Читать книгу Prophezeiungen der Weisen - Dörthe Haltern - Страница 3

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Er schien eine Weile zu zögern, doch dann setzte er seinen Weg fort. Für David erleichterte dies den Anstieg, denn solange er sich auf Stalcas Schultern abstützen konnte, schien der Schmerz in seinem Fuß nicht mehr allzu schlimm zu sein.

DERZEIT

Inzwischen war schon eine ganze Zeit verstrichen und sie konnten allmählich sicher gehen, dass David und Stalca nicht allein den Weg zu ihnen zurückfinden würden. Doch ein Sturm drohte aufzukommen und dies machte es fast ebenso unmöglich die Beiden in der endlosen Weite des Ostgebirges inmitten von Schneeschichten finden zu können. Trotz allem waren sie sich einig nicht ohne sie Yesúw zu erreichen. Während sie eine Weile darüber diskutiert hatten was zu tun war, hatte sich Besuch zu ihnen gesellt. Oder besser, sie hatten feststellen müssen, dass ihre Gruppe schon längere Zeit größer war, als zuvor angenommen.

"Ich fasse es einfach nicht.", brummte Arthur vor sich hin. "Wie kann man nur auf die Idee kommen, ausgerechnet Kobolde mit sich herumzuschleppen."

"Weißt du, die Lösung ist ganz einfach.", giftete ihn der Ältere ihrer beiden kleinen Weggefährten an. Seine schwarzen Augen funkelten streitlustig. "Es gibt noch Menschen auf dieser Welt, die völlig unvoreingenommen sind. Die erkennen noch die wahre Größe in einem und sind nett, höflich, offen... tolerant! Die wissen noch, was Kobolde für nützliche Eigenschaften haben."

Jack lachte kurz. "Nenn mir eine!"

Tarry warf ihm nur einen verachtenden Blick zu. "Wir haben David noch niemals verloren.", meinte er triumphierend. "Während wir bei ihm waren, ist ihm noch niemals etwas zugestoßen. Und kaum sind wir für eine kurze Zeit weg, um uns mal die Gegend anzusehen, müssen wir feststellen, dass ein paar inkompetente Menschen ihn einfach verloren haben. Was eigentlich auch kein Wunder ist."

"Vielleicht wäre es besser für dich langsam mal deinen vorlauten Mund zu halten, sonst sehe ich mich gezwungen dir beizubringen, was eine gewisse Höflichkeit ist.", knurrte Arthur.

"Versuchs nur!", rief der jüngere der beiden Kobolde und sprang auf seine Füße.

"Céwik.", hielt Tarry seinen Bruder auf, ohne sich auch nur umzudrehen. "Mach dich hier bitte nicht zum Narren. Aber Recht hat er. Versuchs nur. Damit gestehst du dir nur ein, wie Recht ich doch habe."

"Wir sollten ihn einfach hier stehen lassen.", meinte Jack. "Wäre sicher das Beste für alle Beteiligten."

"Aber wenn wir sie einfach hier stehen lassen, dann werden sie doch erfrieren.", mischte sich Faith ein. "Das kannst du doch nicht einfach so machen."

In Tarrys Gesicht bildete sich nach und nach ein überlegenes Lächeln, doch Jack war klug genug es einfach zu ignorieren. "Faith.", wandte er sich an die junge Frau. "Das ist ja gerade das Problem. Die sterben nicht so einfach. Meistens erst, nachdem du sie einen Kopf kürzer gemacht hast."

"Also bitte!", protestierte Tarry erneut. "Wer ist hier denn höflich und wer nicht?"

Nun schaltete sich auch Peroth ein, der bislang ein Stück mit Rugar abseits gestanden hatte, um eine Lösung für ihr Problem zu finden. Nun wandte er sich in aller Ruhe an den jungen Kobold.

"Wenn ihr dieser Gruppe folgen wollt, so wird euch nichts anderes übrig bleiben, als sich wie ein Mitglied in ihr zu verhalten. Wenn eure Hilfe nötig sein sollte, werdet ihr sie zur Verfügung stellen. Solange der Führer der Führer bleibt und nicht von irgendwem anderes davon enthoben wird, werden seine Befehle bedingungslos befolgt. Auch wenn sie einem gerade nicht in den Kram passen sollten. So lautet die Vereinbarung."

Daraufhin herrschte eine Weile absolute Stille. Tarry und Peroth sahen sich nur stumm an und in dem Kopf des Kobolds schien es eine Weile angestrengt zu arbeiten. Misstrauen blitzte in seinen Augen.

"Entscheide dich schnell, wir haben nicht viel Zeit.", erinnerte ihn der Isk-Meister.

"Was für eine Entscheidung?", murrte Tarry. "Es gibt doch überhaupt keine andere Möglichkeit dazu."

"Na schön, dann wäre das ja geklärt.", bestimmte Peroth, auch wenn er anscheinend nicht auf viel Zuspruch zu treffen schien. Aber niemand sagte etwas. "Jack, du wirst die Beiden mitnehmen."

"Ich?", kam es sofort fassungslos.

"Er?", im gleichen Moment von beiden Kobolden.

"Ja du. Ja er.", entschied Peroth mit fester Überzeugung.

"Aber das sind Kobolde.", erinnerte Jack.

"Aber er ist der Schlimmste von euch allen.", erinnerte Tarry.

"Ihr werdet euch schon verstehen.", ignorierte der Meister das einsetzende Murren. Aber keiner wagte es mehr zu versuchen ihn umzustimmen. Sie wussten, dass es sowieso keinen Zweck haben würde. Eine Entscheidung von seiner Seite aus war eine Entscheidung.

"Wir werden unseren Weg nach Yesúw fortsetzen.", waren fürs Erste einmal seine letzten Worte.

Jack blickte Rugar fragend an, der mit seinem Pferd noch immer an der Seite stand. "Ich werde sie suchen gehen.", erklärte er Jack.

"Du wirst sie nicht finden können." Beide wussten, dass dies die Wahrheit war. Dort draußen war es hoffnungslos auch nur daran denken zu können zwei Vermisste wiederzufinden.

"Ich werde sie finden müssen.", betonte Rugar.

"Soll ich mitkommen?", fragte Jack. Er sah es nicht ein tatenlos hierzubleiben, außerdem wäre es eine gute Möglichkeit die Kobolde doch wieder loszuwerden. Obwohl er eingestehen musste, dass Tarry Recht gehabt hatte, mit dem was er sagte. Sie hatten die Verantwortung gehabt.

Rugar schüttelte nur den Kopf. "Es ist sinnlos und viel zu gefährlich. Bleib hier. Ich hoffe es zwar nicht, aber es kann sein, dass sie deine Hilfe hier gebrauchen können. Pass einfach nur auf, dass sie sicher Yesúw erreichen werden."

Jack nickte nur. "Viel Glück.", verabschiedete er sich.

"Bis dann." Rugar wandte sich wieder seinem schwarzen Hengst zu und führte das Pferd vorsichtig den steilen Pfad aus der Schlucht hinaus. Auf freier Fläche saß er auf und galoppierte davon. In eine unbestimmte Richtung, denn wo er mit seiner Suche beginnen würde, war im Grunde völlig gleichgültig. Er hoffte nur, dass die Beiden eine der Höhlen in der gegenüberliegenden Bergwand gefunden hatten.

DAVID UND STALCA

Sie fanden die Schlucht tatsächlich genau so vor, wie Stalca sie zunächst beschrieben hatte. Es war keine wirkliche Höhle, aber dennoch eine nicht zu verachtende Einkerbung in den harten, dunklen Stein hinein. So waren sie fast von allen Seiten vor dem treibenden Schnee geschützt. Sie hatten sogar so weit Glück, dass der beißende Wind aus Westen kam, während sich ihre Zuflucht nach Osten öffnete. Nicht einmal eine dünne Schneeschicht bedeckte den sandigen Boden auf dem sie sich nun gekauert hatten.

Doch all diese Bequemlichkeiten änderten nichts daran, dass sie bereits seit einem Tag in der eisigen Kälte festsaßen und allmählich auch der hartnäckigste Wärmespeicher aufgebraucht war. Solange sie sich noch bewegten war es einigermaßen erträglich, doch während sie nur so dasaßen und wieder einmal den tobenden Sturm um sie herum abwarteten, schienen sie bald am Boden festzufrieren, so sehr schlotterten sie vor sich hin.

Stalca fragte sich schon die ganze Zeit über, weshalb er eigentlich an diesen Ort zurückgekehrt war. Er wollte sich nicht eingestehen, dass er nur umgekehrt war, um diesen Menschen nicht allein in der Wildnis zu lassen. Peroth wäre wohl furchtbar wütend gewesen, wenn er ihm erzählen musste, er habe einen schutzlosen Verletzten zurückgelassen und jedwede Gründe wären ihm sicher egal gewesen. Doch Stalca musste sich irgendwann eingestehen, dass er wohl nicht deswegen umgekehrt war. Ein Mensch wäre es ihm nicht wert gewesen solche Umstände in Kauf zu nehmen, nur um sich hinterher Ärger entziehen zu können. Tief in seinem Inneren begannen die Worte des alten Isk-Meisters bereits ihre Wirkung zu tun.

Beurteile die Wesen dieser Welt nicht nach ihrer Rasse., so lauteten sie. Gut oder Böse entscheidet sich nicht in Aussehen oder Herkunft. Eine Elfe kann ebenso hinterhältig wie ein Kobold sein. Ein Mensch muss nicht so schlecht sein, wie es ein anderer ist. Siehe deinem Gegenüber niemals ins Gesicht, sondern blicke bei deiner ersten Begegnung gleich in sein Herz. Nur dort wirst du sein wahres Wesen und seine wahren Absichten erkennen können.

Stalca war sich damals nicht sicher gewesen, ob dies wirklich zutreffend war. Bisher hatte er in seinem Leben keine andere Erfahrung erhalten. Aber nun war er sich dessen nicht mehr sicher. Er glaubte tatsächlich Menschen begegnet zu sein, die in seinen Augen einfach keine Menschen sein konnten, da sie sich zu sehr von denen unterschieden, die ihm bisher begegnet waren. Seit er mit Peroth unterwegs war, schien sich mit einem Mal alles in ihm umzukehren. Er dachte über Fragen nach, über die er bisher niemals nachgedacht hatte. Und manchmal kamen ihm Antworten auf einige dieser Fragen in den Sinn, die schon gar nicht mehr zutreffend waren. Es war für ihn, als müsste er die Welt von ganz vorn kennenlernen, denn sie war ihm mit einem Mal so furchtbar fremd gewesen.

Noch immer fragte er sich allerdings, ob der Wald Naksa, von dem Peroth nie müde wurde zu schwärmen, wirklich so existieren konnte, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Es war kaum vorstellbar, vielleicht war es doch nur ein Trugbild, eine wilde Utopie in Peroths Wünschen und die Wirklichkeit war eigentlich etwas ganz anderes.

Naksa ist ein Traum., hatte Peroth es ihm zu erklären versucht. Aber ein wirklicher Traum, den du leben kannst. Nur jedes Mal, wenn du seine Grenzen überschreitest, wirst du mit aller Gewalt herausgerissen und musst erkennen, wie wenig dieser Traum wahr zu sein scheint. Trotzdem bleibt Naksa das, was die Welt sein sollte und es wird die Aufgabe aller sein, die nur einmal diesen Boden betreten haben, diesen Traum um alles in der Welt zu schützen und niemals untergehen zu lassen. Denn dann wird auch der letzte Frieden dieser Welt verlorengegangen sein. Es gab schon viele dieser Träume. Silver Rain ist nur einer von denen die gescheitert sind.

Stalca war schon mehrmals aufgefallen, wie oft Peroth den Namen dieser mysteriösen Stadt nannte, aber noch niemals hatte er erklärt, was es mit ihr auf sich hatte und was genau dort geschehen war. Und er hatte auch niemals gewagt zu fragen, denn Peroth schien es auch nicht wirklich erklären zu wollen. Zu viel Schmerz schien mit dieser Sache zusammen verbunden zu sein und so hielt er den Mund.

"Ich hätte niemals mitgehen sollen.", riss ihn David aus seinen Gedanken heraus.

Ein wenig widerwillig drehte Stalca sich zu ihm herum. Inzwischen war bereits alle Farbe aus Davids Gesicht und Händen gewichen und würde sich nicht ein allmähliches blau breit machen, wäre er sicher genauso blass wie der Schnee draußen. Wenn er nicht erfror, würde er an seinem Fieber sterben. Ein wenig musste Stalca ihn schon bewundern. Er hätte nie gedacht, dass der Mensch mit solch einer Kraft und Verbissenheit durchhalten würde. Aber ob er dies auch noch am kommenden Tag schaffen würde war eine andere Frage.

"Meine Eltern werden sich zu Hause schreckliche Sorgen machen. Zuerst wird mein Vater wütend gewesen sein, da er mit Sicherheit dachte ich würde wieder einmal die Zeit vertrödeln. Wir waren auf dem Markt und ich sollte eigentlich nur nach Stoffpreisen Ausschau halten. Er wird eine lange Zeit gewartet haben, nachdem er selbst nach dem Stoff gesehen hätte. Dann würde er anfangen mich zu suchen, nur um allein zurückzufahren und glauben, ich würde es schon irgendwie wieder zurück schaffen. Doch nun wird er bereits Tage vergeblich gewartet haben. Und er konnte nicht nach Caparian City zurück, da das Tal noch immer abgeriegelt ist. Vielleicht geben sie sich die Hoffnung, dass ich es einfach nicht rechtzeitig geschafft habe und nun draußen warten muss, bis alles vorbei ist. Ich würde alles dafür geben meiner Mutter sagen zu können, dass sie sich keine Sorgen mehr um mich machen braucht."

"Wo wohnst du?", fragte Stalca, um die Unterhaltung irgendwie fortführen zu können. Auch er spürte die drückende Müdigkeit auf seinen Schultern und sie beide wussten, dass sie nur krampfhaft weiterredeten, um nicht einzuschlafen.

"Kartano.", antwortete David. Stalca sagte dieser Name nichts. Doch bevor er darauf eingehen konnte, fuhr David schon fort. "In einem Tal nordwestlich von Caparian City. Ganz in der Nähe steht eine zerstörte Burg. Ihr Name ist Moragán. Doch irgendetwas stimmt mit ihr nicht."

Stalca schwieg darauf nur. Dieser Name sagte ihm etwas. Er war nicht unbekannt in den Legenden seines Volkes, doch was genau dort vor sich gegangen war, wusste er auch nicht. Also machte es für ihn keinen Sinn dieses Thema anzusprechen.

"Wieso wolltest du nicht hierher? Was war hier?" Davids Stimme war nur noch schwerfällig und schleppend.

Eigentlich zog es Stalca vor sich dies alles nicht mehr in Erinnerung rufen zu müssen, doch was machte das noch. Inzwischen blieb er in den Nächten auch nicht mehr davon verschont.

"Es ist schon ewig her. Damals war ich mit meinem Vater hier unterwegs. Er wollte mit mir nach Yesúw. Jedenfalls glaube ich das, jetzt, wo ich weiß, dass es ganz in der Nähe liegt. Wir lebten schon immer hier im Gebirge. Jedenfalls solange, wie ich mich erinnern konnte. Nur ab und zu kamen wir bis in die Täler hinein, wenn wir nicht mehr genügend zu essen finden konnten. Menschen waren lange Zeit nie das Problem gewesen. Wir konnten ihnen immer aus dem Weg gehen und waren ihnen so nie wirklich begegnet, doch mit einem Mal änderten sie sich. Sie wurden zahlreicher und schienen auf einmal nach uns zu suchen, als wüssten sie gerade erst in diesem Moment von unserer Anwesenheit. Ihnen zu entkommen wurde immer schwerer und manchmal entgingen wir nur knapp ihren Augen. Und einmal entkamen wir ihnen nicht. Es war genau hier. Diese Schlucht. Wir gingen hinein, da es keinen anderen Weg mehr gab und wir hofften ihnen hier entkommen zu können. Doch mit einem Mal hörte sie einfach auf. Es ging einfach nicht mehr weiter." Stalca hielt inne und wieder spulte sich das Geschehen vor seinem inneren Auge ab. "Sie haben ihn einfach erschossen.", murmelte er schließlich.

Lange Zeit schwieg er schließlich nur, bis ihm einfiel lange nichts mehr von seinem Begleiter gehört zu haben. "David?" Doch auf seine Anfrage antwortete niemand. "David!" Er bemerkte wie ihm die Augen zugefallen waren und versuchte ihn wieder wachzurütteln.

"Lass mich doch.", brummte David schließlich, doch das war nicht gerade sehr viel hilfreicher.

" Schlaf hier nicht ein, verdammt noch mal!", fuhr Stalca ihn an, doch gleichzeitig fragte er sich, aus welchem Grund er ihn nicht einfach friedlich einschlafen lassen sollte. Weil wir so kurz davor stehen., beantwortete er sich diese Frage selbst. Weil er es war, der so davon überzeugt war, wir würden den Eingang zu Yesúw tatsächlich finden können."Wir müssen weiter.", war alles, was ihm weiterhin einfiel.

"Geht nicht.", entgegnete David. "Es ist noch zu stürmisch draußen."

"Das ist jetzt egal.", versuchte Stalca ihm einzureden. "Sonst werden wir es niemals hier wegschaffen. Wenn wir erst einmal da sind, kannst du solange schlafen, wie du nur willst."

Plötzlich glaubte er in der Dunkelheit eine Bewegung erkennen zu können. Erschrocken fuhr er herum und was er zu sehen glaubte, konnte nur ein Geist sein. Er stand haargenau an der gleichen Stelle, aber nun bewegte er sich mit unheimlich realen Schritten auf sie zu.

Erst später erkannte er, dass sich auch ein Pferd hinter der Gestalt mit tief gesenktem Kopf durch das dichte Schneetreiben kämpfte. Beim Näherkommen erkannte Stalca, dass es ein Mensch war und seine Phantasie ihm zunächst einen Streich gespielt hatte. Nun schlug sein Herz aus einem anderen Grund schneller. Schon wieder war er in eine Falle geraten, aus der es kein Entkommen gab.

Noch ein paar Schritte und er glaubte jedoch das Pferd schon des Öfteren gesehen zu haben. Eine dünne, weiße Schneeschicht lag auf dem schwarzen Fell und in der langen Mähne hingen dicke Eiszapfen, doch es war Rugars Rappe. Also musste auch der Mann Rugar sein, sicher war sich Stalca allerdings erst, als dieser die Höhle erreicht hatte und seine Kapuze abstreifte.

"Ist alles in Ordnung?", fragte er ruhig.

Zögernd nickte Stalca, deutete aber auf David und wies auf den verletzten Fuß hin. Sofort wandte sich Rugar ihm zu und Stalca lehnte sich wieder an die Felswand zurück. Erst jetzt, wo die unmittelbare Gefahr überstanden schien, wurde ihm so richtig bewusst, dass sie in nur wenigen Stunden hätten tot sein können.

"Bist du sicher, dass alles gut ist?", fragte Rugar erneut.

Sah er wirklich so schlimm aus, wie er sich gerade fühlte? Stalca nickte nur wieder, ihm war nicht danach zu reden. Rugar reichte ihm eine Hand und half ihm hoch.

"Wir müssen sofort weiter.", mahnte er. "Für die Tiere ist es hier viel zu kalt. Es ist nicht weit, ihr hättet es fast geschafft."

"Wie hast du uns gefunden?", brachte Stalca nun doch ein paar Worte hervor.

"Durch eine Menge Glück.", antwortete Rugar ihm schlicht.

ZWISCHENSPIEL

Sayonara war noch immer hier. In den Hallen von Yesúw. Noch immer allein. Genau so, wie ihr Vater sie zurückgelassen hatte. Dabei hatte er es immer nur gut mit ihr gemeint, aber gut gefühlt hatte sie sich nie in ihrem Leben. Weggesperrt hatte sie sich bisher immer nur gefühlt und weggesperrt sollte sie auch sein. In einem gewissen Sinne. Sie sollte weggesperrt sein von den Gefahren der Welt, denen sie dort draußen ausgesetzt sein würde. Doch gleichzeitig war sie auch eingesperrt. Eingesperrt wie ein kleiner Vogel in einem goldenen Käfig. Anderen schien dies nichts auszumachen. Selbst anderen menschlichen Priestern und Priesterinnen nicht. Sie lebten ihr einsames, ein- und weggesperrtes Leben ohne zu murren oder gar etwas anderes in Erwägung zu ziehen.

Anfangs war auch sie mit ihrem Leben zufrieden gewesen, bis sie nach Yesúw gekommen war und dort Leute kennen lernte, die von ihren Abenteuern in der Welt zu berichten hatten und von da an träumte sie nur noch davon ebenfalls in dieser großen weiten Welt zu Hause sein zu dürfen. Andere schüttelten nur den Kopf und meinten doch, wie gut sie es an diesem geschützten, ruhigen Ort habe. Doch sie war nicht zufrieden mit ihrem goldenen Käfig. Sie wollte ihre Flügel ausbreiten und fliegen.

Stattdessen verbrachte sie immer noch ihr armseliges Leben in diesen vier Wänden. Immer die gleichen Räume, die gleichen Tagesabläufe. Immer zwischen den gleichen, stummen Menschen. Sie lag in ihrem Bett und hörte den Fluss unter ihrem Fenster toben.

"Du hast es versprochen.", flüsterte sie. "Und doch gehst du schon wieder. Allein."

Sie musste eine ganze Weile warten, fast eine Ewigkeit, bis sie ein leises Seufzen neben sich hörte. Sie drehte ihren Kopf und blickte erwartungsvoll auf den Menschenkönig, der in einem gewöhnlichen, dunklen Reisemantel gekleidet war. Wieder bereit zum baldigen Aufbruch. Er blieb nie lange. Nur so lange, wie es wirklich notwendig war und jedes Mal kam es Sayonara viel zu kurz vor. Doch noch nie hatte sie versucht ihn aufzuhalten.

"Sayo.", wandte sich ihr Geliebter ihr zu. "Du musst verstehen, dass es nicht ganz so einfach wird, wie ich es mir vorgestellt habe. Weißt du, ich habe einen Traum. Eine Vision. Von einer geeinten Welt, in der Frieden herrschen wird. In der jeder gleich ist. In der die einzelnen Werte jedes einzelnen Lebewesens zählen. In der es keine Unterschiede mehr geben wird. Zu jeder Zeit an jedem Ort. Vielleicht mag dies unvorstellbar klingen. Vielleicht werden viele der Ansicht sein, dies wäre niemals möglich, aber ich glaube fest daran, dass dies nicht wahr ist. Es wird möglich sein. Es muss nur jeder wollen und jeder seinen Teil dafür opfern. Sich selbst, mit seinem Leben, wenn es nötig sein sollte. Es gibt einen Weg, der Frieden und Einheit bringen wird und ich beschreite diesen Weg. Und wenn dann meine Ziele Wirklichkeit sein werden, dann wird diese Welt frei sein. Jeder wird frei sein, auch du, Sayonara."

Sie blickte ihn eine Zeit lang stumm an. Er schien geduldig auf eine Reaktion ihrerseits zu warten, doch sie gab sich noch einen Moment seine Worte durch ihren Kopf gehen zu lassen. "Es wird eine Ewigkeit dauern, sollte es wirklich möglich sein."

"Es wird keine Ewigkeit dauern.", versicherte er ihr. "Wir stehen so kurz davor, vertraue mir." Einen Moment hielt er inne und schien zu überlegen. "Du könntest mir natürlich helfen, wenn du das willst. Wenn du auch Teil dieser Wirklichkeit werden möchtest. Aber nein... nein, darum könnte ich dich niemals bitten."

"Was ist es?", wollte sie wissen und richtete sich auf. Sie würde alles für ihn tun, da war sie sich sicher. Sie vertraute ihm und glaubte an seine Wünsche, denn sie verstand es nur zu gut, was unerfüllte Wünsche zu bedeuten hatten. Wenn er ihr bei der Verwirklichung ihrer Träume helfen wollte, dann war sie auch bereit dafür Gegenleistungen zu bringen.

"Es ist wirklich keine einfache Aufgabe.", betonte er nachdrücklich. Er ging vor ihr in die Hocke, so dass ihre Augen auf gleicher Höhe waren. Wie in einem Bann schien sie in seinen blauen Augen gefangen zu sein. "Und solch eine Entscheidung fiel mir wirklich nicht leicht, aber es führt kein Weg daran vorbei, denn sie stellt sich unseren Plänen in den Weg. Sie ist eine von denen, die glaubt, dass es falsch wäre, was ich vorhabe. Dabei wünsche ich mir nur das Beste für uns alle, das weißt du ja. Deswegen gibt es, obwohl ich lange darüber nachgedacht habe keinen anderen Weg als ihren Tod."

"Wer?", erkundigte sie sich. "Wer muss sterben?"

"Die Herrin von Naksa.", antwortete er bereitwillig, während sein Blick noch ein wenig intensiver wurde.

"Rawnes?", wiederholte sie ungläubig und ein wenig erschrocken.

"Du bist die Einzige, die in den kommenden Tagen in ihrer Nähe sein wird.", fuhr er leise fort, als würde er nur mit sich selbst sprechen. "Aber..." Er nahm sanft ihre Hände und küsste sie. "...es würde einem solch bezaubernden Geschöpf wie dir nicht gut stehen, wenn Blut an seinen Händen klebt."

Er wollte sich erheben. Aufstehen und gehen, doch sie hielt ihn fest. "Ich werde es tun.", verkündete sie ihm mit fester Stimme. "Wenn es wirklich nötig ist, dann werde ich es tun."

"Ich wusste das ich dir vertrauen und ich mich auf dich verlassen konnte.", flüsterte er ihr ins Ohr und sie fühlte seinen warmen Atem auf ihrer Wange. Sie spürte einen harten Gegenstand auf ihrem Schoß und als sie ihn mit ihren Fingern umfasste drang die Kälte des Metalls bis durch die lederne Scheide hindurch.

An einem geheimen Ort, den niemand sonst kannte, stand Wirhnö, Herr über das Eis und blickte den Yesúw hinab. Es gab Zugänge zu dem Lauf des Flusses, die selbst den Bewohnern des Heiligen Ortes fremd waren. Sie waren um einiges gefährlicher, denn die Gewässer waren tückisch, doch einem Mann mit viel Geschick, Mut und Kraft durften selbst diese Wege nichts anhaben können. Von der Stelle aus, an der der Dämon über die Wasseroberfläche blickte, führte ein versteckter Pfad steil in den Berg hinein, um später zu einer kleinen, engen Höhle auszulaufen, von der aus man wieder über die schneebedeckten Hänge des Ostgebirges hinaus kam.

Endlich erblickte er das kleine Boot, auf welches er schon seit einer geschlagenen Stunde wartete. Doch Geduld war bisher ebenfalls einer seiner Stärken. Die Strömung war hier fast genauso stark, wie kurz vor den Wasserfällen. Das kleine Gefährt drohte immer wieder zurückgerissen zu werden, doch trotzdem hielt er es fast mühelos, als er dem Menschen hinaus half.

"Was machst du hier?", wurde er schroff begrüßt.

"Das wollte ich auch gerade fragen.", entgegnete Wirhnö.

"Ich wüsste zwar nicht, was dich meine Aktivitäten angehen sollten, aber nur damit du beruhigt bist: Ich habe einen sehr praktischen Weg gefunden, Rawnes zu töten.", antwortete Atúl, König Zahurs.

Wirhnö runzelte die Stirn. "Was für einen Sinn ergibt ihr Tod für uns?"

"Gar keinen." Atúl erwiderte selbstsicher des Dämonen Blick. Es wurde ihm bewusst, dass es allmählich Zeit wurde, noch jemanden los zu werden. "Aber ihr Tod wird für uns einen praktischen Nebeneffekt haben. Glaube mir einfach."

Wirhnö zögerte noch immer. "Niemand tötet an dem heiligen Ort, ohne dass er dabei nicht auch selbst zu Grunde geht."

"Wie bedauerlich." Atúl zuckte mit den Schultern. "Da können wir uns ja glücklich schätzen, dass nicht ich diese Aufgabe übernehmen muss. Und jetzt lass uns gehen."

Entschlossen ging er zu seinem Pferd, welches er hier zurückgelassen hatte und machte sich auf den Weg.

Ihm folgte Wirhnö, auch wenn dieser noch einen letzten unsicheren Blick in Richtung der Festung warf. Er war sich nicht sicher, ob dies seinem Herrn gefallen würde und eigentlich sollte er dem Menschenkönig eben aus dem Grund folgen, dass er seinem Herrn alle merkwürdigen Vorkommnisse meldete. Aber vielleicht sollte er erst einmal abwarten, von was für einem Nebeneffekt Atúl gesprochen hatte. Vielleicht konnte er ihnen ja doch noch nützen.

DER RAT YESÚWS

"Yesúw. Ein Ort der Wunder. Einer der wenigen Orte, die heute noch in dieser Welt existieren, denn Orte der Wunder sind meist auf magische Weise entstanden oder werden noch immer von Magie zusammengehalten. Doch die Magie schwindet in diesem Zeitalter. Die Menschen wenden sich anderen Gebieten zu. Sie schaffen sich neue Welten, denn es sind allein die Menschen, die alles am Leben erhalten.

Der menschliche Glaube ist stark. So stark, dass ihr Glaube zu existieren beginnt. Ihre Vorstellung der Welt, des Lebens und allem was zwangsweise mit diesen Dingen zusammenhängt, wächst über sie hinaus bis in die Wirklichkeit hinein. Jahrhunderte lang unterwarfen sie sich den natürlichen Gesetzen, die diese Welt ihnen entgegen warf. Sie schufen sich Herren, die Götter, die über sie herrschten und von grenzenloser Macht schöpfen konnten. Der Magie. Für die Menschen erklärte die Magie alles und so war sie erschaffen und hunderte von kleinen und großen Wesen mit ihr.

Doch nicht lange und die Menschen entwickelten ihre weniger guten Eigenschaften, die sie ebenfalls wieder in die Welt transferierten. Dämonen waren geboren und wieder dauerte es gar nicht lange, da erhielten auch die Dämonen ihren Herren, den Tod. Aber damals waren die Menschen noch Kinder. Unerfahren, ängstlich. Jetzt begannen sie zu wachsen und die Welt um sich herum mit anderen Augen zu sehen. Viele Dinge gefielen ihnen nicht mehr und sie änderten sie, indem sie unbewusst ihren Glauben veränderten. Sie glaubten ein anderes Verständnis für die Welt zu entwickeln, sie glaubten neue Theorien entdeckt zu haben, doch in Wirklichkeit begannen sie nur an etwas anderes zu glauben.

Dieser neue Glaube war stärker als sein Vorgänger und so begann sich die Welt zu ändern. Die Menschen wurden erwachsen und selbstsicher. Sie stellten sich gegen die Gesetze der Natur und wollten selber herrschen. Ihre Welt änderte sich immer weiter und sie ändert sich noch immer, bis sie enden wird und aus diesem Ende wird sich eine ganz neue und fremde Welt entwickeln. Dieses Ende war bereits im Gange. Und nun soll berichtet werden, wie sich die Welt wandelte."

(AlkGer'hash, "Die Prophezeiungen der Weisen")

Es sollte Lärm in den weiten, hohen Hallen Yesúws herrschen, denn normalerweise sollten sich hier die Herren der Länder treffen. Von Menschen, Elfen und allen Völkern dieser Erde. So war es, wenn eine Krisenzeit herangebrochen war, eine Krisenzeit wie diese. Ausweglos, wie es den Anschein tat. Doch wo waren sie, die Herrscher der Völker? Wo waren sie hin? Fort, verloren die Kinder dieser Welt. Und sie würden niemals wieder kommen.

Trotzdem herrschte Unruhe. Die plötzliche Finsternis war natürlich niemandem entgangen und sie waren zwar nur wenige, aber die noch herrschenden Fürsten waren gekommen. Sie vertraten längst keine ganzen Völker mehr. Sie waren nur noch Gebieter über kleine Landstriche in entfernten Ländern, in denen sich restliche Angehörige magischer Wesen zurückgezogen hatten. Denn auf Menschen konnten sie sich in diesen Zeiten nicht mehr verlassen. Wie es aussah waren sie sogar zu ihren Feinden geworden, nachdem sie sich auf die Seite des Dämonenherrschers gestellt hatten.

"Habt Ihr bereits etwas von Rugar gehört, Meister Peroth?", fragte Rawnes, die selbst erst vor kurzer Zeit eingetroffen war. Viele Dinge in Naksa benötigten noch ihre Aufmerksamkeit und sie konnte seine Bewohner nicht zurücklassen ohne um ihre Sicherheit gesorgt zu haben. Diese Leute verließen sich auf ihre Fähigkeiten und der Wald war möglichen Feinden schutzlos ausgeliefert.

"Nein.". Der Isk seufzte deutlich vernehmbar. Es war nicht zum ersten Mal, dass er diese Frage beantworten musste. Immer wieder fragte die junge Frau. "Und wenn ich von ihm hören sollte, wirst du es sicherlich gleichzeitig auch, denn ich bin mir sicher, er wird sofort hierher kommen."

"Ich mache mir nur schreckliche Sorgen.", murmelte Rawnes mehr zu sich selbst.

"Was soll ihm schon passieren?" Eigentlich erwartete er darauf nicht einmal eine Antwort.

"Ich mache mir nicht Sorgen um ihn. Aber je länger er fortbleibt, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass er sie finden wird.", erklärte sie ihm.

"Du bist nicht die Einzige, die sich sorgt."

Der Isk wirkte leicht gereizt, auch wenn er sich bemühte Ruhe zu bewahren, trotzdem tat es ihr leid, ihm so auf die Nerven gehen zu müssen. Sie bemühte sich ebenfalls nach Kräften, doch nur wenige Minuten kamen ihr schon wie eine Ewigkeit vor.

"Es tut mir leid.", flüsterte sie als Entschuldigung und nahm sich vor, erst einmal nichts mehr zu sagen, denn helfen würde es auch nicht.

Plötzlich öffnete sich hinter dem langen Tisch, an dem sie saßen, eine kleine, unscheinbare Tür. Der ebenfalls recht kleine und unscheinbare Raum dahinter war auch nur für wenige Personen gedacht. Ohne sich umdrehen zu müssen, wussten sie alle wer die Halle nun betrat und sie erhoben sich ehrfurchtsvoll von ihren Plätzen. Auch die weniger bedeutenden Persönlichkeiten, die an Nebentischen Platz genommen hatten und von ihren Positionen aus nicht gerade besonders viel sehen konnten, standen auf, um den nötigen Respekt zu zeigen. Denn durch die unscheinbare Tür aus dem unscheinbaren Raum trat der König dieses bescheidenen Hauses. Herr über die Elfen dieser Welt, auch wenn es vielleicht ebenfalls nicht mehr sehr viele waren. Xejohl.

Er kam in der Größe eines Menschen, denn alle Vertreter ihrer Länder unter diesem Dach hatten diese Größe. Früher waren Zwerge dabei, andere Elfen oder sogar riesige Trolle, doch dies war schon Jahrhunderte her, wenn nicht sogar Jahrtausende, denn als die letzten freien Zwerge noch über diese Welt wanderten, vor der Schreckensherrschaft der Hujak, als es kaum Menschen auf dieser Erde gab, an diese Zeit konnte sich kein lebendes Wesen mehr erinnern. Es gab nur Bilder, Aufzeichnungen und alte Geschichten. Dies waren die Überbleibsel dieser Zeit, eine herausragende Ära der Weltgeschichte.

In welcher Gestalt aber Xejohl auch immer erscheinen mochte, er blieb in jeder Situation eine imposante Persönlichkeit. Wäre er ein Mensch, so mochte man sein Alter vielleicht auf Ende fünfzig, Anfang sechzig Jahre schätzen, doch aus den Augen seines Volkes gesehen war er bereits an die zweihundert Jahre alt und überschritt damit bald die Grenzen seines Lebens. Doch sein Blick war noch immer scharf und wachsam, seine Haare zeigten kaum eine Spur von Grau und seine Haltung war aufrecht und stolz. Seine Worte waren weise und seine Gedanken lagen klar und deutlich vor ihm. Wahrscheinlich würde eines Tages sein Enkel diesen Thron erben, nicht einmal sein Sohn, so munkelten viele, denn er stand bereits als ältester der Elfen-Könige in den Büchern und viele spekulierten schon auf seine Unsterblichkeit, doch die Zeiten, dass Elfen unsterblich waren, waren auch verflossen. Sobald Justaka an die Macht kam und selbst über diese Welt herrschte, mussten die Elfen sterben. Diese Erkenntnis hatte das kleinste Volk dieser Erde schwer getroffen und es vergingen Jahrzehnte, bis sie sich damit abfinden konnten.

Xejohl ließ sich bedächtig auf seinen Sitz nieder und erst als er saß, nahmen auch die anderen alle wieder nacheinander Platz. Rawnes warf einen knappen Blick auf den König und musste feststellen, wie merkwürdig leer und müde seine Augen an diesem Tag vor sich hin starrten. Er schien mit seinen Gedanken nicht wirklich an diesem Ort zu sein und es schienen ihn andere Probleme als diese zu plagen. Sie wüsste gerne, von welcher Art diese Probleme waren, denn was sie nicht gebrauchen konnten, war ein unkonzentrierter König, denn vieles hing von seinen Entscheidungen ab. Er konnte die Macht über die Geschehnisse dieser Welt haben, wenn er wollen würde. Er war in den Augen vieler einem Gott gleich.

"Wir haben schon viel erfahren, über die Dinge, die draußen vor sich gehen.", erhob sich Xejohls Stimme über die Köpfe der nun schweigenden Menge hinweg. "Doch bedarf es noch vieler Antworten auf ungeklärte Fragen. Da der Mann, der viele seiner Wege auf eigenem Ermessen beschritten hat, nicht unter uns ist, wo auch immer er hingegangen sei, so bin ich gespannt, wer für ihn zu sprechen gedenkt."

In den Reihen der Zuhörer wurde es unruhig. Mühsam kämpfte sich ein Mann Stück für Stück durch die Sitzbänke, während die Leute nur murrend aufstanden, um ihn hindurch zu lassen.

"Jack Bradley.", knurrte ein beleibter älterer Berater, welcher direkt neben dem König saß. Mit überdeutlicher Betonung rollte er das r sehr stark, was für Bewohner Zahurs ungewöhnlich und sehr fremd war. Dieser Mann musste aus einem weiter entfernten Land kommen. "Hätte ich es mir ja denken können."

Xejohl ignorierte diesen Einwand gekonnt. "Wenn du glaubst über eure Reise berichten zu können, so erkläre uns zunächst schon einmal die Gründe eures Aufbruchs aus Naksa, welchen viele nicht gutheißen konnten, wie ich hinzufügen muss. Wir hatten vereinbart uns aus dem kommenden Geschehen herauszuhalten."

Jack bemühte sich nach Kräften nicht auf diese Bemerkung einzugehen. Es war nicht so gewollt und würde er es dennoch tun, würde er erneut den Zorn des Rates auf ihr Unternehmen ziehen, so wie Nekat es vor ihm tat. Er hatte gewusst, dass sie sich nicht aus den Geschehnissen um sie herum heraushalten konnten und durften. Sie waren Teil dessen, was am geschehen war und sie waren eingebaut in diesen gigantischen Plan des Schicksals, ob es nun Gutes oder Böses von ihnen wollte, sie waren ihm hilflos ausgeliefert und würden sie sich dagegen sträuben, käme es zu einer Katastrophe, das wussten eigentlich alle.

"Wir brachen auf, um die Kinder Nekats zu suchen, denn er war überzeugt Justakas vernichtende Worte, die er einst über sie sprach würden sich erfüllen."

Leises Gemurmel folgte dieser Antwort. Schließlich erhob sich die Stimme eines hageren, eher stillen Mannes. "Glaubte er daran, zwei gerade herangewachsene Menschen könnten sich dem Dämonenherrscher entgegenstellen?"

Es mochte ihm vielleicht nicht gefallen, denn er hatte sich geschworen Nekat treu zur Seite zu stehen, doch wenn er Faith oder David vor sich sah, beide hatten noch nicht gerade viel von der Welt gesehen, beide wussten nichts von den Legenden und Geschichten, die sich um die Götter und Dämonen rankten, beide wussten nicht einmal, wer sie waren, dann musste er sich gestehen, dass seine Antwort mit der des Rates übereinstimmte.

"Es hieß, Menschen hätten ihn erschaffen.", kam es aber über seine Lippen.

"Es heißt, die Menschen hätten uns alle erschaffen, doch über diese Theorie lässt sich lange und ausgiebig diskutieren. Nur hierfür haben wir keine Zeit.", entgegnete das hagere Ratsmitglied.

"Glaubst du daran, Jack Bradley?" Wie eine leise Musik erklang die Stimme der zauberhaften Hohepriesterin Sayonara durch den Raum.

Erneut zögerte Jack. Er hatte bereits vieles in seinem Leben gesehen, war weiter herum gekommen als manch Anderer in seinem Alter. Und vieles war ihm begegnet, was unerklärbar schien. Nur wenige Antworten fand er auf hundert Fragen, doch an was er glaubte, diese Antwort fiel ihm schwer.

"Er glaubt an gar nichts.", knurrte der Berater neben dem König mit seinem harten Akzent. "An absolut gar nichts. Genauso wenig, wie sein einstiger Mentor."

Diesmal fiel es Jack durchaus schwerer sich zurückzuhalten. Und hätte nicht Xejohl rechtzeitig mit einer gebieterischen Handbewegung eingegriffen, wären ihm sicher ein paar unkluge Worte aus dem Mund gerutscht.

"Sprich nicht über Leute, die nicht anwesend sind.", wies der König seinen Nachbarn zurecht. "Wir wollen hier nicht diskutieren, ob ihre Gründe gut oder schlecht, oder ob Nekats Glaube an sie Wahrheit besitzen kann. Außerdem wollen wir uns auf die Gegenwart konzentrieren und nicht zu weit in die Vergangenheit geraten. Was zählt ist, das vor kurzem Geschehene zu sortieren, um uns so ein Bild von dem machen zu können, was geschehen muss. Nekat brach mit seiner Gruppe auf, um seine vor langer Zeit verschollenen Kinder zu finden. Er hat sie gefunden, doch währenddessen geschahen noch ganz andere Dinge, Rawnes."

Die Herrin von Naksa stand langsam auf. Sie wusste eigentlich gar nichts. Nur von einer verlassenen Stadt hatte sie zu berichten, aber für Leute, die nicht dort waren, gab es sicherlich tausend Gründe, weshalb Shin'Anrar verlassen auf der Spitze des Fergales-Berges stand, einer der heiligen Stätten der Isk.

"Es gab keinen wirklich erkennbaren Grund für uns nach Shin'Anrar zu gehen, doch es war wie... wie eine Vorahnung. Als wir dort ankamen, war die Stadt verlassen. Vollkommen leer, es gab keine Lebenden aber auch keine Tote. Es gab einfach gar nichts."

"Vielleicht sind sie aus der Stadt geflohen?", mischte sich ein kleines, schmales Wesen ein, welches ebenfalls nicht aus Zahur stammte, sondern von sehr weit gereist kam, um seinem Land über die Umstände berichten zu können.

"Aber wo sollten sie denn hin?", kam es von der anderen Seite des Tisches, wo ein alter Bibliothekar aus Sunspring saß. Er schob seine klapprige Brille nach unten und sah das Wesen über die Ränder hinweg an. Es war bekannt, dass Bibliothekare sehr herablassend werden konnten und man sich unter ihren Blicken wie ein kleines, dummes Schulkind fühlte.

"Sie haben die Stadt nicht verlassen.", wiederholte Rawnes noch einmal mit deutlicherer Betonung. "Es sah alles eher nach dem genauen Gegenteil aus. Die Tore waren von Innen vollständig verriegelt. Sie hatten nicht einmal die Absicht nur einen Blick hinaus zu werfen."

"Das sieht dann wohl eher nach einem Angriff aus.", stellte der Berater neben dem König sachlich fest. "Doch wer sollte so töricht sein Shin'Anrar anzugreifen? Die Stadt ist als uneinnehmbare Festung bekannt."

"Der Tempel Ulastas ist entweiht. Wir fanden Justakas Zeichen dort.", fügte Rawnes hinzu.

"Nicht einmal Justaka ist fähig diese Stadt anzugreifen, solange noch jemand darin ist.", erwiderte der Berater.

"Das ist es doch eben!" Sie hatte gewusst, dass es nicht leicht sein würde vor diesen Leuten zu sprechen. Man hatte ihr gesagt, dass sie ihre eigenen Sichten von der Welt dort draußen hatten, auch wenn sie sie selten betraten. Sie waren stur und stellten sich meist absichtlich dumm, um ihren Willen durchsetzen zu können. "Es ist niemand mehr dort."

"Wie sollen sie denn bitteschön verschwunden sein?", knurrte der Berater ungeduldig. Er wollte, dass es nun bald mit der eigentlichen Geschichte weiterging.

"Sie sind nicht fort.", kam es plötzlich leise aus den Reihen der Zuhörer. "Sie sind noch immer dort."

Alle Ratsmitglieder und Nicht-Ratsmitglieder, Besucher und Gäste und überhaupt alle Anwesenden drehten sich erstaunt zu der jungen Menschenfrau um, die sich von ihrem Platz erhoben hatte, allerdings nicht viel von ihrer Umgebung mitzubekommen schien. Ihre Augen schienen leer, als wäre sie in einer Art Trance und doch waren sie mit Leben gefüllt und irrten hin und her, als würde sie Dinge sehen, von denen sie alle nichts wussten.

"Wer ist das?", fragte Xejohl, dem es normalerweise gar nicht gefiel, wenn sich fremde Leute in seine Besprechungen einmischten.

"Faith.", antwortete Rawnes automatisch und ging schon um den Tisch herum auf die Frau zu. Dort verschaffte sie sich Platz zwischen den nun erneut murrenden Zuschauern und ergriff die warmen Hände, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. "Was siehst du, Faith?"

Zunächst schien gar nichts zu geschehen, dann richtete Faith ihre dunklen Augen direkt in Rawnes'.

Es war ihr kaum möglich viel von ihrer Umgebung erkennen zu können. Zwar herrschte helle Aufregung um sie herum und die Straßen waren voller hektischem Leben, aber alle Gestalten schienen vor ihren Augen nur schattenhafte Schemen zu sein, die sich schwammig vor ihr dahin bewegten. Versuchte sie in Gesichter zu sehen, blickten ihr nur dunkle, ausdruckslose Masken entgegen, die alle gleich zu sein schienen. Trotzdem ließ sich an ihrer Art sich zu bewegen, zu sprechen und untereinander zu agieren schließen, dass es sich um Isk handelte. Hunderte von Isk in einer riesigen von einer breiten Mauer geschützten Stadt.

Die Stadt wiederum präsentierte sich in allen Details vor ihr. Kleine, flache Lehmhütten säumten die breite Hauptstraße auf der sie sich gerade befinden musste. Zahlreiche Nebenstraßen und kleine Gässchen durchzogen sich fächerförmig durch den Kern der Stadt. Von der Landschaft außerhalb ließ sich nicht viel erkennen, denn die Mauer war meterhoch und verbarg alles vor neugierigen Blicken. Sie bestand ebenfalls aus massivem Lehm und war nur nach innen mit dicken Baumstämmen verstärkt. Die Stämme waren so breit, dass sie ein erwachsener Mann sicherlich nur mit Mühe gerade eben mit den Armen umgreifen konnte. Sie mussten von weit her herangeschafft worden sein, denn in der näheren Umgebung gab es keine Wälder, die solch eine Menge an Holz liefern konnten. Die Mauer überragte auch sämtliche Gebäude, bis auf ein einziges.

Zwar liefen alle um sie herum wie in Panik vor dem Tempel davon, doch sie wusste, nur hier würde es Antworten auf das Geschehen um sie herum geben. Der Tempel war riesig. Nicht nur von kolossaler Größe, so dass man ins Grübeln kam, wie die Isk hier in den Bergen eine solche meisterhafte Arbeit leisten konnten. Er streckte sich auch bis in die kleinsten Winkel der Stadt hinein. Er beherbergte nicht nur die Opferräume, Priester und Ruhestätten. Er bot Wohnraum für zahlreiche Arbeiter, die das Leben in der Stadt ermöglichten. Von gewöhnlichen Bauarbeitern bis hin zu Finanzministern. Wer auch immer in der Stadt etwas zu regeln hatte, lebte mit seiner gesamten Familie unter dem Schutz des Tempelgebäudes. Des obersten und heiligsten Tempels der Isk. Dem Tempel Ulastas.

Sie war dem Gebäude immer näher gekommen, während sie immer einsamer wurde. Die Isk strömten in Massen in Richtung der Stadttore und als sie den Fuß des kleinen Hügels erreicht hatte, auf dem sich der Tempel in die Höhe wand, da konnte sie sehen, wovor sich die Isk fürchteten. Es hieß, der Tempel war mit einer Art Zauberspruch geschützt worden. Dieser Spruch würde die Dämonen von ihm fernhalten, so hieß es, doch anscheinend schien dieser Bann keine besonderen Auswirkungen auf Anrar auszuüben.

Der mächtige Dämon bräuchte nur ein paar Schritte tun und er würde direkt im Zentrum stehen. Irgendetwas schien unglücklich verlaufen zu sein. Vielleicht verlor der Bann mit der Zeit seine Wirkung. Sie betrachtete Anrar. Sein schwarzer Mantel wehte leicht in einem geheimnisvollen Wind, der nur zu wehen schien, um Anrar einen machtvolleren Eindruck zu geben. Seine dunklen Haare wehten ebenfalls in diesem Wind und unterstrichen die Wirkung nur. Es war bekannt, dass die Dämonen wie Menschen aussahen, doch Faith musste sich an die Theorie erinnern, die auch Jack vor kurzem noch angesprochen hatte. Aber wieso sollten die Menschen Dämonen nach ihrem Ebenbild schaffen? Wenn die Dämonen kalt, ein wenig düster fast schon dunkel wirkten, mit ihren schwarzen Kleidern und dunklen Augen, wie sahen dann die Götter aus? Sie mussten das genaue Gegenteil sein. Hell, freundlich und gut. Vielleicht mit langen, hellen Haaren und leuchtenden, schimmernden Kleidern oder glänzenden Rüstungen vielleicht. Sie versuchte sich die Götter vorzustellen.

Plötzlich lachte Anrar und dies riss Faith kurzzeitig aus ihren Gedanken. Sie versuchte sich wieder darauf zu konzentrieren, was um sie herum geschah, um berichten zu können, was geschehen war. Nur dann geschah etwas, womit sie niemals gerechnet hatte. Anrar drehte sich zu ihr herum und sah ihr direkt in die Augen.

"Nein.", meinte er. "So ganz bestimmt nicht."

Sie zuckte erschrocken zusammen und schwieg.

"Glaubst du daran?", fragte der Dämon sie. "Glaubst du, Menschen hätten einen solch starken Glauben, dass sie Dinge aus diesem Glauben heraus erschaffen können? Ein beunruhigender Gedanke, oder nicht?"

"Es ist eine Theorie.", meinte Faith trocken. Sie wusste dies war keine Antwort, doch etwas Gescheiteres fiel ihr im Moment nicht ein.

"Ja, eine Theorie.", stimmte er ihr zu. "Doch mit Theorien ist es so eine Sache. Man weiß nie, wie viel Wahrheit sie enthalten können. Ich persönlich glaube daran. Es erklärt so viele Dinge, für die es im Leben keine Erklärung gibt. Es fällt einem leichter, das Leben um einen herum zu verstehen und zu akzeptieren. Alle diese möglichen Erklärungen, eine besser als die andere. Was sind sie schon, wenn nicht mehr als ein Anker, der dem Schiff sicheren Halt gibt? Als der Felsen in der Brandung? An das alles sich das denkende Wesen klammert, denn es kann gar nicht anders. Sobald es anfing zu denken, versuchte es gleich alles um sich herum zu erkunden, zu analysieren und zu begreifen. Es fing an in Dimensionen zu denken, in welche es gar nicht denken konnte, welche seine Vorstellungskraft sprengten. Doch einmal Fragen gestellt, so benötigten sie auch Antworten. Antworten, die keinen Sinn ergeben, die sicherlich die größten Irrtümer der Geschichte sind, aber ohne Antworten geht das denkende Wesen zu Grunde, denn der einzige Sinn in seinem Leben besteht in der Jagd auf Wissen und Antworten. Nur wie viel wissen wir eigentlich?"

Für Faith begann das Ganze immer unwirklicher zu werden. Sie fragte sich, was im Geschehen war und wo sie sich befand. Denn sie war längst über die Grenzen ihrer sonstigen Rückblicke in eine längst vergangene Zeit hinausgekommen. Sie konnte sich mit niemandem unterhalten, denn sie lebte stets in der Gegenwart und blickte nur auf Leute, die längst in der Vergangenheit verschwunden waren und keine Rolle mehr im jetzigen Geschehen mehr spielten.

"Was geht hier vor?", fragte sie mit ihrer gewöhnlich leisen Stimme, die trotz allem ausreichend Selbstbewusstsein widerspiegelte. "Wer seid Ihr?"

"Schon wieder Fragen.", antwortete der Dämon. "Fragen über Fragen und keine Antworten in Sicht. Wie grausam muss dieses Leben doch sein. Wer ich bin? Ich bin Anrar, die Stimme Justakas und Justaka spricht zu dir."

"Wie ist das möglich?", wollte sie weiterhin wissen. Sie musste sich anstrengen, ihre Furcht nicht allzu deutlich zu zeigen, doch immer wieder ging ihr der Gedanke durch den Kopf, wie weit dies hier real war und wie weit sie es noch unter Kontrolle hatte.

"Ich bin überall.", erklärte Justaka durch Anrar erneut. "Überall in dieser Welt und außerhalb dieser Welt. Einmal dort und im gleichen Moment auch wieder da. Mir stehen Wege offen, die Menschen niemals betreten können. Im Gestern, Heute und Morgen. Ich bin in ihren Köpfen, ich bin in ihren Häusern, wenn ich dies will, ich bin mitten unter ihnen, ohne dass sie es merken und doch bin ich auch nirgends."

"Und wieso seid Ihr nun hier?", erkundigte sie sich zögernd. "Was wollt Ihr?"

"Die Frage lautet doch diesmal, was möchtest du? Doch das wisst ihr Menschen meistens nicht. Wenn du dir eine Antwort aussuchen müsstest, auf irgendeine Frage, die du schon immer beantwortet haben möchtest, ich bin mir sicher, du könntest dich nicht entscheiden. Überlege einmal für dich, wüsstest du es? Dir gehen sicher tausend Fragen durch den Kopf, doch du wüsstest nicht, welche du wählen solltest. Sie erscheinen dir auf einmal alle so furchtbar unwichtig. Oder es sind Fragen wie ‚Wo liegt der Sinn des Lebens?', mit deren Antworten die Menschen zwangsweise unglücklich werden würden. Jeden Tag stellst du dir neue Rätsel. Rätsel, die sich mit weiteren Rätseln immer weiter ausdehnen und am Ende stehst du da mit ein paar Fäden in der Hand und weißt nicht mehr, wozu und wohin. Wieso nicht einfach nur leben? Das ist der Fortschritt des Menschen. Rätsel. Eines Tages werden sie daran zu Grunde gehen, da bin ich sicher.

Du fragst dich, wer die Götter sind? Wie sie aussehen, wer sie sind? Diese Frage ist leicht. Wenn wir davon ausgehen, die gängige Theorie ist korrekt, so schufen die Menschen ihre Götter selbst. Sie entstanden in der menschlichen Phantasie, waren stark und verfügten über grenzenlose Macht. Und was geschah? Die Natur macht es sich einfach. Sie erschuf keine neuen Götter. Nein, sie nahm einfach das mächtigste Volk dieser Erde und erhob es in die neue Position. Waren die Menschen wirklich so naiv und glaubten, sie wären es? Das mächtigste Volk dieser Welt waren nicht die Menschen, nein, es waren die Hujak. Hast du von ihnen gehört? Sie waren grausam und schrecklich. Wüteten und plünderten. Doch sie beinhalteten alle Eigenschaften, wie sie die Menschen ihren neuen Göttern zuordneten. So verläuft das Leben."

Er machte eine kurze Pause, während er sie mit seinen glühenden Augen eindringlich betrachtete. Sie versuchte diesen Blick zu meiden. "Doch dies war nicht die Frage, die dich hierher geführt hat."

Nachdem sie eine Weile über die letzten Worte, die sei gehört hatte nachdachte, hob sie entschlossen ihren hübschen Kopf und erwiderte entschlossen den forschenden Blick. "Was ist hier geschehen?"

"Vergessen?", wiederholte der Berater neben dem König mit einer Spur Ungeduld in der Stimme. "Was heißt das, sie wurden vergessen?"

Rawnes holte noch einmal tief Luft. Die Geschehnisse in Shin'Anrar, die noch einmal geistig vor Faith' Augen stattgefunden hatten, brachten ihr völlig neue Kenntnisse. Beunruhigende Kenntnisse und so war sie äußerst nervös geworden und würde diese neuen Feststellungen lieber mit Leuten erörtern, mit denen sich besser über diese bewegenden Dinge diskutieren ließ. Sie hatte eine Menge Respekt vor den Mitgliedern des Hohen Rates, doch an manchen Stellen fehlte es ihnen einfach an dem nötigen Verständnis, teilweise Wissens.

"Wir haben sie einfach vergessen.", versuchte sie es von Neuem. "Wir wissen nicht mehr, wer dort lebt. Wir wissen nur, dass eigentlich Hunderte von Isk in der Stadt leben müssten, doch dies allein reicht nicht mehr aus, um sie noch immer am Leben halten zu können. Wir können uns nicht daran erinnern, jemanden Bestimmtes unter ihnen zu kennen. Wir wissen keine Namen oder auch nur ein bestimmtes Aussehen, alles was ein Wesen ausmacht. Solange dies keiner weiß, leben sie einfach nicht mehr. Sie sind kein Teil mehr dieser Welt."

"Das verstehe ich nicht.", brummte der Berater neben dem König missmutig. Ihm begann diese ganze Besprechung immer weniger zu gefallen. Es würde die ganze Sache unheimlich verkürzen, würden sie dieses unnötige Gerede einfach auslassen und gleich zur eigentlichen Sache kommen, was genau nun geschehen sollte.

"Ich verstehe.", entgegnete Xejohl und sein Gesicht wurde noch eine Spur düsterer als es das überhaupt schon im Laufe des gesamten Tages war. "Es ist genau das geschehen, was zurzeit überall auf dieser Welt geschieht. Es wird vergessen. Mit Absicht oder nicht, das ist schwer zu bestimmen. Tatsache ist, dass die Menschen anfangen zu vergessen. Dies alles und uns. Sie beginnen in ihrer neuen Welt zu leben und diese alte wird bald keinen Wert mehr für sie haben. Das Erschreckende an dieser Nachricht aber ist, dass Justaka in der Lage zu sein scheint, dieses Vergessen zu beeinflussen. Er könnte dadurch zu einer großen Gefahr für uns werden."

Eine Weile herrschte betretenes Schweigen. Zwar hatten noch nicht alle genauestens erfasst, worum es eigentlich ging, doch hatten sie von einer drohenden Gefahr alles verstanden. "Doch der Tag ist nicht mehr lang und wir wollen noch zum Ende kommen.", fuhr Xejohl fort. "Also lasst uns fortfahren und zur eigentlichen Handlung zurückkehren. Was geschah des Weiteren auf eurem Wege hierher?"

Zwar empfand Rawnes die Ereignisse in Shin'Anrar als ebenfalls sehr wichtig, jedenfalls sagte ihr dies eines der unbestimmten Gefühle, doch hielt sie ihren Protest zurück und überließ wieder Jack das Reden.

"Unsere restliche Reise war recht ereignislos.", berichtete Jack zögernd. Er war nicht wirklich sicher, was für den Rat von Interesse sein konnte oder auch durfte. "Probleme bekamen wir nur durch Höllenteufel, deren Zahl erschreckend angewachsen ist. Doch wir entkamen ihnen bei unseren Begegnungen stets. Unser einziges merkwürdiges Zusammentreffen hatten wir mit Atúl." Mit einem Mal spitzten wieder sämtliche Ratsmitglieder die Ohren. "Er... er stellte Forderungen ihm Einlass in Naksa zu gewähren. Er begründete dies damit, dass er wissen wolle, was in seinem Land vor sich gehe. Wenn er keinen Zutritt gewährt bekommen würde, würde er sich ihn mit Gewalt nehmen. Verantwortliche sollen sich mit ihm darüber in Verbindung setzen."

Empörtes Murmeln machte sich bemerkbar. Schließlich konnte sich ein ziemlich kleiner Mann nicht mehr zurückhalten. "Was glaubt dieser Mensch? Dass er Zugang zu einem unserer wichtigsten Orte haben kann? Er lässt uns doch auch nicht überall herumschnüffeln, oder? Ich kann verstehen, dass sich die Menschen allmählich von uns entfremden und sie uns nicht mehr unter sich haben wollen, aber dann sollen sie unsere Zufluchtsorte akzeptieren und dort nicht auch noch die Überhand haben wollen. Das könnt ihr ihm gerne sagen."

"Seine Forderung bedeutet vor allem, dass er seinen Krieg vor den Eingängen Naksas starten wird.", murmelte der Berater neben dem König. "Doch was bringt ihm dies?"

"Er wird Yesúw von beiden Seiten belagern können!", piepste eine erschrockene Stimme aus dem Hintergrund. "Niemand wird dann mehr rein und raus können."

"Erst einmal muss er überhaupt wissen, wie er hierherkommen kann.", erinnerte der Berater neben dem König. "Selbst wenn er die Zugänge kennt, was ich schon einmal anzweifeln würde, kennt er dieses Gebiet hier überhaupt nicht. Er kann keine ganze Armee in ihm völlig unbekanntes Gebiet schicken. Und bevor wir uns überhaupt darüber Gedanken machen, muss er erst einmal Naksa für sich erobert haben."

"Wie auch immer seine Pläne aussehen werden, wir müssen unter anderem mit dem Schlimmsten rechnen.", unterbrach Xejohl die kurze Diskussion. "Jack, was für einen Eindruck machte Atúl auf dich."

"Ich bin mir nicht sicher." Jack versuchte sich die nächtliche Begegnung noch einmal vollständig, detailgetreu in seinem Kopf ablaufen zu lassen. "Er war irgendwie merkwürdig, doch ich kann nicht genau sagen weshalb. Er war schon immer recht arrogant, schon bevor er König wurde und wir hatten schon immer die ein oder andere Auseinandersetzung mit ihm, aber nun hat er sich irgendwie verändert. Er scheint sich auf jeden Fall unheimlich sicher zu sein in dem was er tut. Er scheint überzeugt davon zu sein, dass wir in keinem Fall eine Chance gegen ihn hätten. Noch seltsamer waren seine Begleiter. Es waren menschliche Soldaten, kein Zweifel, doch sie gaben einem nicht annähernd das Gefühl Menschen vor sich zu haben. Sie waren auf merkwürdige Weise völlig kalt, als wären sie schon lange tot."

"Das ist in der Tat alles sehr merkwürdig.", bestätigte der Berater neben dem König mit leichter Skepsis. "Ich weiß nicht, was dies alles zu bedeuten hat, doch wir sollten uns darüber nicht allzu große Sorgen machen. Was weiß Atúl schon?"

"Justaka weiß alles.", meldete sich ein weniger wichtiges Mitglied.

"Darüber habe ich bereits nachgedacht.", bekräftigte Xejohl. "Wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Atúl gemeinsame Sachen mit Justaka macht. Auch wenn es schwer fällt an solch leichtsinnige Möglichkeiten auch nur zu denken. Aber es scheint so zu sein, dass sie sich gegenseitig dazu benutzen ihre eigenen Ziele durchzusetzen. Was dies für Folgen haben kann, sollte jedem klar sein. Wenn wir Glück haben werden sie sich früher oder später selbst im Wege stehen. Nur müssen wir nun entscheiden, was zu tun ist. Naksa wird nicht in der Lage sein sich selbst zu verteidigen, also empfehle ich den Einwohnern sich nach Yesúw zurückzuziehen. Von hier aus werden wir weit bessere Chancen haben einen Ansturm abzublocken."

Eine Weile schwiegen alle bedrückt. Naksa galt als eine der letzten und größten Zufluchtsstätten. Seit die Menschen begannen sich von Magie und den mit ihr verbundenen Völkern zu lösen, sie teilweise in einigen Ländern sogar zu verfolgen, brauchten zumeist Animorphs und Elfen neue Heimstätten. Dort wurden auch Menschen der Alten Welt, wie die Zeit im Frieden noch genannt wurde und andere, klein gewordene Völker aufgenommen. Am Meer der Mitte so sagte man, lebten sogar noch einige wenige Zentauren, die fast schon als ausgestorben galten. Auch waren es nur leblose Kreaturen, die man dort vorfand. Sie lebten abgeschieden an Orten, an denen sie nicht zu Hause waren und dort vegetierten sie vor sich hin. Nur an wenigen Stellen dieser Welt waren noch Feen zu treffen und Geister waren sowieso nur noch eine Handvoll vorhanden.

Nur ein Volk verstand es hervorragend zu überleben. Mitten unter den Menschen lebten sie als unauffällige Untermieter. Einst waren sie unsichtbar, doch sie lösten sich ebenfalls von der Magie, denn magische Wesen konnten nur mit ihr überleben. Schwand die Magie, schwand ihr Lebensatem. Doch noch nie gab es auf der Welt solch anpassungsfähige Wesen und niemals würde es sie wieder geben. In gewisser Weise waren sie Überlebenskünstler, Wunder des Lebens. Kobolde. Doch sie waren die Einzigen. Der Rest schwand dahin.

Schweigend saß ein Mann bisher mitten unter den Ratsmitgliedern und lauschte ihren Diskussionen. Er wusste, wie sinnlos sie im Grunde waren, denn ihm war mehr als sonst jemandem in diesen Hallen offenbar. Doch nun schreckte er auf.

Halte sie auf, mein treuer Diener! Sie wissen ja nicht, was sie anrichten können! Automatisch erhob er sich.

"Ihr dürft Naksa nicht verlassen.", protestierte er.

Erschrocken wandten sich alle anwesenden Augenpaare auf den alten Isk-Meister. Noch nie hatte es ein Außenstehender gewagt ungefragt in die Entscheidungen des Rates hineinzusprechen und sie auch noch so energisch zurückzuweisen. Eine unscheinbare Gestalt in einen langen, braunen Mantel gehüllt, stand neben den Wachen an der ebenso unscheinbaren Tür. Bisher hatte sie niemand beachtet. Keinem schien der sonderbare Umstand aufgefallen zu sein, dass sie vielleicht mit in diesem wichtigen Raum hinter der unscheinbaren Tür gewesen sein könnte. Doch nun trat sie einige Schritte vor. Einige wenige und recht kleine nur, doch schaffte sie es perfekt sich so trotzdem in den Mittelpunkt zu stellen.

"Wieso sollten sie nicht, Peroth?", fragte sie herablassend.

Alle anwesenden Augenpaare wanderten von Peroth noch wesentlich erschrockener zu dem Fremden. Meister Peroth mochte nicht dem Rat angehören, aber er war eine angesehene und hochrangige Persönlichkeit. Auch wenn man meist nur die Hälfte von dem verstand, was er zu sagen hatte. Doch dies machte ihn zu einer noch viel weiseren Gestalt in den Augen vieler. Ansonsten säße er jetzt nicht hier an diesem Platz. Trotz dass er sich ab und an ein wenig sonderbar verhielt, würde es niemand wagen in solch einem respektlosen Ton mit dem Meister zu sprechen.

"Ihr.", erwiderte Peroth nur, ohne sich vorher auch nur vollständig umgedreht zu haben. Es war nur ein einziges Wort welches über seine Lippen kam, doch es sagte alles, was es zu sagen gab. In ihm schwang die gesamte Hilflosigkeit und Enttäuschung des Isk mit. Mit ihm begrub er all seine Hoffnungen.

"Ich sagte doch bereits, die Zeit für uns ist gekommen.", fuhr die Gestalt fort, während er seine Kapuze aus dem Gesicht zog. Dunkle, braune Haare verdeckten fast die spitzen Elfenohren, doch für einen Elf war er ein sehr ungewöhnlicher Elf, so war die Meinung der stummen Beobachter, die interessiert verfolgten, was sich nun neu anbahnte.

"Wieso also wundert dich mein Eintreffen? Ich wurde geschickt um dem hier ein für alle mal ein Ende zu bereiten, nachdem doch einige Versuche zuvor schon kläglich gescheitert sind. Sie haben sogar noch alles schlimmer gemacht, als es vorher war. Bisher war noch alles einigermaßen unter Kontrolle, doch dann endete alles in einer Katastrophe. Ich bin gekommen, um es endlich besser zu machen. Und solange unser Heer noch nicht bereit ist, werden wir zeitweise ein anderes benötigen."

Peroth drehte sich langsam wieder zu Xejohl herum. Fassungslos starrte er den Elfen-König eine Weile an. "Ihr habt ihm Eure Armeen überlassen?", fragte er zur Vorsicht noch einmal.

Xejohl mied seinen Blick. "Was hätte ich denn tun sollen?", lautete seine stumme Botschaft. "Ich kenne die Prophezeiungen der Weisen.", murmelte er leise, so dass es gerade eben noch Peroth und ein paar in seiner Nähe verstehen konnten. Auf einmal wirkte der Herrscher müde und alt, am Ende seiner Kraft. "Sie sind nicht eingetroffen."

"Das sind sie!", widersprach Peroth. "Das sind sie wirklich!"

Der Fremde lachte bitter. "Davon träumst du. Du solltest gehen. Wohin auch immer du willst, vielleicht zurück in dein kleines Wäldchen? Aber hier wird dich nun keiner mehr brauchen."

Kurz zögerte der Isk-Meister noch, dann sah er die Ratsmitglieder noch einmal der Reihe nach an. Sie sahen ein wenig unsicher zurück, da sie keine Ahnung hatten, was auf einmal eigentlich vor sich ging. Sie wünschten sich Aufklärung, doch niemand schien sich die Mühe machen zu wollen. Also ging Peroth.

"Ihr werdet verloren sein.", flüsterte er noch einmal zum Abschied mehr zu sich selbst.

Doch bevor er die Halle durch die große Doppeltür verlassen konnte, wurde sie von außen geöffnet und ein weiterer Gast trat ein, der sofort die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zog, auch wenn er ihnen umgekehrt nicht die geringste Beachtung schenkte. Die Beiden trafen aufeinander und blieben stehen. Zunächst war der Neuankömmling leicht irritiert als er vor seinem einstigen Lehrer stand.

"Rugar.", seufzte Xejohl als dieser schließlich weiter auf die Versammlung zuging. Noch immer bedeckte Schnee seine Kleidung und der lange Umhang schien zu Eis gefroren. Starke Schneestürme tobten vor den Eingängen in das Höhlenlabyrinth.

Hinter ihm kamen Stalca und David ins Sichtfeld der interessierten Schaulustigen. Schnell eilten Helfer herbei, die David halfen sich auf eine nahe Bank zu setzen. Er konnte kaum noch selbst stehen, sein verletzter Fuß schmerzte unerträglich und er konnte nicht mehr aufhören vor Kälte zu zittern, obwohl die große Halle gut beheizt war.

Erfreut kam Peroth auf Stalca zu. Der junge Isk blickte zu seinem Meister auf. Ein Blick voller Vorwurf, leichte Verzweiflung und tiefer Schmerz. Es schien, als wäre er in einem nicht enden wollenden Albtraum gefangen, der ihm kein Erwachen brachte. Erschrocken hielt Peroth inne. "Stalca, was..."

Stalca warf einen kurzen Blick über die versammelte Masse, die noch immer aufmerksam zu ihnen herüber starrte, in der Hoffnung Entscheidendes nicht zu verpassen. Ein unruhiges Flackern trat in seinen Blick und Peroth schien er entweder zu übersehen, oder mit Absicht zu ignorieren. Er drehte sich um und suchte einen Weg die Halle wieder zu verlassen.

"Stalca!", hielt Peroth ihn energisch auf.

Stalca blieb stehen, doch als er sich wieder herumdrehte, hob er nur trotzig den Kopf. "Was wollt Ihr von mir? Vielleicht ist es an der Zeit mir einmal die Wahrheit zu sagen. Ich habe genug von den ewigen Legenden und Geheimnissen und ich lasse nicht mit mir machen, was andere wollen."

Sein Tonfall war Peroth gegenüber unangemessen, doch er wahrte genug Höflichkeit, um seine Stimme so weit zu dämpfen, dass sie nur von denen gehört werden konnten, die direkt um sie herum standen. Peroth jedoch erwiderte darauf nichts und ließ Stalca gehen, der auf die nächstbeste Tür zusteuerte.

Rugar kümmerte sich in der Zwischenzeit um andere Dinge, als er vor dem Versammlungstisch des Rates stehen blieb. Er sparte sich jedwede Form der Begrüßung und schenkte den Übrigen nicht einmal einen Blick. Seine Differenzen zu dem Rat waren weithin bekannt. Er war genauso wenig gern gesehen, wie es Nekat war.

" Wie Ihr sicher in der Zwischenzeit erfahren habt, gab es auf unserer Reise hierher den ein oder anderen Zwischenfall.", wandte er sich direkt an Xejohl. "Ich habe die beiden Jungen gefunden und es geht ihnen gut, doch es hätte schlimmer kommen können. Die Gegend um Yéist nicht unbedingt sicher. Vielleicht sollten wir Späher aussenden, um herauszufinden, wie dicht Atúoder Justakas Männer uns wirklich sind, bevor noch mehr Menschen zu Schaden kommen."

"Es ist Krieg.", mischte sich der Fremde erneut ein. "Krieg erfordert Opfer. Zumindest muss man damit rechnen."

Einen Moment lang schien Rugar zu überlegen, ob er diesen Einwand nicht ganz einfach ignorieren wollte. Aber dann drehte er sich doch zur Seite und betrachtete die geheimnisvolle Gestalt eine Weile von oben bis unten.

"Was ist das denn für ein komischer Vogel?"

Der Elf erstarrte plötzlich, Fassungslosigkeit spiegelte sich in seinem Gesicht wieder. Es schien ihm tatsächlich die Sprache verschlagen zu haben.

"Entschuldigt seine Respektlosigkeit.", versuchte Xejohl die Situation zu retten. "Er..."

"Sagt mal, habe ich irgendetwas verpasst?" Rugar starrte eine Weile ratlos auf Xejohl. Normalerweise hatte es der Herrscher dieses Minireiches nicht nötig sich für irgendetwas oder gar irgendjemanden zu entschuldigen. Und er zog es vor, dies auch zu keiner Situation zu tun. Aber nun wirkte er seltsam verändert. Er schien nicht mehr derjenige zu sein, der er noch vor wenigen Wochen war. Er wirkte mit einem Mal zerbrechlich und schien nicht mehr der starke Mann zu sein, der er in vieler Augen war.

Rawnes trat nun aus dem Hintergrund auf Rugar zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter um ihn zu bremsen. "Das ist eine ziemlich komplizierte Geschichte, fürchte ich.", flüsterte sie so leise, dass es niemand außer sie hören konnte. "Ich erkläre es dir später, in Ordnung?"

Sie machte eine kurze Pause und betrachtete ihn besorgt. "Du solltest da nicht wieder raus gehen.", meinte sie. "Wir werden jemanden finden, der sich umsieht. Und meinetwegen kannst du ihnen folgen, aber erst nachdem du wieder einigermaßen aufgetaut bist, sonst wirst du dort draußen doch noch erfrieren."

Rugar wollte protestieren, doch sie hielt ihn rechtzeitig auf. "Bitte! Meinetwegen werde ich mich an der Suche beteiligen, wenn dich das beruhigen sollte, aber bitte bleibe wenigstens für ein paar Stunden hier."

Sie sahen sich eine Weile direkt in die Augen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Er war deutlich unzufrieden mit dem, was Rawnes von ihm verlangte. Sie wollte ihn mit allen Mitteln hier behalten, denn sie wusste, er würde bis zu seinem Ende dort draußen bleiben, wenn er zuvor nichts Zufriedenstellendes in Erfahrung bringen würde. Schließlich wich er ihrem Blick aus.

"Du wirst nicht dort nach draußen gehen.", meinte er. "Es ist zu gefährlich."

"Bleib hier.", schaltete sich nun Peroth dazwischen, der sich ihnen nun wieder zuwandte. "Du wirst hier vielleicht dringender gebraucht. Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, was er vorhat, aber es kann nicht viel Gutes sein. Er wäre nicht traurig darüber gewesen, wenn David und Stalca dort draußen verschollen geblieben wären."

Er schwieg in Gedanken versunken. Es war unschwer zu erkennen, wen er damit meinte, denn er warf einen langen, nachdenklichen Blick in die Richtung des Elfen.

"Wieso?" Rugar war für einen Moment zu verblüfft, um sich auch nur darüber aufregen zu können.

"Später vielleicht.", blockte Peroth ihn entschlossen ab. Er wollte bereits gehen, doch dann drehte er sich noch einmal zurück. "Sei vorsichtig. Und pass auf die Jungen auf. Das ist wichtig. Hast du verstanden?"

"War nicht so schwer. Ja.", behauptete Rugar.

"Gut, gut." Peroth schien ein wenig erleichterter zu sein und machte sich auf den Weg.

DER HERRSCHER DER NACHT

Es wird beginnen und gleichzeitig enden.

Die Welt wird untergehen und gleichzeitig neu entstehen.

Sie wird im Chaos versinken und in der Ordnung emporsteigen.

Dies wird geschehen, sobald die Vier zusammentreffen.

Der Erste, der Auserwählte wird er sein.

Seine Aufgabe, das Ende der Welt zu retten.

Unwichtig wird er erscheinen und verborgen seine Taten.

Doch gleichzeitig der Wichtigste von allen.

Der Zweite, der Verräter.

Seine Aufgabe, seinen Herrn verraten und bestehlen.

Er, der kein Verräter sein will, es ist,

aber dennoch nicht sein wird.

Der Dritte, der Herrscher der Nacht.

Seine Aufgabe, vollenden, was zu Ende gehen sollte.

Auf seinen Ruf wird sich das Heer erheben.

Das Heer der Verborgenen.

Der Vierte, Kämpfer des Schicksals.

Seine Aufgabe, die Ordnung wieder zu erstellen.

Nur er kennt die verborgenen Pläne,

nach denen sich die Welt regiert.

Auf das Geschehen wird, was geschehen soll.

Auf das verhindert wird, was verhindert werden sollte.

(III. Prophezeiung der Weisen)

Während in der Halle der Rat nun begann heftig zu debattieren und Erklärungen für das eben Geschehene suchte, hatten sich Peroth, Rawnes und Rugar zurückgezogen, um nun ihrerseits erfahren zu können, was vor sich ging. Kaum waren sie gegangen, hatte sich auch Xejohl mit seinen engsten Beratern und Vertrauten zurückgezogen, um in Ruhe seine Gedanken ordnen zu können und wahrscheinlich wichtige Entscheidungen zu treffen.

Peroth, Rawnes und Rugar waren auf eine der etlichen Balkone geflüchtet, die wie kleine Landeplattformen aus der Burg herausragten. Hier hatten sie Ruhe gefunden, weit ab von der plötzlichen Hektik, die ausgebrochen war. Nur das Tosen des Flusses unter ihnen störte die Stille. Doch wenn man allein war und sich nur auf das Rauschen konzentrierte, so fiel man in eine leichte Trance und gab sich vollständig dem Fluss hin. Der Yesúw würde leben, so behaupteten viele, genau so, wie das grüne Gold auf seinem Bett leben würde.

"Was ist mit dem Jungen?", versuchte Rugar Peroths Aufmerksamkeit zu erlangen. "Inzwischen wird es auffällig und nicht nur Stalca glaubt, dass du ihn für jemanden Bestimmtes hältst."

Statt sofort zu antworten, starrte Peroth nur weiterhin in ein Glas, aus dem er noch kaum getrunken hatte. "Ich war -- nein, ich bin mir noch immer nicht sicher. Früher habe ich mich auch schon oft geirrt und nun -- nun mache ich es wohl auch falsch."

Rugar beugte sich ein Stück vor. "Könnte es endlich jemand sein, der uns wirklich helfen kann?"

"Vielleicht, aber..." Peroth sah auf. Zweifel lag in seinem Blick. "Wie gesagt, ich bin mir nicht sicher."

"Ob er es ist?" Langsam wurde Rugar unruhig.

"Nein, er ist es, keinen Zweifel, aber ob er es kann ist die Frage." Mit den Händen rieb Peroth sich die schmerzenden Schläfen. "Es ist komplizierter, als ihr denkt. Stalca ist der Sohn von Irask, der wiederum..."

"... aus dem Zusammenschluss von Ulasta und Sherina hervorging.", unterbrach Rawnes ihn. "Wir wissen mehr, als Ihr uns vielleicht zutraut."

"Es überrascht mich wirklich, dass ihr davon wisst.", gestand Peroth. "Man hat sich große Mühe gegeben ihn in Vergessenheit geraten zu lassen, da er unfreiwillig einen großen Irrtum bewies. Bis heute hält sich hartnäckig der Glaube, dass wenn ein Gott oder Dämon stirbt, auch sein oberstes Attribut verloren geht, was bedeuten würde, dass die Menschen nicht mehr sterben würden, sollte Justaka sein Leben beenden, oder sie nicht mehr träumen, wenn es Ulasta nicht mehr geben sollte. Als Irask jedoch vor sechs Jahren getötet wurde, hat sich nicht geändert obwohl ihm nachgesagt wurde, er würde die Menschen vor den Schrecken der Nacht bewahren und ihnen den Schlaf schenken."

Rawnes hörte ihm schweigend zu und spielte mit ihren Fingern. Sie musste dem alten Meister zustimmen, immerhin schlief sie nach wie vor gut. Auch war Peroth momentan derjenige, der am Meisten von all diesen Geschichten wusste. Trotzdem fiel es ihr schwer einen tief verwurzelten Glauben, den sie seit ihrer Kindheit erlebte, plötzlich teilweise in Frage zu stellen. Aber seit sie Rugar und Nekat kannte, hatte sich schon vieles in ihrem Denken verändert.

"Und Stalca ist sein Sohn?", wiederholte Rugar skeptisch.

"Ja, dass ist er, aber wenn ihr irgendetwas Spektakuläres erwartet, so muss ich euch enttäuschen. Er ist ein völlig normales, sterbliches Wesen.", antwortete Peroth. "Irask war einer der Ersten, die ihre eigene Existenz in Frage stellten, wenn die Menschen nicht mehr an sie glaubten. Er wollte ein eigenes Leben in der Welt der Sterblichen aufbauen und das tat er auch. Leider gehörte für ihn auch das Schicksal der Isk dazu."

"Er wurde als Herrscher der Nacht bezeichnet.", mischte sich nun Rawnes dazwischen. "Und Ihr teiltet uns bereits mit warum, doch ist er auch fähig gewesen Kreaturen der Nacht zu beschwören?"

"Ich weiß, worauf du hinaus willst, auch wenn mich deine Kenntnisse wieder verwundern." Peroth warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. "Doch es ist nicht dasselbe. Das Beschwören, oder besser Herbeirufen der Dunklen Armee, die du sicher meinst, hat einen anderen Hintergrund. Die Armee besteht aus Nachtelfen, wie Nesar einer ist, nur aus den Toten dieses Volkes. Wegen Verrats lastet ein schwerer Fluch auf ihnen, der sie selbst bis nach dem Tod in den Dienst der Götter zwingt. Es gibt ein Horn, welches sie in die Schlacht ruft, aber sie werden gnadenlos alles Leben auslöschen."

"Ich nehme an, da Irask nun selbst tot ist, gehört diese Eigenschaft zu denen, die sich auf die Nachkommen vererben?", hakte Rugar nach.

"Richtig.", bestätigte Peroth.

"Und das Horn ist nicht zufällig das Horn, dass..."

"Doch.", fiel Peroth ihm ins Wort. "Justaka war noch nie ein großer Freund von Blasinstrumenten."

"Was meint Ihr damit?", wollte Rawnes wissen.

"Das Horn liegt in der Festung Justakas.", beantwortete Rugar ihr die Frage. "Wir müssen uns also darüber nicht weiter unterhalten."

"Großartig.", seufzte Rawnes.

"Selbst wenn wir es zur Verfügung hätten, wüsste ich nicht, welche Auswirkungen es auf einen jungen Mann hätte diese Armee zu rufen und zu kontrollieren." Peroth war inzwischen aufgestanden und blickte auf das tosende Wasser unter ihnen hinab. "Sie sind schrecklich und kaltblütig und jeden ihrer Gedanken, jeden ihrer Schritte und jedes Mal, wenn eines ihrer Schwerter einen Menschen tötet, wird man es miterleben, als täte man es selbst."

Rawnes schüttelte sich fröstelnd. "Nun, dies scheint mir also nicht der perfekte Plan, lasst uns über etwas anderes sprechen. Wer ist dieser Nesar und was will er überhaupt?"

Zunächst herrschte abwartende Stille und nur das Rauschen des Flusses war zu hören. Dann wandte Peroth sich wieder ihnen zu. Einige Sorgenfalten mehr zeigten sich auf seiner Stirn.

"Er ist ein Bote der Götter, manche sagen sogar ein direkter Berater Ulastas.", erklärte der Isk. "Sein Wort hat viel Macht, da sein Wille dem Ulastas entspricht. Er ist gekommen, um Unterstützung zur Sicherheit des Sitzes der Götter anzufordern. Dabei hat er es auf Xejohls Elfenarmee abgesehen, aber wir haben nun eine reelle Chance, dass der König seine Unterstützung uns gewährt."

"Weil er die Sache mit Stalca glaubt und an die Prophezeiungen der Weisen, hinter denen Nekat her ist.", erinnerte Rugar. "Doch für deren Erfüllung können wir ihm keinerlei Garantie geben."

"Wir werden sehen, was er glaubt.", wehrte Peroth ab.

"Gut, eine andere Frage also: Gehört dieser Nesar zu den Guten oder zu den Bösen?", überlegte Rugar.

"Was für eine Frage!", warf Rawnes ein. "Wenn er böse Absichten hätte, würde das ja bedeuten..."

Sie brach in ihren Gedanken ab und biss sich verzweifelt auf die Unterlippe.

"Es gab einmal eine Zeit, in der die Beziehungen zwischen den Göttern und den Menschen sehr viel enger miteinander verknüpft waren.", begann Peroth sanft. "Darauf vertraut Ulasta zu Recht nicht mehr. Heute werden die alten Sagen als ein veralteter Glaube der Isk angesehen, ohne sich daran zu erinnern, dass dies auch einmal der eigene Glaube gewesen ist. Ich würde nicht behaupten, dass die Götter uns böse gesinnt sind. Ulasta ist egoistisch geworden, vertraut nur noch sich selbst und denkt nur an das eigene Wohl."

Wieder herrschte eine drückende Stille, bis Rugar sich räusperte. "Vielleicht ist es besser den morgigen Tag abzuwarten, bevor wir uns über zu viele Spekulationen den Kopf zerbrechen."

"Ja, da hast du wohl Recht.", stimmte Peroth ihm zu. "Ich freue mich auch schon darauf endlich wieder eine Nacht in einem gemütlichen Bett verbringen zu können."

Rawnes starrte vor sich auf den Boden, auch als Peroth schon gegangen war. Das Rauschen des Wasserfalls hallte in ihren Ohren und sie versank in ihren düsteren Gedanken, bis sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Ihr war entgangen, dass Rugar bei ihr geblieben war.

"Mir geht es gut.", behauptete sie und sah zu ihm auf. "Ich bin nur auf einmal so müde, ich weiß auch nicht warum. Es wird morgen bestimmt schon besser, heute war es einfach ein wenig anstrengend."

Skepsis blieb in Rugars Augen, doch sie stand entschlossen auf. "Wirklich."

"Ich bezweifle das ein wenig.", warf Rugar ein, doch er beließ es wie immer dabei.

Seine Anteilnahme ehrte ihn, auch wenn sie nie darauf einging. Natürlich hatte er Recht: Sie überforderte sich, hatte in den letzten Nächten mehr gelesen als geschlafen. Tagsüber war sie damit beschäftigt gewesen einem möglichen Angriff entgegenzuwirken. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich inzwischen bestätigt, Atúwar womöglich bereits unterwegs. Dies besserte ihr Gemüt nicht unbedingt.

"Vielleicht hast du Recht.", gab sie so leise zu, dass Rugar es kaum hören konnte.

Sie trat auf ihn zu und drückte ihr Gesicht gegen seine Brust. Tatsächlich fühlte sie sich ein wenig kraftlos, nachdem nun auch Peroth ihre letzten Hoffnungen zerstört hatte.

"Dich beschäftigt noch immer etwas.", stellte Rugar fest, während Rawnes sich wieder von ihm löste. "Macht jedenfalls den Eindruck."

"Ich war mir nicht sicher, ob es Peroth gefallen würde, wenn er wüsste, dass wir es wissen.", bestätigte sie. "Ich glaube, es hat ihm noch nicht einmal gefallen, dass wir das hier nun schon wissen. Prophezeiungen haben einen Haken: Je mehr von ihr wissen, desto weniger gehen sie in Erfüllung und die Prophezeiungen der Weisen scheinen sehr wichtig zu sein. Leider kenne ich nur winzige Auszüge aus ein paar unwichtigen von ihnen." Sie machte eine kurze Pause. "Wie gut kennst du Justaka?"

"Soll das ein Witz sein? Für wen hältst du mich?", erwiderte er. "Ich habe ihn noch nicht einmal wirklich gesehen. Es gibt nur einen, der ihn kennt und dieser jemand ist Anrar. Vielleicht unterhält er sich mal mit dir, wenn du ihn nett fragst."

"Ich frage nur, weil mir eine Sache komisch vorkommt.", erklärte sie ihm. "Als ich das Buch gelesen habe und wieder einigermaßen zusammengefügt, da fiel mir eine nachträgliche Randnotiz auf. Gerade in dem Abschnitt, wo es vor allem um Irask ging. Sie war nicht von dem Verfasser des Buches geschrieben, dazu war die Handschrift viel zu unleserlich. Als würde sie von einem kleinen Kind geschrieben oder als wollte dieser Unbekannte es eigentlich gar nicht schreiben, als würde ihn jemand anderes daran hindern wollen. Na ja, auf jeden Fall besagt diese Notiz, dass Justaka der Großvater von Irask sei."

"Aha.", war zunächst einmal alles, was Rugar darauf zu antworten hatte. "Das würde also bedeuten Sherina wäre seine Tochter oder Ulasta sein Sohn."

"Ich glaube, Sherina ist seine Tochter.", überlegte Rawnes. "Aber das würde bedeuten, dass Justaka ein Isk wäre und das ist es dann, was die ganze Sache auch so komisch macht. Das könnte ich mir nicht vorstellen, aber die Alternative ist noch viel unvorstellbarer. Irgendetwas stimmt da nicht."

Rugar zuckte nur mit den Achseln. Enttäuscht sah sie ihn an. "Es ist dir egal, oder?"

"Tut mir leid.", entschuldigte er sich. "Aber es scheint so."

"Gibt es wirklich nichts auf dieser Welt, was dir nicht egal ist?"

Sie wusste, dass es nicht einfach war. Auch nach zweitausend Jahren nicht. Rugar war nun einmal, was er war und so schnell konnte sich daran nichts ändern, auch wenn sie es in einigen Momenten gerne gehabt hätte. Er kannte keine Emotionen und es war schon immer fraglich, ob er sie auch jemals kennenlernen würde. Sie konnten eigentlich schon froh sein, dass er bei ihnen blieb, auch wenn es ihm sicher eigentlich egal war. Er war noch nie besonders viel mehr gewesen, als jemand, dem man Befehle erteilte und der sie aufs Kleinste genau ausführen würde, dem nur das nicht egal war.

Sie erhielt solange keine Antwort, dass sie sich schließlich herumdrehte. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, doch da wich er ihr schon wieder aus. Aber es reichte ihr und ein triumphierendes Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit.

"Hast du heute Abend noch etwas vor?"

Sie sprang auf und ihre Augen leuchteten wieder mit ihrem unternehmungslustigen Glanz.

"Nein. Ich habe nie etwas vor.", antwortete er schließlich.

"Gut.", meinte sie. "Dann lass uns noch was essen gehen. Ich hatte schon den ganzen Tag noch nichts Vernünftiges zu essen. Und unterwegs sehen wir noch einmal bei David vorbei. Er wird schlafen, hoffe ich, doch ich muss einfach wissen, wie es ihm geht und ob sie sich auch wirklich gut um ihn kümmern."

Sie drängte schon vorwärts und wollte ihn bereits mit sich ziehen, doch er hielt sie zurück. "Es gibt doch etwas auf dieser Welt, was mir nicht egal ist.", sagte er schließlich, als wäre es ihm gerade erst wieder eingefallen. Dann küsste er sie. Er wusste nicht einmal wieso, aber diesmal hielt er es nicht für nötig länger darüber nachzudenken und so tat er es einfach.

DIE VERLORENEN KINDER

Er bekam nicht wirklich mit, was mit ihm und um ihn herum geschah. Auf einmal war der Zeitpunkt erreicht, wo er einfach nicht mehr konnte, an dem er bereit war alles aufzugeben. Die Kälte wurde egal, der Hunger wurde egal und das einzige was nur noch zählte war die überwältigende Müdigkeit, die ihn befiel. Sein einziger Wunsch war es fortan zu schlafen. Sich hinzulegen und zu schlafen, doch tief in seinem Innern kämpfte er noch immer dagegen an. So kam er nicht zur Ruhe, auch wenn ihn eine immer lauter werdende Stimme in seinem Kopf dazu ermutigte.

Irgendwann war es vorbei. Der ständige Kampf wach zu bleiben, durchzuhalten und auf Rettung zu hoffen. Der Kopf wurde furchtbar schwer und wollte immer wieder nach vorne fallen. Der Schmerz im Fuß hörte mit einem Mal auf, der Körper schien vor Hitze zu verbrennen und gleichzeitig schlotterte er vor Kälte. Doch diese Signale erreichten schon lange nicht mehr ihr Ziel.

Die Umgebung begann allmählich zu verschwimmen und schließlich sah er nur noch Finsternis, von ein paar wenigen noch dunkleren Umrissen unterbrochen. Er versuchte zu reden, aber sein Mund war trocken und die Lippen aufgesprungen. Seine Ohren hörten seine Worte nicht und so gab er es gleich auf. Später spürte er, wie ihn jemand in eine Decke oder ähnliches wickelte. Wie er hochgehoben wurde und auf ein Pferd gesetzt. Er versuchte die Augen zu öffnen, doch er konnte nichts sehen. Geräusche bestanden nur noch aus dumpfen Pochen, die Kopfschmerz verursachten.

Das Pferd unter ihm bewegte sich so schnell es ihm möglich war durch den Schnee. Jemand saß hinter ihm und hielt ihn auf dem Rücken des Tieres. Er besaß längst nicht mehr die Kraft sich selbst zu halten. Dann bekam er gar nichts mehr mit. Die Welt versank nun vollständig in Finsternis, sein Körper reagierte auf keine Wirkungen mehr und er konnte sich hinterher nicht mehr erinnern, was geschehen war.

Das Erste, was er wieder mitbekam war, dass er in einem weichen Bett lag. Normalerweise schien es sich um ein ganz gewöhnliches Bett zu handeln, aber er lag auf einem Dutzend Decken und fast ebenso viele waren über ihn ausgebreitet. Sein Kopf lag versunken in einem Berg von Kissen, aber trotzdem spürte er die Wärme nicht. Es schien noch immer alles so kalt wie zuvor zu sein. Er versuchte sich zu bewegen, aber seine Knochen schienen zu Eis erstarrt. Wenigstens gelang es ihm für kurze Zeit die Augen zu öffnen und so konnte er feststellen, dass er in einem kleinen, hellen Zimmer lag. Ein gewöhnliches Gästezimmer. Ausgestattet mit dem Bett, auf dem er lag, einem Tisch mit zwei Stühlen, einer großen Truhe für persönliche Besitztümer und ein großer Kleiderschrank, der eine gesamte Wand für sich beanspruchte. Auf dem Tisch stand eine große Schale mit Obst, aber komischer Weise verspürte er keinen Hunger.

Er schmeckte einen leichten, bitteren Geschmack nach Kräutern in seinem Mund und glaubte, irgendetwas Nahrhaftes zu sich genommen zu haben. Auf dem Fenstersims stand eine Vase mit einem Strauß Blumen. Er fragte sich, wo zu dieser Jahreszeit noch solch duftende Blumen herkommen konnten. Langsam begann er auch wieder deutlicher zu hören. Zuerst dachte er auch das monotone Rauschen wäre nur die verzerrte Wiedergabe irgendwelcher anderen Geräusche, doch nun erkannte er es eindeutig als das Rauschen eines reißenden Flusses. Eine Tür gab es in diesem Zimmer nicht. Dort wo sie normalerweise war, gab es nur einen dunklen, zugezogenen Vorhang, so dass man die eiligen Schatten sehen konnte, die im Flur vorbei huschten.

Auf einem der Stühle hingen seine Kleider. Sorgfältig zusammengelegt und gewaschen, wie es schien. Er selbst trug nun fremde Sachen, die, wenn man bedachte in was für einem Bett er gerade lag, eigentlich viel zu warm sein müssten, doch noch immer hatte er das Gefühl ein Eisklotz zu sein.

"Hallo.", meldete sich mit einem Mal eine Stimme von dem Eingang des Zimmers. Überrascht erblickte er Faith, die den Vorhang beiseitegeschoben hatte und nun im Raum stand. "Ich wollte dich nicht stören, aber ich wollte wissen, ob es dir schon besser geht."

"Mir geht es...", versuchte David zu antworten, doch er brachte kaum einen Ton aus seiner trockenen Kehle hervor. "... schon besser. Aber nicht besonders gut, fürchte ich."

"Vielleicht sollte ich wieder gehen.", meinte Faith. "Du möchtest dich sicher weiter ausruhen."

"Nein.", hielt er sie auf und versuchte sich mit wenig Erfolg ein wenig aufzusetzen. "Nein. Ich würde mich ehrlich über ein wenig Gesellschaft freuen. Setz dich doch."

Einen Moment zögerte sie noch, doch dann nahm sie sich den freien Stuhl und stellte ihn ein wenig näher an das Bett.

"Wo sind wir?", fragte er, als sie sich schließlich gesetzt hatte.

"Wir sind in Yesúw.", erklärte sie ihm. "Du hättest es von außen sehen sollen. Es war wirklich beeindruckend. Schon allein dieser Fluss. Und alles um einen herum leuchtet in so einem Grün und Gelb. Überall sind Höhlen und du fragst dich, wohin die wohl alle gehen. Wo sie enden mögen, ob vielleicht jemand in ihnen lebt oder ob sie einfach nur nach draußen führen. Vielleicht aber auch tiefer in den Berg hinein und irgendwann enden sie in einer dieser riesigen Tropfsteinhöhlen, von denen man sich erzählt. Ich würde sie zu gern erkunden, aber man braucht sicherlich Tage dafür. Und am Ende sitzt dann da nur ein Monster und frisst dich zur Belohnung für deine Mühen auf."

Sie lachte leise, als sie sich dies vorstellte. Dann sah sie auf, als würde sie gerade aus einem Tagtraum erwachen. "Tut mir leid."

"Was denn?", beruhigte er sie. "Ich habe wohl was verpasst. Erzähl nur."

"Na ja.", fuhr sie fort. "Wir sind dann halt diesen Fluss runter gefahren. Irgendwann hörte man dann dieses ohrenbetäubende Rauschen, was einen komischer Weise überhaupt nicht stört. Es wurde immer lauter, aber trotzdem floss der Fluss in aller Ruhe weiter und die Strömung wurde nicht stärker, oder so. Schließlich war da nur noch eine enge Biegung und als wir da um die Ecke gefahren sind, stand sie auf einmal vor uns. Diese Burg. Das war wirklich atemberaubend. Sie stand plötzlich wie aus dem Nichts so da. Direkt am Wasserfall, als würde sie schon tausend Jahre da stehen. Groß und mächtig mitten in diesem Berg, wie eine richtige Festung, die draußen auf irgendeinem Hügel steht. Zuerst hatte ich fast Angst, dass wir gleich darauf den Wasserfall runterfallen, denn er war nun ebenfalls direkt vor uns. Aber wenn man nicht direkt in der Mitte fährt, sonder ein Stück rechts davon, so wird man irgendwann von einer Strömung erfasst, die einen direkt an die Burg heran spült. Dort sind wir dann ausgestiegen. So unglaublich es klingt, aber es können richtig kleine Schiffe den Fluss befahren, so dass auch unsere Pferde mitfahren konnten. Und du bist auch wirklich nicht müde?"

David schüttelte den Kopf. "Nein, wirklich nicht. Ich denke ich habe schon genug geschlafen."

"Ein paar Stunden nur.", meinte Faith.

"Ein paar Stunden?", wiederholte er ungläubig. "Es kommt mir schon wie Tage vor."

"Sie haben dir so ein Wundermittel gegeben. Keine Ahnung, wie das genannt wird. Auf jeden Fall scheint es ja hervorragend zu wirken. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es besonders gut schmecken würde."

"Keine Ahnung.", gestand er.

"Hast du Hunger?", fragte sie und schielte bereits selbst zu der Obstschale.

"Nein, aber iss ruhig etwas, wenn du Hunger hast.", forderte er sie auf.

Sie stand auf und nahm sich einen roten Apfel. "Ich hatte heute noch gar nichts Wirkliches zu essen.", meinte sie, während sie noch am Kauen war.

"Wieso nicht?", fragte er.

"Weiß nicht.", antwortete sie. "Es gab eigentlich schon etwas zu essen in irgendeinem großen Esssaal, aber ich hatte wohl noch keinen richtigen Appetit."

Er blickte sie nur skeptisch an, sagte darauf aber nichts. Lange Zeit schwiegen sie einfach nur und lauschten dem rasch dahin strömenden Fluss. David war solch eine Situation nicht fremd und er hasste sie. Wenn man sich gegenüber saß, nichts zu sagen wusste und sich einfach nur anschwieg. Die meisten fingen in solchen Situationen an über das Wetter zu reden, über den Nachbarn zu tratschen oder einfach nur die letzten Geschehnisse zusammenzufassen. Aber er fand diese Themen auch nicht immer besonders ergiebig und aus Erfahrung wusste er, dass sie auch nicht lange ausreichenden Gesprächsstoff lieferten. Während er noch vor sich hin grübelte, was er denn sagen könne, führte sie bereits wieder ihre Unterhaltung fort.

"Was ich dich schon immer fragen wollte.", begann sie zögernd. "Kennst du sie auch, diese Träume, die schon fast wie Erinnerungen sind und allmählich auch nicht nur nachts kommen? Das klingt vielleicht verrückt, aber..." Sie verstummte wieder.

"Nein.", widersprach David. "Ganz im Gegenteil. Ich meine, vielleicht ist es ja verrückt, aber für mich klingt es nicht so. Ich weiß, wovon du sprichst. Erinnerungen, die keine Erinnerungen sein können, da sie nicht aus meinem Leben zu sein scheinen und es irgendwie dennoch sind. Aber zwischendurch kommen Träume auch tagsüber, die dann keine wirklichen Träume mehr sind, sondern noch viel mehr. Ich weiß nicht, als wäre es wirklich geschehen."

"Es ist wirklich geschehen.", bekräftigte sie. "Hast du so was oft?"

Er schüttelte langsam den Kopf, nachdem er darüber nachgedacht hatte. "Nicht wirklich. In letzter Zeit eigentlich gar nicht, was auch nicht weiter schlimm ist, denn ehrlich gesagt habe ich nicht immer gerade viel davon verstanden."

Wieder schwiegen sie. "Ich kann es beeinflussen.", meinte sie schließlich.

David richtete sich aufmerksam wieder ein Stück weiter auf. "Was meinst du damit?"

"Ich muss mich nur stark genug konzentrieren.", antwortete sie. "Ich muss mir nur ganz genau vorstellen, was ich wissen will. Was irgendwo irgendwann geschehen ist. Und dann kann ich es sehen. Es ist, als würde ich direkt daneben stehen und doch tue ich es nicht. Das ist irgendwie unheimlich."

"Geht das auch mit Dingen, die noch nicht geschehen sind?", wollte David wissen.

Sie hob den Kopf und blickte ihn nachdenklich an. "Ich weiß nicht."

Plötzlich hörten sie ein Geräusch und der Vorhang wurde erneut zur Seite geschoben. Mit einem knappen Lächeln stellte Stalca zufrieden fest, dass es David besser zu gehen schien. Er schob sich in das Zimmer hinein, um nicht weiter auf dem Flur zu stehen.

"Habt ihr Hunger?", fragte er schlicht. Er schien nicht gerade bester Laune zu sein, aber David hatte ihn bisher noch nicht viel anders erlebt. Es interessierte ihn schon brennend warum, doch bislang war es noch nicht angebracht gewesen zu fragen.

Faith zuckte mit den Schulten, obwohl David ihre Antwort schon wusste.

"Wenn ihr immer öfter darüber redet, schon.", sagte er selbst.

"Ich bezweifle, dass du in der Lage sein wirst zum Esssaal zu gehen.", bemerkte Faith.

"Wäre ja kein Problem was herzuholen.", behauptete Stalca stattdessen.

"Macht das ruhig, ich warte halt solange.", stimmte David dem zu, doch als die Beiden sich nach einer kurzen Verabschiedung auf den Weg machten, überfiel ihn wieder der Wunsch nach Schlaf, aber er blieb wach.

Zum ersten Mal seit einigen Tagen fühlte er sich auf eine bizarre Weise zufrieden. Gerade eben erst war er von dämonischen Kriegern verfolgt worden und wäre beinahe auf der Flucht erfroren. Trotzdem schien das schon wieder weit weg, denn etwas anderes wurde viel wichtiger.

Er war nicht mehr länger irgendjemand, der zufällig einer bunt zusammengestellten Gruppe folgte, da ihm nichts anderes übrig blieb. Inzwischen begann er sich mit ähnlichen Leidgenossen zusammenzugesellen und dieses Gefühl überwog doch zunächst alle anderen Sorgen.

ZWISCHENSPIEL

Er hatte eine der beliebtesten Arbeiten inne, die es in Yesúw gab. Er gehörte der Elitegarde des Königs an und seine einzige Aufgabe bestand darin, den König und seine Festung zu bewachen. Diese Arbeit war deswegen so beliebt, da es einfach nichts zu tun gab. Der König hielt sich in den letzten Jahren nur innerhalb der Burgmauern auf und dort gab es nie irgendwelche Zwischenfälle. Die Leute fürchteten sich vor möglichen Folgen eines Verbrechens, denn es hieß, der Fluss würde jeden Verbrecher zu sich holen. Natürlich wusste niemand, wie viel Wahrheit dieses Gerücht enthielt, aber trotzdem hatten sie Angst vor dem reißenden Fluss.

So sorgte der Yesúw dafür, dass es für die Elitegarde keine Arbeit mehr gab. Zwar gab es für sie hartes Kampftraining, falls doch etwas geschehen sollte, aber dieser Fall trat kaum ein.

Er selbst hatte dieses Mal die Nachtschicht übernommen und in wenigen Minuten würde er abgelöst werden. Er patrouillierte in einem der abgelegensten Bereiche der Festung. Hier gab es nur leere Zimmer und wenige Lagerräume. Früher ging es hier lebendiger zu innerhalb dieser Mauern. Selbst jetzt, wo die Vertreter und Ratsmitglieder zahlreicher Länder eingetroffen waren, wohnten bedeutend weniger Leute hier als damals.

So flog er allein seine Runden durch die verlassenen Gänge. Mit seinen Gedanken war er bereits bei der Planung des restlichen Tages. Auch die nächsten Tage würde er frei haben, so könnte er eigentlich mit seinem Sohn einen Ausflug nach draußen machen. Dieser kam allmählich in ein Alter, in dem er lernen konnte mit der Welt dort draußen umzugehen. Es wäre eine hervorragende Gelegenheit, denn sie hätten alle Zeit gehabt, die sie haben wollten.

Nur ein Umstand hinderte ihn daran auch nur im Entferntesten weiter darüber nachzudenken. Die Ratsmitglieder hatten sich nicht umsonst erneut wieder getroffen. Diesmal war es Ernst, denn anscheinend hatte der Menschenkönig Atúl ihnen den Krieg erklärt, was eigentlich undenkbar war, denn warum sollten die Menschen Krieg gegen sie führen? So etwas hatte es noch nie gegeben und eigentlich waren sie davon überzeugt gewesen, es würde auch niemals so weit kommen. Doch wenn es wirklich soweit kommen würde, dann musste er zur Stelle stehen. Er hatte noch nie darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn er in den Krieg müsste. Er war sich sicher, noch niemand hatte darüber nachgedacht, es könne einmal ihn treffen.

Er war so sehr in seinen Überlegungen verstrickt, dass er die Umgebung um ihn herum völlig vergaß. So war er eine Weile lang über der Spur herübergeflogen, ohne dass sie ihm weiter aufgefallen wäre. Erst später hielt er verblüfft inne. Der Einfachheit halber veränderte er sofort seine Größe, denn auch wenn Yesúw von Elfen bewohnt war, so war die Burg doch in der Größe von Menschen oder ähnlichen Wesen errichtet worden. Er kniete sich neben der Spur nieder, streifte einen Handschuh ab und befühlte den Boden. Sie war noch frisch, nicht angetrocknet. Frisches, feuchtes Blut.

Sein Herz begann stärker zu schlagen und vorsichtshalber umfasste er den Stab seiner Waffe ein wenig fester, als er sich wieder aufrichtete. Zögernd folgte er dem breiten Streifen. Jemand musste einen Verletzten über den Boden des Flures gezogen haben, bis zu einer der Türen, die in einen der kleinen Lagerräume führte. Lagerräume waren alle mit Türen versehen, im Gegensatz zu vielen anderen Zimmern hier. Auch an der Türklinke klebte ein wenig Blut und nur widerwillig stieß er sie auf. Sie war nicht verschlossen und ließ sich mühelos öffnen. Dahinter lag die Leiche. Er schluckte schwer. So etwas hatte es hier auch noch nicht gegeben.

Es dauerte gar nicht lange und sofort hatte sich der Mord herumgesprochen. Zwei Dutzend große und kleine Leute drängelten sich vor der kleinen Tür des Lagerraumes. Jeder wollte einen Blick auf die Tote werfen und alle wollten es nicht glauben. Tot, ermordet und erstochen, die Herrin von Naksa. Jeder wollte wissen wie und vor allem wieso so etwas geschehen konnte. Wer interessierte zurzeit noch weniger. Es konnte noch nicht lange her sein diagnostizierten die Heiler, die sich sofort geschäftig an ihre Arbeit machen wollten, doch sie kamen zu spät, um noch irgendetwas tun zu können. Ratlos zuckten alle Anwesenden nur die Achseln.

"Macht Platz für den König!", schallte schließlich eine Stimme über den aufgeregten Haufen und ehrfurchtsvoll wich die Masse zur Seite.

Xejohl schritt durch die Gasse, abgeschirmt von einigen Soldaten der Elitegarde, die sich mit einem Mal wieder furchtbar wichtig vorkamen. Doch er stieß sie nur grob zur Seite, als er am Tatort eingetroffen war.

"Was ist geschehen?", fragte er, nachdem er einen knappen Blick auf die tote Rawnes geworfen hatte.

"Sie ist tot.", verkündete der Berater vom Vortag fachmännisch. Sofort fing er sich einen solch bitterbösen Blick ein, dass selbst er erschrocken zusammenzuckte.

"Das weiß ich." Jedes von Xejohls Worten war wie ein Peitschenhieb. Noch niemand hatte den König in solch einem Zorn erlebt und sie zogen schüchtern die Köpfe ein. "Ich möchte wissen, wer, wie und wann. Vor allem aber wieso. Wenn ihr den Mörder noch nicht habt, weshalb steht ihr dann hier herum? Ich möchte unverzüglich wissen wer es war und wie dies geschehen konnte."

"Natürlich.", stotterten die Verantwortlichen und sahen sich ratlos an, denn keiner von ihnen hatte den Hauch einer Ahnung, wo er beginnen sollte.

Abseits von dem Rest der Ansammlung von Schaulustigen stand Rugar. Er wusste bereits was geschehen war und doch wusste er es auch nicht. Bis in den späten Morgen hinein hatte er lang und ausgiebig geschlafen. Er hatte zuvor nur selten ruhig geschlafen, denn Schlaf war normalerweise nichts für ihn. Es war eine Verschwendung von Zeit, auch wenn er davon eigentlich mehr als genug hatte. Auf jeden Fall hatte er nicht gemerkt wann sie aufgestanden war. Es war ihm irgendwann aufgefallen, dass sie nicht mehr da war, doch da hatte er noch an ihre Rückkehr geglaubt.

Aber sie kam nie wieder und noch bevor er es erfahren hatte, begann er es zu ahnen. Eine Ahnung, welche er sich genauso wenig erklären konnte, wie das, was geschehen war. Er hatte eine wunderbare Nacht gehabt, wie er sie noch nie in seinem Leben zuvor gehabt hatte. Er glaubte sich selbst gefunden zu haben, endlich eins zu werden mit dem Leben, welches er seit geraumer Zeit führte. Er war zufrieden und nichts war ihm in diesem Moment egal gewesen. Doch nun war dies alles wieder vorbei.

Er hätte es wissen müssen. Er hätte wissen müssen, dass er nicht in einer Welt der Sterblichen leben konnte. Er hatte hier nichts zu suchen, sie war ihm fremd. Was hatte er denn erwartet? Dass er eine Art Beziehung zu einer sterblichen Frau führen konnte? Nun hatte er erfahren, was zwangsläufig geschehen würde. Sie hatte nicht ewig Zeit zur Verfügung. Sie starb irgendwann und er wurde nicht einmal älter. Sie hätten sowieso nur eine Handvoll Jahre zur Verfügung gehabt. Vielleicht war es besser so, dass er schon jetzt zu dieser Erkenntnis kam. Er war nicht wie die Leute mit denen er die letzten Jahre verbracht hatte. Nicht einmal annähernd. Er gehörte hier einfach nicht her und so war es sicher besser zu gehen. Also ging er.

Mit einem lauten Klirren fiel das Stück Metall auf den steinernen Boden. Kilo schien es zu wiegen, eine kaum zu tragende Last. Völlig erschöpft, nach Atem ringend und zitternd stand sie in der Mitte ihres Zimmers und wusste nicht wohin. Eine Weile versuchte sie sich vergeblich zu beruhigen und sich einzureden, dass nun endlich alles gut werden würde, aber sie wusste, dass es eine Lüge war. Nur dafür war es jetzt zu spät. Ihre Knie wurden weich und gaben unter ihr nach. Verzweifelt ließ sie sich auf dem Boden nieder. Sie wusste nicht, wie sie es geschafft hatte. Sie wusste nicht, wie sie den schweren Körper bis hin zu dem abgelegensten Ort schaffen konnte, der ihr einfiel. Wie sie ungesehen von dort bis in ihr Zimmer flüchten konnte.

Sie starrte auf den Dolch vor ihr. Mit Blut befleckt. Ihre Hände ebenfalls. Sie versuchte diese an ihrem Kleid abzuwischen, doch dadurch verfärbte sich nur der helle Stoff. Sie schrie ihren Zorn heraus. Alles hätte so einfach gehen können. Sie hätte einfach wieder gehen können und nichts wäre geschehen und niemand hätte erfahren, was hätte geschehen können. Doch noch bevor sie gehen konnte hatte Rawnes sich einfach umgedreht und sie stand da mit der Waffe in der Hand. Und mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass es ja gar nicht ihre war und das niemand davon wissen durfte, dass Atúl jemals hier gewesen war. Ihr wurde bewusst, dass es nur einen Weg gab, dass es auch niemand erfahren würde. Gleichzeitig war da dieser Ausdruck in den Augen Rawnes', der nur allzu deutlich verriet, dass die junge Priesterin ebenfalls wusste, was geschehen sollte. Es gab gar keine andere Möglichkeit.

Sie spürte noch immer ihre Panik, mit der sie einfach drauflos gestochen hatte. Ihre Verzweiflung, was passieren würde, wenn es jemand erfahren würde. Erst hinterher wurde ihr wirklich vor Augen geführt, was geschehen war. Sie hatte keinen Schmerz in den braunen Augen gesehen. Kein stummes Entsetzen. Nur einen einzigen Vorwurf, der sie nach und nach in den Wahnsinn treiben würde, denn ständig wenn sie ihre eigenen Augen schließen wollte, sah sie wieder die braunen, vorwurfsvollen Augen vor sich. Nie wieder würde sie schlafen können ohne diese verdammten Augen zu sehen.

Ihre Hände zitterten noch immer. Sie wollten einfach nicht aufhören zu zittern, so sehr sie sich auch bemühte sie unter Kontrolle zu halten. Und noch immer klebte das Blut an ihnen und wollte sich einfach nicht abwischen lassen, so sehr sie auch an dem Stoff ihres Kleides rieb.

Tränen rollten ihr über die Wangen und aus diesen Tränen wuchsen nach und nach immer lautere Schluchzer, doch sie wollte nicht weinen und schluckte den dicken Kloß in ihrem Hals einfach nach unten, doch dadurch wurde es nur noch schlimmer.

Durch einen feuchten Schleier hindurch fiel ihr Blick auf eines der hohen Fenster. Wie gebannt hing ihr Blick daran, bis sie sich endlich aufraffte und den kurzen Weg durch das Zimmer zurücklegte. Unter ihr stürzte sich der Yesúw die Klippen hinab. Sie wollte doch nur herausfliegen aus dem Käfig, der sie gefangen hielt und sie war bereit gewesen alles dafür zu geben.

Also breitete sie die Flügel aus und flog. Und noch immer stürzte sich der Yesúw die Klippen hinab.

AUFBRUCH

Sie waren insgesamt drei weitere Tage in Yesúw geblieben. Die Heiler der Elfen-Festung verstanden ihre Arbeit hervorragend und so ging es Davids verletztem Fuß schon nach wenigen Tagen wieder einigermaßen gut. Auch von der extremen Unterkühlung war kaum mehr etwas zu spüren. Schnell war die gewohnte Wärme wieder in den Körper zurückgekehrt.

Aber Davids schnelle Genesung war das einzig erfreuliche innerhalb und auch außerhalb der Mauern Yesúws. Der plötzliche und völlig unerwartete Tod von Rawnes aus Naksa erschütterte die Sicherheit des Rates. Rawnes war eine der meist gehörtesten Stimmen des Rates gewesen. Auch wenn sie im Vergleich zu ihren Kollegen noch fast ein Kind war, verstand es die junge Priesterin hervorragend sich durchzusetzen. Nicht nur ihre eigenen Leute in Naksa, nein auch ihr völlig Fremde verstand sie zu führen und man folgte ihr ohne Zögern. So lagen alle Hoffnungen irgendetwas in diesem Kampf ausrichten zu können zum großen Teil in ihr.

Doch die Mitglieder des Rates zu erschüttern, darin lag nicht die Absicht des Mörders, das hatten zumindest Xejohl und Peroth schnell durchblickt. Ihr Tod hatte eine noch weitaus schlimmere Folge. Niemand hatte in der ganzen Aufregung mitbekommen, wann und vor allem wohin Rugar die Festung verlassen hatte. Als sie sein Fehlen bemerkten, war es bereits zu spät. Späher waren ausgeschickt worden, um noch eventuelle Spuren entdecken zu können, doch der Sturm hatte sie bereits alle verwischt. Sie wussten es alle, wenn Rugar die Kontrolle über sich verlieren würde, dann hätten sie einen weiteren, überlegenen Kämpfer auf der Seite des Feindes.

Wer der Mörder war, stand schnell fest. Auch wenn keiner begreifen konnte, welche Motive Sayonara dazu gebracht haben sollten. Keiner zweifelte daran, dass nicht sie dieses Vorhaben geplant hatte. Sie führte die Tat nur für jemanden anderes durch. Wer dieser andere war, darüber stritten die Ratsmitglieder. Sie stimmten für Justaka, doch ein Großteil stimmte dagegen, denn der Dämonenherrscher hatte nichts für so etwas übrig. Außerdem hatte er es überhaupt nicht nötig. Das sahen alle ein und doch verlangten sie einen Schuldigen, also hielten sie an ihrer Meinung fest. Sayonara wollte niemanden als schuldig bezeichnen, auch wenn sich der Fluss bereits für sie entschieden hatte, denn an ihren Händen klebte das Blut. Nun wussten sie es alle, es war nicht nur eine Legende, dass der Fluss selbst die Übeltäter zu sich holte.

Was alle jedoch in helle Aufregung brachte, war die Erkenntnis, die Prophezeiungen der Weisen könnten sich wahrhaftig erfüllen. Die Zeichen standen gut, so waren doch angeblich Nekats Kinder zurückgekehrt, auch wenn zu Recht in Frage gestellt wurde, was sie denn wohl gegen einen übermächtigen Gegner würden anrichten können.

Auf einmal erhielt jemand allerdings Redeerlaubnis, den viele überhaupt nicht kannten. Wenigstens war ihnen der Isk-Meister einmal vorgestellt worden und sie konnten sich gerade noch mit Mühe an seinen Namen erinnern. Und ihm gelang es, den versammelten Rat nach und nach davon zu überzeugen, wenn ein Teil der Prophezeiung sich doch zu erfüllen schien, warum das auf andere nicht auch zutreffen sollte. Selbst glaubte er nur halbherzig daran, denn er wusste von den Problemen, die dieses Phänomen begleiteten.

Trotzdem erreichte er, was er wünschte.

Er verlangte nur eines, aber etwas völlig Absurdes. Naksa solle auf keinen Fall verlassen werden. Es war in vielen Augen einfach nur Leichtsinn. Es war ihnen klar, dass Naksa seine Stellung nicht halten würde, sollte der Feind sich vor dem Wald sammeln und von dieser Seite versuchen in Yesúw einzudringen. Sie waren inzwischen zu eitel geworden, um zu ahnen, dass der Feind es nicht auf Yesúw abgesehen hatte.

Xejohl beschloss also doch eine Armee nach Naksa zu senden, auch wenn das überhaupt nicht den Vorstellungen des Fremden, den niemand kannte, zu entsprechen schien. Er zog sich immer häufiger mit Xejohl zurück und sprach aufgeregt mit ihm. Doch am Ende stand die Entscheidung fest. Tausend Mann des Elfenheeres würden nach Naksa gehen, auch wenn dies viel zu wenige waren, aber es war immer noch besser als gar nichts.

Bevor nun aber die verbleibende Gruppe um Peroth herum nach Naksa aufbrechen konnte, zeigten sich im Vorfeld die ersten Schwierigkeiten.

"Wo willst du hin?"

Jack versperrte Stalca den Weg, was vielleicht keine besonders gute Idee war, doch die Gefahr, dass der Isk einfach weglief, wenn er hinter ihm her rief war zu groß.

"Lass mich vorbei.", forderte dieser statt einer Antwort.

"Wenn du mir einen vernünftigen Grund nennen kannst.", blieb Jack beharrlich.

"Ich kann tun und lassen, was ich will." Stalca war wütend, doch seine Wut richtete sich nicht auf Jack, was ihn wohl dazu bewog die Ruhe zu bewahren. Aber in seinen Augen blitzte es gefährlich.

"Das kannst du dir schon einmal wieder abgewöhnen, denn wenn du vorhast dorthin zu gehen, wohin ich ahne, dann wird sich das sehr bald schon wieder ändern.", erinnerte Jack.

"Geh einfach aus dem Weg." Stalcas Stimme wurde eine Spur drohender.

"Ich bezweifle, dass diese Entscheidung richtig ist.", versuchte es Jack ein letztes Mal. Er wusste nicht, was passieren würde, sollte er es darauf ankommen lassen. Es war nicht einmal unwahrscheinlich, dass Stalca sich mit Gewalt den Weg freigeben ließ.

"Aber es ist meine und ich allein habe sie über mich getroffen.", sagte Stalca deutlich betont.

Jack trat beiseite und ließ ihn gehen. Im Grunde war es nicht sein Problem, auch wenn er es lieber gesehen hätte, sie würden einen vernünftigen Kämpfer behalten können. Auch wenn der Weg nicht mehr weit sein würde, so wusste doch keiner, was ihnen unterwegs noch begegnen konnte.

"Stalca." Es war Faith, die es diesmal versuchte und tatsächlich blieb dieser noch einmal genervt stehen. Jack bezweifelte, dass sie mehr Erfolg haben würde, aber er konnte es sich nicht ansehen, denn sie schickte ihn mit einem stummen Blick fort.

"Es wird dir nicht helfen.", fuhr sie sehr viel leise fort, als Jack es getan hatte.

"Was wird mir nicht helfen?", fragte Stalca ungeduldig.

"Davor davonzulaufen.", antwortete sie. "Das wird dir nichts nützen, möglicher Weise nicht einmal gelingen."

"Dessen bist du dir so sicher, ja?" Er drehte sich zu ihr herum und kam ein paar Schritte näher.

Sie war nicht gerade der mutigste Mensch der Welt und Stalca hatte im Moment nicht gerade die beste Laune. Sein Tonfall änderte sich ihr gegenüber nicht gerade und auch wenn es ihr widerstrebte, musste sie zugeben, dass sie sich ein wenig davor fürchtete, was passierte, wenn sie seine Wut plötzlich auf sich selbst ziehen würde.

"Ich weiß, wer du bist, auch wenn es dir nicht helfen wird, wenn ich es dir sage, da ich es dir nicht erklären könnte." Sie warf einen Blick zur Seite. "Das kann nur Peroth."

"Das tut er aber nicht, nicht mir zumindest.", merkte Stalca an. "Und solange er das nicht tut, habe ich hier nichts verloren. Ich lebe mein Leben und niemand anderes bestimmt darüber. Wenn ich zurückgehe, ist es vielleicht nicht das Beste, was ich kriegen kann, aber ich weiß zumindest woran ich bin und niemand versucht mich in seine komischen Geschichten einzubauen."

"Du wirst dem wohl nicht entkommen, egal was es ist.", wiederholte sie. "Das ist alles, was ich dir sagen kann, aber es reicht ja wohl aus, um entscheiden zu können, dass es dann wohl doch allemal besser ist hier zu bleiben."

"Du hast doch keine Ahnung, wie es ist!", fuhr er sie an.

"Ich weiß aber wie es ist, wenn man es weiß, wer man ist oder sein soll. Offensichtlich macht es dann aber keinen Unterschied und damit weiß ich deutlich mehr als du.", entgegnete sie bitter und drehte sich weg. Zuvor gelang es ihr allerdings nicht, ihre aufkommenden Tränen vor Stalca zu verbergen.

"Faith.", hielt er sie zurück. "Was ist los?"

"Ich kann es nicht aufhalten.", schluchzte sie und als sie sich ihm wieder zuwandte, leuchteten ihre Augen in einem schwachen, gelben Licht. Fast nicht sichtbar, aber doch merklich. "Ich kann mir auch nicht aussuchen, was ich sein will und ich wünschte es mir ebenso. Auch ich will nur in mein ganz normales Leben zurück und kann es nicht, da sich sowieso nichts ändern wird. Und wenn du irgendwelche Superkräfte an mir vermutest, muss ich dich und alle anderen enttäuschen: Ich kann nur dämliche Bilder sehen, die ich nicht sehen will, aber von mir wird erwartet die Welt zu retten. Wer von uns ist also jetzt besser dran?"

Ihre Abreise verzögerte sich, bis Faith sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Dann führte Peroth sie nach Naksa. Stalca folgte ihnen nur wortlos.

Die Reise war phantastischer wie David nie zuvor eine erlebt hatte. Eine ganze Zeit lang führte sie ein schmaler Weg immer tiefer in den Fels hinein. Mühsam war er vor Urzeiten unter die Festung geschlagen worden. Die Decke so hoch und der Gang so breit, dass selbst ein Pferd hindurch passte. An den Wänden hingen in regelmäßigen Abständen brennende Fackeln, die ein gespenstisches Licht in den Tunneln verbreiteten. Ständig gab es hier unten Wächter, die darauf Acht gaben, dass das Licht niemals erlosch, denn Wanderer wären verloren, würde hier totale Finsternis herrschen.

Irgendwann hörte der Weg auf sich weiter in die Tiefe zu schrauben und führte nur noch geradeaus. In der Ferne konnten sie ein schwaches, helles Licht sehen, welches nicht von den Fackeln stammte. Und je näher sie diesem Licht kamen, desto lauter wurde das Tosen des Wassers.

Als sie endlich den Ausgang erreicht hatten waren sie noch immer in den Höhlen des Yesúw und alles um sie herum war genau so, wie Faith es beschrieben hatte. Ein unnatürliches, aber warmes Licht umgab sie, während das Wasser in einer intensiven, türkisen Farbe leuchtete. Dicht neben ihnen stürzte der Fluss sich mit einem solch ohrenbetäubenden Lärm die Klippe hinunter, dass sie kaum ein gesprochenes Wort voneinander verstehen konnten.

David und Faith, die beide in ihrem Leben noch nie etwas Ähnliches gesehen hatten waren gleichermaßen sprachlos. Aber auch der Rest der Gruppe, der mindestens schon zum zweiten Mal hier vorbeikam hielt an und genoss den Anblick eine Weile. Das Wasser war so klar, dass man bis auf den Grund hinab sehen konnte, wo das mysteriöse Türkis noch an Intensität zunahm.

"Das grüne Gold.", sagte Peroth während er hinunter deutete. "Hier holen sie es an das Tageslicht. Aber nur gewagte Schwimmer trauen sich hinab, denn wenn sie dem Wasserfall zu nahe kommen werden sie erschlagen."

Ihre Begeisterung hielt nicht lange. Zu schwer lagen ihnen die vergangenen Ereignisse im Magen. Also zogen sie schon sehr bald weiter. Es war keine schöne Reise. Nicht so, wie sie begonnen hatte. Jeder hing nur seinen eigenen, düsteren Gedanken nach und sprach mit den anderen kaum ein Wort.

Peroth war leicht gereizt, was wahrscheinlich an seinen vergeblichen Bemühungen Stalca wenigstens dazu zu bewegen ab und zu einmal mit ihnen zu reden. Nachdem sie beide in einen heftigen Streit geraten waren, indem keiner der anderen verstanden hatte worum es eigentlich ging, sahen auch sie sich nicht mehr an, sprachen kein Wort und ließen ihren Missmut an den übrigen aus.

Sobald sie die Höhlen verlassen konnten, herrschte um sie herum absolute Dunkelheit. Es gab keinen Sturm mehr, auch keine entsetzliche Kälte, aber es war dunkel wie tief in der Nacht, obwohl es nun schon Mittagszeit sein sollte. Dies verhalf nicht unbedingt zu einer Besserung der allgemeinen Stimmung.

Nachdem sich nun auch Jack mit Peroth angelegt hatte, war sowieso alles vorbei und die einzigen drei, David, Tarry und Céwik, die nicht völlig von Problemen eingehüllt waren, wagten es nicht mehr den Mund aufzumachen.

Die eigentliche Nacht verlief ähnlich schlecht. Sie machten an der nächstbesten Stelle Halt und verteilten einen Teil der mitgenommen Verpflegung. Doch sie knabberten nur lustlos darauf herum und schluckten es eigentlich nur herunter, da sie es für nötig hielten etwas Essbares zu sich nehmen zu müssen. Dabei hatten sie Brot, Käse und sogar geröstetes Fleisch. Eine wirklich gute Mahlzeit. Danach legten sie sich schlafen, jeder an einer anderen Stelle weit weg von den Anderen, jeder schien allein sein zu wollen. Doch trotzdem wollte kein Schlaf kommen. Es wurde kalt und begann erneut zu regnen. Sie waren mitten in einem Gebirge und es gab keinen Wald, der ihnen Schutz geben konnte. Das Feuer erlosch und sie konnten nicht einmal die Hand vor Augen sehen. David glaubte, dass Faith weinte und er konnte sie verstehen, denn ihm war auch nach nichts Anderem zumute. Doch seine Hilfe lehnte sie entschieden ab.

Stattdessen versuchte er sich im Dunkeln um seinen Fuß zu kümmern, der nach den Anstrengungen des heutigen Tages wieder zu schmerzen begonnen hatte. Erkennen konnte er rein gar nichts, aber nachdem er seine neuen Stiefel ausgezogen hatte, spürte er die pulsierende Wärme und dass der Fuß wieder ein ganzes Stück angeschwollen war. Er hoffte nur, dass sich dies über Nacht bessern würde. Seufzend versuchte er sich an einer einigermaßen bequemen Stelle hinzulegen, doch egal was er versuchte, immer wieder drückte der Fels unangenehm.

"Ich wünschte das alles hier wäre möglichst schnell vorbei.", murmelte er leise.

"Ich auch.", hörte er Tarry dicht neben sich antworten. Sehen konnte er ihn trotzdem nicht.

"Ich auch.", piepste Céwik, der sich schützend an seinen älteren Bruder gedrückt hatte.

Der nächste Tag schien angenehmer zu werden. Zumindest war es heller geworden. Oder ihre Augen hatten sich einfach schon zu sehr an das Dunkel gewöhnt. Trotzdem blieb noch immer alles Grau und Schwarz um sie herum. Als hätte die Welt mit einem Mal ihre Farbe verloren.

Die Stimmung war allerdings nicht besonders gestiegen. Auf jeden Fall stritten sich nicht mehr alle und ab und zu war sogar jemand gewillt den Mund aufzumachen. Aber noch immer schien ein dunkler Nebel über ihren Gemütern zu hängen.

Ihr Weg führte nun immer dicht an den steilen Felswänden entlang. Mit vielen Kurven bewegten sie sich zielsicher immer weiter nach Westen. Ab und zu war der Rand zwischen Felswand und Abgrund so schmal, dass Davids Herz zwischendurch einige Aussetzer hatte, wenn er einen Blick in die bodenlose Tiefe wagte. Dennoch stiegen sie nicht ab. Also versuchte David möglichst ruhig und entspannt auf seinem Pferd sitzen zu bleiben und staunte nicht schlecht, wie sicher die Hufe ihren Weg fanden.

Schon nach überraschend wenigen Stunden, erreichten sie den Eingang zu einer breiten Schlucht, die sich plötzlich in den Berg fraß. Ein Stück weiter hob sich ein weites Plateau über den Berg hinaus. Ein schmaler Pfad führte von dort aus hinab. Hier hielten sie an und Peroth und Jack schienen Wichtiges zu besprechen zu haben. Also rutschte auch David vorsichtig von seinem Pferd, sorgsam beachtend nicht den falschen Fuß zu belasten, und folgte Stalca, der ein Stück auf das Plateau hinaus gegangen war.

Von dort aus bot sich ihnen ein ähnlich wunderbarer Ausblick, wie in Yesúw. Am Fuße des Berges zog sich ein dichter Wald in das Land hinein. Obwohl tiefer Herbst war, hatten viele Laubbäume noch immer nicht ihre bunten Blätter abgeworfen. Und zwischen ihnen ragte das helle Grün von mächtigen Kiefern. Die Farben waren trotz der Dunkelheit noch immer klar zu erkennen, als würde sich eine helle, schützende Wolke über die Wipfel der Bäume legen. Wie ein Märchenwald lag er vor ihnen. Undurchdringbar schien sein Dickicht zu sein und doch musste es Wege hinein geben, denn der Pfad schien direkt darauf zuzuführen. David fragte sich, ob die Bäume auch irgendwo wieder aufhörten, denn von hier aus schienen sie bis ins Unendliche zu reichen.

"Warte nur, bis du drinnen bist.", meinte Stalca.

"Was ist das?", wollte David völlig abwesend wissen.

Eine Weile sah ihn der Isk mit einem leichten Lächeln an. "Naksa."

David ging noch ein Stück weiter bis an den Abgrund und versuchte einen besseren Blick über den Wald zu bekommen, doch es war weiterhin fast unmöglich Einzelheiten zu erkennen. Ein leichter, aber undurchdringbarer Nebel hing über den Baumwipfeln und schien das Darunterliegende vor Neugierigen schützen zu wollen. Wie ein Geheimnis, doch Geheimnisse waren rätselhaft und wollten ergründet werden. Je geheimer eine Sache wird, so schwieriger wird es sie unentdeckt zu lassen. David jedenfalls brannte nur so darauf hinuntergehen zu können. Peroth trat hinter sie, doch in seinem Gesicht lag wenig Begeisterung. Sorgenfalten bildeten sich auf seiner Stirn.

"Was habt Ihr?", erkundigte sich Stalca, dem dies ebenfalls nicht entgangen war.

"Ich weiß nicht.", murmelte der Isk-Meister als Antwort. "Ich habe das Gefühl, wir sind nicht mehr länger allein in diesem Wald. Doch ich bin mir noch nicht sicher, wie weit dies gut für uns ist."

Er machte eine nachdenkliche Pause. Gemeinsam starrten sie auf die Bäume unter ihnen hinab. Schließlich riss sich Peroth wieder los.

"Jack hat vor sich in Heerlam umzusehen. Ist vielleicht keine schlechte Idee. Wir werden hier warten, aber das wird uns sicher einen Tag kosten. Wenn du willst kannst du mit ihnen gehen, David." Er musterte ihn eine Weile besorgt, wie es schien. "Vielleicht lernst du etwas. Auf jeden Fall gebt auf euch acht. Heerlam ist kein harmloses kleines Städtchen. Und bleibt nicht über Nacht. Und ihr." Er wandte sich an Tarry und Céwik, die gelangweilt auf Davids Pferd saßen. "Ihr werdet euch umsehen. Möglichst überall und merkt euch wichtige Dinge so gut es euch möglich ist."

"Was denkt ihr von uns?", empörte sich Tarry. "Das wir nicht mal in der Lage wären einen simplen Erkundungsgang durchzuführen?" Verärgert verschränkte er die Arme vor seiner Brust.

"Dann wäre das ja geklärt.", sagte Peroth und sah die Sache als erledigt an. Fragend drehte er sich wieder zu David.

"Ich werde mit ihnen gehen.", antwortete dieser ohne sich absolut sicher sein zu können, dies wäre ausnahmsweise einmal eine gute Idee von ihm.

So kam es, dass David sich Jack und auch Faith anschloss. Der Rest blieb zurück. Selbst der alte Arthur zog es vor auf unbestimmte Zeit zu warten. Er war seit sie Yesúw verlassen hatten äußerst schweigsam gewesen, aber auf eine andere Art und Weise, wie Peroth oder Stalca es waren. Er schien ganz andere Sorgen zu haben.

Sie bogen in die Schlucht ab, die langsam aber stetig anstieg und bis weit in das Gebirge hinein führte. In dessen Schatten war es kalt. Sehr kalt. Dies mochte im heißen Sommer für einen müden Wanderer sehr erfrischend sein, doch zu dieser Jahreszeit war es mehr als unangenehm. Sie wickelten ihre Mäntel enger um sich und trieben ihre Pferde vorwärts, um den Weg möglichst schnell hinter sich bringen zu können.

Ein eisiger Wind wehte ihnen entgegen. Er roch nach Eis und Schnee, doch von beidem war glücklicherweise nicht viel zu sehen. Trostlos umgab sie nacktes Gestein. Nur selten wurde es an einigen Stellen von Moos überzogen. Kleine Kiefern gruben ihre Wurzeln in den wenig nahrhaften Boden.

Den ganzen restlichen Tag zogen sie durch diese Schlucht. Es war keine schöne Reise. Die Landschaft bot wenig Abwechslung. Es wurde zunehmend kühler und ihre Mägen knurrten. Doch vor allem hatten sie Durst. Das wenige Wasser welches sie mitgenommen hatten überließen sie den Pferden, denn diese wurden schon unruhig danach. Allmählich wurde es wieder noch dunkler als es sowieso schon war. Sie begannen nach und nach den Tag wieder von der Nacht unterscheiden zu können.

Als sie um eine Biegung kamen, standen sie plötzlich vor einem großen Holztor. Sie hatten Heerlam erreicht. Die Stadt war hervorragend geschützt. Sie bildete das Ende der Schlucht, lag eingebettet zwischen hohen Gebirgswänden. Der einzige Zugang wurde von einer breiten, dicken Holzmauer versperrt. Ganze Baumstämme waren in mühevoller Arbeit in den harten Boden gerammt worden. Gute Bogenschützen hielten auf dem Wehrgang Wache und weitere tapfere Männer saßen jede Nacht in der angrenzenden Kaserne, um das Tor zu hüten. Sie waren mit die angesehensten Leute in dieser Stadt, denn auch wenn dies auf dem ersten Blick übertriebene Vorsicht zu sein schien, so war es nicht umsonst. Vor allem nicht zu Zeiten wie dieser.

Kaum waren sie entdeckt worden, wurden sie auch schon angerufen. "Wer ist da?", brüllte eine unfreundliche Stimme barsch von oben herab und schon jetzt stellten sich alle drei die gleiche Frage, ob es klug war hierher zu kommen.

"Wir sind Wanderer und kommen von weit her, von der anderen Seite des Gebirges. Wir wollten uns in eurer Stadt einmal nach den neuesten Gerüchten umhören. Es wird lange dauern, bis wir wieder in bewohntes Gebiet gelangen.", antwortete Jack vorsichtig.

"Ihr tätet besser daran, die Nacht auch hinter geschützten Mauern zu verbringen.", riet ihnen die Wache.

"Was für eine Nacht?", erwiderte Jack. "Hier ist ständig Nacht."

Eine Weile reagierte der Mann vom Tor nicht. Sie fassten es als Zustimmung für ihre Worte auf. "Ihr kommt spät nur für ein paar Informationen. Ihr hättet den Umweg über diese Schlucht nicht auf euch nehmen brauchen."

"Ja, das ist wahr.", bestätigte Jack verzweifelt. Er hatte nicht vorgehabt dieses Gespräch unnötig in die Länge ziehen zu müssen, doch er selbst bat zum ersten Mal um Einlass in Heerlam. "Wir sind schon zu sehr früher Zeit aufgebrochen, doch wir haben es nicht rechtzeitig geschafft."

Ein Brummen kam als Antwort. "So, so. Seid ihr bewaffnet?"

Einen Moment überlegte Jack, ob es klüger war die Wahrheit zu sagen, oder sie zu verschweigen. In Heerlam waren Waffen meist unerwünscht. Die Stadt hatte nicht gerade friedliche Bewohner und jeder weitere Aufrührer wurde lieber vor der Tür gelassen. Trotzdem. Ehrlichkeit verhalf oft zu vielem. "Ja, einer mit Schwert."

"Nur einer?" Der Wächter schien ihm nicht wirklich zu glauben. Vorsichtig schob er sein rundes Gesicht über die Holzmauer und betrachtete jeden durchgehend. "Sieht wohl so aus."

Dann waren Tritte von schweren Stiefeln auf Holztreppen zu hören. Sobald sie verklungen waren, wurde ein eiserner Riegel vor dem Tor umgeschlagen und die beiden Hälften geöffnet.

Prophezeiungen der Weisen

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