Читать книгу Prophezeiungen der Weisen - Dörthe Haltern - Страница 2

Оглавление

"Ich bin mir sicher, dir gehört es auch nicht." David hatte selbst keine Ahnung, woher er diese unkontrollierbare Kühnheit nahm. Ein ärgerliches Blitzen zeigte sich in den Augen des Reiters.

"Gib es mir einfach.", verlangte er schroff.

Es wäre ein Leichtes gewesen, seine Arme konnte David immerhin noch bewegen. Er musste nur unter seine Jacke greifen und das Bündel hervorholen. Aus irgendeinem Grund tat er es nicht. Langsam ging ihm die Luft aus, denn sein Brustkorb bewegte sich nicht mehr.

"Wenn du es nicht anders willst."

Mit einem Mal fiel der Bann von David ab und er stürzte auf die Knie. Schnell rappelte er sich wieder auf, immer noch außer Atem, doch das Pferd war mit zwei Sätzen bei ihm. Etwas sauste auf ihn hinab, er duckte sich rasch und ein durchdringender Schmerz verteilte sich explosionsartig durch seinen Körper, als das Schwert mit der Breitseite seine Schulter traf. Blut lief seinen Arm hinab, doch es hätte ihn weit schlimmer erwischen können.

Von der Wucht des Aufpralls wurde er wieder von den Füßen gerissen und stieß heftig gegen die nächststehende Hauswand. Ihm wurde schwarz vor Augen, trotzdem versuchte er sich benommen wieder aufzurichten. Belohnt wurde er mit einem kräftigen Fußtritt, der ihn wieder zu Boden schickte. Der Reiter war inzwischen abgestiegen und hob erneut sein Schwert. Dass er sich nicht lange aufhalten ließ hatte er bereits auf der Straße bewiesen.

Bevor das Schwert ihn endgültig ins Jenseits schickte, hielt es mitten in der Bewegung inne. Nun hörte David auch ein leises, aber drohendes Knurren. Durch einen dichter werdenden Nebel glaubte er auf dem gegenüberliegenden Dach die Silhouette eines großen Hundes, oder eines Wolfes zu erkennen. Was auch immer ihn dazu bewogen haben mochte, auf ein Dach zu klettern.

"Lächerlich.", brummte der Reiter, ließ aber zunächst von David ab, der inzwischen das Bewusstsein verlor.

Jack war schon immer ein Hitzkopf gewesen, was ihn mehr als einmal handeln ließ, bevor er über die Klugheit seines Vorhabens nachgedacht hatte. Dummerweise schien er die Begabung aus seinen Fehlern zu lernen nicht zu besitzen. Auch jetzt erwies es sich nicht als besonders intelligent auf Wirhnö hinab zu springen.

Natürlich wich der Dämon ihm geschickt aus, was kein Wunder war, immerhin handelte es sich bei ihm um einen erfahrenen Kämpfer. In seiner normalen Gestalt hätte Jack nicht die geringste Chance, so konnte er zumindest hoffen dem stämmigen Mann mit seinem wuchtigen Breitschwert in Wendigkeit weit überlegen zu sein.

Wirhnö ließ sich allerdings nicht auf einen Zweikampf ein. Er hatte nicht vor seine Zeit weiter sinnlos zu verschwenden und so wich Jack mühelos dem ersten Strahl aus. Er spürte regelrecht die kalte Luft an sich vorbei ziehen und wo er eben noch gestanden hatte gefror eine Pfütze umgehend zu festem Eis.

Beim kurz darauf folgenden zweiten Strahl hatte er weniger Glück und schaffte es nur im letzten Moment sich zu ducken. Wahrscheinlich hätte es ihn spätestens beim dritten Angriff trotzdem erwischt, wenn sich die Luft über ihm nicht schlagartig erhitzen würde und das Feuer auf den Strahl aus Eis traf. Teile seines Fells wurden an den Spitzen versengt, aber er hatte keinen Grund sich zu beschweren.

Zu seiner Überraschung verzog Wirhnö nur wütend das Gesicht, stieg auf sein Pferd und ritt davon. Erleichtert drehte Jack sich zu Rugar herum.

"Schön dich zu sehen.", begrüßte er ihn und befühlte vorsichtig die Brandstellen auf seinem Rücken. Es war nicht schlimm, wahrscheinlich würde er in wenigen Stunden schon nichts mehr davon bemerken.

"Ebenso.", entgegnete Rugar knapp.

"Warum ist er weg?" Ratlos sah Jack die Straße hinunter, auf der Wirhnö verschwunden war.

"Keine Ahnung.", murmelte Rugar. Die kurze Begegnung schien ihn nicht gerade begeistert zu haben.

"Warum ist er überhaupt hier?"

"Da ist er nicht der Einzige."

Jack verstand sofort. "Scheiße.", fluchte er und sah auf den bewusstlosen David hinab. "Da hoffe ich für uns alle, dass der da nicht der ist, von dem ich glaube, dass er es sein könnte."

Es dauerte lange, bis David wieder erwachte. Es war schon tief in der Nacht, als es ihm endlich bewusst wurde. Sein Kopf schmerzte erbärmlich und er hätte alles dafür getan sich in einem gemütlichen Bett wieder zu finden, wo er noch ein paar weitere ungestörte Stunden hätte schlafen können. Stattdessen fand er sich auf der Straße wieder.

"David?"

Unwillig brummte er und drehte sich weg von der Stimme. Er wollte nicht gestört werden, sondern einfach nur weiterschlafen. Das durfte doch nicht so schwer zu verstehen sein! Wieso ließen sie ihn nicht in Ruhe? Langsam wachte er weiter auf. Schließlich befand er sich nur noch in einem Dämmerzustand. Erst dann spürte er, wie ihn jemand sanft an den Schultern schüttelte.

"David, wach auf!"

Zögernd und missmutig öffnete er die Augen. Alles um ihn herum war pechschwarze Nacht. Nur vereinzelt waren ein oder zwei Sterne zu entdecken. Der Mond war völlig von dichten Wolken verdeckt. Vor sich konnte er vage eine Frau mit Mantel wahrnehmen, die er nicht zu kennen glaubte. In diesem Moment spürte er die klirrende Kälte. Er begann zu zittern. Die innere Wärme, die noch vor kurzer Zeit angehalten hatte, ließ immer weiter nach.

"Los, setz dich hin!" Gehorsam richtete er sich auf. Es machte ihm unerwartete Schwierigkeiten. Noch immer war er benommen und leicht orientierungslos. Ein warmer Umhang wurde ihm über die Schultern gelegt. Wärme suchend zog er ihn vor seiner Brust zusammen. Nach und nach taute er wieder auf. Und langsam begannen auch seine Augen sich an das Dunkel um ihn herum zu gewöhnen. Er konnte sehen, dass er lange nicht allein war. Eine ganze Gruppe war hier versammelt und er fragte sich, was er mit diesen Leuten zu schaffen hatte.

"Wer seid ihr?", fragte er an die Frau gewandt. "Woher wisst ihr, wer ich bin?"

Sie schien antworten zu wollen, doch ein Mann zu seiner Rechten kam ihr dazwischen. "Dies wollen wir später klären, aber jetzt müssen wir zusehen hier raus zu kommen.", drängte er. David wollte zunächst protestieren, doch dann ließ er sich widerstandslos hochhelfen.

"Ihr braucht ein weiteres Pferd.", bemerkte die Frau. "Nimm meines. Ich werde schon voraus gehen und in Naksa auf euch warten."

Anscheinend schien der Mann nicht einverstanden damit zu sein und auch ein zweiter meldete sich aus dem Hintergrund. "Das wird nicht nötig sein. Wir kommen schon irgendwie zu einem weiteren, guten Pferd. Bis dahin können wir zu Fuß weiter gehen."

"Nein. So ist es besser.", erwiderte sie bestimmt und keiner wagte es mehr dagegen zu protestieren. "Ich werde euch erwarten. Gebt gut auf euch Acht."

Mit diesen Worten schien sie die Gruppe verlassen zu wollen und David, der nur als ein stummer Beobachter zitternd daneben stand, stellte sich die Frage, wie sie das anstellen wolle. Doch seine Frage wurde sofort beantwortet. Sie ging nur wenige Schritte weit. Dann kam ein leichter Wind, der immer stärker anschwoll und an ihren Kleidern riss. Plötzlich schien ein helles Licht in der Dunkelheit zu leuchten und da war sie kein Mensch mehr, sondern schwang sich mit mächtigen Schwingen als Falke in die Luft empor.

"Komm!", forderte ihn der erste Fremde wieder auf. Er reichte ihm seine Hand und David nahm die Hilfe widerstandslos entgegen. Mühsam versuchte er auf die Beine zu kommen, doch dies war kaum zu schaffen. Seine Beine waren weich wie Pudding und in seinem Kopf drehte sich alles. Er schaffte es bis zu einem kleinen, dunklen Pferd, das geduldig neben einer Hauswand stand. Dort verharrte David in seiner Bewegung.

"Ich muss nach Hause.", bemerkte er zögernd. Langsam kam er wieder vollständig zu Bewusstsein. Das Wirrwarr in seinem Kopf begann sich zu lösen und klare Gedanken beherrschten wieder die Stellung. Plötzlich begann er sich wieder zu fürchten. Er wurde unsicher und unangenehme Fragen drängten sich ihm auf. Ihm wurde bewusst, keine Ahnung zu haben, ob er an Gut oder Böse geraten war. Am liebsten wäre ihm, er hätte die Kraft den Weg allein nach Hause zu schaffen.

Eine Weile schien der Mann zu zögern. "Sicher. Wir werden dich nach Hause bringen. Du wirst es wohl kaum allein schaffen.", sagte er dann doch, aber sein Zögern verunsicherte David, auch wenn dieser sich aufs Pferd heben ließ.

Nach und nach begannen sich weitere Schatten von der Dunkelheit der umstehenden Häuser zu trennen. Insgesamt umfasste die Gruppe fünf Reiter mit ihren Pferden. Für David schon eine beunruhigende Anzahl, wenn er an die wahnsinnigen Fluchtgedanken in seinem Kopf dachte. Obwohl es bisher nicht einmal einen Grund hierfür gab. Dabei konnte er nicht einmal vernünftig reiten. Ab und zu hatte er sich auf ihre Zugpferde gesetzt, aber sie waren riesig und breit im Vergleich zu der zierlichen Stute auf der er jetzt saß. Bei ihren heimischen Pferden war es nahezu unmöglich hinunterzufallen und man saß auf ihnen, wie auf einem sich leicht bewegendem Sofa. Er hatte jetzt schon das Gefühl sich nicht lange im Sattel halten zu können.

Er war für einen Moment so in Gedanken vertieft, dass er gar nicht mitbekam, wie sich ein Pferd neben ihn stellte. Fast erschrocken blickte er auf. Das Tier neben ihm war um ein ganzes Stück größer als sein eigenes mit einem grauen Fell, was in den spärlichen Lichtstrahlen, die die Lampen von sich gaben, fast silbern glänzte. Auf ihm saß ein junger Mann, der wahrscheinlich nicht viel älter war als David selbst.

"Mein Name ist Jack Bradley.", stellte sich dieser vor und reichte David die Hand. Zögernd nahm er sie entgegen. "Das hast du verloren."

Jack reichte ihm das dreckige Bündel und mit einem Mal waren alle Erinnerungen an die letzten Stunden wieder an die Oberfläche getreten. Davids Herz begann erneut schneller zu schlagen, als er das Bündel entgegen nahm.

"Danke.", murmelte er und fragte sich, ob er nicht vielleicht ein wenig unfreundlich schien. Aber immerhin kannte er diese seltsamen Leute alle nicht, obwohl sie ihn zu kennen schienen. Dies war es, was ihm am meisten Sorge bereitete.

STALCA

Der Traum war immer mit ihm. Jede Nacht. Immer und immer wieder in regelmäßigen Abständen. An sich war es ein schöner Traum, doch er war immer zu früh zu Ende. Es war nicht so, dass er durch Aufwachen beendet wurde, wie es die meisten Träume taten. Er endete einfach dort, wo auch die Erinnerungen endeten. Die Erinnerungen an ein anderes Leben, wie es schien. Doch dieses Leben war eigentlich kein anderes, aber es war nach und nach verdrängt worden.

Nun war es eine weitere Nacht, in der Stalca auf seinem Lager aus Strohmatten lag und dieser Traum erschien. Es war nicht so, dass sie es bequem hatten, er und der Meister, in dieser trostlosen Höhle. Und es hatte lange gedauert, bis er es endlich geschafft hatte, seine Ruhe zu finden. Doch jetzt schlief er bereits seit einigen Stunden und der Traum meldete sich von Neuem.

Es war Winter. Eiskalter Winter, einer von den unendlich grausamen Wintern. Doch davon gab es viele in den Bergregionen Zahurs. Ein Grund weshalb sich Menschen selten dorthin verirrten. In einigen Dingen waren sie sehr schwach, die Menschen. Auch im Ertragen der Kälte. Stalca selbst war zu dieser Zeit, in der sein Traum sich abspielte, noch ein kleines, hilfloses Kind. Schutzlos seinen Gefahren ausgeliefert, wäre es allein. Doch sein einziger Schutz war nun unerreichbar von ihm. Jedenfalls aus den Augen dieses Kindes gesehen, dass vielleicht gerade erst seit wenigen Monaten sich problemlos allein auf den Beinen halten konnte. Er war allein mit seinem Vater in den Bergen, seit er denken konnte. Was mit seiner Mutter oder den anderen Angehörigen des Stammes geschehen war, wusste er nicht.

In seinem Traum stand er vor einem nicht unbedingt sehr steilen Abhang, aber tückisch an ihm war die Zentimeter dicke Eisdecke, auf der Füße kaum sicheren Halt fanden. Sie war einige Meter lang und was an ihrem Ende war, konnte man nicht sehen. Nur die große Gestalt seines Vaters war durch dichtes Schneetreiben noch zu erkennen, doch dieser wartete und kam nicht um ihm zu helfen. Denn er musste es allein schaffen, durfte vor keiner Gefahr zögern, die sich ihm in den Weg stellte, denn sonst würde er verloren sein.

Stalca versuchte sich ein möglichst großes Wolfsrudel vorzustellen, welches jeden Moment über ihn herfallen könnte. Zögernd setzte er einen Fuß vor und rutschte sofort auf dem Eis aus. Gerade noch rechtzeitig fand er sein Gleichgewicht wieder und verhinderte ein Abrutschen. Das Wolfsrudel hinter ihm war nicht groß genug, als dass er noch einen Schritt wagte. Verzweiflung kämpfte sich in ihm hoch. Er konnte nicht sicher sein, ob sein Vater mit der Zeit kommen würde, um ihn zu holen.

"Komm, Stalca!" Immer wieder versuchte sein Vater ihn zu rufen und dazu zu bewegen es immer wieder zu versuchen, doch allmählich gab der junge Isk auf.

Tief in seinem Herzen aber, meldete sich eine Kraft, die mit all ihrer Macht nicht zuließ, dass er aufgeben würde. Die sich in ähnlichen scheinbar ausweglosen Situationen immer wieder empor kämpfte und ihn zwang weiterzumachen, bei was auch immer. Und auch jetzt, brachte sie ihn dazu, ein letztes Mal einen Schritt auf das Eis zu tun. Wieder verlor er den Halt, aber diesmal schaffte er es, sein Gleichgewicht zurück zu erlangen ohne umzukehren. Langsam, Schritt für Schritt ging er voran. Er konnte seinen Vater durch das dichte Schneetreiben sehen, wie er die Arme ausbreitete, um seinen Sohn notfalls auffangen zu können. Dies gab Stalca neuen Mut. Wenn er ausrutschen sollte, würde er nicht in ein tiefes Loch am Ende des Abhangs fallen oder unkontrolliert einen Hang hinunter rutschen. Er würde in die starken Arme seines Vaters fallen, die ihn halten würden.

Normalerweise endete hier dieser Traum. Doch heute fuhr er fort.

Stalca setzte weiter Schritt vor Schritt und kam dem Ende immer näher. Schließlich erreichte er seinen Vater ohne ins Stolpern geraten zu sein. Erleichtert ließ er sich in die Arme nehmen und sie setzten beide ihren Weg fort. Doch vorher konnte er nach langer Zeit das Gesicht seines Vaters sehen, was er schon fast vergessen glaubte, obwohl er sich immer wieder versuchte daran zu erinnern, aber es war wie aus seinem Gedächtnis gelöscht. Jetzt jedoch, in dieser Nacht war es wieder vor ihm. Die langen, geflochtenen Haare waren aus dem Gesicht gebunden und nur ab und zu wehte der böige Wind ein paar Strähnen heraus. Die gelben Augen lagen auf seinem Sohn und schienen zu leuchten, fast wie die Augen eines Meisters. Die muskulösen Arme schlossen sich schützend um seinen Sohn. Es hätten locker noch drei weitere Stalcas hineingepasst, denn sein Vater war sicher einer der größten Isk, die es je gegeben hatte. Er war schon fast ein Riese im Maßstab zu den anderen Angehörigen seines Volkes.

Eigentlich war es ein sehr schöner Traum. Kindheitserlebnisse an die man sich gerne erinnerte. Doch unmittelbar darauf meldete sich ohne jede Vorwarnung ein anderes Bild von seinem Vater. Das letzte, was Stalca von ihm kannte und was sich wie ein grausamer Fluch in sein Gedächtnis eingegraben hatte. Doch diese Bilder ließ er niemals an die Oberfläche kommen, denn ihnen würden viel zu viele weitere schmerzhafte Erinnerungen folgen. Also beschloss Stalca möglichst schnell wieder aufzuwachen, was ihm auch mir erstaunlicher Schnelligkeit gelang. Für den Rest der Nacht wagte er es nicht, wieder einzuschlafen.

DIE VERLORENEN KINDER

Für David gab es gerade einen Moment, den er gerne für irgendeinen anderen Moment getauscht hätte. Dieses Gefühl ist allgemein bekannt, denn selten geschieht es, dass einer davon verschont geblieben wäre. Er saß auf einem Pferd, was nicht weiter schlimm gewesen wäre. Aber dieses Pferd preschte gerade mit wahnsinniger Geschwindigkeit eine Straße entlang.

Natürlich hatte man sie nicht ohne weiteres aus der Stadt gelassen. Des Nachts blieben die Tore verschlossen und niemand kam heraus oder gar herein. Also hatten sie sich ein weniger gut bewachtes Tor gesucht, was sie mit Leichtigkeit überwinden konnten. Doch selbstverständlich war es nicht ganz und gar unbewacht. Aus diesem Grund würde es für David keine allzu große Überraschung sein, wenn sie bereits von einigen Reitern der Stadtwache verfolgt werden würden.

Ihn ließ das seltsame Gefühl nicht los, etwas hätte sich seit ein paar Stunden gehörig in seinem Leben verändert. Ungemütlich wurde ihm, wenn er das dreckige Bündel spürte, wie er es immer noch festklammerte, obwohl es ihm schon nicht wenig Probleme bereitet hatte. Er wusste nicht einmal, was es enthielt und war sich nicht sicher, dies überhaupt wissen zu wollen. Er konnte nicht wissen, dass nicht das Bündel es war, was sein Leben auf einen Schlag eine Spur gefährlicher gemacht hatte.

Die Straße raste unter ihnen in irrwitziger Geschwindigkeit hinweg. Die Entfernung zwischen Caparian City und dem kleinen Tal, in dem David zu Hause war, schrumpfte und schrumpfte. Auf dem Hinweg schien sie doppelt so lang zu sein, aber jetzt war sie schon fast überwunden. Eine gewisse Erleichterung ließ sich dazu überreden, die Überhand von Davids Gefühlen zu erlangen. Er war froh bald wieder an einem sicheren Ort zu sein, wo er wusste, dass alles wieder in Ordnung sein würde. Denn es fiel ihm schwer sein Misstrauen den Fremden gegenüber abzulegen. Er war sich nicht sicher, ob sie ihm Feind oder Freund waren. Einerseits kannten sie ihn aber er sie nicht und doch war es, als wäre er ihnen schon einmal begegnet.

Er war so sehr in seinen Gedanken verstrickt, dass er fast von seinem Pferd gefallen wäre, als dieses plötzlich alle seine Hufe in den Boden rammte und mit einem heftigen Ruck zum Stehen kam. Entsetzt klammerte er sich mit aller Kraft an der Mähne fest und es gelang ihm sein Gleichgewicht zu finden. Die Stute warf den Kopf hoch und schnaubte empört. Sie hatte nichts gegen den schnellen Lauf gehabt und scharrte auffordernd mit den Hufen, dass es weitergehen sollte. Doch vor ihnen auf der Straße standen drei Reiter, nur als Silhouetten zu erkennen. Sie standen mucksmäuschenstill da und bewegten sich nicht. Beinahe wäre Nekat, der vorne ritt in sie hinein galoppiert.

David versuchte einen Blick auf die Drei zu werfen und ihm gelang es einige Einzelheiten des Vordersten zu erkennen. Was er sah, gefiel ihm allerdings ganz und gar nicht. Dieser Mann war ihm nicht unbekannt. Sein langer, roter Mantel wehte leicht in einer zarten Brise. Das Pferd auf dem er ritt gehörte sicherlich mit zu einem der Edelsten im Land und war gesattelt mit dem wertvollsten Lederzeug. Die braunen Haare umrahmten ein Gesicht, welches in ganz Zahur bekannt war. Das sollte es eigentlich auch, denn immerhin war dieser Mann sein König.

Gemächlich ließ Atúl, der besagte König, sein Pferd auf die kleine Gruppe vor ihm zugehen. David kam der Gedanke, dass er wirklich königlich wirkte. Sehr bald korrigierte er sich auf machtvoll und stellte fest, dass machtvoll und königlich nicht dasselbe waren. Ein spöttisches Lächeln machte sich auf Atúls Mund bemerkbar. Ein Lächeln, welches schon fast wie ein höhnisches Grinsen wirkte.

"Vorhersehbar.", bemerkte er mit leichter Abfälligkeit in der Stimme. Machtvoll aber ganz und gar nicht königlich. "Eine Schwäche an der schon viele große Helden zu Grunde gegangen sind." Seine Stimme bekam etwas Theatralisches. "Wie ich mit Bedauern feststelle, komme ich wohl ein wenig zu spät."

David lief es kalt über den Rücken, als sich für einen Augenblick ihre Blicke trafen. Es war ein Blick, der einerseits Eisberge schmelzen konnte, aber andererseits auch ganze Meere gefrieren lassen. Dieser Blick war sehr einzigartig, denn meistens funktionierte er nur in eine Richtung. David jedenfalls fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut als ihn dieser machtvolle und absolut gar nicht königliche Blick traf.

Um sich davon ablenken zu können, versuchte er die beiden Soldaten näher zu betrachten, aber ihre Blicke waren noch viel grausamer, obwohl es schwer zu sagen war wieso, denn sie waren absolut leer. Wahrscheinlich war es diese unmenschliche Leere, die so abstoßend wirkte, dass man besser daran war in Atúls fast ebenso unmenschliche Blicke zu sehen.

Nekat trieb seinen Hengst vorwärts, bis er quer auf der Straße vor den ihm anvertrauten Leuten stand. "Was wollt Ihr, Atúl?", fragte er. Eine leichte Unsicherheit ließ sich nicht überhören, wahrscheinlich ebenfalls durch dessen merkwürdiges Verhalten hervorgerufen.

"Oh, nichts bestimmtes.", meinte er nebensächlich. "Wahrscheinlich seid Ihr nur nicht ganz auf dem Laufenden, was einige Dinge betrifft. Vielleicht wäre es besser, Ihr würdet Euch über diese informieren."

"Was sollen das für Dinge sein?" Nekat hatte nicht wirklich vor, sich mit Atúl über unwichtige Dinge zu unterhalten. Dinge, die ihn wahrscheinlich sowieso nicht viel kümmerten. Er hatte noch nie viel für Atúl übrig gehabt. Dieser hatte eine Persönlichkeit, die auf viele eher abstoßend wirkte, die ihm aber uneingeschränkte Macht verlieh.

" Zum einen ist der Zugang zu dem Tal in welches Ihr wollt, dies nehme ich jedenfalls an, denn diese Straße endet dort, bis auf weiteres gesperrt.", begann Atúl. Auch er hatte nicht viel für seinen Gegenüber übrig. Doch dieser Umstand lag nicht daran, dass er an Nekat selbst etwas zu bemängeln hatte. Er kannte ihn ja kaum. Eigentlich kannte er kaum jemanden, denn er gab sich selten mit Niederenab. "Niemand wird es verlassen und niemand wird hineingelangen, solange, bis die Untersuchungen abgeschlossen sind."

"Was für Untersuchungen?", unterbrach Nekat mit scharfem Ton.

Atúl zog kurz verärgert die Brauen zusammen, doch er beschloss nicht die Geduld zu verlieren. "Es werden bestimmten Phänomen auf den Grund gegangen, die von der hiesigen Bevölkerung als recht beunruhigend empfunden werden. Nichts Besonderes denke ich, aber sicher ist nun mal sicher, oder findet Ihr nicht?"

"Seit wann kümmert Euch die Sicherheit in Eurem Land?", bemerkte Nekat.

Atúl beschloss erneut nicht weiter darauf einzugehen, was ihm diesmal schon etwas schwerer fiel. "Zweitens geht es um eine weitaus wichtigere Angelegenheit. Da wir uns nun schon einmal zufällig über den Weg gelaufen sind, kann ich Euch sicher eine Botschaft übermitteln. An wen auch immer. Gebt sie dem, der sie am ehesten gebrauchen kann. Ich werde eine Gruppe meiner Männer nach Naksa schicken. Ich wünsche, dass sie dort alles zu sehen bekommen, was sie zu sehen wünschen. Dieses Gebiet gehört nun einmal zu meinem Land und ich möchte über mein Land Bescheid wissen."

"Ich bin mir sicher, dass Euch kein Einlass gewährt werden wird."

Wieder trieb Atúl sein Pferd an und kam noch ein Stück näher an sie heran. "Und ich bin mir sicher, sie sollten sich dies noch einmal genau durch den Kopf gehen lassen. Denn ansonsten könnte es gewisse Folgen haben."

"Ihr glaubt also, es wäre für uns besser, wenn wir Naksa freiwillig in Eure Hände übergeben?" Nekat schnaubte abfällig. "Das denke ich nicht."

"Ich hoffe, Eure Meinung ist nicht ausschlaggebend. Denn warum sollte ich mir Schlechtes für Naksa wünschen?" Atúl kehrte wieder zu seiner ursprünglichen Position zwischen seinen beiden Soldaten zurück. "Ich wünsche Euch noch einen wunderschönen Abend, Nekat."

Mit diesen Worten ließ er sie allein zurück und verschwand in der Dunkelheit der Nacht. Nur noch der Hufschlag der drei Pferde war für eine Weile zu hören, doch auch dieser wurde schnell verschluckt. Dann herrschte Stille um sie herum.

Sie waren lange und weit in einem strengen Tempo geritten, bis sie endlich am Wegesrand hielten, um unter einigen alten Bäumen ein provisorisches Nachtlager zu errichten. Noch ein paar wenige Meter weiter und David wäre vermutlich vor Anstrengung vom Pferd gefallen. Seine Muskeln waren verspannt und er hatte Krämpfe in den Beinen. Als er abstieg konnte er sich kaum bewegen.

Eine geraume Zeit später saßen sie an einem unruhig brennenden Feuer, um ein karges Mahl zu sich zu nehmen. Bis auf die paar Bäume unter denen sie hockten, waren sie umgeben von offenen Feldern und der kalte Wind ließ sie erbarmungslos frieren. David zog sich die Jacke enger um die Schultern, doch es half nicht wirklich. Nach einer Weile verlor er die Geduld.

"Könnte mir eventuell jemand erklären, was hier vor sich geht?" Er wollte fordernd klingen, selbstbewusst, doch er war einfach nur müde und erschöpft.

Ratloses Schweigen herrschte zunächst vor, bis sich der Mann räusperte, der sich Nekat nannte. "Was weißt du über die Legenden und Mythen rund um die Götter?", fragte er.

"Nichts.", gestand David ohne lange darüber nachzudenken.

Wieder folgte Stille, diesmal ein wenig verzweifelter, gepaart mit einigen hilflosen Blicken. Nur auf Jacks Zügen zeigte sich ein mitleidiges Grinsen, was aber wohl nicht David galt. Erneut dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis Nekat den Versuch begann es ihm so einfach wie möglich zu erklären. Er schien sich in seiner Rolle nicht wohl zu fühlen, auch wenn David den Grund hierfür nicht gleich erkennen konnte.

"Weißt du etwas über den Kampf zwischen Göttern und Dämonen?", versuchte Nekat es erneut, doch wieder konnte David nur den Kopf schütteln.

"Na ja, macht ja nichts.", seufzte Nekat. "Das ist im Grunde auch schnell erklärt. Auf der einen Seite stehen die Götter mit ihrem Führer Ulasta und auf der anderen Seite stehen die Dämonen, geschaffen von ihrem Führer Justaka. Im Grunde scheint die Geschichte lächerlich, denn sie basiert auf einen schlichten Streit. Zuvor gehörte Justaka mit in die Reihen derer, die den Göttern untertan waren, ein starker Magier, doch er vervielfachte seine Macht um einiges, als er Ulasta den Rücken kehrte und der Krieg begann."

"Wer sind sie?", wollte David wissen, als Nekat eine Pause machte.

"Du meinst die Götter und Dämonen?" Als David nickte fuhr Nekat fort. "Sie unterscheiden sich im Grunde nicht sehr von uns. Sie besitzen Kenntnisse über das Wirken von Magie, was sie zu mächtigen Magiern macht. Das berechtigt ihren Anspruch darauf, die Kontrolle über nahezu jegliches Leben zu befehlen, was auch eine enorme Verantwortung mit sich bringt. Aber sie haben Schwächen wie wir und auch sie können wohl Fehler machen, sonst wäre es wahrscheinlich nicht so weit gekommen."

"Wozu gekommen?" David verstand nicht alles, denn Nekat schien ihm absichtlich Dinge vorzuenthalten, als wäre es ihm unangenehm darüber zu sprechen.

"Vielleicht hätte Justaka früher aufgehalten werden können.", mutmaßte Nekat bitter mit leiser Stimme, als fürchte er ungebetene Ohren könnten mithören. "Denn auch wenn sich sein Kampf gegen Ulasta richtete, hinderte es ihn nicht daran, die halbe Welt zu zerstören, bis er aufgehalten wurde."

Wieder herrschte bedrückendes Schweigen und David wollte eigentlich niemanden belästigen, doch es nervte ihn, dass er unwissend blieb. "Wer hat ihn aufgehalten?"

Nach langem Zögern antwortete Nekat ihm endlich. "Ich."

"Das muss schon eine Weile her sein.", überlegte David unsicher.

"Es ist fast zweitausend Jahre her.", bestätigte Nekat. Diesmal fuhr er von allein fort. "Doch es scheint nicht viel gebracht zu haben, denn mit seinem eigenen Fluch beschwor er sich ins Leben zurück, auch wenn ihm dies keiner glauben wollte. Es gab weise Männer, die seine Rückkehr prophezeiten, doch auch sie wurden nur müde belächelt. Inzwischen existieren nur noch Bruchstücke ihrer Aufzeichnungen. Glaube hat eine immense Macht, doch Unglaube schützt nicht und Vergessen macht alles nur schlimmer."

"Nun ist er zurück.", vermutete David und brauchte im Grunde keine Antwort. Noch fiel es ihm schwer, dies alles überhaupt glauben zu können, deshalb erschütterte es ihn noch wenig. Vielleicht war er auch nur auf ein paar fanatische Spinner getroffen.

"Die Weisen berichteten in ihren Prophezeiungen, wie bereits erwähnt, von seiner Rückkehr und auch, wie es möglich sein könnte ihn aufzuhalten." Nekat hielt kurz inne. "Beziehungsweise, wer."

"Und?", hakte David nach.

Er erhielt keine Antwort, nur einen stummen Blick Nekats von dem Mädchen Faith neben ihm auf ihn zurück. "Was soll das sein? Ein blöder Scherz?", ärgerte David sich.

"Schön wäre es.", entgegnete Jack sarkastisch, der sich bisher zurückgehalten hatte.

"Ihr müsst euch irren." Langsam dämmerte es David, dass diese Leute es durchaus ernst meinten.

"Nein, das tun wir nicht.", behauptete Nekat.

"Gut, dann solltet ihr eure Zeit nicht vergeuden und euch jemand anderes suchen.", schlug David vor.

"Das ist das Problem, es gibt offensichtlich niemanden.", warf Jack wieder ein.

"Ich will ja niemandem zu nahe treten,", begann David mit einem kurzen Blick auf Faith, die wortlos neben ihm saß, "aber wenn sie nicht irgendwelche Superkräfte besitzt, frage ich mich, wie das gehen soll. Soll ich ihn mit Steinen bewerfen?"

Niemand reagierte auf seine Frage, was ihn nicht verwunderte. Stattdessen stand Nekat einfach auf und verließ sie ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

"Was ist, kann ich jetzt nach Hause?", drängte David.

"Das ist vielleicht keine gute Idee, Junge.", überlegte der alte Mann, Arthur, der noch immer auf einem trockenen Stück Fleisch herum kaute. "Unabhängig davon, was du glaubst, glaubt Justaka an das, was wir dir erzählt haben."

Diese Nacht war wieder einer der Nächte, die nicht vergehen wollte. Etwas in Nekat drängte weiter, doch er musste warten, denn Mensch und Tier brauchten Ruhe. Auch sein Pferd konnte ihn nicht die ganze Nacht hindurch tragen, auch wenn es für seine Verhältnisse schon eine lange Pause bekommen hatte. Eigentlich würden sie aufbrechen können. Stattdessen war er ein ganzes Stück durch die Gegend gewandert, bis er schließlich auf einem Hügel angelangt war, von dem aus man eine ununterbrochene Sicht nach Norden hatte. Im Hintergrund ragte das Ostgebirge in die Höhe, doch es war lange nicht so weit entfernt, wie es vielleicht wirkte. In ein, zwei Tagen war es von hier aus erreicht, wenn man wollte und sich beeilte. Sie würden wohl eher zwei Tage brauchen. Ansonsten war kaum etwas zu erkennen. Nur ein mächtiger, allerdings halb zerstörter Turm war noch schwärzer als die Nacht, so dass er deutlich aus dem benachbarten Tal herausragte.

"Vergiss es.", hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich und er fuhr erschrocken herum. Doch es war nur Rugar, der ihm nach einer Weile gefolgt war. "Jeder, der versuchen würde auch nur einen Schritt näher als erlaubt an dieses Tal heranzukommen, würde sofort bemerkt werden. Atúl wird wichtige Gründe haben, wenn er sich die Mühe macht, ein solch unbedeutendes Stück Land vollkommen abzuriegeln."

"Ja, und mich würde sehr interessieren, was dieser Grund wohl sein mag.", bestätigte Nekat und richtete seinen Blick noch einmal auf die entfernte Ruine.

"Du solltest langsam einmal eine Pause machen dir weitere Rätsel zu stellen.", behauptete Rugar. "Es bekommt einem auf Dauer nicht."

"Es könnte wichtig für uns sein."

"Könnte es."

"Es wäre vielleicht besser, wenn wir darüber Bescheid wüssten."

"Vielleicht."

"Also?"

"Wenn Atúl etwas weiß, werden wir es sicher auch noch rechtzeitig herausfinden."

Nekat seufzte. "Es wäre schön, könnte ich auch daran glauben." Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen und sie starrten nur in die Nacht hinaus. Jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

"Würdest du sie allein nach Naksa bringen?" Die Frage stellte Nekat, als würde er zu sich selbst sprechen und nicht einmal wirklich wahrnehmen, was er sprach.

"Kommt ganz darauf an, aus welchem Grund du es nicht tun solltest.", antwortete Rugar und nicht nur leichtes Misstrauen war aus dieser Stimme zu hören. Rugar war selten dazu fähig Gefühle für irgendetwas oder irgendjemanden zu zeigen und auch dies bildete eine seltene Ausnahme. Nekat drehte sich erneut zu ihm herum und hielt seinem argwöhnischen Blick stand.

"Ich werde nach Midnight Town und Sunspring reiten.", erklärte er ruhig. "Ich habe keine Ahnung, was Atúl vorhaben sollte, aber sein Verhalten sollte uns eine Warnung sein. Wer weiß, was für Freunde er sich geschaffen hat. Ich würde ihm alles zutrauen. Die Mönche und Gelehrte Midnight Towns und Sunsprings haben keine Ahnung, was vor sich gehen könnte, also werde ich sie warnen."

Diese Erklärung schien Rugar nicht zu beruhigen, sondern seine Beunruhigung noch zu vertiefen. "Du wirst nicht nach Silver Rain gehen."

Es war keine wirkliche Frage. Trotzdem fiel es Nekat schwer diesen Satz zu bestätigen. Silver Rain. Die Stadt, die ihrer beider Schicksale auf unerklärliche Weise (wahrscheinlich nur aus einer Laune heraus) miteinander verband. Eine Unmenge von Gefühlen löste dieser Name tief in Nekats Geist aus, doch am Ende blieb nur eines: Eine qualvolle, nie endende Sehnsucht.

"Nein." Es war fast nur ein Flüstern.

"Versprich es.", forderte Rugar ihn auf. Sein Blick bohrte sich noch fester in Nekats Augen, doch es war natürlich unmöglich verhindern zu wollen, wie Nekat diesem auswich.

"Das kann ich nicht.", brachte Nekat schließlich mit einiger Mühe heraus, denn er hatte trotzdem versucht diesem Drang zu wiederstehen. Rugar schien enttäuscht zu sein, als er sich von ihm wegdrehte.

"Rugar.", hielt er ihn auf, als er zu gehen schien. Er trat auf seinen Freund zu und drückte ihn kurz an sich, für die Zeit, wo er keinen Protest erwartete. "Falls wir uns nicht mehr sehen sollten.", sprach Nekat leise. "Bring sie sicher nach Hause."

Dann ging er und verschwand mit eiligen Schritten in die Dunkelheit. Zurück ließ er Rugar, der sich den unerwarteten Schmerz zu erklären versuchte, der ihn mit einem Mal tief in seinem Innern plagte.

"Ich kann nicht schlafen.", jammerte Faith. Jedenfalls war es in Jacks genervten Ohren wie ein Jammern. Er selbst konnte auch keine Ruhe finden, doch das sagte er ihr nicht. Es war praktischer und sicher auch angebrachter ihr die Schuld dafür zuzuweisen.

"Du könntest dir wenigstens Mühe geben es zu versuchen.", brummte er ungeduldig. Wenigstens den Mund könnte sie doch halten, wenn er sie schon den ganzen Tag über ertragen musste.

"Was denkst du, was ich die ganze Zeit versuche?", fauchte sie zurück.

"Sonst konntest du auch schlafen!", fuhr er sie an. Eine Spur zu heftig, wie er sich gleich darauf eingestand, aber dies änderte nun nichts mehr daran.

"Aber heute nicht!" Die drei Worte gingen in leichtem Schluchzen unter, welches mühsam versucht wurde unterdrückt zu werden.

Jack ärgerte sich ein wenig über sich selbst. Sie alle waren in letzter Zeit angespannt und im Stress gewesen. Er hatte im Grunde kein Recht seinen Missmut darüber an ihr auszulassen und es kam ihm der Gedanke, dass er sich vielleicht ein wenig zu oft mit ihr gestritten hatte. Sie war auch nur ein Mensch, wenn auch ein äußerst anstrengender. Wenn sie ein wenig freundlicher wäre, würde es ihm sicher auch leichter fallen, ein wenig freundlicher zu ihr zu sein.

"Ich kann auch nicht schlafen." Ein bisschen Wahrheit war jetzt vielleicht angebracht beschloss er.

"Tut mir leid.", murmelte sie.

"Liegt nicht an dir.", warf er schnell ein. Ein wenig zu schnell, wie er trotz allem fand. "Liegt wohl einfach an dieser Nacht. Liegt vielleicht noch ein wenig zu viel Aufregung in der Luft."

"Ich habe Angst.", flüsterte Faith fast lautlos. "Ich habe Angst, weiß aber nicht wovor. Und dies macht mir wieder von Neuem Angst und darüber ärgere ich mich. Es war meine Idee mitzukommen, auch wenn ich gewusst haben sollte, dass es nicht ganz einfach werden könnte. Aber ich will nicht aus Angst einfach wieder umkehren."

"Das kannst du sowieso nicht so einfach tun.", erinnerte sie Jack. "Oder willst du den ganzen Weg wieder allein zurück? Ich glaube kaum, dass dich jemand begleiten wird. Und außerdem, haben wir alle Angst."

Es schien sie nicht wirklich zu überzeugen. "Es ist grausam.", meinte sie. "Egal wo wir sind, wir werden überall in Gefahr sein."

" Was redest du?" Er wusste, dass sie Recht hatte, aber er wusste auch, dass er sie irgendwie beruhigen müsste. "Wer sollte denn schon etwas von uns wollen?" Schwach, Jack Bradley, gestand er sich in Gedanken dazu.

"Ich weiß es nicht.", wiederholte sie. "Es ist, als wäre etwas hier. Ganz in der Nähe. Als würde es uns die ganze Zeit verfolgen und nicht locker lassen. Als würde es jeden unserer Schritte genau sehen und kennen und als wüsste es alles über uns, wo wir hin wollen, was wir vorhaben, was unsere nächsten Schritte sind. Wie ein riesiges, nicht vorhandenes Auge, was aber doch eine unheimliche Existenz besitzt."

Eine Weile sagte Jack gar nichts. Er wusste, dass sie recht haben musste. Etwas begleitete sie schon eine ganze Weile lang und es war nicht nur eine Ahnung, wer dieses gestaltlose Etwas war.

"Jack?", fragte Faith zögernd. Ihre Angst wurde leise in ihrer Stimme laut und wenn er nicht bald etwas wirklich Beruhigendes zu ihr sagen würde, würde sie sich sicher immer weiter ausbauen.

"Hm?", fragte er zurück.

"Es stimmt, oder nicht?" Sie schien darauf zu warten, dass er ihr das Gegenteil sagte, doch er wusste nicht, ob dies eine gute Idee war.

"Vielleicht.", murmelte er nur.

"Jack?", fragte sie erneut.

"Hm?", fragte er erneut zurück.

"Hast du etwas dagegen, wenn ich ein Stück weiter neben dir schlafe?", wollte sie wissen.

Jack schüttelte den Kopf. "Nein.", meinte er, nachdem ihm eingefallen war, dass sie diese Bewegung schwer sehen konnte. Faith schob ihre Strohmatratze ein Stück näher an seine heran und wickelte sich dort wieder in ihre Decke.

Zu seiner eigenen Verwunderung verspürte David keine besonders große Müdigkeit. Obwohl er am vergangenen Tag sehr viel erlebt hatte und in manch fragwürdige Situation geraten war, schien er immer noch hellwach und sein Herz schlug immer noch schneller, wenn er an die zurückliegenden Geschehnisse dachte.

Stumm betrachtete er das Bündel neben sich, welches er noch immer nicht angerührt hatte. Normalerweise war er ein sehr wissbegieriger Mensch, doch hierbei schien sein Interesse gänzlich im Hintergrund zu stehen. Trotzdem musste er wissen, woran er war und so zog er es an sich. Ein festes Garn umspannte sorgfältig gewickelte Leinen. Einen Moment zögerte David noch, doch dann öffnete er entschlossen den Knoten und wickelte den Stoff beiseite. Kurze Zeit später hielt er einige lose Blätter Papier in den Händen. Es war nicht irgendwelches Papier. Papier allein war schon sehr teuer und schwer zu bekommen und dieses war von einer Reinheit, wie David sie noch nie zuvor in den Händen gehalten hatte. Er war ein wenig enttäuscht, denn er hätte mit weitaus mehr gerechnet. So wertvoll diese Blätter auch sein mögen, erstens waren sie beschrieben und zweitens wirkten sie nicht sehr aufregend, so dass David sich fragte, was an ihnen so wichtig sein sollte. Seufzend blätterte er die Seiten durch. Sie waren mit einer ihm fremden Schrift beschrieben. In einer sauberen Arbeit mit einer feinen Feder Strich für Strich. Leider konnte David nicht lesen, was dort geschrieben war.

Vorsichtig wickelte er das Papier wieder in die Leinen ein. Ihn verließ das Gefühl nicht, es könnten wichtige Informationen sein, die er unfreiwillig bekommen hatte. Er musste nur jemanden finden, der es für ihn lesen und dem er vertrauen konnte.

"David?", drang plötzlich eine vertraute Stimme an sein Ohr, die so vertraut klang, dass er gar nicht erst merkte, sie gehörte nicht hierher. "Hey, David!"

Überrascht drehte er sich um und erblickte eine Gestalt, die ihm nur knapp übers Knie reichte. "Tarry?", fragte er erstaunt und sah ein wenig ratlos in die verärgerten Koboldaugen. Tarrys widerspenstige, schwarze Haare waren noch ein wenig zerzauster als sonst und seine geflickte Jacke war mit Erde verdreckt. Seine Augen, die noch schwärzer als seine Haare waren funkelten unheilverkündend. Die Hände hatte er in die Seiten gestützt und sein Mund verzog sich schmollend. Hinter ihm rollte sein Bruder Céwik den seichten Hang hinunter und blieb erschöpft auf dem Rücken liegen.

"Ich brauche eine Pause, Mann!", keuchte er. Trotz dass die beiden Kobolde Brüder waren, konnten sie nicht unterschiedlicher sein. Tarry voller Temperament ohne jegliche Zurückhaltung, egal in welcher Situation. Céwik für einen Kobold ungewöhnlich zurückhaltend und vielleicht ein wenig schüchtern. Tagsüber oftmals nicht anzutreffen, da er irgendwo tief in Gedanken versunken über den Sinn des Lebens philosophierte und sich Fragen stellte, die ihm keiner beantworten konnte.

"Wir sind da, Dummkopf!", fauchte Tarry.

"Ach, wirklich?" Céwik hob den Kopf und sah David. Er versuchte es mit einem leichten Lächeln, doch er schien wirklich außer Kräften zu sein.

"Und wir hätten uns nicht einmal beeilen brauchen oder uns in irgendeiner Art Sorgen zu machen, denn anscheinend scheint es unserem großen Freund ja ganz gut zu gehen.", brummte Tarry vor sich hin. "Jedenfalls konnte ich keine große Wiedersehensfreude an ihm erkennen. Es ist ja nicht so gewesen, dass wir uns große Sorgen gemacht haben, nachdem er in Caparian City spurlos verschwunden war und sein Vater bis in die Dunkelheit gewartet hat und jetzt große Ängste aussteht. Ach, wieso denn? Wir wussten doch, dass er großes Glück hatte und neue Freunde findet, die ihm aus der Patsche helfen."

Als jemand, der sich in der Welt der Magie und ihrer Bewohner nicht besonders gut auskennt, soll erklärt werden, dass Kobolde, so klein sie auch sein mögen, recht häufig und gerne das Wort großbenutzen. In ihrer eigenen Sprache gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Arten dieses Wortes. Es gibt, um einige Beispiele des Gebrauchs dieses Adjektivs zu nennen, den Großen Krieg (zwischen Elfen und Kobolden, den keiner der beiden Seiten gewann), die Großen Heldentaten (die in dem eben genannten Krieg eine große Rolle gespielt hatten) und vor allem das Große Volk (wie sie sich selbst bezeichnen). In der Bibliothek von Sunspring gibt es ganze Regale mit Literatur über die verschiedenen Völker dieser Welt. Auch über Kobolde gibt es eine Menge, sehr häufig Negatives, zu lesen. In den meisten Ausgaben wird man vor ihnen gewarnt und es wird dringend davon abgeraten engeren Kontakt mit diesen Leuten einzugehen. Doch trotz allem können Kobolde hervorragende Freunde sein und auch irgendwo tief in Tarry vergraben liegt ein großes Herz.

"Was ist mit meinen Eltern, wie geht es ihnen?", bestürmte David seinen kleinen Freund, dessen Miene nur noch ein wenig missmutiger wurde.

"Es geht ihnen gut.", antwortete er kurz. "Abgesehen davon, dass sie sich ständig fragen, wo du denn stecken könntest."

"Es war ganz sicher nicht meine Absicht.", versicherte David. "Ihr könnt euch ja gar nicht vorstellen, was überhaupt passiert ist."

Er begann ohne Aufforderung zu erzählen und ließ keine Kleinigkeit aus. Endlich bekam er die Möglichkeit dazu offen, mit jemandem den er kannte über das Erlebte und seine Ängste dabei zu reden. Er konnte den Gedanken in seinem Kopf freien Lauf lassen und berichten, was für Probleme er sich vorstellte zu haben und haben zu können. Er wickelte noch einmal das Papier aus und zeigte es ihnen, doch auch sie konnten nichts damit anfangen. Mit seinem Reden begann sich auch alles wieder zu sortieren und die richtige Reihenfolge anzunehmen. Sein Abenteuer begann übersichtlicher zu werden und ließ sich besser verstehen.

"Wenn ich könnte, würde ich sofort nach Hause zurückkehren, aber die Soldaten haben alles abgesperrt und ich komme mit Sicherheit nicht dort hinein. Die erwischen doch jeden, der es versucht!", endete er.

"Sicher.", nickte Tarry.

"Aber ich kenne diese Leute hier gar nicht.", überlegte David laut vor sich her. "Ich weiß doch gar nicht, ob ich ihnen überhaupt trauen kann. Ich weiß gerade eben mal ihren Namen."

"Das ist doch schon einmal was.", meinte Céwik, der bisher (wie meistens) stumm daneben gesessen hatte und sich einfach alles nur angehört hatte, während sein Gehirn im Hintergrund arbeitete. "Und wo willst du sonst hin? Ich meine, du kannst es ja versuchen rein zu kommen. Sag ihnen doch einfach, du warst verreist und möchtest jetzt gerne wieder zurück."

David sah ihn eine Weile ratlos an und dann sagte er, was ihn schon mehr als eine ganze Weile beschäftigt hatte. "Ich weiß nicht wieso, aber ich bin mir da nicht so sicher, ob es eine gute Idee wäre. Ich denke nicht, dass sie mich durchlassen würden."

"Wieso das nicht?", wunderte sich Tarry, der erstaunt über den plötzlichen Ernst in Davids Stimme war. "Was sollten sie von so einem unbedeutenden Menschen wie dir wollen? Tut mir leid, aber ich glaube, du fängst an dich da in was rein zu steigern. Wer ist dieser Trupp überhaupt? Was wollen sie, besser wo wollen sie hin?"

"Ich weiß nicht.", murmelte David, der sich von Tarry nicht überzeugen lassen wollte. "Ich meine, sie wollen zu einem Ort, der sich Naksa nennt und derjenige, der sie anscheinend dorthin führt, nennt sich Nekat."

"Nekat?", wiederholte Tarry, plötzlich mit erstaunten Augen. "Etwa Gesh'Nekat? Der Götterbote, auf dessen Schultern der Fluch Justakas ruht? Der mit dem Schicksal des Dämonenherrschers auf ewig und immer verbunden ist, wie es kein anderes Lebewesen auf dieser Welt ist?"

"Der Gesh'Nekat?", hakte Céwik noch einmal nach, nachdem David die beiden nur verblüfft anstarrte.

"Ihr kennt den?", erkundigte er sich, obwohl die Frage wohl schon geklärt war.

Aus diesem Grund hielt es keiner für angebracht sie zu beantworten. "Aber was will er denn von dir? Du meintest doch, sie würden dich kennen?", versuchte Tarry selbstgestellte Rätsel zu beantworten.

"Ja.", antwortete Céwik an Davids Stelle. "Deswegen kommt ihm doch alles so unheimlich vor. Hast du nicht zugehört? Mir würde die ganze Sache auch nicht geheuer sein."

Tarry warf ihm einen knappen, vernichtenden Blick zu und Céwik beschloss vorzeitig erst einmal nichts mehr zu sagen. "Aber es kann nicht sein, dass...", überlegte Tarry gedankenverloren weiter. "Nein, das kann es wirklich nicht."

"Was kann nicht sein?", hakte David nach.

"Nichts, wirklich." Tarry gähnte. "Mann, wir sind den ganzen Tag durch die Gegend gerannt, du kannst dir nicht vorstellen, wie müde ich bin."

Doch, dass konnte David und auch wenn noch immer tausend ungeklärte Fragen durch seinen Kopf spukten, rollte auch er sich auf seinem Nachtlager zusammen und schlief überraschend schnell ein.

Es war ein Traum. Ein ganz normaler Traum, mochte man meinen. Auch David hielt es zunächst für einen Traum, aus dem er am frühen Morgen hochschreckte. Auch wenn er für einen Traum schrecklich real war. Als wäre es eine für lange Zeit vergessene Erinnerung, die sich einen Weg aus den Tiefen seines Gedächtnissen an die Oberfläche grub.

Es war Nacht. Genauso eine Nacht, wie sie momentan über ihnen wachte. Doch trotzdem war es taghell um ihn herum. Zunächst war er verwirrt, wusste nicht, wo er war. Als hätte ihn gerade eben erst jemand an diesen Ort gesetzt. Er drehte sich einmal um sich selbst und sein Blick fiel staunend auf umstehende Häuser, die ganz in weiß gestrichen waren und die aus Marmor, Glas und edlen Steinen zu bestehen schienen. Er war in einer Stadt von solch einer Pracht, wie sie kaum eine andere hatte.

Ganz in seiner Nähe erhob sich ein riesiges Gebäude mit einem gewaltigen Kuppeldach. Dieses Dach ruhte auf meterhohe Säulen, die bis in den Himmel zu ragen schienen. Unter der Kuppel gab es mehrere Gebäude, die alle zueinander geordnet standen und komplizierte Vier- und Dreiecke bildeten. Zwischen diesen Gebäuden verliefen lange, breite Gänge, zwischen denen seltsame Bäume und fremde Blumen wuchsen. An einigen Stellen gab es ganze Miniparks mit kleinen Springbrunnen und Statuen von berühmten Männern. Mochte man Caparian City als märchenhaft beschreiben, so gab es für diese Stadt mit dem wohl größten Gebäude Zahurs in seiner Mitte kein Wort mehr dafür ihren Glanz zu beschreiben.

Doch erst spät wurde ihm bewusst, dass diese Stadt gerade im Untergang lag. Schon zu Beginn hatte es ihn gewundert, wie hell es um ihn herum war und erst jetzt bemerkte er die Feuerwände, die sich aus allen Himmelsrichtungen her um die Stadt schlossen und sich Meter für Meter mit einer grausamen Langsamkeit unaufhaltsam weiter fraßen.

Alles in seinem Traum geschah nur Stück für Stück und wurde nur allmählich klarer. Das riesige Gebäude zu seiner Rechten stand ebenfalls lichterloh in Flammen und auf einmal kam ihm der Name dieser Stadt in den Sinn, obwohl er glaubte sie noch nie betreten, geschweige denn, schon einmal von ihr gehört zu haben. Ein anderer Teil seines Selbst begann ihm zu widersprechen.

"Silver Rain.", murmelte David im Schlaf.

Plötzlich spürte er, wie etwas seine Hand zerdrückte, so dass sie schon ganz taub wurde. Er erkannte ein Mädchen, schon eine junge Frau, an seiner Seite, die sich vor Angst an ihn klammerte. Er hatte sie vor nicht allzu langer Zeit bereits kennengelernt. Ihr Name war Faith. Sie kam von einem weit entfernten Gutshof und schien manchmal recht selbstüberzeugt von sich zu sein. Jetzt machte sie aber einen ganz anderen Eindruck auf ihn. Sie sah auch irgendwie anders aus. Ihre Haare waren offen und wehten aus ihrem Gesicht. Sie wirkte um einiges zarter und zerbrechlicher. Über ihren schlanken Körper trug sie ein kostbares, weißes Kleid, was nun aber schon teilweise einige Rußflecken aufwies, die wohl kaum mehr herauszubekommen waren.

Er wandte sich von ihr ab und bemerkte zwei weitere Männer, die vor ihm standen. Den einen kannte er ebenfalls seit einiger Zeit. Von dem er den Namen Nekat wusste. Auch er sah allerdings ganz anders aus. Er wirkte jünger und weniger müde, auch wenn er um keinen Tag älter schien als jetzt. Seine Kleidung war ebenfalls anders. Kein geflickter Mantel umhüllte ihn und weder abgenutzte Hose noch Hemd bedeckten seinen Körper. Stattdessen schützte ihn ein schnell übergeworfenes, silbernes Kettenhemd, darunter trug auch er ein langes, weißes Gewand und seine Schuhe schienen aus feinstem Leder. Er sah stolz aus, trotz dass er bereits teilweise schwere Wunden davon getragen hatte.

Dieser Anblick berührte etwas, tief in Davids Innern. Er wollte vorwärts stürmen und diesem Mann helfen, auch wenn er ihn kaum kannte. Sein Blick wanderte weiter, um den Gegner sehen zu können und er erstarrte. Diesen Mann hatte er in der Tat noch nie gesehen, denn er war seit gut zwei Jahrtausenden tot, auch wenn einige von seiner angeblichen Rückkehr sprachen. Justaka. In seinem schlichten, schwarzen Mantel gehüllt, sah er fast harmlos aus, doch seine grauenvolle Macht hing über ihm, wie die Rauchwolke über dieser Stadt.

"Gib auf!" Justakas Stimme war leise. Kaum zu hören. "Du wirst diese Stadt nicht mehr retten können." Doch ihre Wirkung blieb nicht aus. "Sie wird untergehen."

Entsetzt presste sich David seine Hände an die Ohren doch natürlich half dies nicht viel. Er schrie auf, überwältigt von dem plötzlichen Schmerz. Er glaubte sein Kopf würde diesem Druck nicht mehr standhalten können, doch als er glaubte, es nicht mehr aushalten zu können und es ihm schwarz vor den Augen wurde, da war es auf einmal wieder vorbei. Seine Knie zitterten und gaben unter ihm nach. Er klammerte sich an einem Brunnen fest, der neben ihm stand, doch er fiel zu Boden. Neben ihm lag das Mädchen und bewegte sich nicht mehr. Mühsam richtete David seinen Blick wieder auf das Geschehen vor ihm. Bunte Punkte tanzten vor seinen Augen und das Atmen begann schwerer zu werden. Er bekam kaum Luft.

Nekat schien es ähnlich zu gehen. Verzweifelt stützte er sich auf sein Schwert und wartete, bis sich die Welt aufhörte um ihn herum zu drehen. Dann hob er seinen Kopf und David konnte die vor Wut funkelnden Augen sehen, die sich auf den Dämonenherrscher richteten. Völlig lautlos sprang Nekat auf und rannte mit gehobenen Schwert auf Justaka zu. Mit blinder, letzter Verzweiflung rannte er ihm direkt in die Arme. Der Aufprall der Beiden war nur kurz, denn Nekat wurde sofort wieder davon geschleudert. Hart schlug er diesmal auf dem Boden auf. Er versuchte sich erneut hochzustemmen, doch dieses Mal versagten seine Kräfte und er blieb keuchend liegen. Doch an seinem Schwert klebte Blut und Justaka schrie vor Zorn auf, so dass David glaubte, diesmal wirklich um seinen Verstand gebracht zu werden. Vor seinen Augen senkte sich ein schwarzer Schleier und doch hörte er die letzten Worte des Dämonenherrschers klar und deutlich.

"Verflucht mögest du sein, Narr! Auf Erden sollst du weilen, solange ich in die Finsternis trete. Möge dieser Fluch auch deine einfältigen Kinder treffen und sollen sie sterben und wieder leben, wie an diesem Tag, bis ich zurückgekehrt bin. Nur sie sollen dann fähig sein, mir gegenüber zu treten und dann wird die Erde mein sein."

Erschrocken fuhr David hoch, denn mit Entsetzen musste er feststellen, dass dies wirklich nicht nur ein Traum gewesen war. Es war so deutlich vor seinen Augen, als hätte er es vor Jahren erlebt. Als hätte er selbst Justakas verhängnisvolle Worte in seinem letzten Atemzug gehört, kurz bevor der mächtigste Dämon dieser Welt zu Grunde ging und doch nicht starb.

"Tarry!", rief er vorsichtig. Darauf achtgebend, dass er niemanden sonst wecken würde. "Tarry, wo steckst du? Wach auf!"

"Was ist denn?", brummte es aus der Dunkelheit hervor. "Ist es denn schon so spät?"

"Nein, aber ich muss dich etwas wichtiges fragen!", drängte David weiter. "Und das hat keine Zeit bis morgen. Ich muss es jetzt wissen. Was kann nicht sein?"

"Was willst du denn?", wollte Tarry wissen, der die Frage nicht verstand. Es war zu früh am Morgen, als dass er sich weitergehende Gedanken erlauben würde. "Was meinst du?"

"Du hast eben noch gesagt, es kann nicht sein!", erklärte David ungeduldig. "Was meinst du damit? Was kann nicht sein?"

"Eben ist schon eine Weile her.", stellte Tarry fest.

"Das ist mir egal.", erwiderte David. "Streng dich an, es wieder zu wissen."

"Ich weiß es nicht." Tarry unterstützte seine Worte mit einem kräftigen Gähnen. "Lass mich in Ruhe und frag morgen weiter. Ich bin müde!"

David gab es auf und ließ den Kobold in Ruhe. Seine Frage war eigentlich völlig überflüssig, da er die Antwort bereits wusste, sie sich wenigstens vorstellen konnte. Auch wenn er nicht ganz verstand, worum es ging. Es fiel ihm schwer wahrhaben zu wollen, er wäre der Sohn eines Mannes, der vor zweitausend Jahren zur Unsterblichkeit verdammt wurde und auf dem ein Fluch eines sterbenden Dämon liegen sollte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es sein sollte, immer und immer wieder zu sterben, um dann doch als die gleiche Person weiterleben zu sollen, nur an einem anderen Ort unter einem anderen Namen wahrscheinlich. Und trotzdem vom Äußeren her der gleiche geblieben zu sein. Die einzig mögliche Lösung war, dass es sich nur um einen Traum handelte. Manchmal kam es vor, unerklärliche Träume zu träumen. Doch tief in seinem Innern wurde er das Gefühl nicht los, Tarry hätte ähnliches gedacht, als der Name Gesh'Nekat fiel.

DER UNTERGANG

Es war ein kalter Abend, als Nekat vor seinem Feuer saß und die Nacht auf sich zukommen ließ. Eine trostlose Nacht, die noch viel kälter werden würde, als der Abend ankündigte. Das Feuer war nicht mehr als eine spärliche Flamme, als fürchte auch es die kommende Dunkelheit. Es wärmte kaum, spendete kein Licht. Nur für ein Stück Fleisch reichte es gerade noch, was an einem dünnen Spieß briet. Er saß daneben und kaute auf einer trockenen Brotkrume herum. Er hatte nur wenig von der Verpflegung mit auf seinen Weg genommen, denn er brauchte nicht viel und sein Ziel war fast erreicht. Zurückkommen würde er nicht.

Hinter ihm kaute sein Pferd in seinem Futtersack und suchte die letzten verbleibenden Krümel des Hafers. Er lauschte diesen Geräuschen, denn es waren weit und breit die Einzigen, die an sein Ohr drangen. Er war allein.

Doch nicht für lange, denn plötzlich löste sich ein Schatten aus der Dunkelheit und trat in den blassen Schein des Feuers.

"Erlaube mir, mich an dein Feuer zu setzen, Nekat. Es ist kalt draußen im Wald.", erklang die Stimme einer Frau. Der kalte Eiswind spielte mit dem Rock ihres langen Kleides, welches ihre zierliche Gestalt umhüllte. Darüber trug sie nur eine dünne Jacke mit einer Kapuze, die sie nun aus dem Gesicht zog. Ihre Augen leuchteten in einem matten Rot.

Er wollte aufspringen, doch sie wies ihn mit einer knappen Handbewegung an es zu unterlassen. Er wusste nicht genau was es war, doch sie schien merkwürdig bestürzt. "Natürlich.", antwortete er. "Setzt Euch nur, Herrin."

Und so setzte sich Shi'Nasae, Göttin über Recht und Unrecht. Nekat bot ihr etwas zu essen und zu trinken und sie nahm dankbar an, doch schon bald legte sie Brot und Fleisch wieder zur Seite. Nachdenklich sah sie ihn eine Weile an.

"Du weißt die Wahrheit über viele Dinge, die uns betreffen." Es war eine Feststellung und keine Frage und doch war sich Nekat nicht sicher. "Einst waren wir die Herrscher über dieses Land. Wir besaßen die alleinige Macht. Kein Dorf war sicher, keine Festung konnte unserem Ansturm standhalten. Wir waren die gefürchteten Hujak, die Götter, in aller Munde. Doch dann war es vorbei. Und es schmerzt mich, ansehen zu müssen, was sie den Völkern antaten, welche uns ergeben waren und es erfüllt mich mit Zorn, was sie dem Volke antun, welches unser vertrauensvollster Diener war, welches war, wie wir es sind."

Sie hielt inne und schien in Gedanken verloren. Doch Nekat war ungeduldig und wusste, sie war nicht ohne Grund gekommen. Diesen Grund wollte er erfahren. "Warum seid Ihr gekommen?", fragte er frei heraus.

"Wir waren machtvoll.", fuhr sie fort. "Da wir uns der Magie bedienten. Die Magie kann ein wertvoller Verbündeter sein, doch sie war unser Untergang. Denn es kam das Unrecht über unser Haupt, doch es waren nicht wir, denen Unrecht geschah."

"Ich verstehe nicht.", bemerkte Nekat, als sie erneut eine Pause machte.

Sie hob leicht den Kopf und sah ihm in die Augen. Ein tiefer Schmerz lag in den ihren. "Weil du die ganze Wahrheit nicht kennst. Unserem Herrn gehörte die Welt, denn er war der mächtigste von allen. Doch durch diese Macht glaubte er, er würde wirklich alles besitzen. Ulasta wäre beschämt, würde das Unrecht ausgesprochen. Doch du musst es wissen, bevor du diese Welt verlassen wirst. Er betrog den Mann, der ihm wie ein Freund zur Seite gestanden hatte. Ohne den es niemals so weit gekommen wäre. Doch Ulasta war blind vor Macht und Liebe. Denn er begehrte zu dieser Zeit, die Tochter seines Beraters, welche dieser ihm nicht geben wollte. Doch Ulasta nahm sie und es entbrannte ein heftiger Zorn zwischen Vater und Liebhaber. Am Ende wurde der Berater seines Amtes verwiesen und schlimmer noch aus den obersten Reihen verbannt. Seine Tochter sollte er nie wieder sehen. Sie brachte ein Kind für Ulasta."

"Wer ist dieses Kind?", wollte Nekat wissen, bevor sie fortfuhr.

"Es war ein Sohn.", antwortete sie. "Er wurde zum Herrscher der Nacht und eines Tages wird sein Nachkomme dieses Erbe antreten müssen."

Nekat sah sie ratlos an, doch sie ließ ihm keine Zeit für weitere Fragen. "Der Berater entbrannte in Wut. Er schwor Rache an dem, der ihn verstieß und sein einziges Kind stahl. Er wurde eins mit der Magie. Er verband sich mit ihr, doch seine Schultern konnten diese Last nicht tragen und sein Geist begann sich von dem Guten in ihm abzuwenden. Es begann ein Rachefeldzug, dem wir nicht standhalten konnten und die Erde verbrannte unter seinen Schritten."

Sie endete, denn anscheinend war es alles, was sie zu erzählen hatte, doch Nekat konnte noch nicht die Wichtigkeit in ihren Worten erkennen. "Wer ist dieser Berater?", fragte er. "Ihr nanntet niemals seinen Namen. Kenne ich ihn?"

Es überraschte ihn, als er sah, wie eine Träne Shi'Nasaes Wange hinab rollte. Sie senkte in stummen Schmerz ihren Kopf, doch dann kam flüsternd der Name über ihre Lippen. "Justaka."

DIE VERLORENEN KINDER

Am Fuße des Ostgebirges auf der nach Osten gelegenen Seite, wuchs ein kleiner Wald. Er war wirklich nur sehr klein, im Maßstab zu dem Wald Naksa gemessen, der sich auf der westlichen Seite befand. Es wuchsen fast nur Laubbäume in diesem Wald. Überwiegend Birken. Breite Pfade schlängelten sich durch ihn hindurch und einige Sonnenstrahlen tanzten auf dem Boden. Zu dieser fortgeschrittenen Jahreszeit waren die meisten Bäume allerdings schon kahl oder standen zumindest mit nur wenigen Blättern da. Ein kleiner Fluss schlängelte sich eine Weile neben dem Weg entlang. Sein klares Wasser plätscherte über einige glatt geschmirgelte Steine hinweg. Später würde er sich mit den reißenden Fluten des Yesúws vereinigen und unterhalb des Gebirges die Klippen hinabstürzen, um in Naksa wieder ans Tageslicht zu treten.

Diesem Fluss folgte Rugar mit seiner Gruppe. Er wusste von einem schmalen Aufstieg ins Gebirge, gleich dort, wo der Fluss in den Boden verschwand. Diese Straße führte durch eine enge, dunkle Schlucht, die mitten im Herz des Ostgebirges zu enden schien. Von dort aus führte ein einsamer Pass in eine Gletscherspalte, die sich sogar mit Pferden passieren ließ. Doch man musste diesen Weg wirklich gut kennen, um ihm vertrauen zu können. Folgte man dem Verlauf dieser Spalte, so würde man plötzlich vor einem großen, in das Eis gehauene Tor stehen, welches direkt in das Gebirge hinein führte. Ein steilen Abhang hinunter und man kam an das Ufer des hier noch seicht dahin fließenden Yesúws.

Meist lagen Boote bereit, die auch ein Pferd in sich aufnehmen konnten. Wenn man mit diesen Booten dem Fluss folgte, würde man zu einer Burg kommen, die einst vor Jahrtausenden in diese gigantische Höhle gebaut wurde. Bisher hatte sie noch kein Außenstehender gefunden und diejenigen, die von ihr wussten, wagten es nicht ihr ein Leid zu tun. Selbst Justaka würde dort keine Waffe ziehen, denn dies war ein heiliger Ort. Doch man musste Acht geben, um ihn auch erreichen zu können. Der Fluss war tückisch. Das türkise Leuchten des Wassers und das gelbliche Schummern in der Höhle ließen die Augen schnell von dem Gewässer verträumt fort gleiten, doch dies konnte den sicher Tod bedeuten, denn steuerte man sein Boot nicht schnell genug in den Schatten der Burg, so würde es gnadenlos den Wasserfall hinuntergezogen werden. Rugar würde dieses Boot nicht zum ersten Mal fahren.

Doch fragte er sich, ob er wohl jemals soweit kommen würde, sie alle bis nach Yesúw zu bringen. Er wusste nicht genau aus welchen Gründen ihn solche Zweifel plagten, aber er spürte eine herannahende Gefahr. So deutlich spürbar, als stände sie ihm bereits gegenüber. Auch wenn der Tag ein sehr friedlicher Tag zu sein schien. Die Sonne brannte noch einmal mit all ihrer Kraft vom Himmel hinab. Die Bäume präsentierten ihre Blätter zum letzten Mal in allen mögliche Farben. Die Vögel zwitscherten, als wäre gerade erst der Frühling herangekommen. Und doch wurde Rugar von einer Stimmung bedrückt, als drohte das Ende der Welt.

Es war bereits spät. Oder sehr früh, wie man es gerade betrachten wollte. Doch noch immer saßen sie um das kleine Feuer herum und versuchten sich irgendwie daran zu wärmen. Denn sie froren alle erbärmlich diese Nacht. Sie versuchten angestrengt darüber nachzudenken, wie es denn nun weitergehen sollte, oder was überhaupt bisher geschehen war. Jeder für sich war dabei seine Gedanken zu klären und überhaupt noch einmal zu bedenken, in was für einer Situation er sich momentan befand.

David saß ein wenig abseits von den anderen und rupfte nachdenklich einige Grashalme aus dem Boden. Er versuchte nachzudenken. Eigentlich hatte er hier überhaupt nichts zu suchen. Er war ein freier Mensch, konnte hingehen, wohin er wollte und musste nicht mit Fremden ziehen. Aber in gewisser Weise gab ihm irgendetwas das Gefühl, genau dies tun zu müssen. Dieses Gefühl war wohl er selbst, der sich nicht erklären konnte, was mit einem Mal um ihn herum geschah und glaubte, bei diesen Leuten Antworten zu finden, doch es taten sich nur noch mehr Fragen auf. Und diese merkwürdigen Träume, die ihn in letzter Zeit plagten. Als wären es Erinnerungen aus einer anderen Zeit. Einer Zeit, an die er sich absolut nicht erinnern konnte und in der er jemand völlig anderes zu sein schien als er jetzt war. Und der Einzige, den er hierüber befragen konnte, war fort. Es war immer leicht, zu behaupten jemanden fragen zu wollen, der gar nicht mehr da war. Wahrscheinlich hätte David den Mund trotzdem nicht aufbekommen.

Sein Blick glitt über die Anwesenden und er entdeckte schnell Faith Bates, die ebenfalls abseits saß, aber dies tat sie sicherlich mit aus einem anderen Grund als er. Sie war recht launisch und seit er sie kannte schien sie ununterbrochen an schlechter Laune zu leiden. Er fragte sich, ob dies einfach in ihrer Natur lag, oder ob sie vielleicht einen wirklichen Grund dazu hatte. Vielleicht war es nur eine Art Schutz für sie, denn er konnte sich gut vorstellen, dass sie sich nicht besonders wohl fühlte in letzter Zeit, wenn sie ähnliche Sorgen hatte wie er. Doch dies zu fragen wagte er sie nicht. Er hatte keine Ahnung warum. Wahrscheinlich hatte er Angst davor, sich irgendwie zum Narren zu machen, dass er sich alles vielleicht nur einbildete und Träume nur Träume waren. Wenn auch recht merkwürdige Träume, die sich kaum erklären ließen und äußerst beunruhigend waren.

Er hatte Tarry gefragt, was er nun tun würde. Die Kobolde waren ein Grund, weshalb er sich oft zurückfallen ließ und sich ein ganzes Stück abseits der Gruppe aufhielt. So konnte er sich mit seinen zwei kleinen Freunden ungestört unterhalten, denn sie konnten nicht offen mit ihm reisen. Es war nicht garantiert, dass man sie dabei haben wollte. Kobolde waren keine angesehenen Reisegefährten. Doch auch Tarry, der sich sonst immer sehr schlau gab, wusste nicht viel mehr, als was David ihm erzählt hatte. Sein Rat allerdings war, bei den Fremden zu bleiben. Denn die letzten Vorkommnisse galt es zu klären und er wusste keine andere Möglichkeit Antworten zu finden, als im weiteren Geschehen der Geschichte, das sich momentan dieser Gruppe angeschlossen zu haben schien. Also beschloss David zu bleiben, auch wenn es ihm noch immer nicht gefallen mochte und er sich immer noch um seine Eltern sorgte, die in einem kleinen, abgeschiedenen Tal waren, nicht wussten, wo ihr Sohn abgeblieben war und... War er überhaupt ihr Sohn? Diese Frage drängte sich nicht zum ersten Mal zwischen seine Gedanken.

Er seufzte. Die ganze Herumdenkerei würde doch nicht zu einem brauchbaren Ziel führen.

"Wieso sollte überhaupt etwas geschehen?", fragte Jack in die allgemeine Runde.

"Nun...", versuchte Rugar sein Glück. "Weil ich denke, dass dies alles einem Plan folgt. Einem Plan von Justaka selbst. Aber nein, ich weiß nicht, was er vielleicht damit zu beabsichtigen gedenkt. Und ich weiß auch nicht, wer alles dazugehört. Zumindest gehen sowohl Nekat, als auch Rawnes davon aus, dass dies alles im Zusammenhang der Prophezeiungen steht."

"Ich denke, dass wird ein Problem.", mischte sich nun Arthur ein, der den bisherigen gesamten Tag ungewöhnlich schweigsam gewesen war. "Wer sagt, ob es unter diesen Umständen gut ist, wenn wir zusammengetroffen sind. Wer auch immer alles dazugehört. Aber wie wollen wir es ohne dieses Wissen überhaupt verhindern? Ich meine, es kann jeden Moment passieren, dass wir uns alle getroffen haben und dann bricht sonst was zusammen. Vielleicht sollten wir uns morgen früh, sobald es hell ist einfach trennen. Jeder in eine Richtung und möglichst darauf achtend, dass er niemand anderes wiedertrifft."

"Das halte ich für absolut keine gute Idee.", widersprach Rugar ihm sofort. "Außerdem..."

Plötzlich hielt er inne und alle lauschten erschrocken. Sie glaubten jemanden heranpirschen zu hören, doch dies konnte genauso gut Einbildung sein, denn dies geschah schnell in solchen Situationen. Vor allem konnten sie die Quelle des vermeintlichen Geräusches nicht finden und so verließen sie sich gemeinsam auf Rugar, der mehr Erfahrung mitbrachte, als sie alle zusammen.

Doch auch diese reichte nicht aus. Es ging alles so furchtbar schnell, dass niemand wirklich mitbekommen hatte, was geschehen war. Auch Rugar nicht, als er plötzlich am Boden lag. Er wusste nur noch, wie sich mit einem Mal das Gebüsch neben ihm geteilt hatte, allerdings an einer Stelle, auf die er ganz und gar nicht geachtet hatte. Aus diesem Grund kam ihm schon schnell der Gedanke, es mit Zweien zu tun zu haben. So schnell, wie es ihm möglich war zu reagieren, hatte er sein Schwert aus der Scheide gezogen und es herum gewirbelt. Seine Waffe war auf Widerstand getroffen. Völlig lautlos war sie auf irgendetwas aufgeprallt, welches leicht unter ihrem Hieb federte.

Rugar hatte überrascht versucht seinen Gegenüber erkennen zu können, doch es war zu dunkel und außerdem stahl das Feuer hinter ihm das Licht, so dass er nur einen dunklen Schemen erkennen konnte, während er sich seinem Gegner hervorragend präsentierte. Er hatte leise geflucht, wobei er sich unter einer erahnten Bewegung duckte. Die Bewegung war schnell als ein gut gezielter Fußtritt zu erkennen gewesen, hätte er getroffen. Doch im selben Augenblick musste er sehr schnell bemerken, dass nicht einmal damit gerechnet wurde, der Tritt würde treffen. Für diese späte Erkenntnis wurde er mit einem heftigen Schlag in die Seite belohnt, der ihn von den Füßen riss. Die Luft wurde ihm mit aller Gewalt aus den Lungen getrieben, so dass er kaum rechtzeitig wieder für Nachschub sorgen konnte. Seine Rippen verkündeten ihm eine schmerzhafte Prellung, die wohl noch einige Zeit andauern würde.

Kurz darauf bohrte sich ein Speer mit seiner gesamten Spitze dicht neben ihn in den Boden. Erschrocken versuchte er schnell wieder auf die Beine zu kommen. Er drehte sich herum und wollte sich gerade mit den Armen in die Höhe stemmen, als sich ihm ein Paar Stiefel vor die Augen stellten.

"Guten Morgen.", kam eine recht freundliche Stimme von oben, bedachte man die jetzigen Umstände.

Rugar stöhnte leise, als er sich mühsam aufrichtete. Er war ein Narr gewesen. Hatte Fehler begangen, die er nicht begehen durfte. Dies ließ sich vor allem nicht durch Müdigkeit oder gar Überraschung entschuldigen. Das waren nur weitere Fehler. Und es ließ sich vor allem nicht vor diesem Mann entschuldigen.

Rugar sah auf und blickte direkt in die in einem leichten gelblichen Licht leuchtenden Augen des Isk-Meisters Peroth, der eine größere Rolle der Geschichte Zahurs eingenommen hatte, als ihm vielleicht zu Beginn zugestanden hatte. Er war ein Meister des Schicksals-Gottes Fur'Kaltur. Doch der Tempel für den er einst diente wurde vor nicht allzu langer Zeit von den Menschen zerstört.

Rugar sparte sich eine Antwort und sah zurück, um seinen Angreifer erkennen zu können, der nun herangekommen war. Es war ein junger Isk. Zu jung für die Narben die er bereits trug. Er war schmal und klein, wie Isk nun einmal waren, doch viele unterschätzten die enorme Kraft, die dennoch in ihren Körpern steckte. Auch Rugar hatte sie eben zu spüren bekommen.

"Du enttäuschst mich, Rugar.", bemerkte Peroth. "Ich hatte eigentlich etwas anderes erwartet. Jetzt kann er sich darauf etwas einbilden, ganz besonders, wenn er sich noch an das erinnert, was ich vorher noch gesagt habe. Ich hätte vielleicht gar nicht so viel reden sollen. Was hast du die ganzen Jahre über angestellt? Vielleicht habe ich auch nicht mehr alles in so guter Erinnerung. Immerhin bin ich ein alter Mann, da funktioniert das Gedächtnis nicht mehr so hervorragend wie früher. Ich glaube, ich habe dich ein wenig überschätzt." Er musterte ihn noch einmal kurz.

"Stalca, hol die Pferde.", wandte er sich an den Isk.

Kaum war dieser wieder zwischen den Bäumen verschwunden, machte Peroth ein sehr nachdenkliches Gesicht. Ein solch nachdenkliches Gesicht, wie es nur wirklich alte und weise Männer machen konnten, die ihr Leben lang daran geübt hatten.

"In Ordnung.", sagte er schließlich. "Ich glaube, ich habe ihn ein wenig unterschätzt."

"Wer ist er, wenn Ihr mir diese Frage erlaubt.", wollte Rugar wissen.

"Ich glaube, er ist der, den ich schon eine ganze Weile gesucht habe. Jedenfalls einer von den beiden, um genau zu sein.", gab der Meister Auskunft.

"Ihr seid ständig auf der Suche nach irgendjemanden.", erlaubte sich Rugar die Bemerkung. "Und Ihr seid ununterbrochen dabei, irgendwelche Pläne zu verfolgen, von denen ich nicht schon einen einzigen durchblickt habe und die meines Wissens auch noch nie besonders lange gehalten haben."

"Weißt du eigentlich, nach wem du klingst?" Peroth verzog ärgerlich sein Gesicht, als er sich erinnerte. "Nein, das darf ich dir gar nicht sagen, aber genau so klingst du."

"Gehört dieser jemand auch zu einem Eurer Pläne?"

"Nein, er will sie zerstören, aber das wird ihm leider nicht gelingen."

Rugar versuchte sich zu zwingen, nicht alle seine Gedanken einfach so auszusprechen. Er schüttelte nur stumm den Kopf. Er kannte Peroth schon lange mit all seinen merkwürdigen Eigenschaften und er wusste, dass der alte Meister niemals über seine kuriosen Pläne mit irgendwem sprach und so wusste er ebenfalls, dass es sinnlos war, zu versuchen sich darüber mit ihm zu unterhalten

"Was macht Ihr hier?", versuchte er das Thema zu wechseln.

Doch er wurde bereits von dem Meister ignoriert, denn dieser war dabei sich der kleinen Gruppe vorzustellen, die um das Lagerfeuer herum hockten. Jack, der sein Schwert auf eine stumme Anweisung Rugars hin wieder in die Scheide geschoben hatte, schien ihm dabei keine Sorgen zu bereiten.

"Wir sollten sofort weiterreisen.", meinte er, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.

"Wir?", wiederholte Rugar, nicht ohne seinen Ärger vollständig zu verbergen. "Sofort? Das glaube ich nicht. Tut mir leid Euch widersprechen zu müssen, aber alle hier könnten ein wenig Ruhe gebrauchen."

"Ihr werdet keine Ruhe finden, glaube mir." Peroth betonte seine Worte mit großer Sorgfalt und Rugar entgegnete nichts, denn er hatte wahrhaftig gelernt dem Meister vertrauen zu können. Auch wenn er des Öfteren ein wenig durcheinander schien, besaß er eine große Begabung dafür, bereits vor allen anderen von unangenehmen Situationen zu wissen.

"Wir werden alle nirgendwo mehr Ruhe finden, bis nicht alles vorbei sein wird. Wenn es vorbeigehen wird. Es ist besser so schnell wie möglich einen sicheren Ort aufzusuchen. Und das möglichst ohne viele Pausen, wie diese hier. Schlafen können wir noch immer, wenn wir Yesúw erreicht haben."

"Moment mal!", hielt Rugar ihn auf, als Peroth den Eindruck machte aufbrechen zu wollen. Sein Schüler war mit den beiden kleinen, stämmigen Ponys zurückgekehrt. "Könntet Ihr uns vielleicht vorher mitteilen, um was es hier überhaupt geht? Ich würde so was gerne vorher wissen."

"Ach ja.", murmelte der Alte unaufmerksam vor sich hin, als hätte er gerade erst gemerkt, dass er anscheinend mehr zu wissen schien, als seine Begleiter. "Es wird beginnen. Einfach alles wird beginnen."

Rugar wartete eine Weile, doch dann wurde ihm bewusst, nicht mehr erfahren zu können, da Peroth in seinem Kopf schon wieder mit zu vielen anderen Dingen beschäftigt war. Dinge, die für die Meisten unverständlich blieben. Rugar merkte, wie Jack kopfschüttelnd neben ihn trat. "Der hat sie doch nicht mehr..."

"Jack!", unterbrach er ihn. "Er mag zwar merkwürdiges Zeug vor sich her reden, aber man kann nie wissen, wie viel davon geschehen könnte. Es hat vielleicht den Anschein, aber er ist ganz und gar nicht verrückt oder irgendwie verwirrt. Er vergisst uns immer nur die Hälfte von dem mitzuteilen, was wir wissen müssten."

"Du hast also ernsthaft vor jetzt schon aufzubrechen?", fragte ihn Jack vorwurfsvoll. "Mitten in der Nacht? Ich meine, der Tag war für uns nun wirklich nicht gerade kurz und die Tage davor auch nicht. Wir hatten vor hier eine ganze Weile Rast zu machen. Bis morgen Mittag, wenn es sein sollte. Und wir hätten das gebraucht."

"Tut mir leid, Jack, aber es ist besser, wenn wir tun was er vorschlägt.", versuchte Rugar ihn zu beruhigen.

"Du musst es ja wissen.", meinte Jack nur. "Es ist deine Entscheidung."

"Wir werden noch ein paar Stunden rasten, um uns zumindest ein wenig auszuruhen.", beschwichtigte Rugar ihn.

Faith hatte sich ein Stück von der Gruppe abgesetzt und ihre Matratze ausgebreitet. Sie war noch nicht müde und so lehnte sie an einem knorrigen Baum, um den Gesprächen der Anderen zu lauschen. Ab und zu drang Gelächter zu ihr herüber, was ihr einen schmerzhaften Stich versetzte. Trotzdem könnte sie nicht unbefangen bei ihnen sitzen, ihr war einfach nicht danach.

Sie fühlte sich unendlich einsam, doch das Gefühl verstärkte sich nur, wenn sie mit dem Rest der Gruppe zusammen war. Obwohl David in einer ähnlichen Situation war wie sie, schien er viel besser damit zurecht zu kommen. Er hatte kaum Schwierigkeiten sich anzupassen, ließ Jacks abwertende Kommentare einfach wirkungslos abprallen und gewöhnte sich schneller an die ungewohnten Strapazen als Faith es tat.

Immer öfter begann sie sich zu fragen, was in aller Welt sie dazu bewogen hatte mit ihnen zu gehen. Es hatte eigentlich alles mit dem Einsetzen dieser Träume begonnen, in denen sich dies alles schon im Voraus gezeigt zu haben schien. Das Erschreckende an der Sache war, die Erkenntnis, dass die vermeintlichen Träume weit mehr als nur Träume waren. Nur verstanden hatte sie ihren Sinn nicht. Erinnerungen wie aus einem anderen Leben waren es gewesen. Ein Leben in einer anderen Zeit, in einer anderen Familie, die in einer ganz anderen Stadt lebte. Einen Bruder hatte sie gehabt und sie hatte diese Träume eine ganze Zeit lang genossen, denn so war ein Leben, wie sie es gerne gehabt hätte.

Doch bald merkte sie, ihre Träume waren nicht mehr länger Träume, sondern eine erschreckende Realität annahmen. Bewusst wurde ihr dies besonders, als sie den Vater ihrer Träume vor sich erblickte. Ihr war klar gewesen, sie würde nur Antworten finden, wenn sie mit den Fremden gehen würde und so hatte sie den Schutz ihres Zuhauses verlassen, ohne dass irgendjemand sonst noch davon wusste.

Doch wofür? Erreicht hatte sie nur, dass das Geschehen um sie herum nur noch rätselhafter, verwirrender und vor allem gefährlicher wurde. Manchmal geriet sie in Situationen, in denen sie am liebsten allen ihren Gefühlen freien Lauf lassen wollte und einfach stehen bleiben und heulen. Aber sie wusste, dass es nicht ging. Auch wenn ihr alle Knochen von den ungewohnten Strapazen schmerzten, so würde es niemanden kümmern, wenn sie einfach halten würde oder gar umkehren. Aber ihre Träume wurden schlimmer. Sie spiegelten Ereignisse wieder, die ganz sicher nicht zu ihren Erinnerungen gehörten, denn sie stammten aus Zeiten der Geschichte, die sie mit absoluter Sicherheit noch nicht erlebt hatte, soviel hatte sie mittlerweile gelernt. Es war als würde ein aufgeschlagenes Buch vor ihr liegen, aus dem sie allerdings nicht lesen konnte, sondern dessen Inhalt sie gleich miterlebte. Ob sie nun wollte oder nicht.

Derart in Gedanken versunken bemerkte sie Stalca erst, als er unmittelbar vor ihr stand. Stumm sah der Isk eine Weile auf sie hinab, schien auf eine Aufforderung ihrerseits zu warten. Sie spürte seinen prüfenden Blick, der ihr allmählich unangenehm wurde und so brach sie die Stille.

"Was ist?", fragte sie wenig höflich, aber im Grunde wollte sie auch nicht gestört werden.

Er warf einen Blick über die Schulter zu der Gruppe hinüber, als überlege er, ob es nicht doch eine klügere Idee gewesen wäre wieder ans Feuer zurück zu gehen. Er zuckte mit den Schultern, was wohl seine Antwort darstellen sollte.

"Warum sitzt du hier so allein?", wollte er stattdessen wissen. Sie mochte den Akzent in seiner Stimme. Weshalb wusste sie auch nicht genau, vielleicht war es die Spannung und Neugier des Fremden.

Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass sie ihre Ruhe haben wollte, doch das stimmte schließlich nicht. Sie hatte nur nicht den Mut Anderen gegenüber ihre Probleme darzustellen. Sie käme sich lächerlich vor, würde sie über Träume erzählen, die sie nicht für Träume hielt, da sie diese nach und nach zu kontrollieren vermochte.

Da er keine Antwort erhielt, sie ihn aber auch nicht fort schickte, setzte er sich neben sie auf den erdigen Boden. Er hielt den Abstand, den er für angemessen erachtete, was Faith als zu nah empfand, da sie ihn immerhin nicht kannte, doch sie protestierte nicht. Sie war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch allein und in Gesellschaft zu sein.

"Wo kommst du her?" Er schien ein Gespräch in Gang bringen zu wollen, auch wenn sie ihn nicht als besonders redselig eingeschätzt hatte.

"Aus Merewar, ziemlich weit im Süden, fast schon an der Grenze zu Karimdon.", ging sie darauf ein. "Dort ist nicht besonders viel los, es ist nur ein kleines Dorf."

Ihr fiel nichts mehr ein, was sie noch zu erzählen hätte, also schwieg sie. Allmählich spürte sie Heimweh, was sie bis heute erfolgreich bekämpft hatte. Nun aber gewann es die Oberhand.

"Was willst du von mir?" Sie erinnerte sich daran nicht allein zu sein.

Er sah sie fragend an. "Was meinst du?"

"Niemand kommt einfach so auf einen zu. Man hat eigentlich immer einen Grund, oder nicht?", behauptete sie sicher.

"Mag sein." Er zuckte lächelnd mit den Schultern. "Vielleicht war es Neugier? Ich habe noch nie vorher eine Frau von euch gesehen.", fuhr er fort, nach einem forschenden Blick ihrerseits.

Erst jetzt wurde ihr richtig bewusst, dass sie aus zwei verschiedenen Welten stammten, die sich nicht unbedingt freundlich gegenüber gesinnt waren. Statt betretenem Schweigen wählte sie jedoch lieber den direkten Weg.

"Und?", hakte sie nach. "Zu welchen Erkenntnissen bist du gekommen?"

"Angenehmen. Immerhin kannst du verständlich sprechen und hässlich bist du auch nicht.", meinte er leicht scherzhaft. "Es gibt im Grunde auf den ersten Blick kaum erkennbare Unterschiede. Keine Ahnung, womit ich gerechnet hätte."

Wieder dieses Schulterzucken, was seine Unsicherheit verriet und damit, dass er ihr nicht die volle Wahrheit sagte, aber sie beließ es dabei. Was er ihr nicht sagen wollte, wollte er ihr nun einmal nicht sagen, auch wenn es sie interessiert hätte, welches Bild er von ihnen hatte.

"Faith!" Ausgerechnet Jack hatte sich von der Gruppe getrennt und rief zu ihr herüber. Nur widerstrebend stand sie auf und ging auf ihn zu.

"Sei vorsichtig bei dem, was du tust.", warnte er sie.

"Was soll das? Er ist nett.", entgegnete sie unwirsch.

"Wenn es so bleibt.", beharrte Jack ruhig.

"Als ob er irgendwie bösartig wäre.", protestierte sie schnippisch.

"Ich rede in dem Fall nicht von ihm sondern von uns.", korrigierte Jack. "Zumindest aus seiner Sicht -- und ich behaupte nicht, dass dies schlecht wäre. Was gäbe es auch anderes zu erwarten? Wenn dir eine alte Frau auf die Füße tritt und dir deine Handtasche klaut, begegnest du dann nicht allen alten Frauen mit der gleichen Erwartung? Und das war nur ein harmloses Beispiel. Er wurde zutiefst verletzt, seelisch wie wohl auch körperlich, ihm wurde jeglicher Besitz verwehrt, durfte in einer fast zusammen gefallenen Hütte wohnen. Was glaubst du, denkt er über uns?"

Wäre nicht der unerwartete Ernst in Jacks Stimme gewesen, hätte Faith ihn wohl einfach stehen gelassen.

"Ich will mich nirgendwo einmischen, du weißt was du willst.", fuhr er fort. "Ich will dich nur warnen, damit du vorsichtig bist."

Nun wandte er sich von ihr ab und kehrte zum Lagerfeuer zurück. Sie warf einen Blick über die Schulter, aber Stalca war auch schon gegangen. Nachdenklich setzte sie sich wieder auf ihre Matratze und wickelte sich in ihre Decke ein.

Nun, wo sie sich wieder begann Fragen zu stellen, über die beiden Neuankömmlinge, fingen auch ihre Träume wieder von vorne an.

Es musste Winter sein. Die gesamte Landschaft vor ihr war mit Schnee bedeckt und auch jetzt fielen noch immer einige Flocken vom Himmel hinab. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, trotzdem war der Boden vor ihr mit zahlreichen Fußspuren übersät. In weiter Entfernung, aus Richtung der Spuren, glaubte sie ein hohes Gebäude erkennen zu können. Einen hohen Turm, der in den Himmel ragte und um ihn herum schienen sich weitere Häuser zu befinden. Eine Burg vielleicht. Ansonsten war nicht mehr zu sehen, denn sie schien sich in einem Tal zu befinden, dass von einer langen, hohen Hügelkette umgeben war. Nachdenklich drehte sie sich herum und versuchte herauszufinden, wo die Spuren hinführten.

Plötzlich schien sie sich an einem ganz anderen Ort zu einer ganz anderen Zeit zu befinden. Dichtes Schneetreiben erschwerte die Sicht nun zusätzlich, doch es war kaum zu übersehen, dass sie nicht mehr allein war. Trotzdem wich sie nicht zurück, denn inzwischen war ihr bewusst nicht von anderen gesehen werden zu können. Eine Gruppe aus mehreren verhüllten Gestalten schien fast mühelos durch den Sturm zu wandern. Eine weitere Gestalt stampfte mühsam hinterher.

"Das kannst du nicht tun!", rief diese der Gruppe hinterher. Er war ihr nahe genug, dass sie ihn erkennen konnte. Doch solch einen Bewohner Zahurs hatte sie noch nie zuvor gesehen. Er war vielleicht fast genauso groß wie ein Mensch und hatte eine aufrechte, feste Gestalt, doch damit hörten die Gemeinsamkeiten auf. Er war einem Menschen unähnlicher, als es selbst die Isk waren, doch hatte er mit eben diesem Volk doch nicht wenige Gemeinsamkeiten. Er hatte lange, schwarze Haare, die ihm wirr ins Gesicht fielen. Dieses war lang und schmal. Die Stirn hoch und die darunter liegenden Augen tief in den Höhlen. Aus ihnen glühte ein leicht rötliches Leuchten, welches Faith ein wenig Furcht einflößte, auch wenn es nur aufgrund der Magie leuchtete, welche in diesem Körper lebte.

Die Gruppe hielt tatsächlich inne und machte den Weg frei, um eine kleinere Gestalt durchzulassen, die ihr Anführer zu sein schien. Von ihm war allerdings gar nichts zu erkennen, ebenso wenig wie von dem Rest seiner Begleiter, die sich wie Wächter um ihn stellten.

"Was willst du noch?", fragte sie zurück. "Mich aufhalten? Dafür ist es zu spät. Das hättet ihr euch vielleicht früher überlegen sollen."

"Das kannst du nicht tun.", wiederholte der andere hilflos. "Du würdest nicht nur dich selbst, sondern diese ganze Welt gleich mit vernichten. Du würdest es nicht aushalten können. Es würde dich überwältigen."

"Spar dir deine Worte, Kaltur.", erwiderte die Gestalt. "Geh nach Hause, wo du hingehörst und grüße alle recht lieb von mir. Du hättest es ihnen vielleicht eher sagen sollen, vielleicht wären sie dann alle hier angerückt um sich zu verabschieden. Es war nett dich kennengelernt zu haben. Du warst nicht einmal der schlimmste von ihnen."

Mit diesen Worten schien er seinen Weg fortsetzen zu wollen, doch der Andere gab nicht auf, sondern stampfte weiterhin hinterher.

"Glaubst du mich einfach nach Hause schicken zu können? Hast du inzwischen vergessen, wer du bist? Ich werde dich nicht so einfach weitergehen lassen!"

"So?" Die Gestalt wirbelte herum, als würde sie von dem Sturm überhaupt nicht beeinträchtigt werden. "Du willst mich also aufhalten?" Drohend kam er näher. "Ich glaube, jemand anderes hat hier vergessen, wer ich bin. Bestelle ihm doch noch schöne Grüße von mir, Ulasta dem Großen. Oder wie will er sich nun nennen? Wer hat es nötig aufgehalten werden zu müssen? Ich glaube, der Unfehlbare übernimmt sich ein wenig. Lass mich in Ruhe und kümmere dich lieber um deine eigenen Angelegenheiten."

"Du bist doch verrückt.", bemerkte Kaltur nur.

"Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du gehen sollst. Anscheinend hast du das nicht richtig verstanden." Er hob seine Hand und es war, als würde er seinem Gegenüber einen unsichtbaren Stoß versetzen, der ihn ein Stück davon schleuderte und vor Schmerzen auf dem Boden liegen ließ. Dann wandte er sich endgültig wieder von ihm ab.

Kaltur versuchte sich aufzurichten, aber er schaffte es nicht. "Justaka, nein!", rief er noch einmal mit letzter Kraft, aber sein Ruf stieß nur wieder auf Ignoranz.

"Komm, und pack deine Sachen. Wir müssen weiter, nicht mitgekriegt?"

Faith zuckte erschrocken zusammen, als sie unerwartet Jacks Stimme neben sich hörte. Mit einem Schlag war sie wieder in der Wirklichkeit und brauchte wieder, wie immer, eine Weile um sich zurechtzufinden.

"Ist etwas?", fragte Jack besorgt.

"Nein." Sie schüttelte den Kopf. "Nein, gar nichts."

Sie suchte ihre wenigen Sachen zusammen und merkte dabei erst, wie unendlich müde sie mit einem Mal war. Sie würde alles dafür tun in diesem Moment in ihrem warmen Bett liegen zu können und einfach nur zu schlafen. Sie würde sicherlich einen ganzen Tag lang schlafen, wenn sie könnte und bestimmt eine Woche lang nicht mehr reiten. Aber sie konnte nicht.

Ohne weiter darüber ein Wort zu verlieren, sattelten sie ihre Pferde wieder und machten sich aufbruchbereit. Das gesamte Geschehen verging schweigsam, denn die Meisten waren einfach zu müde, um auch nur noch zu protestieren. Auch Rugar merkte dies, als er im Sattel saß. Irgendwann war ein Punkt überschritten, an dem alles egal war und der Körper nur noch seine Ruhe forderte, die er bitter nötig hatte, nach den anstrengenden Tagen.

Doch sie waren nur wenige Meter weit geritten, da begann es. Zuerst kamen nur ein paar Tropfen vom Himmel. Wie bei einem gewöhnlichen Regen und bis auf Peroth, der ja bereits wusste, was geschah, ärgerten sich alle, dass sie nun auch noch in der Kälte nass wurden. Nur blieb es nicht bei den paar Tropfen. Mit einem gewaltigen Donner, der den Boden erschüttern ließ, brach das heftigste Gewitter los, was sie alle je in ihrem Leben zuvor erlebt hatten. Es war sogar noch eine Spur heftiger, als das, welches David bei sich zu Hause erleben durfte.

Mit dem Gewitter kam eine Dunkelheit über das Land, welche sie nur spüren konnten, denn es war bereits tiefste Nacht. Aber spüren konnten sie diese Dunkelheit. Sie legte sich bedrückend schwer um sie, durchflutete ihren Körper, durchflutete einfach alles um sie herum und versetzte sie in eine undefinierbare Art von Furcht. Eine Furcht, die ihre Herzen noch mehr belastete als die Dunkelheit zuvor. Und als sie so weiterritten und merkten, dass eigentlich schon längst wieder Tag sein sollte, da merkten sie außerdem, dass die Dunkelheit bis in den Tag hinein dauerte und wahrscheinlich noch mehrere weitere Tage andauern würde.

SILVER RAIN

Kein schöner Anblick bot sich einem Reisenden, wenn er den ansteigenden Hügel an seiner Spitze erreichte. In der Ferne konnte man noch immer die Ausläufer des Ostgebirges erkennen, die sich wie lange Zungen in das Land schoben. Als versuchten sie krampfhaft irgendetwas erreichen zu können. Der Schnee begann allmählich die Gipfel hinab zu kriechen und kündigte den schon bald kommenden Winter an. Ein leichter Wind kam von Norden her, der rau und kalt an den Kleidern zerrte. Als würde er einen wieder mit nach Süden nehmen und von dem weiteren Weg abbringen wollen. Als wäre es eine letzte stumme Warnung.

Schon bald begann das Land sich wieder abzusenken, doch ihm fehlte es an Farbe. Zwar begann das Grün sich in der vorangeschrittenen Jahreszeit langsam zurückzuziehen, doch wenn man die Ebene vor einem betrachtete, wusste man, dass dieses Gras hier niemals grün war. Es schreckte Mensch und Tier und so kam es, dass eine gespenstische Stille herrschte. Eine tödliche Stille, mochte man meinen. Der Boden schien verbrannt und mit einer dünnen Ascheschicht bedeckt, die wie festgeklebt war, denn weder Wind noch Regen konnten sie verwischen. Hob man den Kopf, so blickte man auf die schwarzen, dunklen Ruinen einer verbrannten Stadt. Nur noch die Grundrisse waren zu erkennen. Kein Gebäude stand auch nur noch ansatzweise. Ein verheerendes Feuer hatte hier einst gewütet und niemand war in der Lage gewesen es aufzuhalten.

Der Wanderer, der heute des Weges kam, ließ sich von der erschreckenden Aussicht nicht abhalten und begann den Hügel hinab zu reiten. Ein breiter Weg deutete darauf hin, dass es schon viele weitere vor ihm getan hatten. Der Weg führte bis zu einer einsamen, kleinen Hütte, die auf wundersame Weise plötzlich vor einem stand, als wäre sie zuvor gar nicht da gewesen. Von da an war es ein nur noch ab und zu ausgetretener Trampelpfad, als hätten sich die wenigen Mutigen in letzter Sekunde hier doch noch entschieden umzukehren. Auch der Wanderer hielt sein Pferd und stieg ab, um nachforschen zu können, was es mit der mysteriösen Holzhütte auf sich hatte, die hier völlig fehl am Platze schien.

Der Wanderer ging zu einer Tür, die schief in den lange nicht mehr geölten Angeln hing und klopfte kräftig. "Ist jemand zu Hause?", rief er, als er lange Zeit keine Antwort erhielt, doch auch jetzt blieb immer noch alles still.

"Ah, Besuch.", ertönte mit einem Mal eine Stimme aus einer völlig anderen Richtung. "Hätte ich es mir doch denken können. Wer sonst veranstaltet in dieser Gegend einen solchen Lärm?"

Erschrocken fuhr der Wanderer herum und erblickte einen stämmigen, alten Mann, der fast um zwei Köpfe kleiner war als er selbst. Er trug einen dichten, verfilzten, schwarzen Bart und zwei Knopfaugen blinzelten herausfordernd über eine knollige Nase hinweg. Bekleidet war er mit einer ausgebeulten Hose und einem dünnen Leinenhemd, das vielleicht sogar einmal weiß gewesen war. Mit einem dünnen Lappen wischte er sich gerade seine verschmutzten Hände sauber.

"Schleicht Ihr euch an jeden eurer Besucher so heran?", erkundigte sich der Wanderer ein wenig erbost.

"Ich halte es für besser,", antwortete der Mann, "wenn man als erstes sieht, wer um die Ecke kommt, bevor man ihn in seinem Haus stehen sieht."

"Da mögt Ihr vielleicht Recht haben.", stimmte der Wanderer ihm nun zu, nachdem er sich ein wenig erholt hatte. Dann nahm er sich noch einmal die Zeit, seinen Gegenüber genauer zu betrachten, als glaube er nicht, was er zu sehen bekam.

"Ihr seid ein Zwerg.", bemerkte er schließlich.

"Ja, das bin ich.", bestätigte dieser. "Für wen haltet Ihr mich denn sonst? Ja, so sind sie. Jeder fragt dies, wenn er vor mir steht."

"Aber...", wollte der Wanderer ansetzen.

"Spart euch Eure langen Fragen.", wehrte der Zwerg ihn ab. "Hier gibt es vieles, was nicht sein darf."

Der Wanderer nickte bedächtig. Der Zwerg war angenehm überrascht, denn nicht viele akzeptierten diese Antwort sofort.

"Sagt, kommen hier viele des Weges?", wechselte der Wanderer das Thema.

"Sicher.", antwortete der Zwerg bereitwillig. "Seht Euch nur den Weg an! Man könnte meinen, dies wäre eine der viel befahrenen Handelsstraßen des Reiches. Es kommt selten vor, dass man hier mehrere Tage seine Ruhe genießen kann. Die meisten sind einfach nur abenteuerlustige Gesellen, die einmal etwas gehört in den seltensten Fällen gelesen haben und nun auf Abenteuer los sind. Sie alle sagen dasselbe, dass diese Ruinen sie wie magisch angezogen hätten. Doch dann stehen sie hier neben mir und blicken auf das Feld vor ihnen, so wie Ihr gerade heute, und plötzlich lässt diese Anziehung auf ebenso phantastische Weise nach. Sie sind sozusagen geheilt, noch bevor sie ihr Ziel erreicht haben. Einige sind ein wenig hartnäckiger und ich muss sie erst noch davon überzeugen, dass es besser für sie wäre umzudrehen und einige wagen es wirklich auf das Feld hinaus, aber schon bald sehe ich sie wie der Blitz wieder an meinem Fenster vorbei sausen. Nicht einmal auf Wiedersehen sagen sie. Doch nicht alle sind so, mit einigen konnte ich noch eine Tasse Tee trinken und wir unterhielten uns über das Geschehen in der Welt. Wollt Ihr vielleicht auch ein Tässchen? Ich habe feinsten Waldblüten-Tee hier. Etwas wirklich Außergewöhnliches."

"Nein, danke.", murmelte der Wanderer, während er seinen Blick kaum von den schon nahen Ruinen lösen konnte.

"Ah, verstehe.", brummte der Zwerg. "Ihr seid einer von der schwierigen Sorte."

Er musterte den Menschen eine Weile. Menschen, so waren seine Erfahrungen, waren eigentlich sehr schnell davon zu überzeugen, ihr Vorhaben bleiben zu lassen. Deswegen war er schon ein wenig erstaunt. "Woher kommt Ihr und aus welchem Grund seid Ihr hier?"

Der Wanderer schien seine Frage zu überhören. "Was seht Ihr, wenn Ihr auf das Feld hinausblickt?", fragte er stattdessen.

Der Zwerg drehte sich ein wenig verdutzt um. So eine Frage hatte wirklich noch niemand gestellt. Die meisten erzählten immer sehr schnell und sehr gerne ihre Karriere-Geschichte, die sie an irgendeiner Universität abgeschlossen hatten.

"Ich sehe verbrannte Erde, die sich nie erholen wird, als laste ein schwerer Fluch auf ihr. Ich sehe die Ruinen einer ebenfalls verbrannten Stadt. Ab und zu sehe ich sogar seelenlose Gestalten, die umherirren und manchmal sogar wirklich schauerliche Laute von sich geben. Vor kurzem erst, kamen sie sogar bis zu meiner Hütte. Ich bekam vielleicht einen Schrecken! Ich dachte, jetzt ist es aus, jetzt gehen sie auf die Welt los, aber sie zogen sich wieder zurück. Mehr sehe ich nicht. Was meint Ihr denn zu sehen?"

Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen, bis der Wanderer sich doch noch dazu entschloss zu antworten. "Silver Rain.", hauchte er fast. "Ich sehe die weiß gekalkten Häuser, an deren Wände sich das Sonnenlicht spiegelt und es einem in den Augen brennt, wenn man gegen Mittagszeit direkt darauf sieht. Ich sehe das riesige Kuppeldach der Bibliothek, wie es sich in den Himmel erstreckt, als wolle es zu den Sternen greifen. Die Sonne bricht sich auf dem Glas und strahlt in alle Richtungen, als wäre sie selbst direkt über der Stadt. Ich sehe die Kinder, wie sie über die Wiesen tollen. Kurz vor den Frühlingsfesten sitzen sie dort in Scharen und binden sich Blumenkränze, die sie sich dann während der Feiern aufbinden. Ich sehe die Frauen, wie sie mit ihren Körben voller Wäsche zum Fluss hinunter laufen.

Wusstet Ihr, dass es hier einst einen Fluss gab? Er versorgte die gesamte Stadt mit frischem Wasser. Nur in den Frühjahrestagen, wenn das Schmelzwasser die Berge hinab kommt, muss man darauf Acht geben, dass einem der Keller nicht voll läuft. Der Fluss verschwindet irgendwann in den Boden in eine kleine Höhle. Die Kinder passen noch durch die enge Öffnung und im Hochsommer baden sie gerne in den kühlen Schatten. Doch es ist nicht ganz ungefährlich. Mein Sohn wäre beinahe ertrunken. Seine Schwester hat ihn gerettet. Dabei war sie erst acht Jahre alt. Sie haben mir erst zwei Jahre später davon erzählt, da sie befürchteten, ich würde ihnen verbieten wieder dort hinzugehen."

Der Zwerg betrachtete den Wanderer erstaunt. "Ihr habt eine wirklich ausgeprägte Phantasie, mein Herr.", meinte er kopfschüttelnd. "Sagt, wer seid Ihr eigentlich?"

Endlich schien der Wanderer sich für einen Moment von dem Anblick lösen zu können. "Fragt Ihr das auch jeden, der hier vorbeikommt?"

"Nein, eigentlich nicht.", gab der Zwerg zu. "Meistens frage ich sie erst, wenn sie bereits eine Tasse Tee getrunken hatten. Aber ich habe es so im Gefühl, dass wir beide keinen Tee zusammen genießen können."

"Hm, da mögt Ihr wohl Recht haben.", stimmte ihm der Wanderer zu. Dann schien er sich endgültig von einer anderen Welt loszureißen und sah dem Zwerg direkt in die Augen. "Mein Name ist Hares. Ich besitze einen Gutshof in der Nähe der Stadt Overwealth. Doch leider ist es mir kaum gegönnt zu Hause bei meiner Familie sitzen zu können, denn ich arbeite an der Universität von Caparian City und diese Arbeit hält mich meist die ganze Zeit über in der Hauptstadt."

Mit diesen Worten wandte sich der Wanderer von dem Zwerg ab und stieg wieder auf sein Pferd. In zügigem Tempo ritt er auf das Feld hinaus. Der Zwerg sah ihm nur kopfschüttelnd hinterher.

"Wieder so einer.", murmelte er in seinen Bart. "Ein Fluss! Hier hat es nie einen Fluss gegeben!"

Er gab ihm höchstens fünf bis zehn Minuten, während er wieder in seine Hütte ging und einen Kessel Tee aufsetzte.

Es war warm. Fast zu warm für diese Jahreszeit, doch die Sonne stand hoch am Himmel und brannte ungehindert auf die braune Erde. Von dem Hügel aus, auf dem Nekat saß, hatte man einen weiten Blick über das gesamte Land, welches sich von hier aus bis zu den Bergen streckte. Einst war es mit weiten, saftigen Wiesen bedeckt. Nur wenn es stark geregnet hatte, bildeten sich vereinzelt kleine Seen, die aber schnell wieder austrockneten. Einst liefen Pferde und Rinder über diese Wiesen. Frei von Zäunen und trotzdem blieben sie bei der Stadt, doch nun gab es kein einziges Tier mehr. Nicht einmal einen noch so kleinen Vogel. Tod war das Land vor ihm. Auch von dem Fluss war kaum mehr eine Spur geblieben. Kannte man seine ungefähre Lage, konnte man gerade noch das ausgetrocknete Flussbett erkennen, welches im Laufe der Zeit immer weiter von Sand verweht wurde.

Eine Gestalt kam heran. Sie kündigte sich durch einen langen Schatten an, der von Süden her auf den Boden geworfen wurde. Langsam kam sie näher, dann blieb sie stehen, unschlüssig, ob sie sich setzen wolle. Anscheinend schreckte der Boden sie ab. Doch schließlich raffte sie ihren Mantel zusammen und ließ sich mühsam auf den Boden sinken. Zuerst wusste sie nicht wohin mit ihren Beinen, doch dann saß sie, wie Nekat auch, mit überkreuzten Beinen da und starrte ebenfalls auf das weite Land. Aber schon bald fand sie keinen Gefallen mehr daran und fragte sich, was es denn Spannendes zu gucken gäbe.

"Nach was hältst du Ausschau, Nekat?", fragte die Gestalt schließlich.

Nekat spürte einen leichten Schmerz in seinem Kopf, doch er verflog schon bald wieder. "Ich halte nicht nach irgendetwas Ausschau. Ich blicke nur über das Land und stelle mir vor, wie es einst gewesen war. Ich versuche mich an die alten Zeiten zu erinnern. Es ist ein schöner Tag heute. Ziemlich warm. Es könnte fast noch Sommer sein."

Die Gestalt blickte Nekat verständnislos an. Nekat spürte diesen Blick. "Jetzt müsstest du eigentlich sagen, dass es wirklich ein schönes Wetter heute ist. So beginnt man ein Gespräch, wenn man nicht weiß, was man sich zu sagen hat."

"Tut mir leid, dass wusste ich nicht.", antwortete die Gestalt verwirrt. "Ich habe schon sehr lange kein Gespräch mehr geführt."

Nekat drehte sich zu seinem Nachbarn und sah Justaka direkt in seine in tiefem Rot leuchtenden Augen. Die Magie brannte stark in ihm. "Das glaube ich."

"Kann ich nicht vielleicht gleich sagen, was ich zu sagen habe?", fragte der Dämonenherrscher. "Ich weiß nicht, ob ich gerne über das Wetter reden möchte."

"Na ja, normalerweise haben Gespräche so etwas wie eine Einleitung.", versuchte Nekat zu erklären, doch er traf nur auf Unverständnis. "Aber schön, lassen wir das weg. Stört mich nicht."

"Ich komme eben gerne schnell auf den Punkt.", verteidigte sich Justaka.

"Ich fange lieber immer mit einer Einleitung an.", meinte Nekat, als überlegte er nur laut vor sich hin. "Da kann man seinen Gesprächspartner schonend darauf vorbereiten, was man von ihm will. Weißt du, da fällt man nicht so plötzlich über ihn her."

"Ich glaube, das haben wir nicht nötig.", stellte Justaka fest, den das Gespräch nur zu sehr verwirrte.

"Kann schon sein.", stimmte Nekat ihm zu. "Ist nur die Macht der Gewohnheit."

"Schön.", brummte Justaka missmutig. "Und wie macht man so eine Einleitung?"

Nekat sah ihn nur weiterhin an und versuchte sich nicht über ihn lustig zu machen. "Man redet über belanglose Dinge."

Justakas Augen wurden ein wenig schmaler. "Nun, das haben wir ja jetzt schon getan.", meinte er mit einer kleinen Schärfe in seiner Stimme.

"Sicher. Dann können wir wohl zur Sache kommen.", stellte Nekat fest.

"Wieso bist du hier, Nekat?" Justaka blickte nun ebenfalls über die Weiten der Ebene. Am Himmel begannen sich dunkle Wolken zusammenzuziehen. Es sah nach Regen aus. Vielleicht würde es sogar schon den ersten Schnee geben, doch dafür war es eigentlich noch zu warm. Doch die Zeit kam langsam immer näher.

"Aus welchem Grund sollte ich nicht hier sein?", fragte Nekat zurück.

"Du hast die ganze Zeit über nach deinen Kindern gesucht.", erwiderte der Dämon langsam. "Das weiß ich. Du hast sie gesucht, auch wenn du wusstest, dass es sinnlos sein würde. Denn was hast du dir davon erhofft? Sie zu finden, zu wissen wo sie wären und sie dann doch wieder sterben sehen? Und jetzt hast du sie gefunden. Jetzt, wo du sicher sein kannst, dein Leben zu beenden, welches kurzzeitig angehalten wurde. Jetzt, zweitausend Jahre später. Ich bewundere deine Hartnäckigkeit. Doch stellt sich mir die Frage, weshalb du diese Zeit nicht mit ihnen verbringen möchtest. Denn woher weißt du, ob diese Zeit nicht viel schneller vorbei sein kann, als du bisher annahmst. Dein Leben könnte von nun an kurzfristig zu Ende gehen, ohne dass du es geplant hast. Also frage ich dich, wieso bist du hier?"

Nekat sinnierte eine Weile über eine mögliche Antwort dieser Frage nach. Er gestand sich, dass ihm dies nicht leicht viel. "Vielleicht hast du recht. Ich könnte meine noch verbleibende Zeit so weiterleben, wie ich es ursprünglich vorgehabt hatte. Denn ich habe meine Kinder vermisst, wie ich meine Frau vermisst habe. Doch nur die Kinder sind mir noch geblieben und ich wusste, dass auch sie irgendwann wieder leben würden. So wie es am Beginn war. Sie würden ihre Erinnerungen zurückerlangen uns so sein wie früher, damit sie ihre Pflichten erfüllen, die ihnen die Geschichte auferlegt hat. Doch als ich sie endlich fand, wusste ich, dass nichts mehr sein würde, wie es früher war, denn es lagen zweitausend Jahre dazwischen und mögen ihre Erinnerungen zurückkommen, haben sie doch noch immer die Erfahrung aus ihrem jetzigen Leben. Ich bin in diesem Leben nicht ihr Vater und werde es auch nicht sein können. Ich habe gesehen, dass sie leben und dass sie weiterleben werden. Und ich weiß, dass sie glücklich sind, wie sie bisher gelebt haben. Vielleicht wird es ihnen nicht möglich sein, dieses Leben unbeschwert weiterzuleben, doch sie brauchen mich nicht. Also kann ich mich Dingen zuwenden, die mich ebenfalls zweitausend Jahre lang verfolgt haben."

Er stand auf, klopfte sich den Dreck von der Hose und zog sein Schwert aus der Scheide. Justaka betrachtete ihn nur unberührt.

"Du würdest nicht gegen mich gewinnen können.", meinte er gelassen. "Das ist unmöglich."

"Das weiß ich.", antwortete Nekat mit ebensolch einer Ruhe. "Glaubst du, dies hätte ich vergessen? Doch diese Erde verlangt nach meinem Blut. Denn hier ist etwas geschehen, was nicht hätte geschehen dürfen. Wie mein Leben einfror, so ist auch das Leben hier eingefroren."

"Du meinst es ernst." In Justakas Stimme lag eine leichte Bitterkeit. Als würde es ihn doch in irgendeiner Art berühren, was hier geschah.

"Ich habe diese Stadt geliebt.", fuhr Nekat fort. "Und ich liebe sie heute immer noch. Ich bin es ihr schuldig. Also lass uns dort beginnen, wo wir letztes Mal aufgehört haben."

Probeweise ließ er sein Schwert durch die Luft schneiden. Mit einem leisen Zischen folgte es willig jeder seiner Bewegungen. Es schien leicht wie eine Feder in seiner Hand zu liegen.

Währenddessen hatte sich Justaka erhoben und ebenfalls seine Klinge gezogen. Obwohl es eher den Anschein hatte, als wäre sie auf einmal in seiner Hand erschienen. Vielleicht war es sogar so, denn dieses Schwert war ganz und gar nicht so, wie ein normales Schwert sein sollte. Ihm fehlte es einfach an Substanz. An Wirklichkeit. Anstatt einer Klinge aus Stahl besaß es eine Klinge aus Luft, wie es schien. Nicht einmal die Strahlen der Sonne zerteilten sich an ihr, sondern gingen einfach hindurch, wie alles hindurch gehen würde, was hindurch gehen sollte. Nur ein leichtes Flackern verriet, dass sie überhaupt vorhanden war. Und trotzdem war diese Klinge schärfer, als jede andere auf dieser Welt.

Als Justaka sein Schwert durch die Luft gleiten ließ, geschah dies völlig lautlos. Und als ihre Waffen zusammentrafen, gab zwar Nekats Schwert ein helles Klingen von sich, wie es üblich war, wenn Eisen auf Eisen trifft, aber Justakas Schwert gab nur einen dumpfen Ton ab, der mit rein gar nichts zu vergleichen war und wahrscheinlich nur ertönte, um darauf hinzuweisen, dass die Klinge gerade auf Widerstand gestoßen war.

"Ich habe nur eine Bitte.", wandte Nekat ein.

"Du kannst mich bitten, was du willst.", behauptete Justaka. "Doch kann ich dir nicht garantieren, dass ich deine Bitte gewähren kann."

"Verzichte auf Rugar."

Überrascht wehrte Justaka mühelos einen weiteren Hieb ab. "Du bittest für Rugar? Du bittest für denjenigen, der deine geliebte Stadt, die Stadt, in der du geboren, in der du aufgewachsen bist, in der selbst deine Kinder geboren wurden, niederbrennen ließ bis auf den Grund ihrer Mauern? Für ihn bittest du?"

"Er entfachte den Funken und schürte das Feuer, welches Silver Rain vernichtete. Aber er tat es nicht nach seinem Willen. Ich glaube, dass er nicht einmal einen Willen hatte, als er dies tat, oder dass er selbst einen Willen danach gehabt hätte. Doch nun scheint er einen gefunden zu haben und ich denke, er hat nun ein besseres Leben, als er es bisher hatte. So merkwürdig es auch sein mag, aber er ist mein Freund geworden. Mein bester, vielleicht einziger Freund. Immerhin kennen wir uns jetzt zweitausend Jahre lang."

"Es war schon merkwürdig genug, dass du ihm das Leben gerettet hast." Ihre Schwerter zogen durch die Luft und trafen aufeinander, als würden sie einem regelmäßigen Muster folgen. Doch mühelos war es, als wäre es nur ein einstudiertes Spiel. "Während andere ihn sterben hätten lassen."

"Vielleicht brauchte ich gerade ein wenig Unterhaltung." Nekat achtete auf jeden seiner Schritte und bewegte sich trotzdem kaum von seiner Stelle. "Auch wenn er mir die ersten hundert Jahre auf die Nerven ging, war es doch angenehm jemanden bei sich zu haben, der nicht nach kurzer Zeit gleich wieder verstarb."

"Deine Bitte ehrt dich." Justaka wich einem Hieb leichtfüßig aus, um kurz darauf einen Gegenschlag zu landen. "Doch ich kann sie dir nicht gewähren. Ich rufe ihn nicht zurück, denn ich brauche ihn nicht mehr. Er unterliegt einem anderen Zwang, der sein Denken bestimmt. Es ist die Magie, die stärker ist als zuvor, seit ich wieder diese Welt betrat, nachdem ich das Gleichgewicht erneut verschob. Wenn er ihrem Willen unterliegt, dann wird er wieder zurück kommen. Doch nur er kann es bestimmen. Es tut mir leid."

"Das verstehe ich." Nekat spürte, wie ihm die Kraft verloren ging. Die Schläge wurden immer schwerer abzufangen. Es würde nicht mehr lange dauern und es wäre zu Ende. Ab und zu kam er ins Straucheln, doch er fing sich wieder. Er konnte den Kampf schneller beenden lassen, aber dies war unter seiner Würde.

Am Ende des Trampelpfades, kurz bevor der Weg den Hügel hinauf begann, stand eine kleine Hütte. In ihr lebte ein kleiner, verrunzelter Zwerg. Zurzeit saß er vor seinem großen Küchentisch mit einer Tasse vor sich. Neben dieser Tasse, stand eine Kanne, die nun aber nicht mehr mit Tee gefüllt war. Nachdenklich blickte der Zwerg aus seinem Fenster. Nach seinen Erfahrungen musste der Mensch eigentlich schon längst an seinem Fenster vorbei geritten sein. Einen anderen Weg hier heraus gab es nicht. Es war sowieso ein sehr merkwürdiger Tag heute gewesen. Kurz nachdem der Mensch ihn besucht hatte, war ein weiterer Reiter den Hügel hinab gekommen. Doch er hielt nicht einmal vor seiner Hütte, sondern hatte sein Pferd angetrieben und war geradewegs auf das Feld hinaus geprescht, als wäre der Tod selbst hinter ihm her. Denn niemand ritt leichtfertig zu den Ruinen. Bisher hatte jeder wenigstens fünf Minuten dagestanden und mit Ehrfurcht und ab und zu leichter Angst auf den Weg vor ihnen geblickt.

Seufzend stand der Zwerg auf und nahm Tasse und Kanne von dem Tisch. Danach ging er hinaus, betrachtete nachdenklich die letzten Herbstblumen, die schon dabei waren zu verblühen und sah auf das Feld hinaus. Er strengte seine scharfen Augen an, doch er konnte bei allem Willen nichts erkennen. Dabei sah man immer jemanden dort herumlaufen, wenn es dort jemanden gab. Brummend wollte er sich wieder in seine Hütte zurückziehen, doch da war ihm plötzlich, als würde der Boden unter ihm leicht erzittern. Er wandte sich noch einmal der verbrannten Stadt zu und da glaubte er ein schwaches Licht zu sehen. Ein Licht, dass mit einem Mal immer stärker wurde. Und es stieg gen Himmel und da fiel es wieder in sich zusammen und breitete sich über das Land aus, wie ein gigantischer Regentropfen, der herabgestürzt kam. Mit solch einer Geschwindigkeit, dass der Zwerg erschrocken quiekte. Doch bevor er sich schwerfällig in Sicherheit bringen konnte, war es auch schon wieder vorbei. Ratlos starrte der Zwerg eine Weile vor sich her, doch dann ging er zu Bett.

Als er am nächsten Morgen wieder vor seine Tür trat, war die Welt um ihn herum wie verwandelt. Was ihm zuerst auffiel war, dass die Asche auf dem Boden verschwunden war und auch das Gras wirkte nicht mehr abgestorben braun, sondern erhielt einen blassen Schimmer grün. Die Mauern der Stadt schienen auf einmal mit Efeu und Moos überwuchert und hatten die unheimliche Schwärze verloren, die sonst viele Besucher immer abgeschreckt hatte. Als er beschloss den Weg hinabzugehen und sich alles einmal aus der Nähe anzusehen, da fand er ein Grab, aufgeschichtet mit mehreren Steinen. Er traf einige Menschen, doch sie hatten ihren leblosen Blick verloren und sie hatten sogar damit begonnen rund um das Grab einige Häuser aus Holzlatten zu errichten. Verwirrt versuchte der Zwerg herauszufinden, was denn geschehen sei, doch die Menschen schienen Furcht vor ihm zu haben und wichen ihm aus. Nur ein Mann kam auf ihn zu.

"Hier ruht Gesh'Nekat.", sprach er. "Justaka brachte ihn hierher und errichtete dieses Grab."

BEGINN

Sie waren schon seit einigen Tagen unterwegs. Sie brauchten einige Zeit mehr, als sie geplant hatten, aber den größten Teil des Weges mussten sie ihre Pferde führen. Noch immer herrschte eine ununterbrochene Dunkelheit, die nun nicht mehr von einzelnen, heftigen Gewittern unterbrochen wurde, sondern hier hoch oben in den Bergen von umso heftigeren Schneestürmen. Ab und zu wurden sie sogar ganz zum Halten gezwungen, wenn man seine Hand schon nicht mehr vor Augen sehen konnte und selbst das lauteste Gebrüll von dem Heulen des Sturmes übertönt wurde. Doch Schutz gab es auf dieser Strecke des Weges kaum. Selten fanden sie eine geschützte, kleine Höhle in der sie Zuflucht finden konnten. Meistens boten ihnen nur die Pferde einen schwachen Ersatz hierfür.

Noch viel schlimmer war der anhaltende Frost, der den auf dem Boden angekommenen Schnee sofort in massives Eis verwandelte. Dadurch erschwerten die spiegelglatten Wege das Vorwärtskommen nur noch mehr. Zudem herrschte eine unnatürliche Kälte, die selbst für das Ostgebirge ein wenig zu kalt war.

David selbst hatte noch nie zuvor in seinem Leben eine solche Kälte erlebt. Sein Tal war meistens von schweren Wintereinbrüchen verschont geblieben. Es lag nahe genug am Ostgebirge, dass die schweren Wolken vor den Berggipfeln abgefangen wurden und sich dort ihrer Last entluden. Zwar waren sie nicht selten eingeschneit gewesen, aber trotzdem waren alle Situationen an die er sich erinnern konnte, weit harmloser als das hier.

Ihre letzte Pause schien schon wieder Stunden her zu sein. Vielleicht war inzwischen sogar wieder Nacht, das war zurzeit schwer zu unterscheiden. Seine Augen drohten ständig zuzufallen und seine Füße schmerzten bereits grausam. An diesem Tag waren sie noch nicht einmal dazu gekommen auf ihren Pferden reiten zu können. An einigen Wegstellen in dieser breiten Schlucht fanden sie eine solche Eisschicht vor, dass sie die Tiere absatteln mussten und ihr Gepäck selbst tragen. Sie konnten es nicht riskieren eines bei einem Sturz zu verlieren. Die Verletzungsgefahr war einfach zu groß, wenn das Gewicht auf dem Rücken zu schwer wurde.

Doch schneller als ihm lieb war, war auf einmal alles vergessen, als sie vor sich einige Reiter im Schnee stehen sehen glaubten. Voller Überraschung blieben sie mit einem Ruck stehen. Als sie nahe genug heran waren, löste sich der vorderste Reiter von der Gruppe und kam ein paar Schritte auf sie zu. Mit Erschrecken erkannte David ihn wieder. Es war der gleiche Reiter auf dem gleichen, riesigen Schimmel, der ihm schon in Caparian City begegnet war. Der blaue Umhang wehte leicht im Wind. Doch ansonsten schienen Ross und Reiter kaum von dem um sie herum tobenden Unwetter beeindruckt. Wie ein helles Licht am dunklen Nachthimmel stand er wie aus dem Nichts vor ihnen. Dann verschwand das Bild, ohne das er etwas dagegen tun konnte, vor seinen Augen.

Es war Nacht. Ein schreckliches Gewitter tobte. Der Himmel schrie seinen Protest, war jedoch unfähig etwas zu tun. Die zornigen Blitze erhellten den Schauplatz einer der größten Tragödien der Geschichte.

David erkannte den Ort wieder, auch wenn er sich stark verändert hatte. Vor langer Zeit war er einmal mit Pitch bei der Ruine gewesen, doch er hatte sich spannendere Abenteuer ausgemalt, als es dort zu sehen gab. Nur ein Haufen Schutt und Asche war nicht besonders interessant für einen Jungen, in dessen Alter er damals war.

Er stand in einem langen Gang im Innern der Festung Moragán. Direkt vor einem Fenster, welches auf den Burghof hinaus zeigte. Die Burg war vollkommen intakt. Die Mauern zeigten kein einziges Loch. In den Ställen sah man einige Ponys stehen, aus den Scheunen quoll das Stroh. Auf dem Burghof selbst war ein ganzes Heer versammelt. Soweit David es in der Dunkelheit erkennen konnte, waren es Isk-Krieger.

Doch die beiden Gestalten, die vor dem Fenster standen, waren es nicht. Sie waren David völlig fremd. Der eine hatte pechschwarze, lange Haare, die ihm wirr ins Gesicht fielen. Sein Gesicht war lang und schmal. Die Stirn hoch und die darunter liegenden Augen lagen tief in den Höhlen. Ein dunkles Licht glühte in ihnen, das jeden sterblichen Menschen in Angst und Schrecken versetzen ließ. Sein Mund war im Vergleich zum Rest des Gesichts ein wenig vorgeschoben und wenn er sprach zeigten sich die scharfen, spitzen Zähne. Er war ziemlich groß und hatte eine aufrechte und recht muskulöse Gestalt. Seine Stimme war tief und hohl und schien an den Wänden der Gänge widerzuhallen. Doch trotzdem wusste David, dass es sich bei ihm um einen Angehörigen des gefürchteten Volkes der Hujak handelte, auch wenn ihm dieses Wort im Moment gleichzeitig überhaupt nichts sagte. Er hatte keine Ahnung, woher dieses Wissen stammte, aber es war da.

Neben dem Hujak stand ein Mann, dem David ebenfalls kein ihm bekanntes Volk zuordnen konnte. Er war ein wenig kleiner und hielt sich respektvoll im Hintergrund. Seine langen, braunen Haare umrahmten ein fast schon perfektes Gesicht. Als er sich herumdrehte, konnte David in seine dunklen Augen sehen. Er hatte noch nie zuvor in seinem Leben eine Elfe gesehen und er hatte sie sich nach den kurzen Beschreibungen von Tarry und Céwik ein wenig anders vorgestellt, doch tief in seinem Herzen spürte er es einfach. Er hatte das Gefühl bis tief in die Seele des Mannes sehen zu können, doch gleichzeitig war er sich sicher, dass es nicht das wahre Wesen des Mannes war, welches er zu sehen glaubte. Dieser Anflug verschwand sofort, als sich der Mann wieder zum Fenster drehte. Er zog seinen Fellmantel enger um sich, als ein scharfer Wind durch den Gang fegte.

Der Hujak beugte sich ein Stück weit vor und seine Stimme schallte über den Burgplatz. Und jetzt sah David auch, warum die Armee im Hof versammelt war, der Hujak die ganze Zeit beunruhigt vor sich hingebrummelt hatte und die Nacht eine finstere Stimmung verbreitete. Vor dem hölzernen, riesigen Tor stand eine zweite Armee. Doch diese war viel größer und bestand aus Menschen, nicht aus Isk.

Auf dem Befehl des Hujak öffneten sich die beiden dicken Holztüren des Tores und die Isk machten sich bereit dem Feind entgegenzutreten. Es blieb nur wenig Zeit, denn kurz darauf trafen die beiden Heere zusammen. Der Kampf verlief für die Isk überraschend gut. Trotz ihrer Minderheit kämpften sie sich verbissen vor und drängten die Menschen immer weiter zurück. Doch sie achteten darauf in der Nähe der Bogenschützen zu bleiben, die auf den Mauern Moragáns standen, um ihre wertvolle Deckung nicht zu verlieren. Es dauerte nicht lange und die Zahl der Menschen wurde zunehmend geringer, während die Verluste der Isk sich nur auf wenige beschränkten. Doch die Menschen hielten durch. Dann geschah etwas vor dem sich die Isk gefürchtet und welches die Menschen sehnsüchtig erwartet hatten. Das helle eines Pferdes drang durch die Nacht.

"Ein Dämon!", hörte David die Stimme des Elfen, oder auch Nicht-Elfen neben sich.

Auf einmal war es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Die Isk waren wie eingefroren und die Menschen bildeten ehrfurchtsvoll eine Gasse in ihren Reihen. Ein dunkler, bedrückender Schatten schien über der Burg zu schweben. Furcht breitete sich aus. In dem hellen Licht eines Blitzes sah man das Pferd näher kommen. In ruhigem Galopp kam es immer näher auf die Festung zu. David versuchte angestrengt den Reiter zu erkennen. Er glaubte zu wissen, wer es war, doch wollte er es nicht wirklich wahr haben.

Kurz bevor der Reiter das Tor erreichte, zog er sein Schwert. Das flackernde Licht spiegelte sich auf der glatten Klinge und zerbrach in tausend Splitter, so dass es aussah, als würde das Schwert leuchten. Dann leuchtete die mächtige Klinge wirklich. Von innen heraus breitete sich ein düsteres Rot aus, bis das anfängliche Glühen zu einem starken Licht wurde. Dann wurde die Waffe nach vorne geschwenkt und ein Feuerball löste sich von der Spitze. So unglaublich es schien, das Schwert begann zu einer lodernden Flamme zu werden.

Völlig unvorbereitet stürzte er zurück in die Wirklichkeit. Die Stute bewegte sich nervös neben ihm und zog energisch an den Zügeln. Ohne es bisher bemerkt zu haben, ließ er sich immer weiter von ihr von dem Rest der Gruppe fort ziehen. Er hörte, wie ihm jemand etwas zurief, konnte die Worte aber nicht verstehen. Sie drangen einfach nicht bis in seinen Kopf vor. Das Pferd wurde immer nervöser und tänzelte aufgeregt, als David versuchte es zum Stehen zu bringen. Die Flanken des Tieres zitterten und es schnaubte schnell und häufig. Mit einem Sprung nach hinten versuchte sie sich schließlich zu befreien, dabei rutschte David hilflos auf dem glatten Eis unter ihm aus.

Er spürte förmlich, wie sein Fuß sich in die falsche Richtung drehte, doch es war schon zu spät, als dass er daran etwas ändern konnte. Direkt darauf folgte ein stechender Schmerz. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, der Arm würde ihm ausgerissen werden, doch er ließ die Zügel noch immer nicht los. Da merkte er, wie ihm jemand die Zügel abnahm und erleichtert ließ er los. Neben ihm stand nun ein Pony. Die Ruhe selbst, als würde es ihn gar nicht interessieren, was um ihn herum geschah.

Vorsichtig versuchte er wieder aufzustehen, doch anscheinend schien es seinen Fuß schlimmer erwischt zu haben, als ihm lieb war. Fluchend stützte er sich auf dem Rücken des Tieres ab und versuchte eine Übersicht über das Geschehen zu bekommen. Vor ihm stand der junge Isk Stalca neben seiner Stute und versuchte das Pferd zu beruhigen. Zwar stand sie noch immer mit aufgerissenen Nüstern und rollenden Augen da, aber sie stand. Als David sich herumdrehte, um nach den anderen zu sehen, glaubte er ein lautes Poltern und Knirschen zu hören. So, als würden Steine untereinander zermalmt werden. Da stürzten mit einem Mal Tonnen von Gestein in die Schlucht und versperrten ihnen den Rückweg. Nur David und Stalca standen direkt vor der neuen Mauer.

"Wir müssen weg hier! Nach oben!", rief Stalca und deutete auf einen steilen Pfad, der aus der Schlucht heraus führte.

"Schnell!", drängte er, während er sich bereits auf den Weg machte. Die Stute sträubte sich zunächst, doch dann folgte sie langsam Schritt für Schritt.

David biss die Zähne zusammen und versuchte mit dem Pony ebenfalls das obere Plateau zu erreichen. Er spürte die Gefahr, in die sie geraten waren, auch wenn er immer noch nicht genau wusste, was geschehen war. Ihm blieb nicht viel anderes übrig als den immer schlimmer werdenden Schmerz zu ignorieren. Wer wusste schon, was sonst noch auf sie zukommen konnte.

Als sie das Plateau erreicht hatten, sah er es. Drei Reiter näherten sich schnell. David war erleichtert, als nicht er auf die Stute musste, denn sie begann wieder unruhig auf der Stelle zu treten. Außerdem hatte er schon Mühe sich mit seinem kaputten Fuß auf das Pony zu setzen. Kaum war er oben, ging es im gestreckten Galopp los. Hier oben gab es kaum Eis, nur eine dicke Schneedecke, die das Vorwärtskommen auf eine andere Art und Weise erschwerte. Dichter Schnee wirbelte vor den Hufen der Pferde.

Rugar wusste, dass diese Begegnung kommen würde. Früher oder später mussten sie sich über den Weg laufen und er hatte die ganze Zeit keine Ahnung gehabt, was er dann zu tun haben würde. Er hatte sich ständig gefragt, was er tun würde, doch er war dabei nie zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen. So blieb nur die Möglichkeit über, dass er sich einfach nicht entscheiden würde können. Dass er einfach nicht wissen würde, wohin er letztendlich gehörte und einfach gar nichts tun würde, was auch schon in diesem Fall eine ausschlaggebende Tat sein konnte. Es hatte ihn einfach keine Ruhe gelassen und er hatte einfach nicht gewusst wieso.

Jetzt standen sie sich unerwartet gegenüber. Jedenfalls für ihn unerwartet. Und er wusste, was zu tun war. Es war überhaupt keine Frage mehr und es kam ihm wieder umso merkwürdiger vor, weshalb er sich vorher solche Gedanken gemacht hatte. Ihm war nicht bewusst, dass er Angst vor diesem Treffen gehabt hatte. Angst davor die Kontrolle über das Geschehen und somit über sich selbst verlieren zu können. Doch wenn er darüber nachdachte, wusste er nicht, wieso er sich an etwas klammerte, was er doch Jahrhunderte lang niemals vermisst hatte. Freiheit. Eine Freiheit, die nicht einmal eine wirkliche Freiheit war, denn er wusste, dass man ihn wohl niemals ganz aus den Augen lassen würde. Dass man ihn jedes Mal fragte, wohin er denn gehe, wenn er nur aufstand. Eine Freiheit, die für sein Leben überhaupt nicht vorgesehen war und die anfangs eine gewisse Hilflosigkeit mit sich gebracht hatte. Würde er sie vermissen? Nein, denn wenn er sie aufgeben würde, würde er etwas ganz anderes dafür bekommen. Dann würde er wieder sein können, wer er war. Also musste es irgendetwas anderes sein, was ihn nun dazu veranlasste sein Schwert zu ziehen. Etwas, worüber er jetzt keine Zeit hatte nachzudenken. Doch sie hatten sich lange angesehen. Sehr lange und es fiel ihm überhaupt nicht schwer zu tun, was er nun zu tun beabsichtigte.

Sein Gegenüber, Wirhnö, der mit nur wenig Magie das Eis kontrollierte, der eine Art Bruder sein konnte, schüttelte nur den Kopf, als er von seinem Pferd stieg und ebenfalls seine Waffe zog. Es war entschieden, wie die Seiten in diesem Kampf nun verteilt sein würden. Doch es würde nicht der Kampf werden, der das Ende bringen sollte. Justaka liebte es viel zu dramatisch, als dass er sich auf ein so billiges Ende einlassen würde. Er wollte all seine Macht demonstrieren, mit der er die Kontrolle über diese Welt an sich reißen wollte. Aber er hatte noch nicht einmal die Gelegenheit bekommen seine Überlegenheit zu präsentieren.

Allerdings könnte es genauso gut sein, dass Rugar sich in den letzten Tagen zu viel von ihrer Wichtigkeit einreden lassen hatte. Wer waren sie denn schon? Zwei junge Menschen, auf denen ein Fluch lasten sollte, der ihnen dadurch aber nicht zusätzliche Kräfte verleihen würde. Ein alter Mann, eine junge Frau. Vielleicht vier Leute, die fähig waren eine Waffe in den Händen halten zu können. Vielleicht handelte Wirhnö aber zurzeit auf ganz andere Befehle, von jemand ganz anderem. Die Ritter in ihren roten Umhängen waren schwer zu übersehen. Aber wenn es wirklich so sein sollte, bedeutete dies nichts Gutes. Rugar entging ebenfalls nicht, dass Wirhnös Aufmerksamkeit in Wirklichkeit auf etwas ganz anderes gerichtet zu sein schien.

"Was willst du?", fragte er frei heraus.

"Was sollte ich schon wollen?", antwortete Wirhnö mit seiner Stimme, die schon fast so kalt, wie das ihn umgebende Eis zu sein schien. "Einmal sehen, wie es euch so geht. Ein paar nette Worte wechseln. Was man halt so tut, wenn man sich unterwegs einmal mit guten Bekannten trifft."

Misstrauen flackerte in Rugars Augen. Er wusste, dass Wirhnö nicht die Wahrheit sprach und glaubte nicht an eine zufällige Begegnung. Doch von ihm wollte er sicherlich auch nichts. Er spürte, wie sein Gegenüber kurz angespannt war. Nur für wenige Sekunden ließ er es sich anmerken, doch dann gab er sich wieder gleichgültig. Zu spät, um es vor Rugar verbergen zu können. Dieser warf einen kurzen Blick zurück, um sehen zu können, was hinter ihm geschah. Er bemerkte, wie David Probleme mit seiner Stute hatte. Diese zog ihn immer weiter von der Gruppe fort, was Rugar gar nicht gefiel. Wenn sie das Tier verlieren würden, hätten sie langsam ernsthafte Probleme. Doch dann kam ihm Stalca zu Hilfe und Rugar war einigermaßen beruhigt. Solange, bis er den Anflug von einem zufriedenen Lächeln auf Wirhnös Gesicht erkennen konnte. Sofort drehte er sich noch einmal zurück, doch bevor er eine Warnung rufen konnte, spürte er eine rasche Bewegung neben sich und konnte den Hieb gerade noch mit seinem Schwert abfangen. Kurz darauf konnte er ein lautes Poltern hinter sich hören und trotz, dass er sich nicht noch einmal umsah, spürte er, wie hinter ihnen einige Tonnen Gestein in die Schlucht stürzten.

"Es war nett dich noch einmal getroffen zu haben.", verabschiedete sich Wirhnö mit derselben Gleichgültigkeit wie immer. "Aber ich fürchte wir müssen unser Gespräch ein anderes Mal fortsetzen. Ich habe noch einiges zu erledigen."

"Du glaubst doch nicht, jetzt einfach gehen zu können.", hielt Rugar ihn entschlossen auf.

"Was glaubst du denn, würde es ändern, wenn du mich aufhalten würdest?", fragte Wirhnö. "Glaube nicht, dass ich Hemmungen hätte dich zu töten oder irgendwen sonst hier, der versuchen würde irgendeine Art von Widerstand zu leisten. Wir sind dir und deiner netten Gefolgschaft nicht nur zahlenmäßig überlegen. Was sollen sie denn alle ohne dich schon anfangen? Ich gebe dir noch einmal die Chance in diesen Wald zurückzukehren, also überlege gut, ob du sie nicht nutzen solltest, denn sonst kann es sein, dass dies keiner tut, der jetzt hier anwesend ist."

Rugar hielt seinem herausfordernden Blick eine ganze Weile lang stand, doch er wusste bereits, dass es sinnlos sein würde. Also schob er sein Schwert in die Scheide zurück und musste zusehen, wie die Reiter sich wieder auf den Weg zurück machten, wo sie hergekommen waren.

"Was soll das alles?", fragte er schließlich Peroth, der ihm aber mal wieder eine aussagende Antwort verweigerte.

DAVID UND STALCA

Sie hatten mit etwas Glück eine kleine Höhle finden können, die sogar noch genug Platz für ihre beiden Pferde bot. So war es zwar nicht besonders gemütlich, aber sie hatten Schutz vor dem zunehmenden Sturm draußen. Die Schneeflocken wirbelten so dicht zusammen, dass es kaum möglich war noch seine eigene Hand vor Augen sehen zu können. Der Wind hatte eine Stärke erreicht, die selbst den stämmigsten Hünen von den Füßen gerissen hätte. Es war wirklich Glück gewesen, dass diese Höhle gerade im richtigen Moment aufgetaucht war. Wären sie noch einen Moment länger draußen auf der offenen Gebirgsplatte gewesen, so wäre es jetzt wahrscheinlich um sie geschehen.

Doch das änderte nichts an der restlichen Situation. Sie hatten kein Holz, also keine Möglichkeit ein wärmendes Feuer schaffen zu können. Was sowieso von weitem sichtbar gewesen wäre. Zumindest der Rauch, der aus dem Höhleneingang gezogen werden würde. Aber daran dachten sie im Moment gar nicht, denn es herrschte eine eisige Kälte um sie herum, die immer bissiger und grausamer zu werden schien. David zitterte bereits so sehr, dass er sich krampfhaft darum bemühen musste, nicht mit den Zähnen zu klappern. Zudem schmerzte sein Fuß unerträglich, doch auch dies versuchte er soweit es ging zu unterdrücken, was ihm aber weitaus schwerer fiel. Er widerstand der Versuchung nachzusehen, wie schwer die Verletzung war, denn das bloße Wissen darum würde die Schmerzen nur noch verstärken.

Auch war Stalca keine besonders unterhaltsame Begleitung. Sie sprachen kaum ein Wort miteinander. Nur, wenn es äußerst notwendig war. Und David wagte es nicht die Stille zu unterbrechen, denn Stalca schien auch keinen besonderen Wert auf eine Unterhaltung zu legen. So saßen sie nur da und schwiegen sich an. Irgendwann versuchte dann jeder für sich ein wenig Schlaf zu finden, doch zumindest David wollte es einfach nicht gelingen. Es waren nicht nur Schmerz und Kälte, die dies verhinderten. Er fühlte sich auf einmal hilflos und verloren. Verloren inmitten einer Eiswüste. Weit fort von ihrer Gruppe, von der sie nicht einmal wussten, was denen zugestoßen sein mochte. Keine Ahnung wo sie sein könnten, oder wohin sie sich nun wenden mussten. Sie wären nicht einmal fähig den Weg zurückzufinden, denn sobald sie diese Höhle verlassen würden, würde vor ihnen alles gleich aussehen. Und wer sollte sie erst einmal in dieser Einöde finden können, wenn es noch jemanden gab, der nach ihnen suchen konnte. Diese Angst war noch viel schlimmer, als alles andere zusammen. Aber dennoch fielen ihm irgendwann die Augen zu und er taumelte in einen unruhigen Schlaf.

Doch nicht für lange, wie ihm schien, denn immer wieder wachte er auf. Verzweifelt versuchte er daraufhin erneut einzuschlafen, aber es ging einfach nicht. Er redete sich ein, dass es nötig war, denn sein Körper brauchte nach den langen Strapazen endlich Ruhe, aber dadurch wurde es nur noch schlimmer und irgendwann gelangte er an den Punkt, wo ihm einfach alles egal war. Wo er hilflos aufgab und gleichzeitig verzweifelte. An diesem Punkt wurde er wieder soweit wach, dass er die Kälte erneut zu spüren begann und gleichzeitig war ihm heiß, als hätte er Sonnenbrand und sein Kopf schmerzte fast ebenso sehr, wie es sein Fuß wieder mit neuer Intensität tat. Der Blick vor seinen Augen schien sich zu trüben. Auf jeden Fall machte ihm das Sehen Schwierigkeiten. Ebenso bemerkte er, dass es ihm schwer fiel, genügend Luft in seine Lungen zu pumpen. Als er versuchte sich aufzurichten begann sich alles um ihn herum zu drehen und erschrocken fasste er sich an den Kopf, da er das Gefühl bekam, dieser wäre noch einmal um einiges gewachsen.

"Du hättest das mit dem Fuß ruhig sagen sollen.", ertönte eine Stimme neben ihm, aber auch die war nur gedämpft.

"Was hätte das denn geändert?", fragte er. "Wären wir dann einfach da geblieben und hätten abgewartet, was passiert?"

Er erhielt keine Antwort und damit hatte er auch nicht wirklich gerechnet. Vorsichtig bewegte er seinen Kopf ein wenig langsamer in Richtung Ausgang. Der Sturm schien vorbei zu sein. Jedenfalls war es längst nicht mehr so dunkel, wie noch vor ein paar Stunden. Anscheinend hatte er doch länger geschlafen, als ihm bewusst gewesen war, auch wenn er nicht gerade das Gefühl danach hatte.

"Es hat aufgehört.", murmelte er. "Wir sollten weiter."

"Weiter?", wiederholte Stalca ungläubig. "Hast du eine Ahnung, wo wir sind? Verrate es mir! Selbst wenn, du kannst doch keine drei Schritte weit gehen."

"Ich werde es wohl aber müssen!", entgegnete er schärfer als er eigentlich beabsichtigt hatte. "Wenn wir hier bleiben, werden wir noch verhungern."

"Wenn wir da raus gehen, werden wir erfrieren.", erinnerte ihn der Isk.

David musste dem Recht geben. Selbst wenn sie vorher jemand finden sollte, konnten sie nicht im Voraus sagen, ob sie dann in einer besseren Lage als vorher sein würden. "Was ist besser?"

"Keines von beidem ist besonders angenehm."

Wieder folgte nur eine kurze Pause des Nachdenkens. "Aber wir müssen irgendetwas tun.", meinte David, auch wenn er bereits spürte, wie ihm nur das Reden die letzten Kräfte raubte. "Wir gehen einfach immer geradeaus. Immer dieser Bergwand entlang. Vielleicht kommt dann dort irgendwann ein Pass. Irgendwo muss man aus diesen verdammten Bergen auch wieder rauskommen. Der Pass wird uns schon irgendwohin führen."

"Das wird niemals funktionieren, denn du wirst niemals so weit kommen.", sprach Stalca nur das Offensichtliche aus.

"Es muss gehen. Selbst wenn ich nicht so weit kommen sollte, dann wirst du eben allein weitergehen." David war von seinem Vorhaben fest überzeugt. Auch wenn er die Sinnlosigkeit darin eigentlich hätte erkennen können. Selbst wenn ihnen ein Pass begegnen sollte, würde sie dieser nur noch weiter in das Gebirge hinein bringen.

Doch Stalca widersprach ihm nicht länger, sondern half ihm hoch zu seinem Pferd. Sie führten die Tiere hinaus ins Freie und stiegen dort auf. Lange waren sie noch am überlegen, welche der beiden Richtungen die bessere sein könnte. Es hätte sicherlich einige Vorteile den Weg zurück zu wählen. Mit ein wenig Glück wäre es ihnen möglich die Schlucht wiederzufinden, an deren Ende ihr Ziel liegen würde. Selbst wenn sie den Eingang zu Yesúw nicht finden würden, dann wäre sicher jemand dort in der Nähe, der nach ihnen Ausschau hielt. Sie dachten auch daran auf diesem Weg ihren Verfolgern begegnen zu können, doch waren sie bereit dieses Risiko einzugehen. Dann bemerkte David Stalcas Zögern.

"Was ist?", fragte er.

Stalca machte nicht den Eindruck, als wäre er begeistert davon eine Antwort geben zu müssen. "Aus welcher Richtung kamen wir gestern?"

David stellte mit Schrecken fest, dass er sich ausgerechnet darüber noch keinerlei Gedanken gemacht hatte. Sie wussten sofort, dass es sinnlos war darüber nachzudenken. Schließlich entschieden sie sich gemeinsam für einen Weg, der stumpf geradeaus von der Bergwand fort führte. Sie waren am vergangen Tag nicht lange unterwegs gewesen. Ein paar Stunden nur. Das Plateau musste irgendwo enden und konnte nicht gigantisch groß sein. Vielleicht würde ihnen das Schicksal gnädig sein und ihnen einen Weg hieraus zeigen.

Sie waren schon eine ganze Weile unterwegs, als der Sturm erneut einzusetzen begann. Zuerst zögerlich mit ein paar Flocken nur, bis er wieder an Stärke zunahm und zu eben einem Unwetter wie die letzte Nacht zu werden drohte. Zuvor war ihre Reise recht angenehm gewesen. Zwar war es noch immer bitter kalt, aber dadurch bewegten sich die Pferde rasch vorwärts und David verlor noch immer nicht den Glauben daran, dass sie so noch schneller an ihr Ziel gelangen würden. Auch schmerzte sein Fuß nicht mehr so unerträglich seit er entlastet wurde. Die Stute trottete dem Pony von Stalca hinterher ohne auch nur etwas dagegen zu haben. So musste er sich nur noch im Sattel halten können.

Aber seit einer Stunde hatte sich dies alles geändert. Es wurde wieder merklich dunkler um sie herum. Bald hatte David schon Mühe das kleine Pony vor sich sehen zu können, geschweige denn in weite Entfernung zu blicken. Langsam begannen seine Hoffnungen im Wind davon gerissen zu werden. Er wurde müder und erschöpfter und irgendwann drohten ihm schon wieder die Augen zuzufallen. Er hatte die letzten Kräfte seines Körpers herausgefordert und allmählich verbraucht. Er wusste, lange würde er nicht durchhalten können. Wenn nicht bald ein Wunder geschah und sie zufällig vor ihrer gesuchten Schlucht stehen würden, dann würden sie hier draußen wahrscheinlich sterben. Dies war kein angenehmer Gedanke, doch David wusste, wie schnell er trotzdem Wirklichkeit werden konnte.

Mit einem Mal erhob sich nur einige hundert Meter neben ihnen eine weitere Felswand von der restlichen Dunkelheit ab. Zum einen war diese Entdeckung eine riesige Enttäuschung, denn sie hatten beide auf eine breite Schlucht gehofft, doch andererseits gab es dort wahrscheinlich einige geschützte Ecken in denen sie wieder einmal Zuflucht vor dem Sturm suchen konnten. Bei etwas hellerem Licht würden sie ihre Umgebung später sicherlich besser erkennen und bestimmen können. Vielleicht war ihr Weg gar nicht mehr so lang, wie sie bisher annahmen.

Aus einem für David unbestimmten Grund schien Stalca allerdings zu zögern. Er hielt sein Pony an und war anscheinend nicht gewillt von ihrem Weg abzuweichen, um Schutz zwischen den Felsspalten zu suchen.

"Wir sollten sehen, ob wir nicht eine geschützte Nische finden können.", drängte David erschöpft. Doch es folgte keine Reaktion. "Wir werden hier draußen noch umkommen, wenn wir nicht bald aus diesem Sturm herauskommen. Außerdem sind auch die Pferde bald am Ende."

"Ich kenne diesen Ort.", war erst einmal alles, was aus dem Isk herauszubekommen war. Aber für David klang dies alles andere als schlecht. "Und ich werde ganz bestimmt nicht dorthin gehen."

Dies wiederum verschlug David erst einmal die Sprache. "Wieso nicht?", brachte er schließlich hervor. Es wurde erneut immer ungemütlicher um sie herum und er würde im Moment alles tun, um aus diesem Schnee herauszukommen.

"Darum nicht.", erwiderte Stalca.

"Das ist keine Antwort.", behauptete David.

"Ich wüsste nicht, was dich daran eigentlich interessieren sollte." Der Trotz in Stalcas Stimme war nicht zu überhören, als er mit diesen Worten sein Pony weiter in das Nichts hinein trieb.

"Schön!", rief David ihm hinterher und machte nicht im Geringsten Anstalten ihm zu folgen. "Geh nur! Ich werde auf jeden Fall nicht so wahnsinnig sein weiter zu reiten. Wir haben ja noch nicht einmal eine Ahnung wohin wir überhaupt gehen. Wahrscheinlich ist hier gleich auf einmal ein riesiges Loch, welches man vor lauter Schnee überhaupt nicht erkennen kann. Fall ruhig rein in dieses Loch. Ich werde dich da nicht raus holen. Wie auch, ich werde nämlich versuchen hier irgendwas zum Unterstellen zu suchen. Viel Spaß noch. Es macht sowieso keinen Unterschied ob mit oder ohne dir."

Er war sich sicher, dass seine letzten Worte sowieso nicht mehr gehört worden waren, aber es war ihm mit einem Schlag einfach alles egal. Wütend presste er die Schenkel an sein Pferd und trieb die Stute auf die nahen Bergwände zu. Nur zögernd war das Tier dazu zu bringen allein weiter zu gehen und Davids Fuß begann wieder stechend zu schmerzen, was seinen Zorn nur steigerte.

Eine ganze Weile lang stampfte er mit seiner Stute durch den Schnee und schließlich bereute er es doch nun allein zu sein. Zwar war der Isk wirklich keine unterhaltsame Begleitung, aber er war zumindest nicht allein gewesen. Im Notfall wäre wenigstens jemand da und wenn es hier doch kein Heraus geben sollte, so wäre er zumindest nicht allein gestorben. Mit erneuter Mühe versuchte er sich wieder von diesen Gedanken zu befreien, aber es gelang genau so wenig wie zuvor. Zudem wurde ihm bewusst, dass er nicht den leisesten Hauch einer Ahnung hatte, wohin er sich eigentlich wenden musste. Er hatte nur nebenbei mitbekommen, dass am Ende der Schlucht in der sie überfallen worden waren ein verborgenes Tor in den Berg hinein liegen sollte. Nur war das mit verborgenen Toren so eine Sache. Denn der Sinn in ihnen lag vor allem darin, dass sie niemand entdecken sollte. Nur Eingeweihten war es gestattet durch sie hindurch zu treten und ihre Lage zu kennen. David war sich allerdings nicht sehr sicher, ob sich dieses Tor auch von ihm finden lassen wollte.

Nach dem der schwarze Stein vor ihm zunehmend an Größe gewann wurde auch der Weg immer unebener. Ab und zu spürte er, wie die Hufe unter ihm auf einer feinen Eisschicht wegzurutschen begann. Auch schien der Schnee weniger zu werden, trotz dass immer noch Millionen von Flocken vom Himmel stürzten. Doch ab und zu glaubte er zwischen dem Heulen des Windes Hufschlag zu hören, was bedeute, dass sich unter ihm Gestein befinden musste. Als es allmählich bergan ging, stieg er seufzend vom Pferd. Er hatte keine Ahnung, wie lange er es aushalten würde zu Fuß weiterzugehen, aber auf dem Pferderücken zu bleiben war für sie beide zu riskant. Ihm blieb nur die Hoffnung möglichst schnell einen sicheren Unterstand zu finden. Der starke Wind, der ihm entgegen kam machte den Aufstieg nicht gerade einfacher, aber er biss die Zähne zusammen und kämpfte sich weiter.

Stumpf setzte er einen Schritt vor den anderen und jedes Mal wenn er mit dem verletzten Fuß aufsetzte spürte er einen heftigen Stich durch seinen ganzen Körper fahren. Ab und zu legte er eine kurze Pause ein, bis er sich wieder halb auf den Rücken seines Pferdes stützte und versuchte weiterzukommen. Aufgeben kam für ihn nicht in den Sinn. Er war sich absolut sicher es schaffen zu müssen und wenn er es einfach nur aus purer Sturheit tat.

Er hatte keine Ahnung wie lange er schon unterwegs war, als er seinen Namen zu hören glaubte. Schwach, weit hinter ihm und er war nicht einmal sicher, ob es nicht vielleicht nur eine Einbildung war. Trotzdem hielt er an. Er spürte, wie seine Beine weich wurden und ihn dazu drängten sich einfach auf den Boden zu setzen, aber er gab nicht auf dagegen anzukämpfen. Er wusste, wenn ihm dabei die Augen zufallen würden und er einfach einschlief, wäre er für immer verloren.

Wieder schien eine Ewigkeit zu verstreichen und er war schon wieder kurz davor weiterzugehen, als neben ihm ein dunkler Schatten auftauchte. Er hörte das kurze Schnauben eines Pferdes und er spürte die Wärme, die von dem Tier ausging. Neben ihm erschien Stalca wieder, wie er glaubte, denn alles um ihn herum war mit einem dunklen Schleier verhangen.

"Es ist nicht weit bis zu einer kurzen Schlucht.", hörte er eine inzwischen vertraute Stimme dicht an seinem Ohr. Trotzdem schien sie weit entfernt zu sein. "Sie wird den Schnee aufhalten, denn sie führt ein kleines Stück bis in den Berg hinein."

Prophezeiungen der Weisen

Подняться наверх