Читать книгу Der Lack bleibt dran! - Désirée Nick - Страница 31
ICH BIN DAS IT-GIRL DER GERIATRIE
ОглавлениеIch finde, jeder sollte es wagen … einfach mit 50 plus die Hüllen vor dem Auge der Kamera fallen zu lassen als Erinnerung für die Nachwelt. Als Nachweis der ganz persönlichen Note. Für mich war es das absolute Highlight, als die Bild-Zeitung die glorreiche Idee hatte, mich als 60-plus-Vorlage zum Covergirl zu machen. Zum Spind-Girl für die Leser, die noch eine Zeitung aus echtem, raschelndem Papier in der Hand halten.
Sich ausziehen und sexy aussehen mit 20 kann ja nun wirklich jeder, zumindest, wenn professionelle Hilfe zur Seite steht. Aber so richtig spannend wird dieses Projekt doch erst im Alter. Es ist wahrlich keine Kunst, ansprechende Bikini-Shootings zum Springbreak zustande zu bringen, wenn man braun gebrannt an der Côte d’Azur die Abiturreise im Pool feiert. Aber dieses Programm im Frührentnerstatus zu absolvieren sollte gesellschaftlich gefeiert werden. Wenn ich mich ausziehe, ist das schließlich eine Denkmalsenthüllung. Logisch: Alte Ruinen wirken nun mal am besten in der Abenddämmerung. Nennt mich ruhig das It-Girl der Geriatrie: Auf den Fotos sehe ich immerhin besser aus als die meisten in ihren Zwanzigern. Warum das so ist, mag ein Mysterium bleiben, doch versuche ich gern, Licht ins Dunkel zu bringen.
»Ist dies das Fotostudio?«, fragte ich mit zitternder Stimme. Und ein gepiercter Fotointernazubiverrichtungsgehilfe antwortete blasiert: »Was kann ich für Sie tun?« Mit der weichesten und sanftesten all meiner vielen Stimmlagen säuselte ich: »Ich werde heute 60, und ich habe ein kleines Geheimnis für dich: Ich brauche coole Nacktbilder für die Zeitung!« Er antwortete: »Kleines Geheimnis unter uns: Der Fotograf ist auch nicht mehr der Jüngste!« Unser verschmitztes Kichern klang in meinem Ohr. Okay, ist das hier also ein Seniorentreff? Ein letztes Aufbäumen durchgeknallter, renitenter Rentner, die blankziehen und es noch mal wissen wollen? »Je oller, je doller«, wie man zu sagen pflegt!
Gleichzeitig fragte ich mich, wenn wir in einer Welt leben, in der Sexismus und Rassismus angeprangert werden und Bodyshaming als politisch unkorrekt gilt, warum muss man sich dann aber als 60-jährige Frau dafür entschuldigen, dass man die eigene Weiblichkeit mit Erotikbildern feiern will. Und schlimmer noch: Man hätte sich schon mit 50 dafür rechtfertigen müssen! Ab 40 erntet eine Frau hochgezogene Augenbrauen, wenn sie sich auszieht und ihre körperlichen Reize erotisch präsentiert. Da heißt es dann über eine Christine Neubauer bei ihrem Playboy-Doppelseiten-Spread: »Auch reife Frauen haben durchaus noch ihre Reize!« Okay, muss man ja auch dazuschreiben für den Fall, dass die Botschaft nicht rüberkommt, und schlimm genug, dass ein Wäsche-Shooting ab 40 überhaupt einer Entschuldigung bedarf.
Ich bin der Meinung, wer professionell eine Kamera in der Hand hält, sollte in allem die Schönheit finden. Die weiblichen Reize kommen ja umso mehr zur Geltung, je weniger äußere Hülle davon ablenkt: die Mode, hier die »Lingerie« ist eine Schale, die Status verleiht und darstellt, wer wir gern sein möchten. Damit mündet die Verpackung immer in ein Stereotyp. Bei Nacktbildern fällt all das weg: Was übrig bleibt, ist pur! Nichts anderes als wir selbst! Mein Ziel ist es nicht, mit Nacktbildern zu provozieren oder ein kontroverses Projekt zu starten. Nein, es geht um einen Ausdruck von Lebensgefühl und Spirit meiner Generation, die sich eben nicht in althergebrachte stereotype Klischees pressen lässt.
Die Gesellschaft hat Frauen hinsichtlich ihrer Identität und Rolle jahrtausendelang negativ programmiert. Irgendwann haben wir das in unserem Unterbewusstsein angenommen, wir sind so geprägt. Ebenso würden wir notfalls unser Gebiss als Waffe einsetzen. Niemand hat es uns gesagt, aber wenn es hart auf hart kommt, meldet sich unsere DNA mit einem durch die Evolution seit Millionen Jahren in unserer Hirnrinde eingebrannten Reflex: Wir beißen zu. Schon kleine Kinder machen das so. Das ist nichts anderes als der Affe in uns. Jahrtausende von Frauenunterdrückung haben unsere Seelen mit Selbstzweifeln und Unsicherheiten programmiert.
Es ist ein politischer Kampf, mit dem eigenem Körperbild Frieden zu schließen, sich mit seiner Hautfarbe, Figur, seinem Körperbau anzufreunden, sich in seiner Haut wohlzufühlen, sich nicht dafür zu schämen und nicht einem vorgegebenen Standard entsprechen zu müssen. Gewicht, Größe, Haut, Haare, Figur: All das hassen Frauen an sich, wenn sie in den Spiegel schauen, und üben sich darin, sich indirekt selbst abzulehnen. Parallel findet ein Wettkampf mit anderen Geschlechtsgenossinnen statt, welche die digitale Funktion »Umformen« hat nötig werden lassen, weil Frauen sich für ihre eigene Haut so sehr schämen, dass sie meinen, öffentlich nur akzeptiert zu werden, wenn die Erscheinung per Filter geändert und optimiert wird. Genau das hat uns gerade noch gefehlt, um die Unsicherheiten und Selbstzweifel zu schüren, die uns in jeder Lebensphase begleiten. Überall gibt es Schlankere, Fittere, Hübschere, Gelenkigere, Begabtere – und was nicht passt, wird eben passend gemacht. Erst per App-Funktion, dann mit Hammer, Meißel und der großen Fräse per plastischer Chirurgie. Weil so wie Frauen von Natur aus sind, können sie ja nicht bleiben!
Mit meinen Nacktbildern wollte ich Frauen die Ermächtigung erteilen, sich ohne Verfallsdatum zu ihrer erotischen Ausstrahlung zu bekennen. Die Welt sollte bereit sein, die Würde der Seele einer Frau zu respektieren. Sie sollte bereit sein, die Frage zu stellen, wie man sich als Frau in den medialen Schablonen, die uns übergestülpt werden, fühlt. Meistens scheiße!
Nacktbilder von sich selbst zu machen würde vielen Frauen helfen. Es wäre heilsam! So manche 64-Jährige wäre sicher zu Tränen gerührt, weil sie sich nach Jahrzehnten der Ignoranz mal wieder angenommen fühlt oder erstmals im Leben überhaupt ihre eigenen Reize wahrnimmt. Es gibt millionenfach Frauen, die ihre körperliche Schönheit noch nie entdeckt haben. Und es gibt ebenso viele, die keinerlei körperliche Schönheit besitzen und diese einfach behaupten: siehe Kardashians! Kein Hals, kurze Beine, fetter Arsch, zu großer Kopf, gebärfreudiges Becken und die Brüste vom Klempner angeschraubt. Wenn nur einer Million Menschen suggeriert wird, dass dies Schönheit sei, dann folgt dem auch der Rest: Zumal man mit diesem Körpertypus ganz Lateinamerika im Gefolge hat.
Also, meine Freundinnen, wie wollen Sie glücklich altern, wenn Sie sich selbst nicht annehmen? Nach vier Kindern und einem Leben voller Arbeit ist nicht jede Frau eine Elfe, aber die Magie setzt dort ein, wo ein liebender Partner einem jeden Tag versichert, wie schön man ist. Bis man sich fragt: »Was sieht er bloß in mir, was ich selbst nicht sehen kann?«
Jede normale Frau dürfte sich ausgezogen vor einer Kamera erst mal außerhalb ihrer Komfortzone befinden. Es kann allerdings zum Geschenk werden, ein Leben voller Selbstzweifel beim Fotografen wie eine zweite Haut abzustreifen. Eine Haut, in der man sich nie wirklich wohlgefühlt hat. Es gibt so viel mehr als die äußere Hülle, was Schönheit auszudrücken vermag: ein strahlendes Lachen, die Wärme im Blick, die Liebe zu der weiblichen Körperform, die Sanftheit mütterlicher Hände.
Nicht wenige Frauen werden nach 40 Jahren Ehe ohne Selbstbewusstsein zurückgelassen. Mit 60, meine Lieben, glauben Sie es mir, weiß man, was man mag und braucht und was nicht. Einen Mann zu treffen, wenn man nicht mehr die Jüngste ist, theoretisch Enkelkinder haben könnte, wird keine Frau über 50 kaltlassen und so manche Frage aufwerfen: Bin ich zu alt? Bin ich zu fett? Bin ich zu faltig? Wie sehe ich beim Aufwachen aus? Wie sehe ich von hinten aus? Wie sehe ich am Strand aus? Erfüllung finden wir, wenn wir unserer Weiblichkeit vertrauen, und ebendiese kennt kein Verfallsdatum! Femininität und Humor sind zeitlos, alterslos und nicht verhandelbar. Dadurch sind sie nicht anfechtbar und bieten Schutz bis zum letzten Atemzug.
Wir sind Frauen, wir sind Löwinnen, und ich frage Sie: »Hören Sie mein Brüllen?« Ich brülle jeden einzelnen Tag, und ich glaube kaum, dass irgendjemand versteht, was ich meine, der nicht das Brüllen eines Löwen in der Wildnis Afrikas gehört hat. Es lässt erschauern, hat sein eigenes Andante-Tempo, lässt keinen Zweifel zu, wer der Herrscher ist, wem die Erde gehört, und es erwartet keine Antwort! Es ist der Sound der Ewigkeit. Natur! Und Natur zeigen auch wir, wenn wir uns entblößen! Frauen, und das möchte ich mit meinen Bildern sagen, verlieren ihre Schönheit und Anziehungskraft nie – zumindest nicht mit dem Alter, höchstens, wenn sie sich selbst aufgeben.
Wir sollten uns mit uns selbst anfreunden und durch die eigene Haut, in der wir stecken, gesegnet fühlen. Sich selbst lieben zu lernen mag wie eine utopische Reise klingen, aber nicht selten findet auf diesem Weg ein Wunder voller Magie statt, wenn der Auslöser klickt. Diese Sekunden und diesen Moment festzuhalten, das war das Ziel meiner erotischen Bilder kurz vor der Rente. Forever young beginnt im Herzen! Nacktheit ist auch nur ein Kostüm. Wir alle werden nackt geboren – der Rest ist immer Travestie!