähe war, schien auch sie ergriffen zu haben.

"Was ist das?", wollte er von Túlak wissen, ohne inne zu halten weiter Steine in einen Karren zu schleppen, der sie wieder an die Oberfläche ziehen würde.

"Was?" Túlaks Stimme klang sehr ungeduldig und mürrisch und eigentlich sollte man ihn in solchen Momenten besser in Ruhe lassen, doch Stalcas Neugier war weitaus größer als das Lernen aus der Erfahrung.

"Na, das alles hier." Er deutete um sich und wusste nicht recht, wie er erklären sollte, was er meinte. "Dieses Gefühl, schon fast dieses Wissen, nicht allein zu sein. Ich meine, dass nicht nur Menschen und wir hier sind, sondern noch irgendetwas anderes. Etwas ganz, ganz anderes. Ich weiß nicht."

Túlak stöhnte. "Wenn du es nicht weißt, dann lass es. Und lass mich am Besten in Ruhe, klar?" Diese Aufforderung war deutlich. Trotzdem musste sich Stalca enorm zusammenreißen, um nicht wieder etwas zu entgegnen.

Um seine Worte zu unterstreichen, schlug Túlak mit all seiner Kraft auf das Gestein ein und plötzlich blieb die Hacke stecken. Verdutzt starrten sie sich beide nur an.

"Es klang nicht wie ein Hohlraum.", wunderte sich Túlak und wagte es nicht, die Hacke irgendwie zu bewegen.

Stalca griff ebenfalls nach einem Werkzeug. "Zieh sie wieder raus und lass uns ein größeres Loch hinein hauen.", forderte er seinen Freund auf.

"Stalca.", zögerte dieser. "Ich bin mir nicht sicher, ob das klug wäre."

"Wir müssen wissen, was dort hinter ist." Die Neugier des jungen Isk war stärker als fast alles andere auf dieser Welt.

Unsicher zog Túlak seine Hacke wieder aus dem Gestein. Nichts geschah. Mit neuem Mut machten sie sich daran, dieses Loch zu vergrößern. Solange, bis es groß genug war, einen Blick dort hinter zu werfen. Es war eine lange Arbeit und mühseliger, als sie gedacht hatten. Zudem war es sehr merkwürdig, was sie erlebten, denn jedes Mal, wenn sie auf das Gestein schlugen, ertönte ein dumpfer Ton und nicht der viel hellere, der eigentlich ertönen sollte, wenn man auf einen Hohlraum stieß. Doch sie ließen sich hiervon nicht ablenken und arbeiteten tapfer weiter.

Schließlich hatten sie es geschafft. Das Loch war noch immer nicht sehr breit, doch es reichte aus einen Blick in die kleine Höhle dahinter zu werfen. Und wieder konnten sie etwas beobachten, dass fast ebenso merkwürdig war, wie der Hohlraum selbst. Wenn nicht noch merkwürdiger.

Die Höhle, in die sie sahen, war nicht sehr groß. Ein ausgewachsener Mann würde vielleicht gerade eben noch in ihr stehen können. Aber die Wände und Decke sahen sowieso danach aus, als wären sie eingestürzt. Loses Geröll lag auf dem Boden verstreut und die gegenüberliegende Wand war nur ein Schutthaufen. Regelmäßig verteilt standen einige Steinhaufen, die mit Mühe noch als Säulen erkannt werden konnten, die den Rest der Decke am Einstürzen hinderten. Sie mussten genau am ehemaligen Eingang stehen, denn sie konnten direkt die Mitte überblicken, die als Abschnitt vor ihnen lag. Auf dem Boden war noch ein rundes Bild zu erkennen, doch was es darstellen sollte, war fraglich. Darüber erreichte die Höhle ihren höchsten Punkt. Früher musste dort wohl ein beeindruckendes Gewölbe als Zierde gedient haben, doch nun war kaum noch etwas davon übrig geblieben.

Die beiden Isk waren im Moment allerdings von etwas ganz Anderem fasziniert. Genau in der Mitte brannte ein Feuerkreis, der allerdings kaum Licht oder Wärme zu spenden schien, als wäre er nur eine Illusion. Stalca versuchte angestrengt etwas daraus zu erkennen, doch dies erwies sich als ziemlich schwierig. Was auch immer das Feuer symbolisieren sollte, es war für die Betrachtung von oben gedacht. Es war anscheinend ein Symbol und musste ihnen irgendetwas sagen wollen. Für Stalca wirkte es wie eine Grimasse, von der man im ersten Moment zu glauben schien, sie würde lachen. Doch im gleichen Moment schien sie sich schmerzvoll zusammenzuziehen. Was dem Anblick schon eher entsprach und auf einmal wusste Stalca, dass er dieses Symbol kannte.

Hüte dich vor diesem Zeichen, hörte er seinen Vater in Gedanken, wie er es ihm fast jeden Abend gesagt hatte, als wäre ihm dies das Wichtigste auf der Welt gewesen. Es war lange her, aber Stalca erinnerte sich an die Intensität dieser Worte. Nach und nach kamen die Erinnerungen soweit zurück, dass er glaubte, seinen Vater direkt vor sich zu haben. Hüte dich vor dem Namen Justaka, denn er verbreitet grenzenloses Leid.

In dem Feuerkreis schien auf einmal eine Gestalt heraus zu wachsen. Doch sie blieb nicht mehr als ein Schatten. Ein Schatten ohne Fleisch und Blut, nur mit einem schwarzen, langen Mantel und Kapuze bedeckt. Ein Schatten, der langsam seinen Kopf hob und sie anzugrinsen schien, der ein Gefühl von großer Furcht verbreitete und der sämtliche Muskeln erstarren ließ. Ein leichtes Zittern schien durch den Boden zu gehen.

Stalca schrie erschrocken auf und stolperte zurück. Sein Freund sah ihn fragend an, blickte in ein vor Schreck, nein Entsetzten und Hilflosigkeit erstarrtes Gesicht.

"Was ist los?", wollte Túlak wissen, doch Stalca verstand diese Frage nicht, bis ihm der Gedanke kam, dass Túlak nur den Ring aus Feuer, aber noch nicht die darin stehende Gestalt gesehen hatte, die nicht mehr als ein Schatten war, aber trotzdem eine unwiderstehliche Kraft besaß.

"Wir müssen hier raus." Stalcas Lippen begannen sich zu bewegen, doch noch kam kein Laut über sie hinweg. Dann löste sich die restliche Erstarrung von ihm und er schrie, so dass es alle im Umkreis hören konnten. "Raus hier!"

Zuerst sahen ihn alle erstaunt an. Vor allem die Menschen waren nicht sicher, was sie davon halten sollten, doch die Isk wurden schnell unruhig, denn sie fühlten sich schon vorher nicht besonders wohl und jetzt hatten sie einen weiteren Auslöser.

Dann begann das leichte Zittern, das Stalca bereits gespürt hatte, zu einem leichten Beben anzuwachsen und aus diesem Beben heraus begannen sich schon bald die Stollenwände leicht zu verschieben und einige Steine lösten sich von der Decke. Sofort waren alle auf den Beinen und stürmten den schmalen Gang wieder in die Hauptmine hinauf. Ihre Wächter, die keine Ahnung hatten, was vor sich ging, waren machtlos gegen diesen Ansturm und versuchten sich nur noch in Sicherheit zu bringen, um nicht von der heranstürmenden Masse überrannt zu werden. Die engen Gänge boten kaum ausreichend Platz. Jeder wollte der Erste sein, der hinauskam. Durch die sich schnell ausbreitende Panik nahm niemand mehr seine Umgebung, geschweige denn den Anderen wahr und wer ins Stolpern geriet war bereits verloren. Nicht Wenigen erging es so und sie fanden den Tod unter den heraus stürmenden Füßen der Anderen. Sobald die Masse ins Stocken kam, wurde von hinten nachgeschoben, denn jeder wurde von der Angst befallen nicht rechtzeitig ans rettende Tageslicht zu kommen.

Schon nach kurzer Zeit, die sich aber wie Stunden in die Länge zog, hatten sie den Hauptraum der Mine erreicht. Die stampfenden Schritte übertönten das Knirschen der Räder. Die Wenigen, die hier arbeiteten, starrten ihnen verdutzt entgegen, doch sie hielten es für klug ihnen einfach zu folgen, auch wenn sie die Gefahr nicht sahen, vor der alle flohen. Bald hatte sich das Beben allerdings auch bis zu ihnen ausgebreitet und sie sahen zu, ebenfalls so schnell wie möglich die Mine wieder zu verlassen. Selbst die Menschen rannten. Auch wenn sie Acht geben mussten, nicht selbst niedergerannt zu werden.

Stalca war der Erste, der den rettenden Ausgang erreichte. Er war sofort nach seinem Ruf losgelaufen und hatte bereits einen gehörigen Vorsprung erlangt, denn er war der Einzige, der wirklich wusste, wovor er davon lief und das gab ihm eine nie zuvor erlebte Kraft. Es waren nur noch wenige Schritte bis zu dem hellen Tageslicht, das er schon lange nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte und seine Augen schmerzen ließ, doch dies unterdrückte er tapfer. Da hörte er hinter sich ein gewaltiges Donnern, das schnell zu einem Höllenlärm anwuchs. Für kurze Zeit wurde er davon abgelenkt und er drehte sich herum, um zu sehen, was es war, doch dann wurde er schon von der gewaltigen Druckwelle herausgeschleudert, die die Explosion hervorgebracht hatte.

Eine Weile lag er besinnungslos im Schlamm. Kaum war er wieder zu sich gekommen, lief er einfach weiter. Er hatte keine Ahnung wohin. Wahrscheinlich war, dass er fast nur blind im Kreise lief, bis er schließlich erschöpft zitternd hinter einer rauen Hauswand liegen blieb. Die Augen geschlossen, in der sinnlosen Hoffnung es würde ihn keiner finden. Besonders nicht das, was nun aus der zusammengestürzten Mine hervorkam.

Staub wirbelte noch immer durch die Luft. Vom Wind hin und her getrieben. Wollte er sich legen, wurde er schon wieder in die Höhe gestoßen. Rauchgeruch brannte in der Nase. Biss und verstopfte, als führe auch er ein Eigenleben. Ein bösartiges noch dazu. Überall lagen Trümmer über eine weite Fläche vor dem Eingang der Mine verstreut. Bäume waren angesengt und Gras verbrannt. Eine gewaltige Feuersäule musste sich ihren Weg freigekämpft haben und hatte eine Nische von Zerstörung durch das Lager gezogen.

Stalca stolperte orientierungslos über das Feld. Das grelle, ungewohnte Tageslicht brannte in seinen Augen und blendete ihn, so dass er kaum sah, wohin er lief. Dies war ihm kaum bewusst. Er spürte so gut wie nichts mehr. Sein Körper schien allem gegenüber taub zu sein. Seine aufgeschürften Knie und Hände schmerzten nicht. Seine Gedanken rasten wirr von einer Ecke in die andere, ohne dass er sie zwischendurch zu fassen bekam. Seine strapazierten Augen tränten, doch auch dies bemerkte er kaum. Nur das Gefühl der Hilflosigkeit, des Alleinseins bemerkte er mit zunehmender Deutlichkeit.

Er schien der Einzige zu sein, der in seiner unmittelbaren Nähe auf den Beinen stand. Verzweifelt versuchte er Túlak zu finden. Er rief seinen Namen, doch niemand antwortete ihm. Während er seine Suche fortsetzte, fiel er fast über eine vor ihm liegende Leiche. Es war ein Mensch und im ersten Moment war er sehr erschrocken, aber was hatte er erwartet? Die Menschen waren trotz ihrer grausamen Macht nicht unsterblich. Keine höheren Wesen als sie selbst.

Es verging eine sehr lange Zeit, doch Stalca kümmerte sich nicht darum, sondern lief weiter und weiter ohne Pause, ohne innezuhalten. Erst sehr spät fiel ihm auf, dass sich das Bild vor ihm kaum änderte. Es waren immer die gleichen Trümmer denen er auswich. Es waren immer dieselben Verletzten und Tote denen er begegnete, aber er war nicht mehr allein. Auch andere Isk hatten sich mühsam aufgerappelt und hinkten herum ohne zu wissen, was sie als nächstes tun sollten, oder was überhaupt geschehen war. Sie liefen aneinander vorbei, kaum fähig den Anderen zu bemerken. Nur Stalca begann sich langsam zu beruhigen und blieb schließlich erschöpft stehen. Er drehte den Kopf in alle Richtungen und versuchte wieder eine grobe Übersicht seiner Situation zu erhalten. Eine dünne Spur aus Fußtritten zog sich um ihn herum und auf einer dieser Spuren stand er selbst. Als er einen Blick in Richtung des dunklen Loches warf, das den Eingang der Mine bildete, begann sein Herz wieder schmerzhaft schneller zu schlagen, denn er hatte noch gut in Erinnerung was, oder besser wer während der Explosion die Mine verlassen hatte. Unsicher sah er sich um, doch es gab keine Spur mehr von irgendetwas Ungewöhnlichem.

Als er sich langsam wieder zu erinnern glaubte, setzte er seinen Weg in eine ganz andere Richtung fort. Komischerweise sah bei Tageslicht alles ganz anders aus oder war er inzwischen bereits zu einem Nachtwesen geworden? Was ein ganz und gar erschreckender Gedanke gewesen wäre. Ab und zu versuchte er einige seiner Leidgenossen anzusprechen, doch sie sahen ihn nur mit wirrem Blick an oder reagierten gar nicht auf ihn. Von da an vermied er es so gut wie es ihm möglich war ihnen über den Weg zu laufen, denn er begann sich vor ihnen zu fürchten.

So war er voll und ganz damit beschäftigt auf andere Isk zu achten, so dass er vergaß nach dem Ausschau zu halten, nachdem er suchte. Plötzlich glaubte er seinen Namen zu hören.

"Stalca.", kam es schwach rechts von ihm. Sofort drehte er sich herum und versuchte den Sprecher ausfindig zu machen.

"Túlak?" Noch ein paar Schritte und er entdeckte seinen Freund am Boden liegen. Eilig lief er auf ihn zu. "Túlak!"

"Stalca, was machst du hier?" Túlak machte keinen guten Eindruck. Sein Atem ging schnell und mühsam. Er musste einen heftigen Stoß abbekommen haben, wahrscheinlich von der Druckwelle, die der Explosion vorangegangen war. Aus einer Wunde an der Stirn sickerte Blut, doch ansonsten hatte er keine sichtbaren Verletzungen. "Du solltest längst von hier verschwunden sein."

"Ich werde ganz bestimmt nicht ohne dich von hier verschwinden.", entgegnete Stalca, der ein Stück von seinem dünnen Hemd abriss und es auf die Wunde legte.

Túlak ergriff seinen Arm. "Ich habe dir bereits gesagt, dass ich nicht gehen werde.", erinnerte er seinen Freund. "Sei kein Narr, jetzt ist es deine einzige Chance und ich sage dir noch einmal, dass du sie nutzen musst, da es keine Zweite geben wird. Dass tut es nie im Leben. Ich hätte nie gedacht, es würde überhaupt so weit kommen. Also verschwinde, bevor die Menschen wiederkommen."

Stalca sah sich um. Er wusste, was nun dort draußen irgendwo auf dieser Welt war. Vielleicht noch in dem nahen Stück Wald, welcher die Mine umgab. Eine leichte Dämmerung begann sich zu senken, doch sie kam zu früh um wirklich zu sein. Der Isk verspürte Angst vor dieser neuen Dunkelheit. Angst diesen sicheren Ort zu verlassen.

"Aber wohin soll ich denn gehen?", flüsterte er.

"Du weißt es.", versicherte Túlak ihm. "Du hast mir von deinen Träumen erzählt. Von den weiten, freien Ebenen, die sich zwischen den hohen Gebirgen erstrecken. Von Städten groß und mächtig, von den unendlichen Weiten des Meeres. Es sind keine Träume. Es sind Erinnerungen und dass weißt du auch. Du kannst stolz sein, solche Erinnerungen zu haben, denn sie erinnern dich daran, wohin du gehörst. Sie ziehen dich nach Hause, mit solcher Kraft, dass nichts dich irgendwo anders halten könnte. Dein Herz weiß, wo du hingehen sollst, also folge ihm."

Es herrschte eine lange Zeit Schweigen, doch Stalca blieb noch immer neben seinem Freund hocken. Solange, bis dieser ihn erneut ansprach. "Hörst du nicht? Oder willst du mich einfach nicht hierlassen, stur wie du bist. Ich werde immer bei dir sein, egal wo du dich gerade herumtreibst. Und am Ende wirst du wiederkommen, da bin ich mir sicher."

Stalca nickte endlich, doch noch immer mit leichtem Zögern. "Mögen die Götter mit dir sein, mein Bruder.", verabschiedete sich Túlak endgültig.

"Mögen sie vorher aber noch eine Weile bei dir bleiben." Tief in seinem Innern wusste Stalca, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb als zu gehen, doch noch immer hielt ihn seine Treue zurück. Aber er riss sich zusammen und erhob sich schließlich. Dabei verspürte er ein seltsames Schwindelgefühl, doch er verdrängte einfach alle Gedanken daran.

Er gab sich einen Ruck und drehte sich um, bereit in Richtung Wald zu verschwinden. Dann machte sich doch noch sein Freiheitsdrang bemerkbar, denn ihn befiel leichte Furcht, die Menschen könnten jeden Moment zurückkommen und ihn hindern wollen. Aber sie kamen nicht und so gelang es ihm in den Wald zu laufen.

Dort verschlangen ihn die Bäume und kein Auge konnte ihn von der Mine aus sehen. So kam es, dass ihn die Menschen erst vermissten, als es bereits zu spät war. Es herrschte zu großes Chaos um die Mine herum. Es war schwer festzustellen, wer tot war und wer noch am Leben. Am Ende fand man alle und nur einer fehlte, doch die Menschen glaubten die Leiche nur nicht gefunden zu haben und nur einer wusste es besser, doch dieser schwieg. Also war Stalca einer der Ersten und vorzeitig Letzten, die aus der Mine entkamen ohne den Tod zu wählen.

Eine Weile zog es Stalca immer weiter vorwärts durch den Wald, doch dann übermannte ihn die Erschöpfung. Müde lehnte er sich gegen den breiten Stamm einer Eiche, die am Wegrand stand. Ihre Blätter leuchteten im Licht der Sonne in allen Herbstfarben, doch er konnte sie kaum noch sehen. Das spärliche Gras um ihn herum wuchs noch einmal in aller Kraft und präsentierte sein sattes Grün, doch auch dies nahm er kaum war. Die Vögel kreisten am Himmel, die Letzten kurz vor dem Aufbruch nach Süden, doch auch sie bemerkte er nicht mehr. Der gesamte Wald schien vor seinen Augen zu verschwimmen. Ein undurchdringbarer Nebel schien ihm die Sicht zu versperren. Er versuchte ihn abzuschütteln, doch sein Kopf schmerzte bei jeder Bewegung und seine Glieder schienen taub geworden.

Plötzlich glaubte er eine Bewegung ganz in seiner Nähe zu spüren und er schreckte wieder hoch aus dem dunklen Nebel, der ihn gefangen hielt. Ein alter Mann kam den Weg entlang, ein harmloser Wanderer mochte man im ersten Moment denken, doch bei genauerem Hinsehen erkannte man den langen Stock auf den er sich zu stützen schien als einen langen Speer. Er war klein und gedrungen wie die Isk. Seine kräftigen Beine stützten mühelos das leichte Gewicht auch auf langen Tagesstrecken. Der gesamte Körper gebaut, um Tage und Nächte lang unterwegs sein zu können, auch in unwegsamen Gelände. Sein ergrautes Haar trug er in zwei dicken Zöpfen und aus seinem flachen Gesicht funkelten wachsam ein paar brauner Augen, doch diese Augen leuchteten in einem schwachen gelben Licht.

Er war ein Meister. Ein Isk-Meister. Gefürchtet unter seinen Feinden, die vor allem seine magischen Fähigkeiten nicht missachteten, wenn sie klug waren. Die Meisten gingen solchen Gefährten lieber aus dem Weg, solange es ging. Nur die Menschen waren nicht besonders klug, denn sie ahnten nicht, was für gewaltige Kräfte noch in den Meistern stecken konnten.

ANDERSWO

Ein leiser Wind wehte durch die verlassenen Gassen der Stadt des Berges, Shin'Anrar, gebaut zum Trotz gegen den Dämon des Chaos Anrar. Eine uneinnehmbare Festung hieß es in vieler Münder, eine der letzten Zufluchtsstätten der Isk und kaum einer kannte diesen Ort, denn die wenige, die doch von ihm wussten hüteten ihr Geheimnis gut. Doch nun war Unglaubliches geschehen. Die Stadt war verlassen. Vollkommen leer waren die Häuser, die Straßen, alles. Trostlos stand die Stadt in den Bergen und blickte über das weite Land, doch es herrschte Totenstille in ihr, auch wenn keine Toten zu sehen gewesen waren.

Nur ein einziges, winzig und verloren wirkendes Lebewesen bewegte sich so lautlos wie möglich über die steinernen Wege. Obwohl die junge Frau ihre Füße leise aufsetzte und nur leichtes Schuhwerk trug, hallten ihre Schritte hundertfach an den Wänden der leerstehenden Häuser wider. Als wäre es ein verzweifelter Versuch der Stadt doch noch ein paar Geräusche erklingen zu lassen. So wie es eigentlich sein sollte, denn auch wenn die Isk ein verfolgtes Volk waren, konnten sie trotzdem auch ein sehr lautes sein. Es war unheimlich und unvorstellbar in solch einer Stadt absolut gar nichts zu hören, wenn man gerade stehen blieb.

Die Frau blieb stehen und lauschte angestrengt, vernahm jedoch nur die Laute ihres eigenen Atems. Der Wind spielte vorsichtig mit ihrem Mantel, als wage er es nicht, sich allzu deutlich bemerkbar zu machen. Ihre Lippen zitterten leicht, als sie versuchte einige Tränen zu unterdrücken. Irgendetwas Schreckliches war geschehen und sie waren zu spät gekommen, um helfen zu können oder wenigstens herauszufinden, was es war, das Shin'Anrar leergefegt hatte. So durfte es nicht sein. Nein, so durfte es nicht sein und so hätte es nie sein dürfen.

Sie drehte sich herum und sah, wie ein Mann die Straße heraufkam. Er war nicht sehr groß und mehr dürr als schlank. Er trug eine weite, schwarze Hose und ebensolch ein Hemd, das für die Kälte, die hier oben herrschte viel zu dünn wirkte. Ein langer Umhang fiel lose über die Schultern und an seinen Füßen trug er schwere Stiefel. Bewaffnet war er mit einem langen Schwert, das an seiner Seite hing, denn sollten sie auf Menschen stoßen, würde es mit Sicherheit kein friedliches Zusammenkommen werden.

Sorgfältig betrachtete er die Straßenseiten auf der Suche nach jedem kleinsten Hinweis, der ihnen nützlich sein konnte. Leider gab es nicht noch so einen kleinen. Wegen ihr war auch er hier, der Mann den sie liebte. Er hatte sich von ihr überreden lassen, wenigstens einmal vorbeizusehen, denn sie hatte es gefühlt, dass etwas nicht stimmen konnte. Dieses Vorbeisehen hatte sie einige hundert Meilen Umweg gekostet und dauerte nun schon drei Tage und zwei Nächte. Nächte, die sie vor den Toren verbracht hatten, da sie sich nicht in der Geisterstadt aufhalten wollten. Tage, die nur sinnlos verstrichen waren.

"Nichts.", flüsterte sie, als er sie erreicht hatte. "Einfach nichts." Auch ihre Stimme zitterte bereits, doch ihr Herz schmerzte zu sehr, als dass sie dies noch aufhalten konnte.

"Und wir werden auch nichts finden." Es war das erste Mal seit sie hier waren, dass er dies sagte. Er hätte es auch schon am Tag zuvor sagen können oder am Tag davor. Oder schon in der ersten Stunde, die sie hier verbracht hatten. "Sie sind nicht hier, sie sind auch nicht tot."

"Sie haben die Stadt auch nicht verlassen.", fügte sie hinzu.

"Rawnes.", drängte er. "Ich weiß nicht, was hier geschehen ist und wo die ganzen Isk geblieben sind. Ich weiß nur, dass wir hier keine Antworten finden werden und dass wir uns bald auf den Weg machen müssen, da wir in ziemlicher Ferne sehr bald erwartet werden. Wir können unsere Freunde nicht besorgt werden lassen, da sie nicht wissen, wo wir bleiben."

Sie konnte schlecht etwas dagegen sagen, denn sie war ihm schon dankbar, dass er dies nicht schon eher gewollt hatte. Sie konnte ihn nicht noch länger hier halten und sie konnte sich auch nicht länger einreden, dass sie noch etwas finden würden.

"Wir müssen auf dem Rückweg in Midnight Town halten. Vielleicht auch noch einmal in Sunspring."

Er wollte heftig etwas erwidern, dass konnte sie schnell genug erkennen. "Bitte Rugar.", setzte sie noch dahinter. "Du weißt, wie wichtig es für mich ist."

"Meinetwegen auch das.", seufzte er.

Sie trat auf ihn zu und nahm seine Hand. "Ich muss es unbedingt wissen. Ich muss ganz unbedingt wissen, was hier geschehen ist. Du weißt, wie wichtig dies sein könnte. Für uns alle."

"Aber wir werden hier keine Antworten bekommen und wenn wir noch in Midnight Town halten wollen, sollten wir so früh wie möglich aufbrechen und uns beeilen.", bekräftigte er noch einmal seine früheren Worte.

"Auch wenn ich noch immer daran glaube, dass es hier irgendwo einen Hinweis geben muss, nichts geschieht ohne Hinweise, weiß ich auch, wie Recht du hast." Sie sah sich noch einmal enttäuscht um, in der Hoffnung im letzten Moment doch noch etwas zu erspähen. In ihrem Inneren spürte sie allerdings auch eine gewisse Erleichterung bei dem Wissen, die Stadt bald hinter sich lassen zu können. "Lass uns trotzdem einen Weg zurück gehen, den wir noch nicht genommen haben."

Wieder nickte er nur zustimmend, erleichtert überhaupt zurückkehren zu können. Auch er wollte diesen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen. Er drängte nicht nach dem Wissen, was geschehen war. Nicht, dass ihm die ganze Sache völlig gleichgültig war. Von heute auf morgen eine ganze Stadt verlassen vorzufinden geschah nicht alle Tage und war mehr als nur ein wenig unheimlich. Vor allem, wenn man darüber nachdachte, welch Schicksal die Hunderte, wenn nicht Tausende von Isk ereilt haben mochte. Wohin sie nun verschwunden sind, oder ob sie überhaupt noch irgendwo in dieser Welt zu finden waren. Aber er hielt es für sinnlos an einem Ort nach Spuren zu suchen, an dem sich offensichtlich keine befanden. Es gab keine Kampfspuren, keine gewalttätigen Belagerungsversuche, kein Blut, keine Lebenden, keine Anzeichen von hastigem Aufbruch. Alles war so, wie es sein sollte, nur, dass niemand mehr hier wohnte. Als hätte einfach jemand mit den Fingern geschnippt und sie wären alle weg gewesen.

So gingen sie durch einige schmale Gassen, bis sie auf eine breite Hauptstraße gelangten, die sich in Schlangenlinien durch die Stadt wob und ihnen einen großen Umweg brachte, doch Rugar sagte dazu nichts. Sie würden diesen Weg außerhalb der Stadtmauer wieder zurück zu den Pferden gehen können, nachdem sie ein breites, stabiles Tor öffnen würden. Von innen war dies kein Problem. Von außen brachte auch keine Anwendung von Gewalt einen Einlass. Die Mauern waren von solch dickem Stein, wie ein Haus breit war und sie waren um einiges höher, als die flachen Hütten an denen sie vorbei gingen.

Nur ein Punkt in Shin'Anrar war noch höher und das war der kleine Tempel, den sie soeben passierten, gebaut zu Ehren des obersten Gottes Ulasta. Der Tempel bestand aus mehreren Säulen, die ein gewölbtes Dach stützten, das zum Himmel hin geöffnet war, um den aufsteigenden Rauch der dargebrachten Opfer hinauszulassen. In seiner Mitte stand ein unauffälliges Gebäude, das die große Opferschale beherbergte und in das nur die Priester zugelassen wurden. Die Priester, die in der Sprache der Isk als Meister bezeichnet wurden. Das gewöhnliche Volk musste bei solchen Zeremonien draußen warten.

Sie waren schon fast an diesem Tempel vorbei, als Rugar plötzlich inne hielt und einen Blick nach links warf, als hätte er ihn gerade eben erst bemerkt. "Warte.", hielt er Rawnes auf.

"Was ist los?", wollte diese wissen und wäre schon fast weitergegangen.

Er antwortete ihr nicht, sondern wich von ihrem Weg ab und ging auf die große Eingangstür zu. Auch nach mehrmaligen Fragen gab er immer noch keine Antwort. Er konzentrierte sich so sehr auf das unscheinbare Gebäude, als suche oder erwarte er irgendetwas, aber nichts geschah.

"Du kannst dort nicht rein!", versuchte Rawnes ihn ein letztes Mal aufzuhalten, doch als er die Tür erreicht hatte und sie aufstieß stockte ihr der Atem und sie wich mit einem erschrockenen Aufschrei zurück.

Das, was sie zu sehen bekamen war grauenvoll auch wenn es für einen unwissenden Beteiligten vielleicht einfach nur merkwürdig war. In dem Zentrum, beschienen von einigen zaghaften Sonnenstrahlen, brannte ein Kreis aus Feuer. Es war kein normales Feuer auch wenn ebenso gefährlich, wenn nicht noch gefährlicher wie es Normales war. Zum Beispiel stieg überhaupt kein Rauchwölkchen auf und es brannte wahrscheinlich schon die letzten drei Tage, ohne dass es neue Nahrung brauchte. In dem Innern dieses Kreises brannten einige Runen. Eine ziemlich Große genau in der Mitte und umrahmt war diese von einigen Kleineren. Jeder, der sich mit dem Wissen uralter Legenden beschäftigte, kannte diese große Rune, die wie eine höhnisch grinsende Fratze wirkte.

"Justaka.", stellte Rugar mit außerordentlicher Gelassenheit fest, berücksichtige man, was dies bedeutete. Er ging einmal um den Kreis herum und studierte die restlichen Zeichen. "Und Anrar, Dretir, Xan'Ysir und Rel haben ebenfalls unterschrieben. Sieht so aus, als sollte dies seine Einladung für seine baldige Rückkehr darstellen. Wir hatten also Recht. Nur mit dem Datum für sein Eintreffen scheinen wir uns etwas verrechnet zu haben."

"Mach es weg.", hauchte Rawnes. "Mach es weg."

Rugar sah ihr fragend in ihre braunen Augen. "Er wird es merken."

"Egal. Mach es einfach nur weg.", begann sie mit einem festeren Ton zu verlangen.

Noch einmal zögerte ihr Begleiter kurz. Für einen Moment empfand er Furcht vor dem, was er tun sollte. Furcht, die ihn verunsichern ließ, doch dann riss er sich zusammen, hob die Hand und machte eine Bewegung, als würde er die Flammen einfach nur wegwischen wollen. Und das Feuer erlosch. Darauf war es völlig finster, doch trotzdem schien Rawnes sich wieder beruhigt zu haben.

"Lass uns von hier verschwinden.", meinte sie und drehte sich herum, um den Raum zu verlassen. Sie hatte ihren Hinweis gefunden, doch er gefiel ihr ganz und gar nicht. Wo die Isk waren, war immer noch schwer zu beantworten. Wahrscheinlich waren sie doch alle tot und wenn nicht, war es bereits für sie zu spät. Die ganze Zeit über hatte sie schon geahnt, dass dies mysteriöse Geschehen Justakas Handschrift trug. Dies war auch schon an anderen Stätten geschehen. Nur war es hierfür zu früh. Sie hatte mit Justakas Rückkehr gerechnet, aber nicht mit der Macht, die er zu haben schien.

Den Rest des Weges verbrachten sie schweigend. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. So bemerkten sie nicht, wie sich der Himmel zuzuziehen begann. Dunkle Wolken schoben sich bedrohlich vor das blasse Licht der Sonne. Plötzlich begann die Erde leicht zu beben und ein knirschendes Geräusch legte sich wie ein unheilvoller Donner über die Stadt. Erschrocken fuhren sie herum und konnten gerade noch sehen, wie der Tempel in seinen Grundfesten erschütterte und wie ein Kartenstapel in sich zusammenbrach.

Rugar ergriff Rawnes' Hand und zog sie mit sich. "Wir müssen hier weg!", rief er ihr zu. "Es ist Xan'Ysir."

Sie rannten über die Straße auf dem kürzesten Weg zu dem nächsten Tor. Wieder bebte die Erde und Rawnes wäre fast gestolpert, fing sich aber rechtzeitig wieder. Ganz in ihrer Nähe brach ein zweites Haus in sich zusammen. Der Dämon der Verwüstung war gekommen und war dabei das begonnene Werk zu beenden. Der Himmel wurde immer dunkler und blutrote Blitze schossen zur Erde. Bei jedem Beben verschwand ein Haus aus der Stadt. Es wurde keine Rücksicht darauf genommen, dass ein Mann und eine Frau verzweifelt dabei waren zu ihren Pferden zu kommen, um auf dem schnellsten Weg von hier zu verschwinden.

Es gelang ihnen das Tor zu erreichen und zu öffnen. "Das kann nicht sein." Rawnes warf noch einen letzten Blick auf die zunehmende Anzahl von Ruinen, die aus dem aufgewirbelten Trümmerstaub hervorkamen. "Es ist einfach nicht möglich."

"Es ist ganz egal ob möglich oder nicht.", antwortete ihr Rugar. "Es passiert gerade und wir sollten zusehen, schnell von hier wegzukommen."

Sie eilten durch das Tor, einen kleinen Abhang hinunter, um dann einem ausgetretenen Pfad um die Stadt herum zu folgen. Steine lösten sich während der Beben und rollten unter ihnen hinweg, so dass sie Mühe hatten das Gleichgewicht zu halten. Sie brauchten nicht lange zu laufen und schon hörten sie das aufgeregte Wiehern der Pferde, die versuchten sich loszureißen und das Weite zu suchen. Doch sie waren rechtzeitig bei ihnen, konnten sie einigermaßen beruhigen und aufsitzen. Kaum waren sie oben, drückten sie die Schenkel an und rasten über das leicht abfallende Land hinweg, ohne die Pferde großartig dazu überreden zu müssen.

Hell erleuchtet lag Midnight Town im Schoß des Tales. Fast völlig unberührt von den Geschehnissen der Welt. Nur ab und zu kam ein Fremder des Weges, um in der alten Stadt, die schon zu Anbeginn dieser Zeit steht, Rat zu suchen. Denn hier leben die weisesten Gelehrte dieser Welt. Mit Ausnahme von den Bewohnern Yesúws, die ein ebensolches Wissen besitzen, doch die Verborgene Stadt zu finden, sofern man überhaupt von ihr wusste, ist fast unmöglich. Sie war eine Legende. Eine verloren gegangene Legende allerdings und dies war es, was ihr Schutz gab. Midnight Town war bekannt und so musste sie sich auf eine andere Art von Schutz verlassen. Einst von den Elfen gebaut, besaß dieser Ort andere, magische Fähigkeiten. Sollte ein Wanderer unerwünscht des Weges kommen, wäre er nicht fähig die zahlreichen Häuser und Türmchen zu bewundern, denn sein Auge würde abgelenkt werden, selbst wenn er sich völlig sicher war, sie hier finden zu müssen.

Midnight Town war die größte Stadt des ehemaligen Dreierbundes. Als die Elfen noch selbst Ansprüche auf Zahur legten und versuchten in Frieden neben den Menschen zu leben, gründeten sie drei Städte, die in einem Dreieck zueinander auf kleiner, überschaubarer Fläche lagen. Sunspring und Silver Rain wurden die anderen genannt, doch die letztgenannte existierte bereits nicht mehr. Sie wurde zu Zeiten von Justakas absoluter Herrschaft durch Dämonen zerstört und niemand legte mehr Wert darauf, auf dem blutbefleckten Boden die Stadt erneut zu errichten. So zerfiel der Bund und die Elfen verließen diesen Flecken Land, als die Menschen immer besitzansprechender wurden.

Dies war ein großer Verlust, denn Silver Rain beherbergte nicht nur die größte Magierschule der Welt, sondern auch eine riesige Bibliothek mit dem gesamten Wissen der alten Zauberer über die Geschichte der Welt. Ein unvorstellbarer Schatz war es, der verloren ging. Nicht von materiellem Wert, doch unendlich wertvoller als Berge von Gold. Ein Teil konnte gerettet werden und wurde nach Sunspring verlegt, wo ein neues Bibliotheksgebäude errichtet worden war, was allerdings noch lange nicht an die Herrlichkeit seines Vorgängers heranreichen konnte. Einige der wichtigsten Teile fehlen noch immer und sind auch mit größter Mühe und Anstrengung nicht auffindbar. Nun fragen sich verzweifelt die Gelehrten, wo sie dieses enorme Wissen nun herbekommen sollten.

In Midnight Town selbst gab es eine riesige Tempelanlage mit einem angrenzenden Kloster, wo die Geistlichen der magischen Welt untergebracht waren. Die Priester waren noch lange nicht so machtvoll wie die alten Zauberer, doch das hieß noch lange nicht, dass sie unterschätzt werden durften. Sie waren, wie bereits häufiger erwähnt wurde, sehr weise und genau diese Weisheit gab ihnen Macht.

Zu eben diesen Weisen war Rawnes unterwegs und erhoffte sich einige Antworten oder zumindest Ratschläge, denn sie selbst war mit ihrem Wissen am Ende. Noch vor wenigen Tagen war sie zuversichtlich gewesen und glaubte gewusst zu haben, was sie wollte. Doch nun waren Ereignisse dazwischen getreten, die alles verändert hatten. Jetzt brauchte sie Rat von höherer Stelle.

Die Tempel waren mit Licht durchflutet als wäre es taghell, dabei dämmerte es bereits. Die blankgeputzten Marmorfliesen spiegelten das Licht wieder und verteilten es durch die langen Gänge bis in die kleinen Räume hinein. Leiser Gesang drang an Rawnes Ohren, als sie sich auf den Weg zu Huran, dem Führer dieser Priester machte. Wohlige Gerüche breiteten sich aus und ließen auch ihre Gedanken treiben. Es war ein friedlicher Ort. Vergessen waren alle Sorgen des Lebens außerhalb dieser Mauern. Frieden herrschte bis in die kleinsten Nischen hinein. Ein perfekter Ort, nahe daran das Paradies zu sein.

Der breite Gang führte bis zu einer unscheinbaren Tür. Ein Fremder vermutete nur eine Kleinigkeit dahinter, doch Rawnes wusste, was sie erwartete, als sie diese öffnete. Überall sonst wirkte die Anlage bescheiden, wenn nicht schon ärmlich, doch ihr gesamter Reichtum lag hinter dieser Tür. Ein Raum der leuchtete, auch wenn kein Licht dazu benötigt wurde. Trotzdem dunkel, wie die Nacht. Ein freundliches, stilles Dunkel. Nicht unangenehm oder gefahrenvoll. In diesem Dunkel blieb die Pracht, die ein menschliches Auge kaum ertragen konnte fast vollständig verborgen. Die Wände waren schneeweiß und nichts würde sie beschmutzen können. Verziert waren sie mit einem Gestein, das leuchtete wie Edelstein, doch glänzte es in einem hellen grün, wie es nie in der Natur anzutreffen war. Überall begegnete man diesem mysteriösen Grün, doch auch dies war nichts Unangenehmes. Es war Gold. Nicht das Gold hinter dem seit Jahrhunderten die Menschen her waren. Nicht in der gewohnten goldenen Farbe. Es war ein seltenes Gestein aus den tiefsten Tiefen der Gebirgskette, die das Land im Norden von der Küste trennen zu wollen schien, das unter dem Namen Ostgebirge bekannt war. Der Fluss Yesúw war darüber geflossen und hatte seine magischen Kräfte auf das Gestein übertragen. Es war Gold von dem Grund des Heiligen Flusses und nur sehr Wagemutige wagten es hinabzutauchen, ohne Angst vor dem nahen Abgrund des Wasserfalls.

Die Decke war nach außen gewölbt und ließ den Raum größer wirken als er tatsächlich war. Säulen stützten sie ab. Marmorsäulen in feinster Arbeit gefertigt, von Hand eines Volkes, das sein Handwerk im Umgang mit Gesteinen und Metallen verstanden hatte. Doch leider gab es keine Zwerge, das Volk der Dunkelelfen mehr in Yesúw. Und mit ihnen gingen die feinsten Arbeiten verloren. Nur Weniges war aus dieser lang vergangenen Zeit gerettet worden.

Rawnes ging zunächst zielstrebig auf eine Gestalt zu, die allein im hinteren Teil des Raumes stand. Ihre Schritte hallten an den Wänden wider, denn es gab nichts, was ihren Schall stoppen könnte. Der Raum war leer. Kein Möbelstück oder ähnliches war in ihm zu finden, denn er war nur dazu geschaffen innere Ruhe zu finden oder Gebete an die Götter abzugeben.

Die Gestalt war nicht Huran, den Rawnes eigentlich suchte. Huran war ein kleiner, beleibter Priester, doch vor ihr befand sich eine schlanke, fast zart wirkende Gestalt. Gehüllt in einem langen, grünen Mantel mit einer Kapuze, die tief in das Gesicht gezogen war. Schwere, beschmutzte Stiefel verrieten, dass dieser Jemand nicht aus Midnight Town stammte. Waldboden, kam es Rawnes in den Sinn.

"Wer seid Ihr?", fragte sie direkt heraus. "Und wo ist Huran?"

Die Gestalt drehte sich erst jetzt zu ihr herum, als hätte sie Rawnes gerade erst bemerkt. "Die Angelegenheit ist zu wichtig, als dass Euch ein einfacher Priester weiterhelfen könnte, Rawnes.", sagte eine männliche Stimme, ohne weiter auf ihre Frage einzugehen.

Die Überraschung darüber, dass er wohl ihren Namen wusste, wurde sofort wieder überdeckt, als der Unbekannte seine Kapuze abstreifte. Sie erblickte ein Gesicht, an dem man fast schon das Wort Perfektion andeuten konnte. Die dunklen Augen schienen direkt bis in sie hineinzusehen und Rawnes erlebte zudem eine Distanz, die sie selten bei Lebewesen bemerkte. Selbst die schüchternste Person hielt nicht einen solchen emotionalen Abstand zu ihr.

Was ihr zuerst auffiel waren die spitz zulaufenden, langen Ohren. Eine Elfe. Das war klar, doch normalerweise waren Elfen nicht so ungepflegt. Nicht nur seine Kleidung, sondern auch seine Haut war schmutzig. Seine langen, braunen Haare hingen wirr herab. Ein Merkmal der Elfen war ihre teilweise übertriebene Sauberkeit. Ihr Drang dazu alles in Ordnung haben zu wollen. Doch davon war bei diesem Mann nichts zu sehen. Außerdem war es ihnen nur für kurze Zeit möglich die Größe eines Menschen anzunehmen. Sie konnten nicht mit Erde beschmutzt sein, denn sie erreichten den Boden selten.

"Ich weiß von Euren Plänen.", fuhr er fort. Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu. "Und ich weiß, dass sie scheitern werden."

"Ach ja?" Vor Verblüffung schnappte sie nach Luft. So direkt hatte es ihr bisher noch niemand ins Gesicht gesagt.

"Ihr habt das Zeichen Justakas gesehen und Euer Dämonenfreund dort draußen sollte inzwischen am besten wissen, dass der Herrscher wieder zurück ist. Ihr lasst Euch auf gefährliche Sachen ein. Seid Ihr Euch sicher, dass er am Ende noch auf Eurer Seite stehen wird?"

Er brachte sie einen Moment zum Zögern. "Natürlich wird er das.", behauptete sie fest. "Er wird uns nicht verraten. Dafür kenne ich ihn schon zu lange."

"Ich glaube, Ihr habt meine Frage nicht richtig verstanden." Es klang, als würde er zu sich selbst sprechen. Als würde er eine Überlegung stellen. Sie kam sich vor, als würden seine Augen sie Stück für Stück studieren und sie wusste, dass sie es nicht lange so dulden würde. "Ich zweifle nicht an seinem Willen daran. Aber wird er die Kraft dazu besitzen oder wird ihn sein inneres Feuer am Ende doch noch verbrennen? Ein interessanter Gedanke. Das Feuer wird vom Feuer verschlungen."

"Ich wüsste nicht, was Euch das angehen sollte.", fauchte Rawnes zurück. Erst hinterher bemerkte sie, dass sie zugab, nicht über dieses Thema sprechen zu wollen und nun ärgerte sie sich über sein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht. "Was wollt Ihr von mir? Wenn Ihr nichts Besseres zu tun habt, als das Ende dieser Welt zu verkünden, könnt Ihr gehen und mich mit Huran sprechen lassen."

"Ich sagte doch bereits, dass er Euch keine Antworten geben kann." Er machte wieder eine Pause, doch als er das Blitzen in ihren Augen sah, fuhr er schnell fort. "Niemand kann das hier. Ihr müsst Euch nach Sunspring begeben. Dort in der Bibliothek werdet ihr ein Buch finden. Ihr werdet lange danach suchen müssen, denn es wird behauptet werden, dass es ganz und gar unlesbar ist, doch Euer Freund dort draußen wird fähig sein es zu entschlüsseln. Es ist dünn, klein und unscheinbar, doch es wird Euch große Dienste leisten können."

Er endete und schien nun nichts weiter hinzuzufügen zu haben, doch bevor er gehen konnte, hielt Rawnes ihn noch ein letztes Mal zurück. "Wer seid Ihr?", fragte sie noch einmal mit erheblich mehr Nachdruck.

Er sah ihr nur wortlos einen Moment in die Augen. "Ihr werdet noch nie von uns gehört haben, doch nun ist es an der Zeit, dass wir unseren Teil in der Geschichte zu leisten haben."

Sunspring. Viel mehr fiel ihnen nicht mehr ein, als sie vor dem gewaltigen Tor standen, das sich für sie öffnen würde, um ihnen Zutritt zu der Bibliothek zu verschaffen. Schon alleine dieses eine Tor symbolisierte den gesamten Reichtum dieser Stadt. Eine hohe Treppe führte zu dem mächtigen Gebäude hinauf, das allein auf einem riesigen Hügel über der Stadt thronte und dessen gewaltige Glaskuppel schon von Weitem wie die Sonne leuchtete. Vor dem Eingang standen zwei Marmorsäulen, denen nicht die geringste Spur des Alters anzusehen waren, so als würden sie gerade eben erst dort hingestellt worden sein. Das Tor selbst war gigantisch und nur wenige Tage stand es ganz offen, denn es brauchte einige Mann um die schweren Flügel öffnen zu können. Eine kleinere Tür war hineingebaut worden, die sich nun öffnete und den strahlenden Stolz Sunsprings präsentierte.

Schon lange war die kleinste der drei Städte gegenüber ihren Nachbarn benachteiligt gewesen und viele hatten es als ungerecht empfunden, dass die große Bibliothek, die so viel Wissen in sich barg, wie kein Lebewesen auf Erden haben konnte, zusammen mit der Akademie für höhere Magie nach Silver Rain gelegt wurde. Doch nun war ein Teil dieser Bibliothek umgelegt worden und selbst wenn gesagt wurde, das neue Gebäude wäre nur ein winziger Schatten im Vergleich zum Alten gewesen, war dies kaum zu glauben.

Als Rawnes und Rugar die Halle betraten, bot sich ihnen ein Anblick, der sie für einen Moment blendete. Licht benötigte die Bibliothek nicht, denn ihr innerer Glanz erstrahlte sie ausreichend. Es gab nur einen einzigen runden Raum, der von einer Glaskuppel überdacht wurde, durch die sowohl das Licht der Sonne als auch das Licht der Sterne und des Mondes fielen. Die Regale mit den Büchern erhoben sich bis fast unter die Decke und hohe Leitern standen überall, um bis zu den höchsten Büchern gelangen zu können.

Der Raum wurde nicht nur mit Gold geschmückt, auch wenn dies nicht wenig zu finden war, aber hauptsächlich bedeckte Glas die Wände und sogar den Boden. Glas allein war schon eine seltene Kostbarkeit und nur die Elfen selbst waren bisher in der Lage gewesen es überhaupt herzustellen. Dieses Glas aber leuchtete in Farben und in einer Kunst, wozu kaum jemand später mehr fähig war. Rawnes hielt vor Staunen den Atem an, denn sie war zum ersten Mal hier und schwor sich bereits bald wieder zu kommen, während Rugar alles ein wenig zu überladen fand. Doch er wollte niemanden stören, also sagte er nichts, setzte sich einfach nur auf einen kleinen Stuhl mit weißem Leder überzogen und schlug die Beine übereinander.

"Was ist?", fragte Rawnes ihn, als sie sich endlich wieder von der Schönheit des Gebäudes losreißen konnte.

"Viel Spaß.", meinte Rugar nur.

Sie drehte sich einmal um sich selbst und betrachtete mit einem stummen Seufzer die Fülle an Büchern, die sie umgab. "Du wirst mir suchen helfen.", war alles, was sie sagte. Und es klang nur wenig Zuversicht in diesen Worten.

"Ganz bestimmt nicht.", entgegnete er. "Wir wissen nicht einmal, was wir suchen. Für mich sehen diese Bücher alle gleich aus. Klein, dünn und allesamt nicht zu lesen. Also, wo willst du anfangen? Regal für Regal? Es ist sinnlos und wird ewig dauern. Vor allem, wann willst du wissen, dass du das richtige Buch hast? Wir verschwenden nur unsere Zeit und dafür haben wir nun einmal nicht diese. Wir hätten einfach nur warten sollen."

Rawnes biss sich auf die Lippe. Er hatte Recht, aber sie wusste, dass sie es ganz bestimmt nicht zugeben wollte. "Aber wir müssen es finden, egal wie lange es dauern wird.", betonte sie energisch.

Rugar sagte darauf gar nichts mehr, sondern schüttelte nur stumm den Kopf. "Wie du meinst.", murmelte er.

Ihre Aufmerksamkeit wurde durch einen Mann abgelenkt, der in gemäßigtem Schritte auf sie zukam. Er trug eine lange, weiße Robe, die ebenso hell leuchtete wie das weiße Haar. Im Gegensatz zu ihnen, war er wie eine leuchtende Erscheinung, die sich stark von ihren dunklen und schmutzigen Gestalten abhob.

"Kann ich Euch vielleicht helfen?", fragte er mit einem sanften Lächeln auf seinen Lippen, wegen dem allein Rugar am liebsten schon wieder gegangen wäre.

"Ja, vielleicht." Rawnes Augen leuchteten mit dem Leuchten auf, das Rugar nur allzu gut kannte und welches ein trügerisches Anzeichen dafür war, längere Zeit beschäftigt zu sein. Sie hatte sich etwas in den Kopf gesetzt und wollte dies nun mit aller Macht durchsetzen. Rugar wusste nur zu gut, dass er sie jetzt nicht mehr davon abhalten konnte, es sei denn, er würde sie gegen ihren Willen aus diesem Gebäude ziehen, was aber auch nicht ohne Probleme ablaufen würde.

"Wir suchen ein Buch. Nicht besonders groß oder dick. Eigentlich überhaupt nicht auffällig und schwer zu lesen, aus welchem Grund auch immer."

Der Bibliothekar blickte sie zweifelnd an. Er hatte sich mehr erhofft, denn mit diesen ungenauen Angaben, würde er seinen Besuchern kaum weiterhelfen können.

"Der Großteil unserer Bücher ist lesbar.", meinte er vorsichtig, wobei er abzuwägen versuchte, wieweit diese Leute fähig waren Bücher zu lesen. Dies stellte sich ab und zu nämlich als sehr schwierig heraus und seine Erfahrung lehrte ihn, dass dieser Fall ähnlich war. "In dem hinteren Teil unserer Bibliothek befinden sich allerdings noch zwei Regale mit Büchern, die uns zu Forschungszwecken dienen, denn sie sind einerseits noch nicht vollständig wieder hergestellt, andererseits in einer fremden Sprache verfasst, die wir noch nicht zuordnen oder entschlüsseln konnten. Sie sind unser wertvollster Besitz, also werdet Ihr sicher verstehen, dass wir sie nicht einfach so herausgeben können."

Rawnes nickte langsam, doch nicht bereit aufzugeben. "Es ist uns sehr wichtig dieses Buch zu finden, welches wir suchen."

"Wenn Ihr mir nicht genauere Angaben über den eventuellen Inhalt oder was es mit diesem Buch auf sich hat sagen könnt, fürchte ich, dass ich Euch nicht helfen werden kann." Der alte Mann versuchte sie in beschwichtigenden Ton abzuwimmeln. Er hatte noch genug andere Dinge zu tun, als ungeduldige Besucher zu beschäftigen, die im Grunde nicht wussten, was sie wollten. "Tut mir wirklich leid."

Wieder blieb Rawnes nichts anderes übrig als zu nicken. "Das ist schon in Ordnung. Ich danke Euch." Der Mann verschwand mit einer Andeutung einer leichten Verbeugung und ließ sie allein.

"Wartet.", hielt Rugar ihn auf. Rawnes sah ihn überrascht an. Ungeduldig drehte sich der Bibliothekar noch einmal zu ihnen herum. "Habt Ihr Bücher hier, die überhaupt nicht zu lesen sind. Ich meine, keine Verbrannten."

"Zufällig ja." Im gleichen Moment schüttelte der Mann entnervt den Kopf. "Wenn ich Euch dadurch glücklicher machen kann, so folgt mir."

Er ging zügig in eine der hinteren, geschützten Ecken der Halle, in der eine Reihe geschlossener Schränke stand. Trotz seines Alters legte er ein hohes Tempo vor und sie mussten zusehen, mit ihm Schritt halten zu können. Schließlich erreichten sie ihr Ziel. Der Alte suchte nach einem passenden Schlüssel unter den Unzähligen die er bei sich trug, schloss einen der Schränke auf und holte ein altes, vergilbtes Buch hervor. Der Lederumschlag war an einigen Stellen schon eingerissen und einige Seiten standen hervor. Es war tatsächlich nur sehr klein, nicht mehr als ein dünnes Heft und als Rugar es in die Hand nahm und aufschlug, mussten sie feststellen, dass es in der Tat sehr schwer zu lesen war, denn die Seiten waren ausnahmslos blankes Papier.

"Das ist es doch, was wir gesucht haben.", meinte Rugar mit purem Ernst. "So einfach lässt es sich finden. Ihr habt doch sicher nichts dagegen, wenn wir es uns einmal ausleihen würden?"

Der Bibliothekar schüttelte erbost den Kopf. Er glaubte, auf den Arm genommen zu werden, was er gar nicht gerne hatte. "Nehmt es. Ich schenke es Euch, wenn Ihr dann glücklich seid und meine Bibliothek nicht mehr länger stört."

"Wir werden Eure Zeit sicher nicht mehr länger in Anspruch nehmen.", versicherte Rugar ihm. "Lass uns gehen.", wandte er sich an Rawnes.

Widerstandslos folgte diese ihm nach draußen. Sie gingen eilig an den Reihen mit Tischen vorbei, an denen die Gelehrten saßen und mit höchster Konzentration ihre Bücher studierten. Sie ließen sich nicht bei ihrer Arbeit stören. Einige junge Studenten waren auch dabei, die neugierig aufsahen, als die Fremden vorbeigingen. Sie kamen von überall her aus dem Lande Zahur, um ihr Wissen zu erweitern in der Hoffnung so ihre höchsten Grade in ihrem Studium zu erlangen. Nur Wenige erreichten auf diese Weise ihr Ziel.

Kaum hatten sie das Gebäude verlassen, nahmen sie ihre Pferde und führten sie den Hügel hinab.

"Was ist los?", fragte Rugar, als er ihr unglückliches Gesicht sah. "Du hast doch, was du wolltest."

"Willst du dich über mich lustig machen?", fauchte sie ihn empört an. "Schon gut, lass dich nicht aufhalten. Du hattest ja Recht, dass dies alles nichts bringt. Aber wenn du es wissen willst, ich hatte das starke Gefühl, dass es wichtig war, was ich vorhatte. Und was habe ich erreicht? Ein Buch habe ich. Ja, und was soll ich mit ihm anfangen?"

"Wie wäre es mit lesen?", schlug Rugar vor und reichte ihr das dünne Buch.

Sie blieb stehen, nahm es und hätte es ihm vor Wut beinahe wieder ins Gesicht geschleudert. Doch dabei fielen ihr einige Seiten zu Boden und automatisch bückte sie sich, um diese aufzuheben. Dabei bemerkte sie, dass die Seiten nicht mehr leer, sondern eng, Zeile für Zeile, beschrieben waren. Verwundert blieb sie in der Hocke sitzen und schlug das Buch auf. Dort bot sich ihr der gleiche ungewöhnliche Anblick. Seite für Seite war beschrieben, mit fein säuberlicher Schrift. Ab und zu waren einige Fehler ausgebessert und manchmal waren einige Sätze kaum mehr wegen des Alters zu lesen. Fasziniert blätterte sie die Seiten durch und merkte dabei kaum, dass Rugar weiter gegangen war.

"Warte!", rief sie ihm hinterher. "Nur einen Moment."

Sie war so sehr in das Buch vertieft, dass sie nicht sehen konnte, wie er die Augen verdrehte und kurz inne hielt. Dann kam er doch zurück, gab seinem schwarzen Hengst die Zügel frei und setzte sich auf den sonnengewärmten Boden.

"Was hältst du davon, wenn du es später liest, wenn wir sowieso eine Rast machen werden."

"Gar nichts halte ich davon.", entgegnete sie. "Wenn wir Rast machen werden, wird es dunkel sein und es ist kein Licht mehr zum Lesen, also werde ich die Zeit nutzen solange es hell ist. Wir können die Nacht durchreiten."

"Was hältst du vom Schlafen?"

"Wenn du müde bist, schlaf jetzt. Wir werden eine Nacht ohne auskommen."

"Schön, dann bleib hier und lies und ich reite in der Zwischenzeit weiter. Du kannst meinetwegen nachkommen. Vielleicht treffen wir uns morgen früh irgendwo." Der Klang seiner Stimme verriet, wie ernst er es diesmal meinte. Sie hatte seine Geduld schon mehr als genug strapaziert.

Seufzend stand sie wieder auf. "In Ordnung, gehen wir.", stimmte sie widerwillig zu. Noch während sie weiter den Hügel hinab lief, konnte sie ihren Blick nicht mehr von dem Buch lassen.

"Ist es denn wenigstens hilfreich?", fragte er kopfschüttelnd.

"Das weiß ich noch nicht genau.", gestand sie. "Es ist ein wenig seltsam, dieses Buch. Es ist eine Art Geschichte, herausgenommen aus dem Zusammenhang der Mythen über die Götterwelt. Angeblich sei Sherina nicht wirklich eine Göttin, sondern der oberste Herr Ulasta habe sie zu sich kommen lassen, aus Liebe zu ihr. Später bekamen sie einen Sohn, der das Blut der Götter unter das Auserwählte Volk bringen soll. Sein Name wird hier nicht erwähnt, es wird von ihm nur als der Herrscher der Nacht gesprochen."

Rugar dachte eine Weile darüber nach. "Wurde das vorher schon einmal irgendwo erwähnt?", erkundigte er sich.

"Nein." Rawnes schüttelte den Kopf. "Da bin ich mir sicher."

"Ich frage mich nur, was daran von solcher Wichtigkeit ist, dass jemand verhindern wollte, dies leserlich zu erhalten.", teilte er ihr seine Überlegungen mit.

"Das wir es jetzt wieder lesen können, bringt uns leider auch nicht mehr besonders viel. Aus der Mitte fehlen ziemlich viele Seiten oder sind nicht in der richtigen Reihenfolge.", stellte Rawnes fest.

"Lese den Schluss.", forderte er sie auf.

"Den Schluss?", fragte sie irritiert nach.

"Vielleicht wissen wir dann, worum es wirklich geht.", meinte er. "Niemand macht sich Sorgen um dieses Buch, wenn es um irgendwelche göttlichen Familienprobleme geht."

Rawnes tat, was er vorschlug und las den letzten Satz. "Und schließlich werden sie sich erheben aus den Schatten der Erde und die Welt wird unter ihnen erbeben und das Dämonenheer erzittern -- vor den Hütern der Nacht. Gefürchtet wird ihre Macht sein und weder Gott noch Dämon wird seine Hand gegen sie erheben können."

Beide blieben stehen und starrten eine Weile vor sich her. "Ist das gut oder schlecht?", fragte sich Rawnes laut, doch sie wusste, dass es darauf eigentlich kaum eine Antwort gab.

"Ich denke, es könnte gut werden.", überlegte Rugar. Sie sahen sich an und wussten beide, etwas würde geschehen, mit dem sie bisher nicht gerechnet hatten. In diesem Moment wurde ihnen bewusst, dass sie alles bisher zu leicht genommen hatten. Justaka war wieder hier, doch ihnen war nicht klar gewesen, was dies eigentlich bedeutete. Jetzt hatten sie die Gefahr direkt vor sich und wussten sie auch nicht, was die geheimnisvolle Andeutung des Buches besagte, ahnten sie, dass ihre Vorhaben alles andere als leicht sein würden. Die Gefahren waren weitaus größer, als sie sich einzustehen gewagt hatten. Doch jetzt war es zu spät und sie hatten so gut wie verloren, denn gegen die Macht, der sie sich stellen wollten, hatte kaum ein lebendes Wesen eine Chance.

STALCA

Unruhig wälzte er sich im Schlaf hin und her. An den Großteil seiner wirren Träume konnte er sich hinterher nicht mehr erinnern. Immer wieder sah er den schwarzen Schatten in der Höhle stehen, trotz dass er ihm im Traum sehr viel näher war als in der Wirklichkeit, konnte er sein Gesicht noch immer nicht erkennen. Es war eine unebene Fläche hinter einer fast zugezogenen Kapuze und doch konnte er den kalten Blick deutlich spüren.

Die Gestalt streckte die Hand aus, zuerst dachte er, sie wolle nach ihm greifen und er wich zurück. Doch sie folgte ihm nicht, hob beide Arme empor und murmelte mit einer tiefen, rauen Stimme einige unverständliche Worte in einer fremden Sprache.

Plötzlich schien es Stalca, als wären sie nicht länger allein, ein ebenso unbestimmtes Gefühl, wie es ihn in der Mine verfolgt hatte. Aber irgendetwas war mit einem Mal hinter dem Unbekannten. Er glaubte etwas in der Dunkelheit aufblitzen zu sehen, einen beißenden Geruch nach Verbranntem wahrzunehmen und dann wallte ihm eine Wand aus Feuer entgegen.

Entsetzt schrie er auf. Schweißgebadet schreckte er aus dem Schlaf und saß aufrecht im Bett. Eine Hand legte sich sanft auf seine Schulter, drückte ihn vorsichtig wieder zurück und ein Fremder sprach leise auf ihn ein.

"Beruhige dich, mein Junge, du hast nur geträumt."

Obwohl er nicht einmal wusste wo er war und wer neben ihm saß, schien er kaum richtig aufzuwachen. Noch immer hielt ein dichter Nebel ihn umfangen und zog ihn zurück in die Dunkelheit. Diesmal jedoch schien er sich tatsächlich zu entspannen, wurde noch immer von unverständlichen Träumen geplagt, aber sie verloren allmählich von ihren Schrecken.

Irgendwann sehr viel später erwachte er in aller Ruhe. Er lag in einem weichen Bett mit einem richtigen Kopfkissen und einer warmen Daunendecke. Noch nie zuvor hatte er auf einer Matratze geschlafen, geschweige denn in einem Bett. Es war nicht schlecht, wenn auch ungewohnt.

Seine Schlafstelle stand in einem kleinen, aber gemütlichen Raum. Eine Öllampe brannte neben ihm auf einer schmalen Kommode. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein breiter Schrank und auf den Dielenbrettern war ein warmer Teppich ausgebreitet. Die Fenster waren abgedunkelt, dahinter war es bereits taghell.

Unsicher stand Stalca auf und wagte sich durch die Tür. Er fand sich in einer noch kleineren Küche wieder, in der ein Tisch mit zwei Stühlen und ein Ofen Platz fanden, auf dessen einziger Kochstelle ein Topf stand und vor sich hin brodelte. Neugierig öffnete er den Deckel ein Stück breit und der würzige Geruch einer fertigen Suppe schwebte ihm entgegen. Nun spürte er auch seinen leeren Magen, der ihn zu plagen begann, doch er wollte sich nicht einfach etwas nehmen, wonach er nicht gefragt hatte.

"Bediene dich ruhig.", erklang eine freundliche Stimme von der Tür her.

Erschrocken drehte sich Stalca herum und blickte in das vertrauenerweckende Gesicht des Isk-Meisters, dem er zuvor im Wald begegnet war. Doch nach ihrem Treffen erinnerte er sich an nichts mehr. Er fragte sich, was ihn derart erschöpft haben mochte.

Widerstandslos ließ er sich eine Schale mit Suppe geben und setzte sich mit an den Tisch. Auch wenn ihm der alte Mann freundlich gesinnt zu sein schien, konnte er sein Misstrauen doch nicht ganz verbannen. So aßen sie eine Weile schweigend, bis Stalcas Neugier doch wieder siegte.

"Wer seid Ihr?", fragte er zögernd.

"Ich bin Peroth.", antwortete ihm der Meister und schien dem nichts hinzuzufügen zu haben, womit er auf Stalcas eigentliche Frage nicht näher einging, doch dieser wagte es nicht nachzuhaken.

"Woher wisst Ihr, wer ich bin?", erkundigte er sich stattdessen.

"Woher willst du wissen, dass ich es weiß?", entgegnete Peroth.

"Ihr hättet sonst sicher danach gefragt." Stalca wich seinem Blick nervös aus. Er hatte keine Ahnung, auf was er sich hier einließ. Andererseits blieb ihm kaum eine Wahl, schließlich wäre er ansonsten völlig auf sich allein gestellt, und das war selten eine kluge Entscheidung.

"Nun, ich weiß vieles. Vieles Wichtiges zumindest, dafür vergesse ich manchmal die eher unwichtigen Dinge des Lebens, was auch seine Nachteile haben kann.", erklärte Peroth ihm lächelnd.

"Es ist wichtig zu wissen, wer ich bin?", zweifelte Stalca.

Peroth hielt in seinem Essen kurz inne, obwohl er sich gerade erst ein Stück Brot in den Mund geschoben hatte. "Das eine ist von hoher Bedeutung, Anderes dagegen weniger.", antwortete er ausweichend. "Nimm dir noch mehr, wenn du möchtest."

Ihr kurzes Gespräch schien zu einem raschen Ende gefunden zu haben und Stalca hielt es für klüger es dabei zu belassen. Es würde sich zwangsweise noch einiges aufklären, wenn nur genug Zeit verging. Zunächst war es schon nicht verkehrt einen sicheren Ort gefunden zu haben, an dem er sich würde ausruhen können. Danach konnte er immer noch sehen, wie es wohl weiter gehen mochte.

Es waren schon Tage vergangen, die er seiner Meinung nach völlig sinnlos verbracht hatte. Doch was sollte er tun? Wäre er nicht hierhergebracht worden, wäre er vermutlich im Wald nicht lange sicher gewesen. Außerdem war er einem Isk begegnet, dem viele nicht einmal in ihrem Traum begegnen durften. Ein Meister. Von denen gesagt wurde, sie würden mächtige magische Fähigkeiten besitzen, sie hätten Kenntnisse über fast alle Dinge dieser Welt, sie wären die besten Kenner der höchsten Kampfkünste und sie würden im direkten Kontakt zu den Göttern stehen, auch wenn sie nicht viel weitergaben von dem, was die Götter ihnen mitgeteilt hätten.

Doch Meister hin, Meister her, Stalca wurde es zu viel. Er hatte vorgehabt zurückzukehren und alle seine Freunde zu befreien, auch wenn er zugab, dass dieser Gedanke kindisch und unmöglich auszuführen war. Aber egal, denn eines wollte er auf keinen Fall: So tun als wäre nichts und Holz hacken, oder Dächer reparieren, oder auch nur den Boden umzugraben, doch was sollte er tun? Immerhin war es ja ein Meister und er konnte sich ihm nicht entgegenstellen und sagen, er ginge jetzt wieder, waren ein paar nette Tage, aber er habe jetzt einfach keine Zeit mehr. Nein, das ging nicht. Es war nicht nur unhöflich, es war ganz und gar respektlos und er hatte einmal genug von Etwas gehabt, was man wohl Erziehung nannte.

Trotzdem musste er hier weg, denn er konnte nicht lange ohne etwas Sinnvolles zu tun hier bleiben. Es wäre wie Verrat, denn Túlak verließ sich auf seine Rückkehr. Nur was war wichtiger, Freund oder Meister? Nein, die Frage war nicht schwer, doch wie sollte er es am besten diesem Meister beibringen? Wütend auf sich selbst, schlug er die Axt mit aller Kraft auf das Holz, so dass die Scheite wie Späne davon flogen.

In der kleinen Hütte sah Peroth aus dem Fenster. Doch er war nicht allein. Eine Gestalt in langem Fellmantel stand hinter ihm in einer Ecke. Das braune, wirre Haar bedeckte die spitzen Ohren und die dunklen Augen ließen nicht von ihm ab.

"Auf was wartest du, Peroth?", fragte diese Gestalt in herabfallendem Ton. "Wie lange noch willst du in deinem Wäldchen hocken ohne etwas zu tun?"

"Solange, bis ich gefunden habe, was ich suche.", antwortete Peroth gelassen ohne sich auch nur herumzudrehen. "Und Ihr werdet mich nicht daran hindern."

"Die Zeiten sind vorbei, als dass hier noch jeder tun und lassen könnte, was er wollte. Nun brechen neue Zeiten an, bei denen die Herren jedermanns Unterstützung erwarten. Auch die deine. Also vergeude diese Zeit nicht sinnlos."

"Wer seid Ihr?" Diesmal drehte sich der Meister herum und seine Augen funkelten drohend. "Was ist aus Euch geworden, dass Ihr mein Tun als sinnlos bezeichnet? Ich bin mit Mühe dabei einen Weg zu finden, wie ich mein Volk wieder sammeln kann. Mein Volk, das einmal von Euch als das Auserwählte bezeichnet wurde. Doch was ist es nun für Euch? Nicht mehr als ein Stück Dreck. Etwas, dass sich nicht mehr lohnt gerettet zu werden. Seid Ihr so hoch in Euren erhabenen Stolz gekommen, dass Euch dies nicht mehr interessiert? Was sagt Sherina dazu, die Liebe in Eure Herzen bringen soll? Ist sie es schon so gewohnt in den Reihen der Herren zu stehen, dass sie sich schon als eine derer sieht und dabei ihr Volk aus den Augen verloren hat? Ich werde dies nicht tun und Ihr könnt dies auch nicht von mir verlangen."

"Pass auf, was du für Worte in den Mund nimmst.", warnte die Gestalt ihn. "Dein Volk hat bereits getan, was es tun sollte. Und es hat versagt. Nun ist es unsere Zeit und wir werden die Sache besser machen, darauf verlassen sich die Herren."

Peroth wollte erbost auffahren, doch er wurde zurückgehalten. Die Gestalt legte den Finger auf die Lippen und kam ein Stück auf ihn zu. "Sei lieber still.", meinte dieser. "Doch tue, was du nicht lassen kannst, wenn du bereit bist die Folgen aus deinem Handeln zu tragen." Mit diesen letzten Worten verließ die Gestalt das Haus durch den hinteren Eingang.

Peroth starrte eine Weile weiter vor sich hin. "Ist es denn wirklich so, oder weist du mir den Weg, Fur'Kaltur, Herr des Schicksals?", murmelte er vor sich hin. Doch lange blieb er ohne Antwort und er wollte schon aufgeben und zu dem Schluss kommen, dass es besser war, seinen Weg zu verlassen. Dann schien er doch eine Antwort zu erhalten, denn eine Stimme begann in seinem Kopf zu wispern.

Sh'arton sarilan. Dein Weg ist gut mein Freund, oder beginnst du meine Zeichen nicht mehr zu sehen, wenn ich sie dir schicke?, glaubte er den jüngsten der Herren zu hören. Nicht nur die Dämonen bedrücken uns, auch in unseren eigenen Reihen herrscht Uneinigkeit. Doch du musst deine Aufgabe zu Ende bringen, denn das Auserwählte Volk hat seine Aufgabe noch längst nicht getan. Aber ich kann dir nicht länger helfen, denn das steht mir nicht zu.

Draußen stand Stalca immer noch und der Stapel der Holzscheite wuchs und wuchs und um ihn herum wurde es bereits dämmrig, ohne dass er davon etwas bemerkte, denn er war noch immer tief in seinen Gedanken und hieb mit der Axt, ohne dass ihm dies bewusst war. Noch immer war er zu keinem Entschluss gekommen, doch dass brauchte er bereits nicht mehr, auch wenn er es noch nicht wusste.

"Danke, für deine Arbeit.", hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich und er hielt inne. "Allein wäre ich nie so schnell so weit gekommen, doch ich denke, in diesem Zustand werde ich mit meinem Haus den Winter überstehen. Dieser kann hart werden in manchen Zeiten."

Es herrschte Stille zwischen ihnen, denn Stalca wusste nicht ob oder was er erwidern sollte und der Meister schien mit seinen Gedanken ganz woanders hin gewandert zu sein. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er endlich wieder ein Wort hervorbrachte. In der Zwischenzeit stand er neben Stalca und betrachtete den Sonnenuntergang, der hinter den nächsten Baumwipfeln verschwand.

"Ich weiß, wohin es dich zieht.", meinte er dann. "Zurück."

Stalca sah den Meister eine Weile an und überlegte, ob nun der richtige Zeitpunkt gekommen war. "Ja.", bestätigte er dann. Eine Weile hielt er sich zurück, doch dann musste er die Frage stellen, die ihm schon seit längerem auf dem Herzen lag. "Was ist dort geschehen?"

"Das weißt du wohl ebenso gut wie ich.", antwortete Peroth. "Immerhin warst du im Gegensatz zu mir dort."

"Aber..." Stalca unterbrach sich sofort, wusste nicht genau, wie er am Geschicktesten ausdrückte, was ihn störte.

"Aber?", hakte Peroth nach. "Du willst sagen, es sind nur Geschichten?"

"Nicht direkt. Was ich meine ist, dass es schwer vorstellbar ist, dass Dämonen oder Götter -- na ja, dass sie auf einmal hier herumlaufen sollen." Er sah den Meister nicht an, während er versuchte eine Erklärung zu basteln, und so entging ihm, wie sich das Gesicht Peroths in kurzer Verzweiflung verzog.

"In den letzten Jahrhunderten verlor sich bedauerlicher Weise die Erinnerung und der Glaube. Die Meisten wissen zumindest, wie Justakas Herrschaft gestürzt wurde, doch ihnen ist kaum noch bekannt durch wessen Hand. Die Gesh'Nekats war es, der letzte von den Elfen bestimmte König über dieses Land. Dies ist fast zwei Jahrtausende her und irgendwann schlich sich der Gedanke ein, wenn man einfach alles vergessen würde, so würde sich Justakas damals prophezeite Auferstehung nicht erfüllen. Ein törichter Irrtum." Peroth seufzte niedergeschlagen.

"Ich muss zurück.", versuchte Stalca das Thema zu wechseln, als ihm der Meister wieder abhanden zu gehen drohte.

"Du wirst zurückgehen, habe ich das noch nicht gesagt?", erwiderte Peroth. "Wo war ich nur mit meinen Gedanken. Aber vorher werden wir noch andere Dinge zu erledigen haben."

"Wir?", vergewisserte sich Stalca.

"Natürlich. Oder hast du vor allein zu gehen?"

"Wieso sollte ich mit Euch kommen. Ich kenne Euch nicht einmal wirklich." Stalca sah den alten Mann vor sich eine Weile misstrauisch an.

"Ich dich auch nicht.", erinnerte ihn Peroth. "Aber ich könnte Gesellschaft und ab und zu etwas Hilfe gebrauchen. Mach dir keine Sorgen. In gewissen Dingen verfolgen wir die gleichen Ziele. Nur ist die Zeit noch nicht dafür gekommen. Du wirst dich daran gewöhnen müssen, abzuwarten bis die Zeit gekommen ist."

ZWISCHENSPIEL

Die Sonne ging unter. Der Himmel musste bereits in allen Farben leuchten. Rot, Gelb, helles Blau, vielleicht auch ein wenig Rosa. Es war schon lange her, sehr lange her, seit Sayonara das letzte Mal diesen Anblick genießen konnte. So blieb ihr nichts Anderes weiter als die Vorstellung und die Erinnerung. Ein Buch lag aufgeschlagen vor ihr. Die Schrift fein säuberlich mit einem Pinsel geschrieben. Wort für Wort, wie ein kunstvolles Gemälde. Jeden Abend las sie diese Zeilen immer und immer wieder und jedes Mal zerriss ihr Herz fast vor Sehnsucht nach dem Leben außerhalb dieser Mauern. Sie wünschte sich frei zu sein. Über die Felder zu laufen, mit ausgebreiteten Armen das Sonnenlicht zu empfangen, die Wärme auf der Haut zu spüren, das Gras durch ihre Zehen gleiten zu lassen. Davon träumte sie jeden Tag, jede Nacht und jede Minute. Sie beneidete die Menschen in ihren Städten um ihr erfülltes Leben, doch sie gab ihre Hoffnung nicht auf, dass bald alles gut werden würde und dass sie bald wieder die Sterne sehen und Wind und Regen spüren würde, denn das gab es hier alles nicht. Keine Sonne, keinen Regen und keinen Wind. Und erst recht nicht das Funkeln und Glitzern der Sterne. Hier gab es nur ein gespenstisches, gelbliches Licht vermischt mit dem türkisfarbenen Leuchten des Flusses.

Der Fluss, ihre Lebensquelle. Sie hörte sein Rauschen, wie er sich dicht neben ihrer Festung in die Tiefe stürzte. Kloster und Schutzburg zugleich, ihre Heimat. Auf der einen Seite, die vieler Krieger. Auf der anderen, die derjenigen, die versuchten zu retten, was zu retten ist. Gelehrte Yesúws. Sie hüteten ein Geheimnis. Einen Ort an dem die letzten Rätsel verborgen waren und die letzten Fragen beantwortet werden konnten, doch sie war nicht glücklich darüber. Jeden Tag lebte sie mit einer Angst, die sie weder verstehen konnte noch wusste sie, welchen Ursprung diese nahm. Die Angst war einfach in ihr und manchmal, wenn sie lange allein war, nahm diese Angst überhand und überwältigte sie. Brachte ihre Gefühle durcheinander und ließ ihr Herz weinen. Auch jetzt war es wieder so weit. Ihre Hände klammerten sich um das Fenstersims, aus Angst den inneren Halt zu verlieren. Über ihre zarten Wangen rollte eine Träne und ihr langes, dunkles Haar fiel ihr ins Gesicht.

Plötzlich klopfte es an der Tür. Leise, verstohlen. Ihr Herz machte einen Sprung, Hoffnung keimte auf. Sie drehte sich herum. "Ja?"

Sofort öffnete sich die schwere Eichentür. Eine der wenigen Türen in diesem Gemäuer. Die meisten Räume waren bloß mit Stoffen behangen, die nur die Sicht begrenzten. Es herrschte kaum Privatsphäre in Yesúw. Dieses Wort war seinen Bewohnern fremd. Nur wichtige Orte, wie dieser, waren mit verschließbaren Türen versehen. Durch sie hindurch kam ein Mann. Er trug einen weiten, geöffneten, schwarzen Mantel, darunter ein helles Leinenhemd und feine Hosen mit schweren Stiefeln. Seine blonden Haare hatte er sich zu einem Zopf zusammengebunden. Nur ein paar Strähnen fielen heraus. Er brachte das Sonnenlicht des freien Landes mit sich und erfüllte mit ihm dieses Zimmer.

Sayonara vergaß für einen Moment ihre Panik, Freude durchflutete ihren Körper. Sie ging auf ihn zu und er kam und legte seine Arme um sie. Dies waren kurze Momente in denen sie sich in Sicherheit fühlte und es durfte keiner erfahren, denn Xejohl, der Herrscher Yesúws, würde es nicht zulassen einem König der Menschen Einlass in sein Reich zu gewähren. Der Gedanke daran ließ sie wieder traurig werden. Tränen kämpften sich erneut ihren Weg frei.

"Was ist los?", flüsterte er in ihr Ohr und strich über ihr Haar.

"Er war wieder hier. Rugar.", antwortete sie. Er war der Einzige, dem sie alles erzählen konnte, dem sie ihr Herz ausschütten konnte, bevor es unter der Last zerplatzte. Eine innere Stimme sprach ihr Warnungen zu, doch sie wollte nicht hören. Sie verdrängte diese einfach. "Ich mag es nicht, wenn er hier ist. Es ist schon länger her, aber ich habe einfach Angst, verstehst du? Und wenn er weg ist, habe ich Angst vor seinem nächsten Wiederkommen."

"Ich denke, er spricht mit Xejohl." Er sprach mit sanfter Stimme. Versuchte sie zu beruhigen. "Was wollte er denn von dir?"

Sie gingen zum Fenster, sahen auf den Fluss. Sie spürte seine Nähe und begann sich langsam wieder zu entspannen. Oft wollte sie einfach nur die Flucht ergreifen. Vor Allem davonlaufen. Einfach so. Doch sie wusste, dass es nicht ging.

"Sie haben sich furchtbar gestritten." Sayonara beugte sich ein wenig aus dem Fenster, um den Fluss die Klippen hinabstürzen zu sehen. Sie wünschte sich, ihre Sorgen und Probleme würden in den schäumenden Wellen mit untergehen.

"Ich weiß nicht wieso, aber sie legen Wert darauf nicht mehr miteinander zu reden. Das haben sie öfters. Früher oder später werden sie sich wieder beruhigt haben, doch diesmal musste ich mit ihm reden. Erst habe ich überlegt, ob ich überhaupt mit ihm reden sollte. Ich hätte auch sagen können, mir ginge es nicht gut."

"Hast du aber nicht.", riet er und schloss sie in seine Arme. Sie spürte Wärme ihren Körper erfüllen. Stumm schüttelte sie den Kopf. Eine Weile sprach keiner von ihnen. Sayonara spürte, wie es draußen dunkel wurde. Auch in den Höhlen erlosch das gelbliche Licht bis zu einem bloßen Dämmern.

"Was macht dir so viel Angst, Sayo?", wollte er wissen. "Du bist hier in Sicherheit. Niemand würde auf die Idee kommen, dir hier etwas anzutun."

"Die Dämonen erwachen.", flüsterte sie. Leise, aus Angst die unheilvollen Worte, würden sich durch das bloße Aussprechen erfüllen. "Sie werden auch vor Yesúw keinen Halt machen, wenn sie nicht vorher jemand aufhält. Und ich habe Angst davor, dass es niemanden mehr gibt, der sie stoppen könnte. Nekat ist unterwegs und sucht die Erwählten, um Justakas eigenen Fluch zu erfüllen. Rugar und Rawnes begleiten ihn. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er sie finden wird. Er glaubt, einer wohnt in oder in der Nähe Caparian Citys und die Andere soll auf einem Gut eines der Landlords sein, doch er ist schon Jahre dabei sie zu suchen und bis jetzt hat er nicht einmal eine Spur."

"Er weiß, wo sie sind?" Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Eine leise Stimme begann aufgeregt zu wispern. Eine Stimme, die nur er hören konnte und die ihm Befehle zuraunte.

"Nein.", korrigierte sie ihn leicht gereizt. "Das ist es ja. Er glaubt es nur zu wissen, doch das glaubt er schon die ganze Zeit. Ich fürchte, es sind nur falsche Hoffnungen, die ihn leiten und am Ende werden wir doch alle verloren sein. Justaka wusste, was er sich leisten konnte."

"Es wird schon alles gut werden.", meinte er leicht nervös. Er musste weg hier. Nur weg hier und das so schnell wie nur möglich. Je weniger Zeit er verlor, desto schneller kam er an sein Ziel.

Sie schien seine Eile nicht zu bemerken, sondern hielt an seinen Worten fest, womit sie verzweifelt versuchte einen winzigen Funken mehr Hoffnung zu bekommen. Sie starrte weiterhin auf den Fluss, der sich noch immer in die Tiefe stürzte, ohne dass ihn etwas aufhalten konnte. Dieser Anblick betrübte sie wieder. Man sagte, der Fluss würde sie beschützen, aber selbst wenn die Dämonen kommen würden, wenn sie die Welt überfluten würden mit ihrer bösen Saat, selbst dann würde der Yesúw sich immer noch die Klippen hinabstürzen.

DIE VERLORENEN KINDER

An einem ganz anderen, weit entfernten Ort stand ein stolzer Gutshof, sehr weit abseits zu der nächstgrößeren Stadt Overwealth, die tief im Süden des Landes Zahur lag. Während es im Norden nun schon begann kalt zu werden und die Nächte bereits frostreich waren, herrschten hier noch weit angenehmere Temperaturen. Die Bäume hatten ihre Blätter noch nicht verloren und leuchteten in allen möglichen Farben des Herbstes. Die Felder rund um den Hof herum waren zum größten Teil bereits abgeerntet und die Scheunen quollen über von Stroh, Heu und Weizen. Es war eine reiche Ernte in diesem Jahr gewesen.

Ein Besucher stand in dem riesigen Empfangsraum und wartete auf Lord Bates, dem Besitzer des Guts. Ein großer, struppiger Hund lag neben ihm, den man auf den ersten Blick für einen ausgewachsenen Wolf halten konnte, denn sein Fell war von hellem Grau und nur die Beine und Ohrspitzen liefen in ein tiefes Schwarz über. Dieses Tier war ein wirklich hübsches, auch wenn man sich im ersten Moment vor seinem intensiven Blick fürchtete, so meinte jedenfalls der Hausdiener Pépé, der den überraschenden Gast begrüßt hatte.

Dieser war schon recht merkwürdig, auch wenn Pépé nicht genau sagen konnte weshalb. Es war nur ein bestimmtes Gefühl, dass ihm seine perfekte Menschenkenntnis mitteilte. Etwas stimmte mit diesem Mann nicht und er beschloss ein aufmerksames Auge auf ihn zu haben, während er auf dem Gut verweilte.

Mit Sicherheit ließ sich über den Fremden sagen, dass er von adliger Geburt war, denn sein tadelloses Benehmen, welches den Großherren schon von ihrem Lebensbeginn an mit in die Wiege gelegt war, konnte nicht übersehen werden. Er war stets höflich, auch als Pépé ihm mitteilen musste, dass der Hausherr im Moment noch nicht zu sprechen sei und dass er sich doch bei einem Schlückchen Kaffee noch ein wenig gedulden solle, setzte er sich auf einen der lederüberzogenen Stühle und wartete, ohne ein mürrisches Wort oder ein Anzeichen des Missmutes.

Viele Lords, denen Pépé schon begegnet war, verhielten sich meistens nicht so. Bei ihnen konnte man schon großes Glück haben, wenn sie wenigstens nach einigen abfälligen Worten den Mund hielten und er hatte sich angewöhnt, nur sehr ungern Drohungen auf längeres Warten auszusprechen. Doch heute war angenehmer Besuch im Haus und er war überzeugt, dass er dies ruhig an das Dienstpersonal weitergeben konnte. Er wusste, dass im oberen Stockwerk bereits in aller Eile eines der Gästezimmer hergerichtet wurde. Nur für alle Fälle, falls der Fremde über Nacht einkehren wollte. Immerhin musste sich das Gut Bates' von seiner besten Seite präsentieren.

Heimlich beobachtete der Diener den Fremden, während er tat, als müsse er einige wertvolle Vasen polieren, die auf kleinen Podesten im Raum verteilt waren. Der Fremde war ebenfalls von tadellosem Aussehen. Seinen teuren Anzug hatte er sorgfältig geglättet, bevor er sich setzte, damit sich kaum Falten bildeten. Die dunklen Stiefel glänzten. Kein winziges Staubkorn hatte sich an ihnen festgesetzt. Seine hellen Haare waren zu einem festen Zopf nach hinten gebunden und sein Gesicht und seine Hände waren sauber. Es war ihm anzusehen, die Kutsche als Transportmittel gewählt zu haben, selbst wenn man nicht wusste, dass diese noch vor der zweiflügeligen Eingangstür stand. Mit zwei edlen Pferden davor, die wohlgenährt und gestriegelt auf ihrem Platz harrten. Pfleger hatten ihnen sicherlich schon Futter gebracht, hoffte Pépé.

Plötzlich hörte er eilige Schritte die breiten Marmorstufen hinunter eilen. Er verbeugte sich noch rechtzeitig, als sein Herr ihn erreicht hatte und deutete in den Empfangsraum, der schon von seiner Größe her den Wohlstand des Hauses andeuten sollte.

Lord Bates zupfte sein Jackett zurecht, bevor er an seinem Diener vorbei in die Halle hastete. Er hasste es seine Gäste warten lassen zu müssen, auch wenn es sich um einen völlig Fremden handelte, dessen Namen er schon fast wieder vergessen hatte. Es war ziemlich unhöflich unangemeldet in seinem Haus zu erscheinen, so empfand er es zumindest und er musste sich Mühe geben, seinen Anflug von leichter Wut zu unterdrücken. Als er nun endlich seinen unerwarteten Besucher erreichte, stand er vor einem schlanken, hochgewachsenen Mann mittleren Alters. Dieser senkte leicht den Kopf, als Bates ihn begrüßte und er beruhigte sich wieder ein wenig.

"Lord Hares.", begrüßte er den Fremden. "Seid willkommen in meinem Haus. Möge es Euch ebenso gute Dienste leisten wie mir."

"Ich fühle mich geehrt.", antwortete Hares mit sanfter, wohlklingender Stimme. "Komme ich doch unhöflicher Weise völlig unangemeldet in Euer wunderbares Haus geplatzt. Aber ich war auf der Durchreise und man empfahl mir Eure Gastfreundschaft, so dass ich gar nicht anders konnte, als bei Euch vorbei zu sehen."

Bates fühlte sich geschmeichelt und schenkte ihm ein wohlgesonnenes Lächeln. "Nun, das macht doch keine Umstände. Ihr seid natürlich herzlich eingeladen. Es wird bald schon das Abendbrot serviert. Ich würde mich freuen Euch an meinem Tisch begrüßen zu dürfen."

"Ich nehme Eure Einladung dankend an, auch wenn ich Euch nur so wenig wie möglich zur Last fallen will. Morgen früh werde ich schon wieder weiterreisen." Hares warf einen vorsichtigen Blick auf Bates, den dieser nicht zu bemerken schien. Der Gutsherr schüttelte nur abwehrend den Kopf.

"Ich werde Eure Gastfreundschaft natürlich nicht ohne Dank in Anspruch nehmen.", fuhr Hares fort. "Ich erfuhr von Eurer reizenden Tochter und habe eine Kleinigkeit für sie mitgebracht, wenn Ihr nichts dagegen habt."

"Wie aufmerksam von Euch!" Bates war überzeugt einen Mann mit guter Erziehung vor sich zu haben und bereute seinen Entschluss ihn nicht gleich wieder vor die Tür zu setzen keineswegs. "Sie wird ebenfalls am Abendessen teilnehmen. Doch vorher wollt Ihr Euch gewiss ein wenig erholen. Pépé wird Euch eines der Gästezimmer zeigen. Wenn ich vorher nur eine Frage stellen dürfte."

"Fragt ruhig.", forderte Hares ihn auf.

"Woher führte Euch Euer Weg eigentlich?", erkundigte sich Bates vorsichtig, wie es seine Art war.

"Oh, wie dumm von mir, dies nicht bereits erwähnt zu haben.", entschuldigte sich Hares. "Ich komme von der Universität Greenworld aus Caparian City. Ich soll euch die besten Grüße von Professor Fester zukommen lassen."

Bates holte tief Luft. Er hatte einen adeligen Großherrn aus der Hauptstadt vor sich, der auch noch an der wohl berühmtesten Universität des Landes arbeitete. Das war mehr als ein gutes Zeichen. Wenn er dies den anderen benachbarten Lords erzählen würde, würden diese vor Neid erblassen.

"Jetzt, wo Ihr es sagt, meine ich mich auch daran zu erinnern, Euren Namen bereits schon einmal gehört zu haben. Es erfüllt mich mit Stolz Euch in meinem Haus bewirten lassen zu können."

Der Hund hob leicht den Kopf, was Bates ein wenig irritierte, doch er ignorierte dies und lächelte ein zuversichtliches Lächeln. Es musste dem Lord hier gefallen, dann würde er auch mit Sicherheit einige gute Worte über das Gut verlieren. Vor allem, wenn er den Direktor der Universität Professor Fester kannte, musste er sich in hohen Kreisen bewegen.

Lord Hares ging an ihm vorbei und folgte dem Diener die Treppe hinauf. Bates rieb sich erfreut die Hände, als dieser ihn nicht mehr sehen konnte. Sein Herz machte einige Freudensprünge, bevor er sich in seinen Speisesaal begab und darauf achtete, dass alles glatt verlief.

Währenddessen zeigte Pépé dem Besucher seinen Raum, fragte nach seinen Wünschen und ließ ihn ohne Aufträge zurück. Kaum war er allein, ließ sich Hares erschöpft auf das breite, warme Bett fallen und atmete tief durch. Mit einem leisen Stöhnen rieb er sich die Schläfen, um zu versuchen den leichten Kopfschmerz wieder zu verdrängen, der sich breit zu machen drohte.

"Wie lange soll ich das bloß durchhalten?", murmelte er.

"Wenn wir Pech haben bis morgen früh.", antwortete ihm ohne Zögern Jack Bradley, der ihm gerade noch als Wolf, den zum Glück alle für einen ungewöhnlichen Hund hielten, in das kleine aber gemütliche Zimmer gefolgt war. Als Animorph besaß er schon seit seinem zwölften Sommer die Fähigkeit zwischen der Gestalt eines Wolfes und eines Menschen beliebig oft und lange zu wechseln.

"Jetzt, wo Ihr es sagt, meine ich mich auch daran zu erinnern, Euren Namen bereits schon einmal gehört zu haben. Was anderes konnte er sich nicht einfallen lassen, oder?"

"Vielleicht hat er das wirklich schon einmal.", meinte Hares. "Dieser Mann kennt so viele Leute, die kann er gar nicht mehr alle zuordnen. Außerdem läuft bis jetzt alles zufriedenstellend, also lass ihn reden, was er will."

"Fragt sich nur, wie lange ich es hier aushalten soll.", überlegte Jack. "So wunderbar ist diese Bruchbude nun auch wieder nicht."

"Jack.", stöhnte Hares und stand auf, um das kleine Fenster zu öffnen und ein wenig frische Luft herein zu lassen. Das Fenster zeigte genau zum Hof hinaus und das, was Hares zu sehen bekam, ließ ihn erstarren.

"Was ist los?", fragte Jack, dem das plötzlich sonderbare Verhalten nicht entgangen war. Er stellte sich neben ihn und versuchte auch einen Blick auf das Geschehen im Hof zu ergattern. Eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, war soeben mit einem prächtigen fuchsfarbenen Pferd eingetroffen. Einige Pfleger halfen ihr von dem Tier und führten dieses in den Stall zurück.

"Bei den Göttern.", flüsterte Hares. "Sie sieht genauso aus wie früher. Welch dämonisches Werk hat Justaka hier nur vollbracht."

Der Tag neigte sich dem Ende zu. Es dämmerte und die täglichen Arbeiten auf dem Gut wurden eingestellt. Die Pferde bekamen gerade ihr Futter und das Vieh kaute auf seinem Heu herum. Die Arbeiter begannen in ihre bescheidenen Häuser zurückzukehren und im Esssaal des Herrenhauses war der Tisch gedeckt. Jeden Moment begann das Abendbrot, bei dem er eigentlich anwesend sein sollte, doch er stand noch immer in seinem kleinen Zimmer und starrte zum Hof hinaus, schon fast seit sie hier angekommen waren.

Jack hatte es sich auf dem weichen Bett gemütlich gemacht und streckte seine Beine aus, während er seinem Begleiter nur dabei zusah, wie dieser aus dem Fenster starrte. Beide blickten so eine Zeitlang vor sich hin, bis es Jack endgültig zu viel wurde und er sich aufrichtete.

"Was ist jetzt?", wollte er wissen. "Wir haben sie endlich gefunden. Wenigstens schon einmal sie und jetzt willst du mir doch nicht etwa sagen, dass wir gleich wieder gehen? Allein?"

Er bekam keine Antwort. Nur weiteres Schweigen, was ihn noch mehr aufregte. Er stand auf und ging ebenfalls zum Fenster, um seinem Begleiter in die Augen sehen zu können. Doch er blickte nur in ein Gesicht, dessen Besitzer längst nicht mehr mit seinen Gedanken im Hier und Jetzt war.

"Die Prophezeiungen werden sich erfüllen, Jack."

Dieser stöhnte leise. "Prophezeiungen! Wir schenken ein paar Worten Glauben, die auf vergilbten Papier stehen und von Männern geschrieben wurden, die wohl seit Jahrtausenden tot sind."

Bevor Hares darauf reagieren konnte, klopfte es verhalten an der Tür. Dies riss ihn nun doch erschrocken aus seiner Trance. Zu seiner Erleichterung wurden hier Türen allerdings nicht geöffnet, bevor man darum bat und Jack hatte schnell genug reagiert und lag bereits wieder als Wolf zusammengerollt unter dem Fenster. Die Tür öffnete sich, nachdem Hares die Erlaubnis gab und Pépé steckte seinen Kopf hindurch.

"Verzeiht die Störung, Sir.", entschuldigte er sich. "Aber der Lord fragt, wo Ihr wohl bliebet, also schickte er mich hinauf."

"Natürlich, Pépé.", erwiderte Hares. "Ich bin es, der sich entschuldigen sollte. Es geht mir nicht besonders. Wahrscheinlich Reisebeschwerden. Ich muss es versäumt haben, mich für das Abendbrot abzumelden."

"Das ist schon in Ordnung, Sir.", versicherte der Diener. "Benötigt Ihr vielleicht etwas, was ich Euch bringen kann?"

"Nein.", wehrte Hares ab. "Es geht schon. Ich brauche nur etwas Ruhe und es wird mir sicher schon besser gehen. Ich danke dir."

Pépé deutete noch eine leichte Verbeugung an, bevor er wieder aus dem Türrahmen verschwand und die dazugehörige Tür wieder verschloss. Erleichtert atmete Hares aus. Er hätte Lord Bates nicht sitzen lassen dürfen. Es hätte weitaus schlimmer kommen können, doch er war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob er fähig war diese Sache weiter durchzuziehen.

"Wir werden gehen.", wandte er sich an Jack. "Jetzt sofort. Allein."

"Aber...", versuchte Jack ihn aufzuhalten.

"Kein Aber." Diese Worte waren deutlich genug und so nickte Jack nur stumm ohne etwas zu sagen, auch wenn man ihm ansehen konnte, dass es ihm ganz und gar nicht gefiel. Sie konnten nicht schon wieder umsonst hier gewesen sein. Sie würden nie ihre Ziele erreichen können, sollte Hares weiterhin solche Probleme dabei haben. Es war jetzt ihre einzige Möglichkeit. Es gab keine Zweite.

Sie schlichen sich an den Dienern vorbei aus dem Haus, was kein Problem war, da sie Beide schon einigermaßen geübt in solchen Dingen waren. Auch im Hof gab es keine Zwischenfälle. Um diese Zeit waren die Meisten mit ihrem Abendessen beschäftigt oder sogar schon fertig. Nur im Stall erwartete sie eine ungeplante Überraschung.

"Ihr wollt uns schon verlassen?", fragte eine junge Frau im Dunkeln des Stalls stehend. Jung, hübsch mit ihrem langen, gelockten Haar. Neben ihr hielt sie ihre Fuchsstute, bereits gesattelt und zum Aufbruch bereit.

"Was geht hier denn vor?", verlangte Jack zu wissen, nachdem er sich von dem ersten Schrecken erholt hatte. Für einen Moment glaubte er, sie seien entdeckt worden und müssten ihr heimliches Verschwinden zu einer hastigen Flucht steigern.

"Ich glaube nicht, dass du es bist, der eine Antwort auf diese Frage verdient hätte.", entgegnete Faith, die Tochter von Lord Bates. Vielleicht hatte sie sich schon ein wenig zu sehr an das Leben der Großlords gewöhnt.

"Was für ein Benehmen ist das, sich hinter dem Rücken seines Gastgebers aus dem Haus zu schleichen. Noch dazu, wenn man sich vorher mit falscher Identität hinein geschlichen hat." Sie zögerte kurz. "Mein Vater würde es sehr übel nehmen, wenn er davon erfahren würde."

"Und wenn schon." Jack berührte es nicht in irgendeiner Art, was sie heraus gefunden hatte. Es war ihm nicht peinlich, er schämte sich nicht dafür, nein, er hielt es nicht einmal für besonders falsch. Es waren nur Menschen, die sie betrogen hatten und dass zwar nicht zum ersten Mal, aber bei Menschen gab es andere Maßstäbe für Recht und Unrecht. "Du solltest es gar nicht wissen. Also, was machst du dann hier? Und was hast du überhaupt vor? Sieht nicht so aus, als wolltest du uns aufhalten."

"Das heißt nicht, dass ich es nicht könnte, wenn ich es wollte.", stellte sie klar. Auch wenn sie zugeben musste, dass sie sich da nicht so sicher war. Jack schnaubte nur verächtlich, doch sie ignorierte es. "Ich weiß inzwischen vieles, was ich nicht wissen sollte, weil es einfach nicht zu den Erinnerungen meines Lebens gehört. Trotzdem ist es da, wie als wäre ich dabei gewesen. Es passierten viele merkwürdige Dinge in letzter Zeit und heute wundert mich gar nichts mehr. Die einzige Hoffnung für unbeantwortete Fragen eine Lösung zu finden besteht wahrscheinlich nur darin, dass ich mit euch komme. Seid ihr deswegen nicht auch gekommen, Gesh'Nekat?"

Sie sah dem Mann, der sich als Lord Hares ausgegeben hatte, fest in die Augen, doch bevor dieser ihr antworten konnte, kam ihm Jack zuvor.

"Ach ja? Da muss ich leider sagen, dass ich da bestimmt nicht ganz glücklich mit wäre.", bemerkte er, doch er wusste jetzt schon, dass diese Entscheidung ganz bestimmt nicht bei ihm lag.

Im Hintergrund hörte man ein zögerndes Räuspern, bevor Faith erneut etwas sagen konnte. Ein älterer, kleiner Mann trat vorsichtig einen Schritt vor. Sein ergrautes Haar hing ihm wirr um den Kopf herum.

"Ich möchte ja nicht stören.", mischte sich Arthur MacConnel ein. "Aber ich würde vorschlagen, ihr setzt euer Gespräch später weiter, damit wir hier jetzt ganz schnell verschwinden können. Die Pferde werden langsam ungeduldig. Ich möchte nicht, dass die hier die ganze Umgebung wieder aus den Betten holen."

"Was ist mit eurer Kutsche?", erinnerte Faith.

"Oh, die war nur geliehen.", behauptete Jack. "Ihr Besitzer wird sie sich schon abholen kommen, glaube mir."

"Arthur hat Recht, wir sollten keine Zeit mehr verschwenden.", meinte Nekat, der bisher wortlos auf seinem Platz verharrt hatte. "Wir müssen vorsichtig sein."

"Ganz wie du meinst, ganz wie du meinst.", bestätigte Arthur. "Nur habe ich ein ziemlich ungutes Gefühl in letzter Zeit und ich frage mich, woher das wohl kommen mag. Ich glaube, ich kann's euch sagen. Mein Magen meldet Alarmzustand. Das tut er immer, wenn irgendetwas in der Luft liegt. Und jetzt braut sich ein ganzes Gewitter über unseren Köpfen zusammen. Ich halte es für gar nicht klug in die Nacht hinein zu fahren, aber ich weiß, was sollen wir sonst tun?"

"Du sagst es, Arthur."

Bevor sie den Stall verließen trat Jack noch einmal auf Nekat zu. "Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber ich mag sie jetzt schon nicht. Glaubst du in Caparian City wird es besser?"

"Lass es gut sein, Jack.", bat Arthur, als Nekat nur wortlos an ihnen vorbei ging. "Wir müssen den Jungen erst einmal finden."

Das kleine Tal lag abgeschieden weit fort von den übrigen Abenteuern, die noch in diesem jungen Land Zahur geschahen. Trotz seiner Nähe zur mächtigen Hauptstadt Caparian City, die wie aus einem Märchen entsprungen schien so zauberhaft war sie, schien die Zeit still zu stehen und Dinge wie Politik oder andere Probleme hatten keinen Zugang. Dabei war das Tal nicht einmal sehr klein, doch es schien aus unersichtlichen Gründen einfach aus der Geschichte verschwunden zu sein. Es wurde von einem kleinen Gebirge umfasst, das so klein war, dass man es fast noch als eine Hügelkette beschreiben konnte, doch einem ahnungslosen Wanderer bot sich ein überraschender Anblick nachdem er das Hindernis überwunden hatte.

Drei kleine Dörfer lagen eng beieinander und eine riesige Schutzmauer, so groß, dass sie an Länge selbst die Mauer Caparian Citys übertraf, zog sich um alle drei. Auch wenn sie völlig sinnlos war, denn das Tal war so unbekannt, wie nichts anderes und wenige Feinde würden überhaupt auf die Idee kommen es anzugreifen, so unwichtig erschien es. Nur einige Händler, die ihr Handwerk verstanden und wussten, wo sie nach wertvoller Ware suchen mussten, kannten dieses Tal, das bei ihnen wegen dem hervorragenden Obstanbau bekannt war. Hier gab es die besten Äpfel und Birnen und aus den Trauben der Weinberge wurde der beste Wein gegoren. Nur Getreide war eine Mangelware, denn der Boden war schlecht und diente nur dem Vieh und den Obstplantagen.

Die Leute lebten ein glückliches und ruhiges Leben und waren zufrieden mit dem, was sie hatten. Nur die Jüngeren zog es hinaus in die weite Welt und selten kamen sie wieder. Doch das störte kaum, denn es blieben auch genug, um die wirtschaftlichen Betriebe aufrecht zu erhalten. Es störte sie ebenso wenig, dass sie so selten Besuch erhielten, wie der Umstand, dass fast niemand sie kannte.

Sie fühlten sich sicher. Doch sie waren ihrer Sicherheit betrogen. Es gab viel mehr, die von diesem Tal und was es beherbergte wussten. Mächte, die stärker waren als selbst die mächtigsten Könige der Menschen, die dieses Land bevölkerten, denn in dem Tal gab es noch Etwas, was seine Einwohner bisher aber als völlig unwichtig betrachtet hatten. Ein Stück abseits von dem westlichsten Dorf stand auf dem einzigen Hügel innerhalb des Tales eine zerstörte Burgruine. Einst musste sie prächtig und groß gewesen sein, doch jetzt war sie zerfallen und hässlich. Der südliche Teil fehlte, als wäre er von einem Blitz abgetrennt worden. Das Gestein war von einem solch finsteren Schwarz, dass man nicht glaubte, dies wäre nur von einem Feuer herbeigeführt. Die Ruine war ein schändlicher Fleck inmitten der Schönheit des Tales. Als wäre ein Maler auf seinem noch nicht vollendeten Kunstwerk mit einem Pinsel ausgerutscht und hätte nichts mehr retten können. Die Menschen mieden diese Burg so gut es ging. Sie hatten vielleicht ein wenig Furcht vor ihr, doch dies würden sie niemals zugeben, denn sie betrachteten es als albern Angst vor einer zerstörten Burg zu haben. Sie hatten keine Ahnung, was diese Burg einmal war und wozu sie erbaut wurde. Sie wussten nur ihren alten Namen, den sie für sie beibehielten: Moragán.

Ebenfalls hatten sie keine Ahnung davon, wie viele Augen beunruhigt immer wieder zu dieser Burg herüber wanderten und dies war vielleicht ihr Glück, denn sonst hätten sie allen Grund gehabt sich zu fürchten.

In diesem Tal lebte auch David Summers, der für die Geschichte des Landes Zahur wichtiger geworden war, als er selbst wusste. David war jung. Einundzwanzig Jahre zählte sein bisheriges Leben, aber seine Eltern mussten mit Missmut erkennen, dass sich ihr Sohn noch wesentlich jünger benahm und mit Erschrecken mussten sie feststellen, einen der abenteuerlichsten Jungen des Dorfes großgezogen zu haben. Ihre Angst lag darin, dass er ihr einziger Sohn war und sie fürchteten, er könne ebenfalls gehen. Weit fort, da er es in der Enge dieses noch so großen Tales nicht aushalten würde. Dann würde es niemanden mehr geben, der den Stolz der Familie, den mühsam aufgebauten Gutshof, übernehmen würde.

Davids bester Freund war Pitch, dessen eigentlicher Name Peter MacCourtey lautete. Mit ihm zusammen geriet er immer mehr in die Missgunst der ansässigen Bevölkerung, denn die Streiche und Unternehmungen der Jungen, gingen meistens auf ihre Kosten. Nicht selten mussten die besorgten Eltern sich Beschwerden anhören, dass ihre Jungen sich doch nun endlich wie ausgewachsene Männer benehmen sollten und die Eltern gaben dies an ihre Söhne weiter, doch diese kümmerten sich nicht darum. Zumindest David kümmerte sich nicht darum und stiftete Pitch zu neuen Taten an. Das Problem von Pitch war, dass er schon immer der Langsamste und Ungeschickteste war und so war immer er es, den man erwischte, aber zu seinem Glück konnte er sich auch immer wieder darauf verlassen, von David wieder herausgehauen zu werden.

Davids größtes Geheimnis, welches er sicherlich mit nie jemandem teilen würde, auch nicht mit seinem besten Freund Pitch - erst Recht nicht mit ihm, denn er würde es nicht lange für sich behalten - waren zwei seiner anderen Freunde. Sie waren nicht so wie Pitch. Sie hatten wirklich nicht viel gemeinsam und der größte Unterschied zwischen ihnen war die Größe. Davids zwei Freunde waren nämlich nicht sehr viel größer als eine Flasche Wein, auch wenn sie keine Probleme damit hätten eine solche auszuleeren, denn sie waren Kobolde und so war es auch verständlich, weshalb David sie als eines seiner Geheimnisse hütete. Für die meisten anderen Lebewesen dieser Welt, waren Kobolde sehr lästig. Nicht mehr als Ungeziefer, das sich wie Ratten in die Häuser ahnungsloser Menschen schlich und sich als eine Art Untermieter einen warmen Platz suchte. Vor allem waren sie keine angenehmen Gäste. Nicht selten fand ein verzweifelter Hausherr seine Wohnstätte und vor allem die Vorratskammer verwüstet vor. Doch David kümmerte dies kaum. Er selbst besorgte sich Leckereien häufiger als er durfte und dass nicht immer bei sich zu Hause. Mit zwei Freunden, denen es fast überall gelang unbemerkt einzudringen waren diese Aktionen nicht mehr allzu schwer.

Ihre Namen waren Tarry und Céwik. Sie waren Brüder und hatten vor einigen Jahren ihre Reise durch die weite Welt begonnen. Denn man musste wissen, dass sich Kobolde selten immer an einem Fleck aufhielten. Zwar bezeichneten sie einige Orte gerne als ihre Heimat, doch waren sie sehr unternehmungslustig und liebten es immer unterwegs zu sein. Tarry war der Ältere von den Beiden. Er lebte bereits 127 Sommer lang, doch das soll nichts heißen, denn in der Sicht von Menschenjahren waren es bloß 19 Jahre. Sein Bruder war 114 Sommer alt, also erst 17. David lebte die für ihn glücklichste und wohl auch spannendste Zeit seines Lebens zusammen. Bis heute jedenfalls. Danach bekam auch dieses Leben nur noch eine gelangweilte Bemerkung ab.

Es war an einem Tag in der wohl beliebtesten Jahreszeit der Jugend in diesem Tal. Es war später Herbst, die Zeit der Ernten und vor allem der Weinlese. Viele versuchten auf ehrliche Weise ein paar der köstlichen Trauben zu ergattern, indem sie den Weinbauern halfen, diese abzuernten, doch die Bauern waren geizig und David kannte einen besseren Weg an die Früchte zu kommen. In sehr viel zahlreicherer Form. So schlich er sich mit Pitch am frühen Morgen die Hügel hinauf. Getarnt durch dicke Nebelfelder und beladen mit einigen großen Körben. Sie wussten beide, dass die Zeit drängte. Der erste Frost würde schon schnell kommen und bis dahin würden die Trauben bald abgeerntet sein. Vielleicht sogar noch an diesem Tage.

Vergnügt luden die beiden Jungen ihre Körbe voll bis zum Rand und zwischendurch stopften sie sich noch den Mund voll bis ihnen schlecht wurde. Den Bauern würde dies kaum schaden, dass wussten sie. Dieses Jahr war im Vergleich zu den bisherigen nicht schlecht gewesen, sondern im Gegenteil zur Überraschung aller ungewöhnlich ertragreich. An jeder Rebe hingen hunderte von den kleinen Früchten. Es fiel nicht einmal besonders auf, dass einige fehlten. Nur ihre Eltern würden sich wahrscheinlich wundern, weshalb sie ihr Frühstück verschmähten.

Als der Nebel lichter wurde und bereits das Haus des Bauern, dem dieser Hügel gehörte, zu sehen war, machten sie sich auf den Rückweg. Lachend über ihren Erfolg, den sie dem Geizhals abknüpfen konnten und diesmal schien es sogar ausnahmsweise gut zu gehen. Bisher waren sie keiner Seele begegnet und auch gesehen hatten sie niemanden.

Doch dann geschah etwas, mit dem keiner gerechnet hatte und das so unerwartet eintrat, dass es schon vorbei war, bevor man begriffen hatte, was geschah. Auf einmal war es dunkel wie tief in der Nacht und es fing an zu regnen, als würde ein Riese eine ganze Wanne voll Wasser über das Land gießen. Blitze zuckten vom Himmel und schienen jedes Mal auf die Erde einzuschlagen. Wie Trommelschläge dröhnte der Donnerschlag. David tastete nach Pitch und erwischte seine Hand, was ihm jedenfalls bestätigte, dass dieser noch da war, denn sehen konnte man keinen Meter weit. Er hörte, wie ihm jemand etwas zurief, aber das Geräusch des Regens und das erneute Grollen des Donners machten es unmöglich etwas zu verstehen. Pitch beugte sich zu ihm herüber.

"Sieh doch!", brüllte er. Trotzdem klang es wie ein entferntes Flüstern. "Moragán!"

David wandte seinen Blick in Richtung der Burg, glaubte aber nicht in der Entfernung etwas sehen zu können. Doch da täuschte er sich. Das Licht der Blitze erhellte die Dunkelheit, aber sie schossen nur noch in Richtung der Festung und David war sich sicher, dass in der Burgmauer kein einziges Loch klaffte. Er konnte nicht sagen warum, denn es war unmöglich. Er achtete nie auf das zerstörte Gemäuer, dies tat keiner, doch er war sich sicher, der Schutzwall würde zur Hälfte gar nicht mehr existieren.

Gebannt blieb sein Blick daran hängen, bis sich noch etwas ebenso Unglaubliches ereignete. Die Wolken schienen auseinanderzuklaffen, doch hinter ihnen war es noch genauso dunkel wie zuvor. Ein Feuer schien sich in den Himmel zu brennen. Zuerst eine kleine Flamme, doch dann zischte ein Funkenschweif daraus hervor und jagte zwischen den Wolken hindurch. Bögen, Schleifen und Kreise zog er. Keine Ecken nur Rundungen und als er wieder an der Stelle verharrte brannte ein gewaltiger Feuerkreis über ihren Köpfen.

David und Pitch duckten sich erschrocken, aus Angst vor der Hitze, die Feuer normalerweise verursachte. Aber dieses Feuer war nicht warm, nicht kalt. Es war temperaturlos, auch wenn es hierfür nicht einmal ein Wort gab. Nicht einmal Licht spendete es. Als hätte ein Kind ungeschickt mit einem Stift über den Himmel gemalt. Trotzdem zuckten Flammen, die aufstiegen und wieder abfielen in beunruhigender Gleichmäßigkeit. Dieses Feuer war so falsch, wie alles was gerade um sie herum geschah. Neugierig blickte David nach oben und seine Augen brannten, als er in das helle, falsche Feuer blickte. Eine verzerrte Grimasse schien über das Tal zu blicken, die Mundwinkel zu einem höhnischen Grinsen verzogen. Eiskaltes Frösteln lief ihm den Rücken hinunter.

Dies geschah in nur wenigen Minuten. Dann war alles vorbei. Von einem Moment zum nächsten war es wieder hell. Als hätte jemand in die Hände geklatscht und alles, wie einen bösen Zauber beiseite gewischt. Die Vögel zwitscherten fröhlich vor sich hin und eine leichte Herbstbrise wehte zwischen den Bäumen hindurch. Das Tal lag friedlich wie eh und je vor ihnen, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen.

David blickte wieder zur Burg hinauf. Sie stand dunkel und zerstört auf ihrem Hügel. Wie immer. Als wäre nichts geschehen. Das war schon seltsam genug. Was aber noch viel seltsamer erschien, alles um sie herum war trocken. Als hätte es nie geregnet, als hätte es nie ein Gewitter gegeben, das über ihren Köpfen gewütet hatte. Keine Regentropfen glitzerten im Blattwerk oder Gras der sie umgebenden Wiesen. Auch seine Kleidung und Pitchs Kleidung und überhaupt alles war trocken.

"Was war das?", fragte Pitch ein wenig ängstlich.

"Ich habe keine Ahnung." Langsam, Wort für Wort kam dies über Davids Lippen. Er musste sich erst einmal wieder sortieren. Das Geschehene geschehen lassen. Am besten noch in der richtigen Reihenfolge.

Es war selten, dass er keine Antwort wusste. Normalerweise war immer er es, der alles beantworten konnte. Normalerweise war es auch Pitch, der die dämlichen Fragen stellte, die ihm auch jedes Kind beantworten konnte. Kurze Zeit standen sie nur da und starrten auf die Burg. David hatte Schwierigkeiten sich auf etwas zu konzentrieren. Ein Teil von ihm versuchte noch immer das eben Geschehene zu verstehen oder eine Erklärung dafür zu finden. Eine kaum zu kontrollierende Furcht packte ihn auf einmal. Energisch versuchte er sie abzuschütteln.

"Lass uns nach Hause gehen.", murmelte Pitch. Furcht stand auch in seinen kleinen, braunen Augen.

David konnte es kaum glauben. Sie hatten doch eben etwas Unvorstellbares erlebt. Wie konnte man da einfach nach Hause gehen? Sie mussten zur Burg gehen oder irgendwo anders hin und der Sache auf den Grund gehen. Er wollte auf jeden Fall wissen, was geschehen war. Doch ein Blick auf seinen Freund verriet ihm, dass dieser nicht begeistert davon sein würde. Außerdem hatten sie noch die Körbe voller Trauben, wie David plötzlich bewusst wurde. So durfte sie keiner erwischen. Es galt die erbeutete Ware erst einmal in Sicherheit zu bringen. Seufzend folgte er Pitch, der sich schon ungeduldig auf den Weg gemacht hatte.

Der Tag war noch nicht lang, doch die Gruppe um Nekat war schon lange unterwegs. Sie hatten sich kaum eine Rast gegönnt, waren bis tief in die Nacht hinein geritten und schon mit der ersten Dämmerung wieder aufgebrochen. Denn der Wald um sie herum lebte. Nicht das eigentliche Leben, was im Wald gewöhnlich anzutreffen war. Es war eine andere Art von Leben. Eine weitaus höhere, weitaus gefährlichere. Sie konnten es um sich herum spüren, manchmal sogar hören und ihnen entgingen nicht die Blicke aus kleinen, bösartigen Augen, die sie ununterbrochen verfolgten. Doch diese Augen wagten es nicht sich ihnen entgegenzustellen. Sie waren feige und griffen meist nur einzelne Wanderer an. Außerdem fürchteten sie das Feuer, das die ganze Nacht über in Gang gehalten wurde. Diese Feuer machte sie rasend, denn sie hätten zu gern die Möglichkeit genutzt zumindest an die Pferde heranzukommen, während ihre Bewacher schliefen. Doch einer blieb immer wach und machte nicht die Anstalten einschlafen zu wollen oder gar müde zu sein. Das gefiel ihnen nicht und machte selbst ihnen Angst, also hielten sie Abstand und lauerten in der Dunkelheit.

Doch nun war früher Tag und die nächtlichen Gefahren zogen sich in die Bäume zurück. Bereit auf die nächste Nacht zu warten. So beeilte sich die kleine Gruppe, die über die östliche Handelsstraße eilte. Sie mussten es schaffen noch an diesem Tag den Wald wieder zu verlassen, denn niemand war begeistert davon noch ein Nacht hier zu verbringen.

"Können wir nicht bald wieder eine Pause machen?", fragte Faith, die mit ihrer Fuchsstute immer weiter hinten blieb.

"Bald?", fuhr Jack zu ihr herum. "Wir sind gerade erst losgegangen."

"Ich bin todmüde.", beschwerte sie sich. "Ich habe in der letzten Nacht kaum geschlafen und wir waren gestern schon den ganzen Tag unterwegs. Ich bin es nicht gewohnt so lange auf dem Pferd zu sitzen und mir tut schon alles weh."

"Oh, verstehe.", meinte er. "Und da glaubt die Dame jetzt, wir könnten mal eben einen Tag rasten, damit sie sich von ihren blauen Flecken erholen kann. Du kannst gerne wieder nach Hause gehen, wenn dir das lieber ist."

Sie warf ihm nur einen giftigen Blick zu, bis ihr einfiel, was sie darauf erwidern sollte. "Ich werde ganz bestimmt nicht nach Hause gehen.", fauchte sie ihn an.

"Schade.", seufzte er. "Habe mir schon Hoffnungen gemacht. Dann solltest du aber auf deine Pause verzichten, sonst könnte es sein, dass du uns in der Zeit nicht wiederfindest. Wir werden nämlich nicht halten, weil keiner von uns Lust hat noch eine Nacht in diesem Wald zu verbringen."

"Ich weiß nicht.", mischte sich Arthur ein. Er saß mit seinem bisschen Gewicht auf dem Gepäckpony und kaute auf einem schmalen Streifen Brot. Wie die meisten älteren Leute ließ er sich Zeit bei seinem Frühstück und es störte ihn auch nicht, dies auf dem Pferderücken fortzuführen.

"Lieber in diesem Wald als auf dem offenen Feld. Hier gibt es nur Höllenteufel. Mit denen kann man fertig werden, wenn man weiß wie. Doch dort draußen treibt sich sonst was rum und einer von denen ist wahrscheinlich Justaka persönlich. Was wollt ihr tun, wenn wir einem seiner Schergen gegenüber stehen? Kämpfen? Zu zweit? Sie ist nur ein Mädchen und ich bin nur ein alter Mann. Auf uns könnt ihr euch nicht verlassen."

"Ich denke, dann möchte ich nirgendwo mehr hin.", überlegte Faith.

"Nirgendwo gibt es nicht.", entgegnete Jack. Aber nur aus reiner Gewohnheit, doch er merkte, dass es nun nicht angemessen war, denn als er zu ihr herüber sah, konnte er die Angst in ihren Augen sehen, die sie bisher versucht hatte zu überspielen. "Wenn wir hier erst mal durch sind, kommen wir an einen Ort, wo sich so schnell keiner von denen rumtreibt."

Arthur lachte trocken. "Red' dem Mädchen doch nicht solch einen Unsinn ein.", widersprach er. "Bis dahin müssen wir erst einmal durch halb Zahur und wenn wir dann endlich angekommen sind, wissen wir auch noch nicht, wie es weitergeht."

Faith erwischte sich dabei, wie sie einen zaghaften Blick den Weg zurück warf, doch sie biss die Zähne zusammen und zwang sich wieder geradeaus zu sehen. Sie würde nicht wie ein Feigling wieder nach Hause kriechen. Nein und wenn nur deshalb nicht, da sie Jack nicht diesen Gefallen tun wollte.

DER UNTERGANG

Zügig schritt Wirhnö durch die dunklen, weiten Gänge. Draußen stand die Sonne an ihrem höchsten Punkt, doch ihr Licht schaffte es nicht durch die Fenster zu dringen. Diese waren nur dafür bestimmt frische Luft in die Gemäuer der Burg zu lassen. Aber auch dies war im Grunde sinnlos, denn der oberste Herrscher brauchte keine Luft zum Atmen. Eigentlich brauchte er gar nichts. Auch der Bau dieser Burg war unnötig. Niemand konnte ihn angreifen oder gar verletzen.

Niemand mehr.

Es gab keine Waffe, die mächtig genug war ihm zu widerstehen. So schritt er fort in seinem Siegeszug.

Nach einer kurzen, unbedeutenden Unterbrechung.

Keiner konnte oder wagte es sich ihm in den Weg zu stellen. Niemand. So gehörte der alleinige Ruhm ihm und um seine Macht noch deutlicher zeigen zu können, ließ er diese Burg bauen.

Fortsetzung des Baus nach einer kurzen Verzögerung.

Als Zeichen, damit jeder wusste, er war hier.

Er war zurück.

Bereit den Abschaum dieser Welt, zum größten Teil aus seinen Feinden bestehend, endgültig hinweg zu fegen. Denn Feinde hatte er. Es gab gewisse Leute, die seinen Ruhm befleckten. Die es doch tatsächlich wagten ihm Widerstand zu leisten. Doch sie waren unbedeutend. Kleine Punkte. Kaum zu sehen und doch waren sie da. Und vor allem einer von ihnen. Der Verräter.

Er hörte nicht auf den Ruf, der ihn zurückholen sollte.

Deutlich hatte Wirhnö sein Bild vor sich. Sein eigener Bruder. Wie konnte dieser nur. Er war ein Narr gewesen und würde eines Tage noch bitter dafür bezahlen müssen. Wenn er nicht vorher zu Vernunft kommen, seine Fehler büßen und für die richtige Seite kämpfen würde. Vielleicht, ganz vielleicht würde der oberste Herrscher ihm dann verzeihen. Tief in seinem Herzen hoffte Wirhnö, dass er zurückkehren würde. Doch konnte er es sich nicht leisten, offen seine Gefühle zu zeigen. Seinem Herrn würde das nicht gefallen. Ganz und gar nicht. Also lebte er allein weiter. Für sich. Aber Wirhnö spürte, dass eine Begegnung zwischen ihnen nicht mehr weit entfernt war.

Nur, was sollte er dann tun?

Er verscheuchte diese Gedanken. Sie benebelten seinen Geist. Ließen ihn nicht mehr klar denken. Er beschleunigte seine Schritte etwas. Wenn sein Herr ihn rief, konnte er ihn nicht warten lassen. Die Menschen, denen er begegnete, wichen scheu vor ihm an die Mauern, um ihm Platz zu machen. Sie fürchteten ihn und diesen Umstand genoss er. Es waren nur Arbeiter, die der oberste Herrscher beschäftigte, um eine Burg zu bauen. Sie waren unbedeutende Geschöpfe. So unbedeutend, wie fast alle Geschöpfe dieser Welt. Wertlos.

Vor ihm befand sich plötzlich eine große, zweiflügelige Tür. Sie reichte fast bis zur Decke, lief oben spitz zu und war aus schwarzem Gestein gehauen. Wirhnö hatte noch nie zuvor solches Gestein in seinem Leben zu sehen bekommen. Vielleicht war es auch gar nicht schwarz. Vielleicht wirkte es nur so dunkel, wie fast alles hier dunkel wirkte. Dunkel und trostlos.

Die Flügeltüren öffneten sich wie von selbst. Sie taten es wohl auch, denn kein Mensch würde es schaffen sie durch seine eigene Kraft zu bewegen. Wirhnö trat einen Schritt zur Seite, um dem Gast, der ihm ohne viel zu sprechen gefolgt war, zuerst durch die Tür treten zu lassen. Dem König der Menschen. Stolz kam er in den Raum, der riesiger war, als alles andere, was je im Lande Zahur erbaut worden war. Wenn jemals einer den Blick bis an die Decke heben würde, würde er denken sie stiege bis in die Unendlichkeit. Turmartig schraubte sie sich immer weiter in die Höhe, bis zu einem Loch. Durch dieses Loch schienen ab und zu ein paar Sonnenstrahlen. Doch sie erreichten den Boden nie, denn sie wurden von einer dunklen Wolke abgefangen, die düster und bedrohlich den Raum bedeckte.

"Mach die Tür hinter dir zu.", ertönte eine Stimme aus dem dunklen Raum. "Es wird kalt."

"Das liegt daran, dass er hereingekommen ist.", antwortete eine zweite Stimme aus einer der hinteren Ecken.

"Es wird um zehn Grad kühler, wenn er einen Raum betritt.", bestätigte eine weitere Stimme. Die Augen hatten sich noch nicht lange genug an die Dunkelheit gewöhnt, um die Sprecher erkennen zu können, doch Dretir, der Dämon des Hungers, drehte sich zu den Eingetretenen herum und diese konnten seine dunkel-rot glühenden Augen sehen.

Neben sich hörte Wirhnö ein dumpfes Grollen. "Denn es fehlt jemand.", stellte Xan'Ysir, der Dämon der Verwüstung fest. "Zum Ausgleich."

Als Atúl, König der Menschen, sich zu Ysir herum drehte, stockte ihm der Atem. Ysir war riesig. Er hatte Schultern so breit wie ein Berg, mochte man meinen. An seinen muskelbepackten Armen hingen zwei Fäuste, die in der Lage waren mit einem Hieb dicksten Stein zu durchschlagen. Seine gesamte Gestalt war weit über zwei Meter groß, doch nur wenn er sich aufrichtete, wurde einem dies bewusst, denn er ging meist vorneübergebeugt. Wenn er einige Schritte trat, zitterte der gesamte Boden unter seinem Gewicht.

Aber Wirhnö war an ihn gewöhnt und zuckte nicht einmal mit der Wimper, als Ysirs gewaltige Stimme in seinem Ohr dröhnte, auch wenn sich der Dämon stets bemühte möglichst leise zu sprechen. Doch dies gelang ihm selten und so hörte sich seine Stimme aus der Nähe wie ein entferntes Gewitter an.

"Egal. Dann soll er doch draußen bleiben.", protestierte Rel, der Dämon der Krankheit über das Land brachte, erneut. "Sonst hole ich mir noch eine Erkältung."

"Stell dich nicht so an!", fauchte Dretir. "Wir haben uns um andere Dinge zu kümmern, als um solche Niedrigkeiten."

"Oh, hört, hört.", gab Rel zurück, der mit keinem gut Freund war. Nicht einmal mit Angehörigen seiner eigenen Sippe. "Der Meister spricht. Niedrigkeiten, nennt er diese. Was er wohl damit meinen mag? Ich beschäftige mich mit wichtigen Dingen, doch scheint er nicht unterscheiden zu können, was wichtig ist und was nicht."

Ein leises Knurren kam aus Dretirs Kehle, denn ihm passte nicht, wie viele Worte Rel in den Mund nahm. Es herrschte eine strenge Rangordnung zwischen den Dämonen und Dretir nahm sich vor, sich um ihre Einhaltung zu kümmern. "Setz dich auf deinen Platz und schweig.", drohte er, während er ein paar Schritte in Rels Richtung tat.

Doch bevor sie sich beide an die Kehle gehen konnten, denn Rel war versucht Dertirs Machtstellung zu prüfen, ertönte ein tiefer, dumpfer Schlag, als ein harter Stab auf den steinernen Boden geschlagen wurde. Eine tiefe Stimme tönte durch den Saal. Eine Stimme, die fast die Kraft von Ysir besaß.

"Schluss!", forderte sie ohne möglichen Widerstand. "Was soll denn unser lieber Gast von uns denken?" Und Anrar, der mächtigste unter den Dämonen, mächtiger als selbst Justaka, trat aus der Dunkelheit.

Trotz das Anrar, die Stimme Justakas, denn Justakas Stimme selbst war todbringend, eine noch beeindruckendere Gestalt als Ysir war, auch wenn noch lang nicht so stark, schenkte ihm Atúl kaum Beachtung.

"Der erste Eindruck ist immer der beste, so sagt man doch.", meinte er und hielt Anrars scharfem Blick aus brennenden Augen stand.

"Gib acht, dass du den Mund nicht zu weit aufreißt, Mensch.", warnte der Dämon, nachdem er den König lange gemustert hatte.

"Ich weiß, was ich tue.", hielt der König stand und Wirhnö schenkte ihm einen geringen Teil seiner Achtung, auch wenn er Menschen eigentlich nicht leiden konnte. Kaum hatte Anrar gesprochen, öffnete sich hinter ihm eine weitere Flügeltür, die zwar nicht annähernd so groß wie die Eingangstür war, doch sie war nicht weniger beeindruckend. Durch sie hindurch kam eine kleine Gestalt, greisenhaft, mit langem, schwarzem Umhang, der den gesamten Körper bedeckte, ohne etwas zu erkennen zu geben. Nicht einmal das Gesicht war zu sehen. Nur wenn die Gestalt, die nicht mehr als ein Schemen war, den Kopf hob, sah man das dunkle Glühen in ihren Augen. Dies war Justaka, der oberste Herrscher des Dämonenvolkes.

"Es gibt viel zu besprechen.", begann Anrar. Justaka trat in die Mitte und die Dämonen senkten ihr Haupt. Nur Atúl regte sich genauso wenig, wie der Herrscher selbst. Eine Respektlosigkeit, wie Wihrnö fand, die er sich nicht erlauben sollte. "Das Volk Ulastas windet sich im Widerstand. Sie weigern sich unsere Herrschaft zu akzeptieren. Also werden wir in den Krieg gegen sie ziehen müssen und dies so schnell wie möglich, bevor sie ihre Kräfte neu sammeln können. Lasst uns beraten, über den Untergang der Welt."

DIE VERLORENEN KINDER

Heute war Donnerstag, doch nicht irgendein Donnerstag. Nicht einer dieser Donnerstage, die wie jeder andere Tag auch waren, nein, denn heute ging es nach Caparian City. David war in seinem gesamten bisherigen Leben vielleicht zweimal in der Hauptstadt des Reiches gewesen, doch er hatte viel gehört: Von den endlosen, sauberen Hauptstraßen, an denen an jeder Ecke kleine Bäume gepflanzt waren. Von großen, weiten Plätzen, sonnenüberflutet und erreichbar von allen Richtungen aus. Von den reichen Häusern, in denen die Kaufleute und Gelehrte der Stadt hausten, die in den hellsten Farben bunt gestrichen waren und in deren Fenster überall Blumen hingen. Laternen standen an den Straßen, damit die Stadt auch in der Nacht ihren Glanz nicht verlor. Wächter gingen umher, damit die Lampen nie erloschen. Sie waren berühmt, die hell leuchtenden Lampen von Caparian City. Von dem riesigen Universitätsgebäude hatte er auch schon viel gehört. Angeblich soll die wohl berühmteste Schule des Landes einen Großteil der Stadt vollkommen für sich beanspruchen. Man sagte, nur die Besten der Besten würden es schaffen nur in die Nähe der Universität zu kommen. Sie von innen zu sehen, war nur wenigen gegönnt. Doch man sagte ebenfalls, dass die Studenten zum Großteil die eingebildetsten Leute in der Umgebung waren und das sie so viel von sich hielten, dass sie sich kaum mit anderen abgeben wollten. Die meisten waren keine Freunde der Studenten und gingen ihnen lieber aus dem Weg. Also beschloss David froh zu sein, die Universität nicht bewundern zu können, obwohl er sehr gerne in solch einer prächtigen Stadt wohnen würde.

Nur sein Vater schüttelte stumm den Kopf, als er in den höchsten Tönen von der Stadt schwärmte. "Du hast sie noch niemals gesehen.", meinte er leise mit tonloser Stimme. "Ihr angeblicher Glanz und Ruhm kann über alles Übel hinwegscheinen, doch lasse dich davon niemals täuschen. Ihr Kern mag glanzvoll sein mit seinen reichen Häusern und Plätzen, doch ist dies nur ein sehr kleiner Teil der Stadt. Sieh in die kleinen Gassen, die sich zu verstecken scheinen und die von Wachen abgesperrt werden, damit sich ihre Bewohner nicht mit dem edlen Volke mischen mögen. Der König ist nahe, mein Sohn, und je näher er den Menschen kommt, desto mehr beginnen sie nur noch an sich selbst zu denken. Nur noch ihr eigenes materielles Wohl anzustreben. Wenn du in die Herzen dieser Leute blickst, wirst du sehen, wie falsch und verlogen ihre Herzen sprechen."

Diese Worte stimmten David sehr nachdenklich, denn er wusste, sein Vater sprach selten ohne Grund schlechte Worte. Trotzdem blickte er voller Staunen auf die vier Türme, die sich aus der Stadt erhoben und von weither sichtbar waren. Ihre Kegel glänzten golden in der am hohen Himmel stehenden Sonne. Sie begrenzten den Palast des Königs und eine dicke Mauer verband sie, die niemanden durchließ, der nicht auf Befehl des Herrschers kam.

Ihr König war noch nicht lange König in diesem Land und er musste sich noch zu behaupten wissen. Gerüchte zogen durch die Städte, dass er plane in den Krieg zu ziehen. Welche Gründe ihn bewogen oder gegen wen er zog, dies wusste keiner. Aber man begann abenteuerliche Geschichten zu spinnen. Alles fing harmlos an, mit Banditen, die aus den umliegenden Wäldern vertrieben werden sollten, doch einige begannen zu reden, dass es gegen die Armeen des Nachbarlandes Karimdon gehen sollte und das sich in dessen Hauptstadt Black Town bereits riesige Armeen bereit machten einem Ansturm Stand zu halten. Dieses Geschwätz jedoch glaubten wenige. Dass es Krieg geben würde, so fürchteten viele, denn dies war die übliche Art der Könige zu beweisen, was sie leisten konnten.

David kümmerte sich selten um solche Dinge. Er wusste nicht, was Krieg bedeuten konnte und auch die übrigen Bewohner seines Heimattales scherten sich nicht um solche Dinge, denn sie waren davon überzeugt, weit genug von dem üblichen Geschehen entfernt zu leben. Sie wussten nicht, dass sie irrten. Sie wussten nicht, dass gerade ihr kleines, verlorenes Tal in den Mündern von vielen mächtigen Leuten lag.

Auch David ahnte hiervon natürlich nichts. Jetzt war seine Aufmerksamkeit ganz anderen Dingen zugewandt. Was auch immer sein Vater sagen mochte, Caparian City war ein unvergesslicher Anblick. Vor dem gewaltigen Stadttor stand eine lange Schlange von Wagen, die alle ungeduldig darauf warteten eingelassen zu werden. Doch die Wachen zögerten noch. Der König sei eben erst zurückgekehrt und habe strikte Anweisungen gegeben, dass niemand die Stadt betreten solle, ohne sich ausweisen zu können. Protestierendes Gemurmel machte sich breit. Es würde ewig dauern, bis sich jeder einzelne ausweisen konnte. Gerade eben erst hielten sich die Wachen ewig mit einer kleinen Gruppe auf, die zwar eine merkwürdige Zusammenstellung gab, aber der einzige von ihnen, der sich ausweisen konnte, war ein Lord und konnte seine Zugehörigkeit zur Universität vorweisen. Trotzdem dauerte es eine lange Zeit bis die Wachen sich zufrieden gaben und sie durchließen.

"Wir stehen hier ja noch heute Nacht!", wurden solche und ähnliche Rufe laut. Auch Davids Vater wurde ungeduldig. Doch sie kamen schnell durch, denn nach und nach ließen die Wachen fast jeden mit Waren beladenen Wagen passieren, um zu verhindern, dass der Stau noch länger wurde.

Endlich fuhren sie also über die holprige Hauptstraße und drängelten sich mit hundert weiteren Wagen im Schneckentempo in Richtung Zentrum, wo heute ein riesiger Markt aufgebaut worden war.

"Wir haben nicht viel Zeit.", murmelte sein Vater und David versuchte nicht allzu enttäuscht zu sein. Er wusste, dass Céwik und Tarry sie begleitet hatten und dass diese sicher schon längst in dem Getümmel verschwunden waren, um möglichst viel von der Stadt zu sehen zu bekommen. David beneidete sie ein wenig, denn er hatte sich das Gleiche erhofft.

"Wenn wir auf dem Markt angekommen sind, werde ich versuchen Getreide für unser Obst aufzutreiben. Deine Mutter sucht Stoff. Doch dies ist am anderen Ende. Also wirst du losgehen und dich für sie bei den Preisen erkundigen. Sollten sie angemessen sein, werde ich einige Ballen am Ende kaufen."

David nickte stumm, doch war er kaum fähig etwas von den Worten aufzunehmen. Er wusste nicht, ob er zuerst nach links oder rechts schauen sollte. Alles war neu für ihn und es gab immer wieder weitere Dinge zu entdecken. Es herrschte ununterbrochener Lärm in der Stadt. Pferde wieherten, Kaufleute schrien sich gegenseitig an und lautes Poltern von sich entleerenden Wagen ertönte.

Er wurde aus seinem Staunen herausgerissen, als sein Vater ihn anstieß. "Der Stoffhändler ist gleich dort hinten um die Ecke. Geh schon einmal vor. Wir treffen uns auf der anderen Seite des Platzes bei dem großen Ziehbrunnen. Das wirst du schon hinkriegen."

Wieder nickte David, doch diesmal mit voller Begeisterung. Er sprang vom Wagen und lief eilig zwischen den anderen Gefährten hindurch, bis er den großen Platz erreichte. Hier endete seine anfängliche Begeisterung wieder. Überall standen Karren und Menschen liefen umher. Er konnte kaum etwas sehen. Wenigstens den Ziehbrunnen, von dem sein Vater gesprochen hatte. Er seufzte. Wäre er auf dem Wagen geblieben hätte er jetzt eine Übersicht über den ganzen Platz erhalten.

Schnell jedoch fand er Interesse an den vielen Ständen, die sich um ihn herum aufreihten. Es gab Stände mit Kostbarkeiten aus der ganzen Welt. Kräuter, die man in Zahur nicht fand. Töpfe, Vasen und Schüsseln gefertigt in fernen Ländern. Eisen und Lederwaren aus dem nahen Karimdon. Am liebsten hätte er sich alles ganz genau angesehen, doch er hatte eine Aufgabe erhalten und die hatte Vorrang. Und es war gar nicht so leicht den gesuchten Händler zu finden.

Als er eine Weile vor sich hin geirrt war, wurde sein Blick auf zwei Mädchen gelenkt, die sich unbeholfen durch die dichten Massen bewegten. Sie waren keine Menschen, was auf den ersten Blick zu erkennen war. Ihre schwarzen Haare waren lang und dicht. Sie waren ein ganzes Stück kleiner und zierlicher. Ihre schmalen, dunklen Augen blickten ab und zu flehend zu den Menschen auf, wenn sie um ein wenig zu Essen bettelten. Doch sie wurden davon gestoßen.

"Schert euch weg!", wurde ihnen zugerufen. "Ihr habt hier nichts zu suchen!"

Sie waren Isk. David hatte von ihnen gehört. Ein Sklavenvolk im Land Zahur. Selbst in ihrem Tal gab es schon ein oder zwei. Sie waren ihm genauso fremd, wie vieles andere in dieser Stadt.

Während er weiterging, fiel ihm eine seltsame Gestalt auf, die in aller Eile durch die Menge drängte. Einige empörte Rufe wurden laut, aber die Gestalt kümmerte sich nicht darum sondern lief ungehindert weiter, fast so, als wäre sie vor etwas auf der Flucht. Dabei kam sie David immer näher und er konnte Einzelheiten erkennen.

Ein langer Mantel verbarg fast alle Einzelheiten. Ein brauner Fellmantel, der ein wenig zu groß erschien. Langes, helles Haar fiel in losen Strähnen wirr unter der Kapuze hervor. Unbeholfen und außer Kräften stolperte die Gestalt in ihren dreckigen Stiefeln weiter, bis sie auf einmal vor David stand. Eine halbe Ewigkeit starrte er ihn nur an, fast so als würde er jemanden völlig unerwartet wiedererkennen. David ging es ganz und gar nicht so. Er war sich absolut sicher diesen Mann noch nie zuvor gesehen zu haben und so befremdete ihn dieser Ausdruck in den grünen Augen.

"Nimm das.", keuchte der Mann völlig außer Atem und drückte ihm ein in dreckiges Tuch gehülltes Bündel entgegen. "Versteck es, schnell!"

David starrte ihn wortlos an, doch bevor er etwas sagen konnte, war der Mann schon verschwunden. Weiter eilte er in der Menge herum, ohne ein Wort der Erklärung und David sah ihm nur ratlos nach. Er traf schon eine Menge merkwürdiger Leute an diesem Tag und langsam wurde ihm unheimlich. Neugierig überlegte er eine Weile, ob er nachsehen wollte, was er überhaupt in den Armen hielt, doch dazu kam er nicht.

Pferdehufe hallten über das Steinpflaster und ihr Wiehern kam als Echo von den Hauswänden wider. Die Menschen auf der Straße sprangen entsetzt zur Seite und machten einer Gruppe Reitern Platz. Fünf an der Zahl waren es und bis auf einem gehörten sie der Truppe des Königs an. Nur der Vorderste unterschied sich von den anderen in ihren glänzenden Rüstungen mit ihren roten Umhängen. Seine Rüstung glänzte ebenfalls, doch um weites mehr und sein ganzer Körper schien von ihr geschützt zu sein, so dass es ein Wunder war, dass der Schimmel auf dem er ritt nicht unter seinem Gewicht zusammenbrach. Ein blauer, wehender Mantel umhüllte hin, ließ aber den Blick auf eine reichverzierte Scheide frei. Das mächtige Schwert hielt der Reiter in der Hand. Hocherhoben glitzerte es in der Sonne.

Mit erschrockenen Schreien rannten die Menschen in alle Richtungen davon und als David das Schwert zum zweiten Mal sah, klebte Blut an seiner Spitze. Alles verlief unglaublich schnell hintereinander und David stand nur wie erstarrt daneben. Er hatte noch nie zuvor erlebt, wie ein Mensch einen anderen tötete. Solche Erlebnisse waren fern seiner Vorstellungskraft und er fragte sich, was der jetzt Tote wohl verbrochen hatte, dass er auf offener Straße erschlagen wurde. Als sich die Menge teilte und er einen Blick auf den Verfolgten werfen konnte, lief ihm ein eisiger Schauer über den Rücken und seine feuchten Hände umklammerten das dreckige Bündel in seinem Arm. Ein langer, brauner Fellmantel verbarg die Gestalt fast vollständig, als sie vor dem Schimmel zu Boden ging.

Mit einem plötzlichen Ruck wurde David sofort wieder aus seiner Benommenheit gerissen. Der fremde Reiter drehte sich suchend um und schließlich trafen sich ihre Blicke. David spürte zwei kalte Augen auf sich liegen und er fröstelte, als wäre es um einige Grad kühler geworden.

Gib ihm das Bündel., flüsterte sein Verstand. Das ist es doch, was er sucht. Gib es ihm. Es ist doch nicht deine Sache. Halt dich da raus. Was schadet es dir schon?

David drehte sich um und rannte blindlings davon. Im gleichen Moment preschte der Schimmel los. Rücksichtslos drängte er sich an den Menschen vorbei und wer nicht rechtzeitig aus dem Weg kam, drohte niedergeritten zu werden.

So schnell er konnte lief David in die nächste Seitengasse ohne eine Ahnung, wo er landen würde. Im selben Augenblick reagierten nun auch die Ritter des Königs, wendeten ihre Pferde und nahmen die Verfolgung auf. Die wirbelnden Hufe donnerten über die Straße. Unheimlich schnell hörte er das Schnaufen ihrer Tiere. Näher und näher kamen sie und es schien kein Entkommen zu geben. Erst als er schon ihren Atem im Nacken zu spürten glaubte, warf er sich nach links und presste sich an die Hauswand. Sein Atem ging hastig. Er kam mit dem Luft holen kaum hinterher. Gehetzt sah er sich nach einer Fluchtmöglichkeit um.

Die Gruppe Reiter handelte zu spät. Ihre Pferde rasten noch ein gutes Stück weiter die Straße entlang. Kaum waren sie vorbei, stolperte David in eine kleine Seitengasse, die sich direkt vor ihm befand. Sooft es ihm möglich war, wechselte er die Richtung, um seine Verfolger in die Irre zu führen. Am Ende wusste er selbst nicht mehr genau, wo er war, doch die Huftritte waren nicht mehr zu hören und in eine Sackgasse war er auch nicht geraten.

Erleichtert verlangsamte er seine Schritte und versuchte sich in diesem Labyrinth der dunklen Gassen zu orientieren. Er war in einem ärmlichen Teil der Stadt angelangt. Einem der Orte, von denen sein Vater bei ihrer Ankunft erzählt hatte. Überall war es dreckig und es stank erbärmlich. In einer Rille floss eine zähe, dreckige Flüssigkeit dahin.

Bis jetzt hatte sich noch keine Menschenseele blicken lassen. Das beunruhigte David etwas. Normalerweise begegnete man hier ständig hausierenden Bettlern und vor allem kranken Leuten. Die abgesperrten Bezirke waren überfüllt mit Menschen. Er schüttelte alle unbehaglichen Gedanken von sich ab und konzentrierte sich nur darauf, hier wieder heraus zu finden. Er entschied sich dafür immer nach Osten zu gehen, denn er war sich ziemlich sicher im westlichen Teil der Stadt gelandet zu sein.

Plötzlich hörte er hinter sich ein lautes Schnauben. Langsam drehte er sich herum und starrte den Schimmel an, der wie aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht war. Weißer Schaum tropfte aus dem Maul des Pferdes, seine Nüstern hoben und senkten sich schnell. Die Augen rollten und es schlug nervös mit dem Kopf, doch der Reiter hielt es an Ort und Stelle.

Davids Blick wanderte höher. Das Visier des Helms war nach oben geklappt worden und ein paar blonde Strähnen lugten daraus hervor. Zwei in mattem Rot leuchtende Augen blickten skeptisch auf ihn herab.

Magier., schoss es David durch den Kopf. Noch nie in seinem Leben war er einem begegnet und glaubte an deren Existenz genauso wenig wie an die von spukenden Gespenstern. Es gab Geschichten und dies waren nicht gerade sanfte Gute-Nacht-Erzählungen seiner Eltern.

Blitzschnell traf er die einzig logische Entscheidung, doch als er sich herumdrehte um erneut die Flucht zu ergreifen, gelang es ihm nicht sich zu rühren. Seine Beine waren starr, wie zwei Betonklötze, die sich nicht bewegen lassen wollten. Eine unnatürliche Kälte begann in ihm hinaufzukriechen, griff nach seinem Herzen und schien es einzufrieren. Japsend schnappte er nach Luft, doch jeder Atemzug schien schmerzhaft Eiszapfen in seiner Lunge zu bilden.

"Ich glaube, du hast etwas, was dir nicht gehört.", stellte eine tiefe, harte Stimme fest.

Prophezeiungen der Weisen

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