Читать книгу Zwischen Hoffnung und Heilung - Dunja Rotkvic - Страница 5
Erste Jahre
ОглавлениеIch bin in einem Raum, umringt von lauter Leuten. Musik schallt durch die Lautsprecher und gibt den Beat vor, nach dem wir uns bewegen. Die Stimmung ist fröhlich, ausgelassen. Die, die die Bewegung lieben, tanzen, die anderen schauen zu, feuern an, lassen sich, wenn nicht mit ihrem Körper, so doch mit den Augen ein auf die Musik, die den Raum füllt. Als einer auf die Idee kommt, folkloristischen Pop aufzulegen, moderne Interpretationen alter Folkloreklänge, lächelt mein Tanzpartner mir zu. Sie sind uns beiden bekannt, diese Klänge, unsere Familien stammen aus dem gleichen südslawischen Raum. Ich habe schon als Kind zu ihnen getanzt und die Erinnerung kommt von alleine. Die Beine wissen, was zu tun ist, die Hüfte bewegt sich leicht im wiegenden Schritt, der Oberkörper bleibt steif, in einer geschmeidigen Linie zum Partner geneigt, so wie es sein soll. Schon damals habe ich die lebhaften, gleichförmigen Klänge geliebt, zu denen man schnellen, wippenden Schrittes tanzt, gemeinsam im „kolo“, im Kreis, der sich wie von selbst auflöst und zur Linie wird, die sich in lauter Einzelpaare zerstreut, um sich wieder kunstvoll zu vereinen. Jetzt jedoch sind wir wenige, die sich unmittelbar eingefunden haben in diese Musik. Die anderen umkreisen uns. Sie werden zu unseren Einheizern, verfolgen uns mit ihren Blicken, aus denen die Zustimmung spricht, die Aufmunterung, das angeregte Interesse. Mein Tanzpartner umschließt fester meine Taille. Er ist ein gut aussehender, charmanter Mann, der Beau unserer Gruppe, und heute Abend hat er sich mich als seine Partnerin ausgewählt und ich bin stolz. Wir wiegen uns langsam im Rhythmus der Klänge, die Körper bewegen sich fast von alleine.
Ich genieße den Augenblick, möchte weiter machen, immer weiter, doch nach einiger Zeit verlieren meine Beine an Kraft. Trägheit erfasst plötzlich ihre Bewegungen, subtile Schwere zieht die Glieder nach unten. Ich fühle Müdigkeit in mir hochsteigen. Auch mein Tanzpartner bemerkt sie, die kurze Verzögerung meiner Schritte. Nur immer weiter, weiter. Das Publikum feuert uns an. Der aufmunternde Blick meines Partners gibt mir für einige Zeit wieder Kraft. Irgendwann aber geht es nicht mehr. Es ist noch gar nicht sehr spät, wir haben doch erst vor Kurzem angefangen zu tanzen, aber meine Beine fühlen sich an, als ob sie unausweichlich vom Boden angezogen würden, wie von einem unsichtbaren, für die anderen nicht spürbaren Magneten, der sich hier im Untergrund versteckt hält. Ich jedoch kenne ihn. Ich kenne die Müdigkeit, die Trägheit, die über die Beine den gesamten Körper, irgendwann, einnehmen wird. Wie ein Echo aus der Vergangenheit ist sie plötzlich wieder da. Und ich weiß, ich muss aufhören, bis sie den gesamten Körper erfasst. Denn auch wenn die rasche Ermüdung der Beine noch so unnatürlich erscheint und mir einfach nur unfair, denn sie macht mich wütend, in meinem Inneren ruft es, tanzt weiter, lasst mich nicht im Stich, so weiß ich doch, dass ich abbrechen muss, wenn ich am nächsten Tag einigermaßen munter sein will. Und so höre ich auf, lasse einen enttäuschten Mann stehen, ein Publikum, das gerade erst angefangen hat warm zu werden, und muss gehen, verschwinde von dieser fröhlichen Betriebsfeier, viel zu früh.
Am nächsten Morgen wache ich mit dumpfem Kopf und müden Gliedern auf. Der Abend, so fröhlich er war, hat mich angestrengt. Mein ganzer Körper fühlt sich an, als ob eine große Kraftanstrengung ihn ausgelaugt hätte. Auch der Schlaf hat es nicht geschafft, ihn wieder aufzubauen. Daher lasse ich die Morgenstunden gemütlich angehen, Kräfte schonend. Kurz nach dem Mittagessen gehe ich ins Fitnessstudio. Nicht an die Geräte, für die ich nicht bezahle, weil sie mir zu anstrengend wären. Im Keller des Studios befindet sich ein kleines Schwimmbecken. Kaum kann man sich darin bewegen, wenn ein paar mehr Leute zugegen sind. Aber in den Stunden, in denen ich komme, ist es oft leer. Oder wir sind zu zweit und schwimmen die lächerlich kurzen Bahnen entlang, einander störend, weil das Becken nicht mehr hergibt. Heute achte ich darauf, dass es nicht zu lange wird, was es eigentlich nie wird. Heute möchte ich nur ein bisschen die Glieder erfrischen, die Müdigkeit vertreiben – das ging damals noch, irgendwann aber sollte der Zeitpunkt kommen, an dem auch das nicht mehr gehen würde, an dem mich jede Bewegung unendlich müde machen würde, auch die wohlgemeinte.
Es war eine seltsame Zeit. Mir war es lange gut gegangen. Ich hatte vieles mitmachen können. Ich hatte einen normalen Alltag: Studium, Halbtagsjob am Telefon, gut bezahlt, aber auch stressig. Wir waren chronisch unterbesetzt in dieser Zeit der ersten Wirtschaftsflaute, nachdem es Deutschland lange Jahre gut gegangen war. Es gab kaum Studentenjobs und ich war froh gewesen, diesen ergattert zu haben. Ich hatte mich gegen einige hundert Mitbewerber durchsetzen können. Wir absolvierten zuerst eine dreimonatige Schulungszeit, die gesellig und lehrreich war. Ich hatte mich wohl gefühlt in diesem kleinen Kreis unserer Neulingsgruppe und mochte die täglichen Lerninhalte. Doch irgendwann war die schöne und intime Zeit vorbei und wir wurden hinausgeschmissen, mitten in dieses Großraumbüro mit seinem Lärm, seinem Trubel und seiner Unruhe. Jetzt hatten wir nicht mehr freundliche und engagierte Schulungsleiter über uns, sondern misstrauische und bissige Teamleiter, mit barschem Umgangston und überzogenen Ansprüchen. Schnell merkte ich, dass diese Arbeit eine Herausforderung für meine Nerven sein würde. Sie erforderte permanente Aufmerksamkeit, viel Telefon, fast keine Pausen, manchmal über Stunden. Aber die gute Bezahlung lockte mich und die desolate wirtschaftliche Lage saß uns allen in den Knochen. Auch die schon investierte Zeit in die Schulung, wegen der das Semester mal wieder gelitten hatte, wollte ich nicht einfach so nutzlos werden lassen. Also blieb ich.
Meine Nerven hielten erstaunlich lange durch. Manchmal wundere ich mich noch heute darüber. Erst nach mehr als einem Jahr sollte mein Körper einknicken. Meine rechte Hand, die Schreibhand, weigerte sich weiter mitzumachen. Sie wollte nicht mehr. Nicht mehr so wie ich es wollte bzw. wie ich musste. Als ob sie von meinem inneren Widerstand gegen diese perspektivlose Arbeit geahnt hätte. Oder von meiner unterschwelligen Wut gegen die Sklaventreiber-Methoden, die sie bei uns anwenden konnten, weil wir jung waren und arbeiten wollten und weil die wirtschaftliche Lage sie in eine begünstigte Position gebracht hatte. Jetzt half mir mein eigener Arbeitswillen auch nicht mehr, denn meine rechte Hand streikte. Sie entzog sich meiner Kontrolle und wurde schwer und lahm. In mir staute sich Enttäuschung gegen diese Blockadehaltung auf. Oh nein, dachte ich. Bitte nicht. Nicht schon wieder der Ausfall eines so grundlegenden motorischen Vermögens, der doch niemals hätte sein dürfen. Hatte sie den nicht mitzumachen, diese meine Hand, so wie immer, so wie es ganz natürlich war? Unterlag sie nicht der Kontrolle meines Willens? Aber sie tanzte aus der Reihe. Ihre Bewegungen hackten. Sie hatten alle unmittelbare Leichtigkeit und fließende Selbstverständlichkeit verloren und waren plötzlich unendlich mühevoll auszuführen. Jedes Mal eine kleine Kraftanstrengung, die meine ganze Konzentration erforderte. Und je mehr ich diese Hand triezte, je mehr ich von ihr abverlangte sich meinem Willen unterzuordnen, desto stärker weigerte sie sich. Sie wurde immer schwerer, immer müder, unbeweglicher. Ich ärgerte mich über diese plötzliche körperliche Blockade, die sich so gleichgültig gegenüber meinem eigenen Willen vollzog, und ich war gleichzeitig furchtbar enttäuscht, weil ich mir eingestehen musste, dass sie wieder zugeschlagen hatte, nachdem sie eine ganze Zeit lang ruhig geblieben und in den Hintergrund getreten war. Ich hatte sie eigentlich schon abgeschrieben.
Das war wirklich schlimm, die Erkenntnis, dass sie immer noch da war, diese unheimliche Krankheit, die aus dem Hinterhalt zuschlug, unberechenbar, und mir mit einer schmerzlichen Selbstverständlichkeit die Kontrolle über meinen Körper nahm, einfach so. Von einer auf die andere Sekunde. Hierin lag ihr ganzer Schrecken. Zack, und jetzt kannst du halt deine Hand nicht mehr bewegen. Eben war doch noch alles in Ordnung gewesen. Ja eben, aber jetzt nicht mehr. Am Anfang zeigte sich das Symptom noch leicht, nur der Anflug einer kleinen Bewegungshemmung. Ich übersah sie geflissentlich. Weil ich die Hoffnung hatte, dass eigentlich gar nichts sei. Eine leichte Muskelschwäche vielleicht oder gar einfach nur eine psychosomatisch hervorgerufene Irritation? Unterlag meine Hand doch meinem Willen. War dem nicht so? Der Kopf schickt einen Befehl an den Körper. So schnell und präzise, dass wir davon gar nichts merken. Und schon hebt sich die Hand. Sie winkt. Wollten wir wirklich winken? Die Hand ist schlauer als wir. Sie kennt die Konventionen des Alltags genau. Die haben sich tief eingegraben in die Nervennetzwerke unseres Gehirns. Hier werden Millionen von Stromschlägen geschaltet. Unendlich viele Informationen, die mit Lichtgeschwindigkeit die Nervenbahnen passieren, um dieses wundervolle Kraftwerk Körper aufrechtzuerhalten. Damit seine Millionen lebenswichtigen Funktionen, die ganz ohne unser Bewusstsein, leise und heimlich, wie von selbst im Hintergrund ablaufen, damit dieses Ich als Mensch existieren kann, sich bewegen, lachen, denken, traurig sein. Und dann ärgern wir uns über diesen Körper, wenn er einmal nicht so funktioniert, wie wir es gewohnt sind. Wenn eine seiner zigtausend Funktionen aus dem Takt gerät. Als ob wir ein Recht hätten auf seine unermüdlich ergebene und dabei völlig stimmlose Mitarbeit. Wir sind davon überzeugt, ein Recht auf diese zu haben, und bedenken dabei nicht, dass es gar nicht um Mitarbeit geht, sondern vielmehr um existentielle Vorraussetzung menschlichen Daseins, um Körper als Basis des Lebens, weil wir ohne ihn gar nichts vermögen, so abhängig sind wir von ihm.
Das wird einem in einem solchen Moment der körperlichen Blockade erschreckend deutlich bewusst. Jedes Mal wieder ist es ein heftiger Schock, diese Gefühle der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins an den eigenen Körper zu erleben, die eine plötzlich auftretende körperliche Behinderung zwangsläufig in einem hinterlässt. Meine Hand also machte nicht mehr mit und mich frustrierte das unendlich, hatte ich doch eine Arbeit hier zu verrichten. Ich saß vor dem Computer und versuchte mit der plötzlichen Schwäche der Hand irgendwie klarzukommen. Durch das Telefon prasselten die Informationen auf mich ein. Viel zu schnell, als dass ich sie mit dieser Hand hätte gewissenhaft eintippen können. Dann war das Telefonat auch schon vorbei, aber ich hatte noch lange keine Ruhe. Ich musste meine ganze Konzentration auf diese blockierte und überforderte Hand richten, dass sie mir half, die fehlenden Informationen noch nachzutragen. Da war der neue Anrufer schon in der Leitung und überschlug sich mit seinen Forderungen. Panne. Es regnet in Strömen. Bitte um Hilfe. Wer hilft mir? Ja, wer denn? Nur ich selbst hätte es in diesem Moment vermocht. Aber ich entschied mich, die Blockadehaltung meiner Hand mit Gewalt zu überwinden. Meine ganze Konzentration musste ich gegen ihre Bewegungsträgheit ausrichten, dass sie mir doch langsam, in ihrem abgehackten und schwerfälligen Tempo entgegenkam und meinen Willen ausführte. Ihre Bewegungen aber blieben trotz unglaublicher Kraftanstrengung unsauber, gehemmt, träge. Und sie kosteten mich so unendlich viel Energie. In mir wuchs die Anspannung. Die Verkrampfung meiner Hand stand mir auch ins Gesicht geschrieben. Ein Schwall von Stresshormonen durchflutete meinen Körper, machte mich fahrig, nervös, erschöpfte mich noch mehr.
Natürlich hatte ich Angst. Vor allem war ich furchtbar enttäuscht. Ich wollte gar nicht daran denken, dass sie wieder da war, diese Krankheit. Und ich dachte, ich sei sie losgeworden. Mein Magen fühlte sich flau an, als wolle er in sich zusammensacken. All meine Enttäuschung und der Schrecken rumorten in ihm. In meinem Kopf flogen die Gedanken durcheinander, gleichzeitig war er so leer. Ich war doch voller Hoffnung gewesen, dass mit mir alles normal sei. Dass ich das gleiche Leben führen konnte wie all die anderen jungen Leute um mich herum, auf Partys gehen, studieren, arbeiten, Geld verdienen. Das gehörte doch alles dazu. Und jetzt verweigerte mir mein Körper wieder die Mitarbeit. Hatte ich diese Krankheit nicht einigermaßen erfolgreich aus meinem Leben gedrängt? Hatte von all diesen Dingen, die plötzlich in meinem Nervengewebe vor sich gingen, eigentlich nichts wissen wollen. Hatte mir Ruhe gegönnt, soweit sie nötig war, mich um regelmäßige Essens- und Schlafenszeiten gekümmert, war gemütlicher geworden und vorsichtiger. Mir schien es so gewesen, als ob ich mein Leben gut im Griff gehabt hatte. Die Krankheit jedenfalls hatte eine ganze Zeit keine Macht über mich gehabt. Aber die Angst war ja doch da gewesen, dass alles wieder hoch kommen könnte. Wie ein Damoklesschwert hatte sie über meinem Kopf gehangen und mir die Unbeschwertheit, die Selbstverständlichkeit meines Lebens genommen. Wenn die anderen lachten, so hatte ich mitgelacht. Ein ausdrückliches Lachen war es gewesen, laut und herausfordernd, im Grunde genommen voller Furcht, es einmal endgültig zu verlieren. Denn wenn man genau hinhörte, hätte man heimliche Nervosität heraushören können. Man hätte erspüren können, dass etwas auf diesem meinem Lachen lag, das es niederdrückte. War sie doch immer da gewesen, die Angst vor dem Unwirklichen, vor dem Unfassbaren, dass da so plötzlich in mein Leben getreten war und es für die Zukunft bestimmen sollte, ohne Möglichkeit, zu entkommen. Da war etwas Endgültiges an dieser Krankheit, das ich so in meinen jungen Jahren noch nicht kennengelernt hatte. Ich hatte es nicht glauben können. Mit manch anderer Diagnose wäre ich wohl leichter zurechtgekommen, aber diese Krankheit, die in vielen Fällen früher oder später im Rollstuhl endet. Das wusste man doch. Die einem schleichend, aber fast sicher langsam alle motorischen Fähigkeiten nehmen würde, bis man nur noch ein unbewegliches Wrack war.
Das durfte nicht war sein! Alle hatten sie sich geirrt. Ich würde es ihnen schon zeigen, hatte ich gedacht und mein Leben wieder in ruhigere Bahnen gelenkt, hatte das Rauchen aufgegeben und auch die mich ernährende Unsitte von Brot mit Käse, Brot mit Wurst. Die Krankheit hatte gut darauf angesprochen und sich wie ein unterlegener Feind zurückgezogen. Aber jetzt war sie wieder da. Diesmal hatte sie kein lautes Tamtam eingeleitet, keine große innere Unruhe und Zerrissenheit, wie damals, als ich geahnt hatte, wieso er plötzlich eingeknickt war, mein Körper. Jetzt gab es nur den Stress auf Arbeit. Und gerade das erschien mir so unfair, als ob es mein Leben auf ungebührliche Weise einschränkte. Jeder hatte doch Stress, war immer wieder größeren Belastungen ausgesetzt. Man biss halt die Zähne zusammen und machte weiter. So lange, bis sich der Druck wieder legte und ruhigere Zeiten kamen. Mein Körper aber reagierte plötzlich mit dieser gefährlichen Krankheit auf Überforderung. Das war ein teurer Preis, Nervenzellen zu verlieren für ein bisschen Aktionismus, aber damals war mir noch nicht bewusst gewesen, wohin das Ganze führen konnte. Nicht, weil ich nicht auch davon gelesen hätte, von arbeitsunfähigen, schwerstbehinderten Menschen, im Extremfall vom langsamen Siechtum in den Tod hinein. Aber ich hatte das alles nicht wirklich an mich heranlassen können. Es erschreckte mich zu sehr. Und ich hatte dieses Leben, in dem ich stand. Ich hatte Verpflichtungen, das Studium, das abgeschlossen werden wollte, die Wohnung, die zu finanzieren war, und ganz generell die ganzen Lebenserhaltungskosten, die da tagtäglich auf einen zukamen. Wie sollte ich das alles meistern mit einer solchen Krankheit im Rücken? Ich hatte gekämpft für diesen so anständig bezahlten Job. Hatte gute Aussichten, hier eine gesicherte Arbeitsstelle zu erhalten. Ich war doch eine junge Frau mit Hoffnungen und Plänen. Und dann streikte mein Körper einmal wieder, nachdem er sich längere Zeit - eine schöne, hoffnungsvolle, Mut machende Zeit - ruhig verhalten hatte. War das gerecht? Nein, das war es nicht. Aber es war Realität. Ich versuchte sie dennoch zu umgehen. Doch die plötzliche Schwäche der Hand kam immer deutlicher zum Vorschein. Ich spürte die Blockade bei jeder kleinsten Bewegung. Sie ließ sich nicht mehr abtun, schon gar nicht leugnen. Die Belastung auf Arbeit nahm enorm zu. Meine Hand schrie nach Ruhe. Jede einzelne ihrer Nervenfasern sehnte sich nach Bewegungs- und Spannungslosigkeit.
Diese Behinderung meiner Hand war mir, wenn ich ehrlich war, nicht neu, sie war vor einigen Jahren schon einmal aufgetreten, damals, als ich von einer auf die andere Sekunde Probleme hatte, die Vorlesung des Professors mitzuschreiben, weil mir die Stiftführung plötzlich schwer fiel und meine Hand so fürchterlich stockte, dass sie nur noch eine unleserliche Krakelschrift aufs Papier brachte. Meine Banknachbarin hatte - ich erinnere mich genau - erschrocken auf das Blatt Papier unter meiner Hand gestarrt, auf diese völlig scheppen Buchstaben einer Schreiblegasthenikerin, und ich hatte angefangen zu schwitzen. Jetzt war sie wieder da, die Bewegungsblockade, lange hatte sie sich nicht mehr gemeldet. Oder war es nur ein ähnliches Symptom? Als Zwillingsbruder getarnt, der doch nichts mit der früheren Symptomatik zu tun hatte? Jedenfalls wurde es innerhalb von Tagen stärker. Die Hand entzog sich immer mehr meiner Kontrolle und ich musste nach einiger Zeit einsehen, dass es nur noch schaden würde weiterzumachen. Jetzt saß ich bei meinen Eltern zuhause. Ich war hierher geflüchtet, wie jedes Kind bei Enttäuschung nach Hause flüchtet und Trost sucht. Ich weinte vor meiner Mutter, die mich traurig ansah und versuchte mir wieder Hoffnung zu machen. – Es wird schon wieder. Du wirst sehen. Auch die anderen Symptome haben sich ja wieder zurückgebildet. Dann fuhren sie in den lange geplanten Urlaub und ließen mich alleine zurück. Vorher aber hatte ich mir für die Nächte von meinem Vater abends ein Leinentuch, in das ich klein gehackte, frische Zwiebeln gewickelt hatte, auf den Rücken binden lassen. Dort, wo ich das Gefühl hatte, dass die Entzündung saß. Dieses seltsam anmutende Vorgehen hatte ich dem Tipp einer türkischen Freundin zu verdanken, der mir schon einmal gute Dienste geleistet hatte. Zwiebel hilft bei Entzündungen, hatte sie mich in das Haus- und Heilwissen ihrer Mutter Einblick nehmen lassen und ich hatte es einfach ausprobiert. Zu verlieren gab es nichts. Ich war damals wirklich erstaunt gewesen von der Wirksamkeit dieser einfachen Methode und hatte sie ein paar Nächte, die Wirbelsäule entlang, angewendet. Nur der stechende Geruch, der noch Tage danach an meiner Haut und in der Matratze hing, war eine wirklich unangenehme Begleiterscheinung.
Die Zwiebel wird nicht nur als Küchenkraut verwendet, sondern kann auch als Heilpflanze eingesetzt werden, besitzt sie doch viele wertvolle Inhaltsstoffe wie das Allicin, eine antibiotisch wirksame, schwefelhaltige Verbindung. Daher lässt sich Zwiebel bei jeder Art von äußeren, aber auch inneren Entzündungsvorgängen anwenden. Für die äußere Anwendung wird ein Zwiebelwickel empfohlen, bei dem Zwiebelscheiben oder auch Zwiebelbrei auf ein Tuch gegeben werden, das um die betroffene Körperstelle gebunden wird, so dass der Zwiebelsaft für einige Zeit, am Besten über Nacht, durch die Haut einwirken kann. Zwiebelwickel helfen z. B. bei Abszessen, verschleimten Bronchien, Gichtanfällen der Hände und Füße, wieso dann nicht auch bei Entzündungen des Rückenmarks, dachte ich mir. Ist die Zwiebel frisch, wird gründlich klein gehackt und als feuchter Wickel auf den betroffenen Teil der Wirbelsäule gebunden, habe ich die besten Erfahrungen bei akuten Schüben oder noch nicht ganz so alten Herden gemacht. Man sollte sich aber unbedingt einige Tage der Ruhe und Regeneration gönnen, um den Heilprozess, der hierdurch im Körper angestoßen wird, nicht zu unterlaufen. Und man sollte generell eher unempfindlich gegen den stechenden Zwiebelgeruch sein, der sich schnell an Körper und Matratze bindet.
Siehe generell zur Zwiebel:
http://lexikon.huettenhilfe.de/gewuerze/zwiebel/zwiebel-biochemisches-und-heilkunde.html (15.10.2012)
Peter Pukownik: „Kleine Hausapotheke Gottes“, 1999, S.121ff.
Ulrich Ravens: „Die geheime Kraft der Zwiebel. Verblüffend einfache Rezepte für Gesundheit und Wohlbefinden“, 1997.
Damals waren meine Empfindungsstörungen in den Beinen, die kleine, kaum sichtbare Gangstörung und die Schreibblockade meiner Hand innerhalb von einigen Wochen immer mehr verblasst und ließen sich drei Jahre später tatsächlich nicht mehr nachweisen als Schäden im Nervengewebe des Rückenmarks. Was für eine Wirkung hatte man mit diesem kleinen, unscheinbaren Hausmittel doch erreichen können! Ich war voller Hoffnung gewesen. Vor allem hatte mich diese Erfahrung in meinem Glauben an die Alternativmedizin gestärkt.
Mein Verhältnis zu den Ärzten war schon immer ein zwiespältiges gewesen, schon von Anfang an. Ich mochte die Distanz nicht, mit der sie uns Patienten begegneten, ihren hilflosen Lakonismus, wenn sie ihre Unsicherheit vor der Wahrheit einer so unberechenbaren und zerstörerischen Krankheit zu verbergen suchten, und ich mochte ihre Selbstgefälligkeit nicht, mit der sie herumwedelten, dass nur ja jeder mitbekam, dass sie die einzige Instanz waren, die sich jetzt noch eine Einschätzung erlauben durfte. Ab jetzt, dem Eintritt der Krankheit in mein Leben, würden sie das Ruder übernehmen, ob ich wollte oder nicht, eine schreckliche Vorstellung für mich, die ich die letzten Jahre den Doktor gemieden hatte wie die Katze das Weihwasser. In Wahrheit traute ich ihnen nicht. Ich hatte tagelang im Krankenhaus gelegen, hatte lauter Untersuchungen, Nadelstiche und Tabletten über mich ergehen lassen, ohne dass ich im Geringsten darüber aufgeklärt worden war, was hier gerade geschah. Von einem auf den anderen Tag mitten in dieses Krankenhausgetümmel geworfen, war ich doch völlig alleine mit meiner Angst vor dieser plötzlichen Entwicklung, vor den Vorgängen in meinem Körper und mit der Vorausahnung, dass es etwas Schlimmes sein könnte, etwas Unerhörtes, das doch so nicht sein durfte. – Ich an ihrer Stelle würde ins Krankenhaus fahren, hatte mir der nette Bereitschaftsarzt der medizinischen Notfallstelle geraten. Ich war gerade ganz aufgelöst nach Hause gekommen, nachdem man mir die MRT-Bilder meines Rückenmarks in die Hand gedrückt hatte. (Magnet-Resonanz-Tomographie, ein radiologisches Bildgebungsverfahren, das mit Magnetfeldern arbeitet.)Auf mein vorsichtiges Fragen hin war ich von dem behandelnden Radiologen nur angefahren worden. - Was wollen Sie denn von mir wissen? Extra für Sie werden die Kollegen am Wochenende Überstunden machen, dass Ihre Ärztin so schnell wie möglich den Arztbericht in Händen hält! Extra für mich sollten Wochenendschichten geschoben werden? Das musste etwas Schlimmes sein! Ich hatte mich damals wegen eines Taubheitsgefühls im linken Bein, das zuerst nur ganz punktuell im Bereich des hinteren Oberschenkels zu spüren gewesen war, an diese Ärztin gewandt.
Dabei hatte ich eine wahre Odyssee zurücklegen müssen, um zu dem Termin zu kommen. - Zu viel zu tun. Sie müssen warten. Ein paar Monate. Ein halbes Jahr. Das war die Antwort der meisten neurologischen Praxen gewesen. Ich war irritiert, wieso bemühte ich mich eigentlich um einen Termin? Wegen dieser leichten Empfindungsstörung!? Wahrscheinlich hatte sich nur ein Nerv eingeklemmt. Ich hatte damals viel Stress gehabt. Hatte in einem schmucken, gutbürgerlichen Restaurant meine festen Arbeitsschichten absolviert. War viel gerannt, hatte lächeln müssen, freundlich und dabei immer in Bewegung. Gerade hatte ich mich entschlossen, mein Studium der Volkswirtschaftslehre an den Nagel zu hängen, weil mir sein Sinn abhanden gekommen war. Mich langweilten das ganze Auswendiglernen und die leere, stumpfe Wissensabfrage, aber im Grunde genommen hielt ich dem Druck nicht mehr stand. Das lange nächtliche Arbeiten und morgens früh die wichtigen Vorlesungen. Ich war seit einiger Zeit so unerklärlich müde gewesen, so wenig belastbar und konzentrationsschwach. Dann die Statistikstunden. Dieser weltentrückte, bizarre Professor, der hinter seinem Pult Kapriolen schlug mit Zahlen und Ableitungen von Zahlen, die sich im unendlichen Raum mathematischer Relativitäten verloren. Ich saß mit nur wenigen anderen in seiner Veranstaltung. Die meisten hatten ihn wohlweislich gemieden. Aber für mich war dieser Schein in diesem Semester wichtig gewesen. Ich hatte mir viel vorgenommen und kapitulierte am Ende vor meiner eigenen Abgeschlagenheit. Woher kam diese ungewohnte Müdigkeit, die mich am frühesten Abend schon einlullte und mir die Konzentration raubte für mein Studium? Jetzt hing ich also in der Luft, arbeitete viel, lief viel, machte mich zum Bückling derer, die dem Genuss von guter Speise und Bedienstetenschikane frönten, wollte eigentlich ganz woanders sein und musste doch Geld verdienen.
Und dann kam diese Empfindungsstörung, die sich in Höhe des Gesäßknochens manifestierte, erst erbsengroß, dann irgendwann wie ein langes Band bis in den Unterschenkel hineinreichend. Ich hatte sie einige Wochen beflissentlich ignoriert. Bis ich dann irgendwann doch Sorge empfand und mich um ärztliche Begutachtung bemühte. Dann plötzlich ging alles ganz schnell, nachdem ich die Bilder in Händen hielt. Drei Tage später lag ich schon mit Nachtkittel im Krankenhaus. Man führte hier alle Untersuchungen, die man für nötig befand, durch und ließ mich dennoch im Unklaren. Ich war hilflos, ich war gereizt, ich hatte Angst. Neben mir lag eine Parkinsonpatientin, der sie die Gebärmutter entfernt hatten. Jetzt hatte sie das Gefühl, dass in ihrem Bauchraum die Würmer hausten. Wenn sie die Klingel drückte, was sie ungern tat, wurde sie von den Schwestern erst einmal ausgeschimpft. Irgendwann verlor ich dann selbst die Nerven. Man hatte mich tausendfach gepiekst. Hatte mir Nadeln in den Körper gesteckt und sie einfach drinnen gelassen, provisorischer Weise. Ich hasse diese Nadeln bis heute, nachdem mir als Kind eine resolute Krankenschwester ganz scheinheilig zur Begrüßung die Hand entgegengestreckt hatte. Kaum hatte ich sie ergriffen, wurde mir meine schon umgedreht und eine dicke Nadel steckte mitten in meinem Handgelenk. Ich war vielleicht neun und der Vertrauensmissbrauch schockierte mich so sehr, dass seitdem jede Blutabnahme für mich ein Martyrium ist. Der junge Assistenzarzt bemühte sich ehrlich um mich, aber ich hatte schon längst meine Nerven verloren. Er versuchte es immer wieder. Nur eine einfache Blutentnahme. Ich hatte derer aber in den letzten Tagen so viele gehabt, dass sich meine Armbeuge dagegen wehrte und sich krampfhaft zusammenzog. Entspannen Sie sich, sagte er. Meine Muskeln zogen sich nur fester zusammen. Er versuchte es auf der anderen Seite. Auch hier das gleiche Spiel. Er schaute verzweifelt und ich musste lachen. Langsam wurde er wütend. - Hören Sie auf, sagte er. Aber mich hatte der Lachkrampf erwischt, ich kam aus dem Lachen gar nicht mehr heraus, lachte ihn aus, seine Hilflosigkeit, meine eigene Hilflosigkeit. Tatsächlich unterlag mein Lachen der gleichen nervösen Anspannung wie meine Armbeuge.
Ich war am Ende. All die Ungewissheit, die Rumschieberei, das Ausgeliefertsein zerrten an meinen Nerven. Daher bat ich die Oberärztin mir zu sagen, was Sache sei. Sie schaute mich abwehrend an. Aber dann hat sie mich doch in diesen Raum geholt. Es ging alles ganz schnell. Plötzlich saß ich auf einer provisorischen Kiste, mitten zwischen offenen Lüftungsschächten, Kabeln, die überall herumlagen, sowie allen möglichen Kisten. Ich saß im Innersten dieses Krankenhauses, in das kein Patient jemals einen Blick werfen darf, weil es hier nicht mehr um Patientenbehandlung geht, sondern rein um die Selbsterhaltung des Gebäudes. Und nur hier in diesem Abstellraum schien es den schützenden Bereich für ein offenes Arzt-Patienten-Gespräch zu geben. - MS, sagte sie. - Sehr wahrscheinlich Multiple Sklerose. Ich schaute sie erschrocken an, aber eigentlich hatte ich so etwas schon fast erwartet. - Dreißig, dreißig, dreißig, sagte sie. So oft würde ich diese Zahlen nachher noch hören. Bei dreißig Prozent verläuft die Krankheit relativ moderat, sie bleiben beweglich. Dreißig Prozent müssen nach Jahren mit erheblichen bleibenden Einschränkungen rechnen. Und bei dreißig Prozent zeigt sich die Krankheit von Anfang an äußerst aggressiv. Ich beschloss sofort, dass ich zu den dreißig Prozent gehörte, bei denen die Krankheit sich nur verhalten melden würde. Am liebsten gar nicht mehr. Die Diagnose schockierte mich. Aber wenigstens hing ich nicht mehr in der Luft. Ich war der Ärztin wirklich dankbar für ihr unkonventionelles Entgegenkommen.
Etwas differenzierter betrachtet überwiegt zu Krankheitsbeginn der schubförmig-remittierende Krankheitsverlauf mit etwa 90%, d. h. hier bilden sich die ersten Symptome nach einer gewissen Zeit ganz oder zu einem guten Teil wieder zurück. 10-15% der Patienten unterliegen von Beginn an einem primär-chronisch progredienten Verlauf. Hier chronifizieren schon die Erstsymptome und der Gesundheitszustand verschlechtert sich fortlaufend. Nach anfänglich schubförmigem Verlauf gehen nach ca. 10-15 Jahren etwa 30-40% der Krankheitsfälle in einen sekundär chronisch progredienten Verlauf über. Das bedeutet, dass etwa 15 Jahre nach Krankheitsbeginn ca. 50% aller Erkrankten mit einer chronischen, fortschreitenden Verlaufsform rechnen müssen. (Siehe: Rudolf Manfred Schmidt; Frank Hoffmann (Hrsg.): „Multiple Sklerose“, 5. Auflage 2012, S.59-67.)
Sie hatten nicht nur eine Läsion im Rückenmark feststellen können. Zerstörte Myelinscheiden, die man als weißen Fleck inmitten des grauen Marks ausmachen konnte, welcher die typischen Zeichen einer akuten Entzündung aufwies. Die Empfindungsstörung meines Beines ließ sich also auf diese kleine Stelle in meinem Rückenmark zurückführen, die in Höhe der unteren Brustwirbel saß. Hier hatte sich das Myelin, die schützende Fettschicht um die Nervenfasern, die erst ihre Leitfähigkeit garantiert, entzündet und war jetzt nicht mehr in der Lage, die elektrischen Impulse in gewohnter Geschwindigkeit an die ausführenden Organe weiterzuleiten, ähnlich einem angeschmorten Elektrokabel. Aber damit nicht genug. Man machte mich darauf aufmerksam, dass es eine weitere vernarbte Stelle gab, diese in meinem Gehirn, im rechten Hirnlappen, ganz nahe am Balken gelegen. Sie wies keine Zeichen einer akuten Entzündung mehr auf und wurde daher als vernarbtes Gewebe, das eine frühere Entzündungstätigkeit hinterlassen hatte, bestimmt. Daher waren die Ärzte davon überzeugt, dass die Krankheit sich schon einmal manifestiert haben musste.
Bei der Multiplen Sklerose unterscheidet man vier verschiedene Herdformen, die sich durch das MRT-Bildgebungsverfahren als weiße oder schwarze Flecken von der grauen Gehirnmasse bzw. dem Rückenmark abgrenzen lassen. Ein akut entzündlicher, frischer Herd erscheint im MRT-Bild als aufgeblähter weißer Fleck mit unscharf begrenzter Oberfläche. Er reichert Kontrastmittel an, das dem Patienten kurz zuvor injiziert worden ist. Aus einem frischen Herd kann sich nach Wochen ein Schattenherd entwickeln, sichtbar als weißer Fleck, der sich von seiner Umgebung deutlicher abgrenzt. Der Zerstörungsprozess ist in einem solchen Fall ev. nicht ganz so heftig verlaufen, die verbliebenen Oligodentrozyten können noch in der Lage sein, zugrunde gegangenes Myelin notdürftig zu ersetzen. Symptome, die von solchen Herden ausgehen, haben die Chance, sich (teilweise) wieder zurückzubilden. Hiervon muss man die chronisch inaktiven Herde abgrenzen, die im TR1-gewichteten MRT-Bild als schwarze Flecken zu sehen sind, ein Zeichen dafür, dass an diesen Stellen irreversibler axonaler Schaden entstanden ist, der auf eine mehr oder weniger komplette Nervendegeneration hinweist. Außerdem gibt es noch die chronisch aktiven Herde, bei denen nicht der ganze Herd, sondern nur sein Rand ringförmig Kontrastmittel anreichert. Hier scheint der Entzündungsprozess chronisch fort zu schwellen. (Siehe: Wolfgang Weihe: Multiple Sklerose. Eine Einführung, 5. aktual. Aufl. 2010, S. 69ff.)
Wann war die erste Nervenentzündung eingetreten? Meine Eltern dachten sofort an meine Kindheit. Ich aber dachte an den Backpacker-Urlaub vor etwa einem Jahr, den ich ganz auf mich alleine gestellt begangen hatte. Ich hatte einmal raus gemusst aus der Enge der alltäglichen Verpflichtungen, aus dem Stress, der meine Tage damals prägte, zwischen Studium und Arbeit eingekesselt zu sein, immer auf Achse, immer am Rotieren. Aber am Schlimmsten war die Zerrissenheit gewesen, diese heftigen Kämpfe, die mein Seelenleben damals geplagt und mir die Luft genommen hatten zum Atmen. Emotionen, die sich im meinem Inneren wie zwei bis aufs Blut befeindete Rebellengruppen in einer Frontlinie aufgestellt hatten, und sich gegenseitig attackierten. Irgendetwas in mir war durch die ganzen Nerven zehrenden und schwierigen Erfahrungen der letzten Jahre aus dem Gleichgewicht geraten. Eine Kleinigkeit brachte das Fass dann zum Überlaufen. Mein direktes häusliches Umfeld hatte sich wieder einmal geändert und ich kam mit dieser Veränderung nur schlecht klar. Ich fühlte mich hilflos ausgeliefert, meiner eigenen Überspanntheit und Wut, dem Gefühl der Desintegration, der Distanz der Anderen. Und da brachen sie aus mir heraus, all die inneren Gegensätze, die Enttäuschungen, die Selbstanklagen, die unerfüllten Ansprüche, die sich die letzten Jahre in meinem Inneren angesammelt hatten. Und sie überschwemmten mich mit einer Heftigkeit, dass ich mich ihnen hilflos ausgesetzt sah. Mein Inneres glich in diesem Jahr einem Dampfkochtopf, dem immer wieder gefährliche Zischer entwichen. Aber sie reichten doch nicht aus, um mich von dem immensen Druck, unter dem mein Seelenleben stand, zu befreien. Jetzt rächten sich die Verschlossenheit und das Einzelgängertum, die meinem Charakter so zutiefst zu eigen sind, auch wenn ich gerne rede und das manchmal sehr viel, aber wenn es um mich persönlich, um meine innersten Empfindungen geht, werde ich wortkarg, gerne auch allgemein, ja, ich muss mich manchmal noch heute daran erinnern, die anderen wirklich teilhaben zu lassen an meinem Leben. Willst du, dass sie wieder das Kommando übernehmen, deine zurückgehaltenen Emotionen, die zu inneren Monstern werden können und ein Eigenleben entwickeln, hat man sie nur lange genug aufgetürmt? Ich konnte die lautesten Reden schwingen, wenn es um allgemeine Sachverhalte ging, politische Entwicklungen zum Beispiel oder intellektuelle Erkenntnisse. Zu allem hatte ich eine Meinung und die Gelegenheit, diese darzustellen, nahm ich immer wieder gerne war. Aber das, was mich wirklich persönlich betraf, was mich in meinem Innersten berührte und mich heimlich quälte, dem ich ratlos und empfindlich ausgeliefert war, dem stand ich so unglaublich sprachlos gegenüber. Keiner redet gerne und schon gar nicht offen über seine Emotionen. Aber die andern sind doch anders. Ich beobachte sie und bin überrascht von der Selbstverständlichkeit, mit der sie auch persönlichste Regungen ansprechen, manchmal ganz offen, wenn der geeignete Rahmen dafür vorhanden ist - bei manchen muss er es gar nicht sein, sie drängen einem ungefragt ihren ganzen inneren Müll auf - beiläufig und doch die Reaktion des Gegenübers genau taxierend. Meine natürliche Reaktion auf wirklich persönliche Angelegenheiten ist die Abschottung nach Außen, ja, es kommt mir manchmal fast exhibitionistisch vor, würde ich sie in solchen Momenten heraus kehren. - Du warst damals ganz schön unruhig, sagte mir neulich eine alte Weggefährtin und es klang sehr milde in meinen Ohren, war die innere Unruhe doch noch um einiges größer gewesen als die äußere.
Ich hatte also für einige Zeit meinen inneren Kompass verloren und schnappte nach Luft. Aber dieser Zerrissenheit meines Seelenlebens konnte ich nicht so einfach entkommen. Manchmal denke ich, dass die Krankheit einfach eine gewaltige innere Implosion war – zzabamm, und dann der Feuerbrand in meinem Kopf, anstatt ihn im Außen entfachen zu können. Aber wer weiß das denn schon, wieso diese explosive Krankheit gerade damals, in dieser so unruhigen Zeit, aufgekommen ist. Letztendlich bleibt doch alles nur Theorie, der Versuch einen Vorgang, der komplett außerhalb der bewussten Kontrolle im Innersten des Körpers abläuft und sich sowohl der unmittelbaren persönlichen Teilhabe als auch der wissenschaftlichen Durchleuchtung standhaft entzieht, sich wenigstens im Nachhinein durch Überlegungen, Reflexionen, Selbstbefragung für sich selbst irgendwie erklärlich zu machen, um nicht ganz so hilflos dazustehen.
In der TCM (Traditionelle Chinesische Medizin) zieht ein emotionales Ungleichgewicht immer die Schwächung des körperlichen Gleichgewichts nach sich. Krankheit, so die Theorie, entsteht, wenn Energie nicht mehr frei fließen kann. Negative Emotionen aber spielen bei der Entstehung von Energieblockaden eine große Rolle. Bei der TCM werden fünf Hauptemotionen unterschieden: Angst, Wut, Grübelei, Unruhe und Kummer. Wenn eine dieser Emotionen für längere Zeit Überhand nimmt, treten irgendwann spezifische körperliche Beschwerden auf. In gleicher Weise kann eine körperlich manifeste Krankheit über die Harmonisierung des emotionalen Ungleichgewichts positiv beeinflusst werden. Der erste Schritt ist immer die Akzeptanz der negativen Emotion, auf den die Bemühung um emotionalen Ausgleich folgen sollte. Ein hilfreiches Buch hierzu mit vielen praktischen Übungen, die auf chinesischer Medizin und buddhistischer Weisheit basieren, ist:
Ton van Gelder, Fiona de Vos: „Die fünf Elemente der Gesundheit. Heilung durch die Kraft der Emotionen“, 2010.
Aber auch die konventionelle Medizin kann ein grundlegendes Zusammenspiel von Psyche und Körper nicht länger von der Hand weisen. In seinem Buch Das Gedächtnis des Körpers beschreibt Joachim Bauer, Facharzt für psychosomatische Medizin, wie Stress, emotionales Ungleichgewicht und depressive Stimmung tief greifend negativ auf unser Immunsystem, auf Gehirnleistung, auf Herz- und Kreislaufsystem, ganz generell auf die Lebenserwartung des Menschen Einfluss nehmen, ja wie das emotionale Empfinden über Botenstoffe selbst die Aktivität genetischer Muster beeinflusst.
Joachim Bauer: „Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern“, 15. Aufl. 2009.
Ich hatte mich also entschlossen, mich aus meinem gewohnten Alltag heraus zu nehmen, um etwas Ruhe zu gewinnen für mein gequältes Innenleben. Aber ich war in diesen Jahren auch ein abenteuerlustiges, ein erlebnishungriges Mädchen. Die Möglichkeit, etwas zu unternehmen, das spannend war, mich gefangen nehmen würde und mich auf neue Gedanken brächte, nahm mich ein und so legte ich einiges Geld zurück. Ich hatte diese Idee von einem selbstbestimmten Rucksackurlaub, der mich die lange und sehenswerte Küste meines Heimatlandes Kroatien entlang bringen würde. Ich würde all die pittoresken Städtchen und maritimen Landschaften sehen, von denen ich bis jetzt nur einen kleinen, den nördlichsten Teil kannte. Mich hatte die Sehnsucht nach der Heimat meiner Eltern gepackt, die doch auch meine war. Ein Land, das mir in vielem unbekannt geblieben war, das ich bis jetzt eigentlich nur als Land meiner Tanten kennengelernt hatte. Das sollte jetzt anders werden. Ich wollte viel sehen, spontan reisen von einem zum anderen Ort, ungebunden und frei sein. Eine Zeit der äußeren Beweglichkeit und inneren Abgeschiedenheit würde es werden, in der ich hoffte, zum einen meiner Psyche das nötige Durchatmen zu ermöglichen und wieder in mein inneres Gleichgewicht zurückzufinden, zum anderen, dass sich meine Abenteuerlust und mein Erlebnishunger befriedigen ließen. Also fuhr ich los. Das Unbekannte, das Wagnis meines Unterfangens reizten mich. Ich hatte vor, wie ein heimlicher Gast die Orte flüchtig zu durchstreifen, die Farbenpracht der Sommertage und den so typischen Geruch nach Meer und Staub, den ich lange nicht mehr gerochen hatte, in mich aufzusaugen und mich nirgendwo und mit niemandem lange aufzuhalten.
Meine erste Station wurde Venedig, diese geheimnisvolle Stadt der Lagunen. Endlich dort angekommen, sah ich vor allem Menschen, viele tausende sonnenbebrillte und sommerlich behoste Menschen. Ich drückte mich mit der Masse durch die engen Gässchen und sah doch kaum etwas von der Stadt, so viele waren wir, die wir hier eingefallen waren an diesem Ort, wie eine Heuschreckenplage, die auf unheimliche Weise das Feld verdunkelt und ihm alle Farbenpracht nimmt. Dann saß ich in meinem Zimmer, als es an meiner Tür klopfte. Der Restaurantbesitzer, mein Vermieter, ein Herr reiferen Alters, stand vor mir, einen kleinen Eisbecher in seiner Hand haltend. – Signora, vuoilo? Darauf ließ er sich wie selbstverständlich auf meinem Bett nieder. Er folgte glücklicherweise dann doch meinem Wink und ließ sich vertreiben. Schnell weiter, weiter, Venedig war mir zu voll, die Italiener zu aufdringlich, ich hatte sowieso nicht vorgehabt lange zu verweilen. Also mit dem Bus nach Umag, einem kleinen Küstenstädtchen an der istrischen Westküste, der ersten Station in Kroatien. Dann die Erfahrung, dass alles viel komplizierter war, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich kam spätabends dort an, kein Touristbüro hatte mehr auf, aber ein hilfsbereiter Stadtbewohner brachte mich dankenswerterweise zu noch freien Appartements. Schnell merkte ich, Umag war langweilig, ein Urlaubsparadies für Familien mit vielen kleinen Hotelkomplexen, die sich aneinanderreihten, ihre kleinen Pools zur Show stellend, mit denen sie den Strand verbauten. Abends tönte geführte Animation aus den Lautsprechern. Am nächsten Morgen würde ich eine Fahrradtour unternehmen, das nahm ich mir fest vor. Ich hatte das Verleihgeschäft ganz zufällig entdeckt und entschied mich für ein massives Klappergestell. Professionellere Modelle hatte man nicht im Angebot, aber das machte nichts, ich war jung, naiv und gleichzeitig mit einem immensen Tatendrang gesegnet.
Ich hatte diese fixe Idee, möglichst viel von dem Land zu sehen, in dem ich mich befand und das doch das Land meiner Eltern war. Also fuhr ich los. Ich hatte es schon vielfach vom Fenster unseres Familienautos aus beobachten können. Hier, im sonnigen Istrien, waren viele Sportradler unterwegs, die sich an den Serpentinenstraßen übten, an uns vorbeiflitzten, voller Leichtigkeit und Eleganz, während wir uns langsam im alten, stickigen Familienauto die kurvigen Straßen entlang quälten. Jetzt saß ich auch auf einem Fahrrad und radelte über die Küstenstraße. Der Wind strich mir durchs Haar, die Sonne ließ das Meer in glänzendem Schimmer erstrahlen. Ich genoss den mir entgegenwehenden Meeresduft und die so typischen, vollen Farben eines strahlend hellen Sommertages. Immer weiter, weiter, die Straße entlang. Ich fuhr voller Elan, sah die kleinen Campingzelte, das geheimnisvolle Blau des Meeres, das strahlende Blau des wolkenlosen Himmels, fühlte den Körper in Aktion und war glücklich. Irgendwann dann begann mir die Mittagssonne auf Rücken und Kopf zu prallen, meine Wasserflasche war bald aufgebraucht. Ich blieb kurz stehen, atmete durch, saugte den Meeresduft ein und dann ging es weiter. Hin und wieder überholte mich ein Fahrzeug, ansonsten blieb die Straße leer. Die gleißenden Sonnenstrahlen ließen Luftlöcher entstehen, in denen sie sich leicht krümmte. Bald würde ich den nächsten Küstenort erreichen. Dann würde ich wieder trinken können und auch etwas zu Essen zu mir nehmen. Bis dahin hieß es weiterradeln. Hin und wieder säumten Häuser die Straße, aber das waren nur einzelne Dorfhäuser. Es gab nicht wirklich einen Ort zum Verweilen. Also radelte ich weiter. Ich muss vielleicht 15 Kilometer Luftlinie zurückgelegt haben - wer weiß, wie viele es tatsächlich waren, die Serpentinen machen die Strecke unnachvollziehbar - vorbei an dem Küstenstädtchen, dass ich gesucht, aber nicht gefunden hatte, weil es von der Straße abgelegen lag, war ich doch nur mit einer behelfsmäßigen Karte meine Reise angetreten. Inzwischen säumten immer mehr Autos meinen Weg. Sie brausten die enge Landstraße an mir vorbei, kamen aus den Kurven geschossen, streiften mich fast. Dann sah ich, dass die Straße eine gewisse Strecke offen über Meer führte. Sie kam mir von hier aus vor wie ein schmaler Steg. Ich sah und hörte den Wind, der über Meer und Meeresbrücke pfiff und wie wild an den Plastikplanen der Lastwagen riss, bekam weiche Knie, musste schlucken, überlegte mir, ob ich aufgeben sollte, umdrehen, wieder zurückfahren, machte mir Mut, hatte diesen Plan im Kopf, wollte endlich irgendwo ankommen, wo ich etwas trinken und essen konnte, war davon überzeugt, dass die Stadt, die ich suchte, bald erscheinen würde, riss mich zusammen und fuhr los.
Ich fahre auf offenem Meer, direkt unter mir das im Sonnenlicht gleißende Wasser. Doch ich schaue nicht zur Seite, kann diesen einmaligen Anblick nicht genießen, denn ich habe alle Hände voll zu tun mich gegen diesen pfeifenden Wind zu stemmen, der hier auf einmal so stark ist, dass er mich mitreißen könnte. Ich jedenfalls habe riesige Angst davor oder davor, dass er mich zwischen die Ränder eines dieser Fahrzeuge weht, die in so großem Tempo an mir vorbeibrausen. Ganz nah, denn auf diesem Überweg über Meer gibt es wenig Platz, wir müssen ihn uns teilen und sie sind die Stärkeren, das spüre ich mit jedem Donnern, dass an mir vorbeizieht. Mein Herz klopft mir in irrem Tempo bis zum Hals. Meine Knie zittern, sind weich vor lauter Angst und doch muss ich treten, immer weiter treten. Von hier gibt es kein schnelles Entkommen, es gibt nur den Wind, der an mir reißt, das tiefe Blau zu meiner Seite, die knatternden Motorgeräusche. In meinem Körper schießen die Stresshormone durcheinander, die körperliche Erschöpfung, die psychische Belastung, diese Angst. Und dann ist es vorbei. Ich bin wieder auf fester Straße. Um mich herum Landschaft, die jetzt hügeliger wird. Ich kann vom Straßenrand aus die Abhänge hinunterschauen, die sich auftun, kaum, dass man die Straße etwas übertritt. Die Autos brausen immer noch an mir vorbei. Und ich radle den Abgrund entlang, aber ich kann eigentlich nicht mehr. Längst schon hat mich tiefe Müdigkeit erfasst, die mich kaum mehr in die Pedale treten lässt. Da, im Wald ein kleiner Parkplatz, auf dem ich umdrehen werde, weil es nicht mehr geht, weil ich zurück fahren will, in diesem Moment, in dem die Erschöpfung so absolut präsent ist. Endlich ein ruhiges Plätzchen zum Durchatmen!
Kaum dass ich auf dem kleinen Waldparkplatz angekommen bin, fährt ein Auto neben mir auf. Ein junger Mann in Strandshorts, braungebrannt, blondes Haar, strahlendes Lächeln, spricht mich an, bittet um Hilfe. Ich hätte gerne meine Ruhe, aber bitte. Was soll ich machen? Den Schlauch da halten, am Motor. Er lässt die Motorhaube seines Wagens hoch. Ich halte und halte immer noch, komme mir blöd vor nach einiger Zeit mit diesem Stück Plastik zwischen meinen Fingern, das auch so an dieser Stelle wäre, auch wenn ich es nicht festhalten würde. Da lunze ich über die Haube, sehe ihn beschäftigt, sehe seine Finger am weißen Glied, absoluter Schrecken durchfährt mich. Meiner Kehle entrinnt ein Würgelaut des Eckels, der diesem Mann ein zufriedenes Lächeln einbringt. Dann drehe ich mich um, laufe zur anderen Ecke des kleinen Platzes, bringe mich in Sicherheit, soweit ich kann. Der Wagen wendet - Gott sei Dank! - er fährt davon. Ich stehe noch lange wie angewurzelt da und schreie, schreie, schreie mir die Erschütterung von der Seele, die Angst, die Erschöpfung, das vollkommene Entsetzen, den Durst. Ich will nur noch weg, nach Hause, in mein Bett. Dann setzte ich mich auf das alte Klapperrad und radle, so schnell wie ich kann, davon. Ich kann mich an den Rückweg kaum noch erinnern, alles geht so schnell. Selbst die offene Strecke über Meer nehme ich kaum mehr richtig war. Ich trete nur noch, trete weiter, müde und erschöpft, bis ich irgendwann bei Einbruch der Dämmerung endlich ankomme, hungrig, durstig, völlig ausgelaugt, körperlich wie seelisch. Das alte Klapperrad muss ich noch abgeben und dann lege ich mich ins Bett meines gemieteten Zimmers. Ich bin so müde, so unglaublich müde und werde es die nächsten Tage noch sein, die nächsten Wochen sogar, eigentlich die nächsten Monate, denn von jetzt an wird alles anders werden.
Multiple Sklerose, also doch. Man hatte mich ja darauf eingestellt. Ich war also in gewisser Weise vorbereitet gewesen. Aber erwartet habe ich es dann doch nicht. Die Tage an der Cortisoninfusion verbringe ich mit Kopfhörern im Ohr, die spacigen Rhythmen der Café-del-Mar-CD führen mich in seltsam monotone Klangräume, die ein Trost sind für die Unruhe in meinem Inneren. Ich lasse mich in die Leere der rhythmischen Klänge hineinziehen, sie werden zu meinem Körperrhythmus, will die ersten Tage niemanden sehen, nicht hören, nichts sprechen, nicht nachdenken. Und doch übermannt mich ein bedrückendes Gefühl in der Magengegend. Multiple Sklerose. Kann das denn sein? Und: Was bedeutet das für mich?
Die intravenöse Pulstherapie mit Cortison bzw. Glukocortikoiden stellt die allgemein anerkannte Standardtherapie zur Behandlung akut entzündlicher Schübe bei Multipler Sklerose dar. Cortison wirkt entzündungshemmend, antiödematös und immunsuppressiv, so dass nach Cortisongabe klinisch vielfach ein Abklingen der Schubsymptome zu beobachten ist.
Irgendwann saß ich dann im Krankenhaustreppenhaus, eine Zigarette rauchend. Durfte ich das jetzt überhaupt noch? Ein Mann mittleren Alters gesellte sich zu mir, auch MS, aber die Prognose sei sehr viel düsterer, klärte er mich auf: Zum einen sei er männlich und auch schon fortgeschrittenen Alters. Solche würde es meist besonders hart erwischen. Mir kam das alles so unwirklich vor, hatte ich doch vor zwei Wochen noch mein ganz normales Leben gehabt. Und jetzt so etwas! Ich bekam viel Besuch die letzten Tage im Krankenhaus. Ich hätte so gerne mit jemandem über diese Diagnose gesprochen und hatte doch Angst davor. Dann standen sie alle vor mir, die ganze Gruppe. Ich hätte sie mir in diesem Moment kleiner gewünscht. Das Studi-Sein hing ihnen in den Mundwinkeln, so fröhlich, wie sie waren. Mir aber saß der Schrecken tief in den Knochen. Dann erzählte ich etwas von einem Virus, von einem Krankenhausaufenthalt in jungen Jahren, von einem Rückfall. – Zum Glück ist es keine MS, sollte mir nach einigen Tagen einer von ihnen sagen. Ich kam mir vor wie die größte Lügnerin und konnte mir doch nicht helfen. Einem habe ich es dann dennoch sehr schnell erzählt. Er war in einem ruhigen Moment bei mir, da brach es aus mir heraus. Er schaute mich erschrocken an, zwei Monate später war er verschwunden. Ob das wegen mir war, ich glaube kaum, er hatte genug eigene Probleme. Wir suchten ihn mit der Polizei. Ich kann mich noch heute genau daran erinnern, wie der Kommissar mit uns die Kellertreppe hinunter stieg. Dieses flaue Gefühl im Magen, die Angst, ihn hier baumeln zu sehen. Seine Mutter fand ihn dann zufällig 400 Kilometer entfernt auf einem Bahnhof. Das Leben ist ein seltsam tragisches Geschehen. Und ich war allein mit meiner Diagnose, mit einer Mutter, einer Familie, der die Erschütterung ins Gesicht geschrieben stand, mit einer studentischen Wohngemeinschaft um mich herum, der ich es mich nicht traute zu erzählen. Mich blockierte die Angst vor dem, was sich da gerade in meinem Leben ereignete. Wie hätte ich es da artikulieren können? Im Grunde genommen hatte ich Angst vor den Reaktionen der anderen, hatte Angst vor übergroßem Mitleid, vor hoffnungslosen Gesichtern. Was ist, wen dich alle nur noch als behinderten Menschen wahrnehmen, der sowieso irgendwann im Rollstuhl enden wird, fragte ich mich, eine schreckliche Vorstellung. Ich war Anfang zwanzig. Ich stand doch gerade erst am Beginn meines Lebens und jetzt sollte alles wieder vorbei sein? Das war nicht fair! Falls dies eine Multiple Sklerose war, dann würde sie einen leichten Verlauf nehmen, davon war ich überzeugt. Etwas anderes kam gar nicht in Frage. Wieso hätten es da alle wissen sollen? Ich war in der zwiespältigen Lage, dass mich gerade eine schwere Krankheit getroffen hatte, aber keiner sah es mir an. Ich sah noch genau so aus wie vor ein paar Wochen. Alles schien normal. Das soll auch so bleiben, dachte ich. Wenn die anderen zu viel wissen, vielleicht blockiert dich das in deiner positiven Ausrichtung. Im Grunde genommen aber schämte ich mich dafür, dass mich eine so schwere Krankheit erwischt hatte.
Ich teilte mich dann doch mit, dem einen oder anderen, im Kleinen. Manchmal sickerte etwas durch ohne meine Legitimation. Manchmal waren das hässliche Erfahrungen. Ich bekam halbstündige sensationsheischende Ansprachen auf den Anrufbeantworter. Oder aber ich befand mich plötzlich in einem Kreis von Leuten, in dem es alle wussten, wirklich alle. Ich selbst kannte diese Leute kaum. Ich begriff, dass mich etwas getroffen hatte, was uns allen irreal vorkam. Wir feierten Partys, genossen die Freiheit des Studentenlebens, die räumliche Entfernung zum Elternhaus. Und dann diese Krankheit. Sie fuhr wie ein zorniger, rächender Blitz in mein Leben und machte mich zur Außenseiterin, die ich nicht sein wollte. Ich wollte mitmischen, wollte aktiv sein, impulsiv und diskussionsfreudig, wie ich zu dieser Zeit war. War ich doch oft als letzte aus dem Partykeller wieder empor gekrochen. Und jetzt musste ich als erste gehen. Natürlich habe ich mich geschämt für die Schwäche, die mir diese Krankheit auferlegt hat, für die Müdigkeit, die schnelle Erschöpfung. Diese Dinge wollten so gar nicht zu dem Bild passen, dass ich mir von mir zurechtgelegt hatte.
In dieser frühen Phase war es aber vor allem die Krankheitsdiagnose selbst, die auf meinen Schultern lastete und mir die Leichtigkeit meines jungen, bis eben noch unbekümmerten Lebens nahm. Es kamen noch einige kleinere Schübe hinzu, Empfindungsstörungen in den Fingern, eine kaum sichtbare Gangstörung, Probleme mit der Handmotorik, aber sie legten sich wieder. Alles Krankheitssymptome, die nicht angenehm waren, natürlich nicht, ich musste nun besser auf mich aufpassen, durfte mich nicht mehr unvorsichtig überlasten, aber im Grunde genommen blieb alles noch im Rahmen. Ich hatte doch gar keine Ahnung in diesen Anfangsjahren, was eine solche Krankheit alles zu verändern vermag, welche Macht sie besitzt und wie unbarmherzig sie zuschlagen kann. Dann kam eine Zeit des Zur-Ruhe-Kommens und der körperlichen Regeneration, in der ich sehr auf mich achtete, das Rauchen aufgab, von dem ich so schwer loskam, und das Trinken, dem ich sowieso nie viel abgewonnen hatte. Es war, als ob diese Krankheit mir einen Grund gegeben hätte, ruhiger zu werden, langsamer zu treten. So wurde ich innerlich gelassener, äußerlich wurde ich runder. Die langen schönen lockigen Haare kamen ab, die Rettungsringe hinzu, aber mich störte das nicht. Ich wollte keine besondere Aufmerksamkeit erregen in dieser Zeit, weil ich die Stille in meinem Leben genoss, die Unaufgeregtheit und Strukturiertheit dieser Tage, die familiäre Atmosphäre unseres kleinen Studentenkreises. Im Grunde genommen war dies eine schöne, eine gelassene Zeit. Aus der exaltierten, unausgeglichenen und erlebnishungrigen jungen Frau war eine ruhige und gemütliche Person geworden. Ich fühlte mich lange wohl in diesem Zustand, bis er mich irgendwann doch wieder zu langweilen begann. Ein Leben auf Sparflamme, das konnte es nicht sein. Es ging mir doch gut. Die Krankheit hatte sich ganze zwei Jahre nicht mehr gemeldet. Eigentlich hatte ich alles im Griff. Und außerdem, vielleicht hatten sich ja auch alle geirrt.
Die Ärzte und ich, ein schwieriges Thema, ich hätte es gerne anders gehabt. Aber wenn ich ehrlich bin, wollte ich mir überhaupt durch die gängigen Methoden helfen lassen? Mein großer Traum ist ein Naturarzt, schulmedizinisch versiert, alternativmedizinisch engagiert, professionell und doch herzlich, der erfahren genug ist Heilung als einen ganzheitlichen Vorgang anzuerkennen und daher wirklich daran interessiert ist, mit seinen Patienten zusammenzuarbeiten. Dabei bin gerade ich sicherlich keine einfache, weil informierte und manchmal auch eigensinnige Patientin. Doch inzwischen habe ich tatsächlich Ärzte gefunden, die diesem meinem Idealbild in gewisser Weise entsprechen, denen ich vertraue und deren Meinung und Rat ich mir gerne einhole. Aber ich musste lange suchen. Am Anfang stand erst einmal der Schock über die Diagnose, die Hilflosigkeit, wie ich dieser Krankheit zu begegnen hatte, und eine Neurologin, die freundlich war und jung, aber im Grunde genommen fast genauso ängstlich wie ich. Zumindest war sie sehr zurückhaltend und vorsichtig. Sie klärte mich kurz über die möglichen Verlaufsformen der Multiplen Sklerose auf, sagte ansonsten nicht viel, drückte mir stattdessen ein Buch in die Hand, für das ich ihr heute dankbar bin, denn es hat meine gesamte Einstellung zu dieser Krankheit und deren Behandlungsmöglichkeiten maßgeblich geprägt. Damals jedoch fand ich das alles sehr wenig.
Dr. med. Wolfgang Weihe, Neurologe und MS-Spezialist, verfasst Aufklärungs- und Ratgeberbücher zur Multiplen Sklerose, die sich explizit am Patienten und dessen Bedürfnis nach unabhängiger Information orientieren und ein differenziertes, in vielem sogar durchaus positives Bild von der Krankheit und ihren Behandlungsmöglichkeiten zeichnen:
Wolfgang Weihe: „Multiple Sklerose. Eine Einführung“, 5. aktual. Aufl. 2010.
Wolfgang Weihe: „Was Sie schon immer über die Multiple Sklerose wissen wollten. 310 Fragen und Antworten zur MS“, 2003.
Wolfgang Weihe: „Warum die Multiple Sklerose besser ist als ihr Ruf. Ein Wegweiser für Neubetroffene“, 2. erweiterte Aufl. 2009.
Dann gab sie mir noch den Tipp, mein Beschäftigungsverhältnis zu überdenken, und entließ mich. Einige Zeit später, als sich bei mir erneut leichte Taubheitsgefühle, diesmal in den Fingern, einstellten, war sie schon wieder im Urlaub. Genauso wie damals, als ich gerade aus dem Krankenhaus gekommen war. Ich war dann zu ihrem Kollegen weitergereicht worden, ein älterer, grauhaariger Herr, freundlich, aber nicht übermäßig interessiert, ein aufklärendes Gespräch mit mir zu führen. Ich erzählte ihm von den Nebenwirkungen der hoch dosierten Cortisoninfusion. Noch am Infusionsgerät hängend, hatte sich ein starker Druck in meinem Kopf breit zu machen begonnen und das Gefühl setzte ein, wie unter einer Glaskugel von der Außenwelt abgeschnitten zu sein. Bald darauf kamen heftige depressive Verstimmungen hinzu, all meine Emotionen schienen unaufhaltsam ins Negative zu kippen. Ich hatte das Gefühl, dem nicht entgegenwirken zu können, fühlte mich schlecht, war unzufrieden, gereizt, bis alles genauso plötzlich wieder vorbei war, einige Tage nachdem die Cortisonbehandlung beendet wurde. Der Arzt tat einen Zusammenhang ab und interpretierte meine Beschwerden als psychische Reaktion auf die Diagnose. Mir aber war der zeitliche Zusammenfall von Cortisongabe und tiefster Schwermütigkeit Beweis genug und ich fühlte mich von ihm einfach nicht ernst genommen. Tatsächlich weiß ich heute, dass depressive Stimmung und Gereiztheit neben der so typischen Euphorie und Antriebssteigerung häufige Begleiterscheinungen längerer Cortisonbehandlungen sind. Aber auch während oder nach einer kurzfristigen Pulstherapie, wie ich sie erhalten habe, gerade weil diese sehr hoch dosiert ist, können sich starke depressive Verstimmungen einstellen. Sogar dieser immense Druck, den ich in meinem Kopf verspürte, lese ich, stellt eine mögliche Nebenwirkung der Cortisonbehandlung dar. „Pseudotumor cerebri“ wird das Gefühl einer Anschwellung des Gehirns genannt.
Nebenwirkungen der kurzen hochdosierten Cortisongabe können sein: Oberbauchbeschwerden bis hin zu Blutungen, Entgleisung von Blutzucker, Blutdruck und Elektrolyten, Thrombosen, epileptische Anfälle, generell psychische Symptome wie Depression, Euphorie, psychotischer Anfall. Falls man ein Risikopatient in einem dieser Bereiche sein sollte, ist erhöhte Vorsicht anzuraten. Auch während eines akuten Infekts sollte kein Cortison verabreicht werden, da die immunhemmende Wirkung kontraindikativ ist. Im Normalfall wird die Cortison-Pulstherapie jedoch ganz gut vertragen. Auf viele Patienten wirkt sie geradezu euphorisierend. (Schmidt; Hoffmann: „Multiple Sklerose“, 2012, S. 250-256.)
Ich muss schmunzeln, komme mir vor wie mein eigener Arzt, will es ganz genau wissen, denn ich hasse das Gefühl, ausgeliefert zu sein, dem Dünkel anderer zum Beispiel. Dr. Weihe, mein Lieblingsneurologe auf Papier, sieht das Cortison als ein lebensrettendes und wichtiges Medikament an, das aber verantwortungsvoll und überlegt zu verabreichen sei. Er rät bei „leichteren“ Symptomen ev. auf erhöhte Vitamingaben bzw. eine Enzymtherapie auszuweichen. Das war ganz nach meinem Sinne. Aber leider blieb dieser Arzt für mich ein Ratgeber auf Papier, der im Ernstfall nicht konsultierbar war.
Da Cortison eigentlich ein Stresshormon ist, das die Wundheilung und die Immunabwehr unterdrückt, fragt sich Wolfgang Weihe, inwieweit die offensichtlich positive Wirkung des Cortisons, d. h. ein schnelles Abklingen der Symptome, tatsächlich eine positive Wirkung auf notwendige Heilprozesse darstellt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das Cortison eigentlich nur auf die schnelle Abschwellung des Umgebungsödems einer Entzündung hinwirkt, weil es das Wasser aus dem geschwollenen Gewebe aussaugt. Hierdurch kommt es zu einer Linderung der Beschwerden, da der Druck auf die Nerven, die das Entzündungsgebiet durchqueren, nachlässt. Die Frage sei nun, ob ein rasches Abschwellen des Entzündungsödems tatsächlich immer sinnvoll ist, denn das könne eventuell dazu führen, dass es zu einer zu schnellen und unvollständigen Narbenbildung komme und damit die Entstehung von chronisch aktiven Herden gefördert wird. (W. Weihe: „Multiple Sklerose“, 2010, S. 161, generell S. 157-169.)
Wichtig ist außerdem darauf hinzuweisen, dass, falls es sich bestätigen sollte, dass am Entzündungsgeschehen bei Multipler Sklerose Viren oder Bakterien beteiligt sind, die Cortisonbehandlung als heikel einzustufen wäre, weil sie die Immunabwehr grundsätzlich schwächt. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es noch keine absolute Sicherheit darüber, inwieweit das Entzündungsgeschehen von immunschädigenden Erregern angestoßen wird.
Ich war also ständig auf der Suche nach einer zu mir passenden neurologischen Betreuung, die auch alternativen Behandlungskonzepten offen gegenüberstand, gestoßen bin ich in diesen ersten Jahren leider mehr auf schulmedizinische Arroganz. - Scharlatanerie, schrie mich ein bis eben noch zuvorkommender, junger Neurologe an und wurde puterrot im Gesicht, nachdem ich ihn auf Homöopathie bzw. Akupunktur bei MS angesprochen hatte. Er wurde fuchsteufelswild, beschimpfte diese Methoden als völlig ergebnislose Quacksalberei, riet mir mich lieber mit objektiver, d. h. aufgeklärter Literatur zu befassen und drückte mir hierfür zwei Büchlein in die Hand. Sein Ausbruch wirkte auf mich zurück. Ich stand aufgelöst und mit klopfendem Herzen vor den Praxisräumen, die ich gerade verlassen hatte, warf einen kurzen Blick auf die Büchlein, sah die Logos der beiden Pharmafirmen auf ihnen prangern, die einen horrenden Umsatz mit ihren MS-Medikamenten verdienen, und konnte mich wahrlich über die objektive Meinung dieses Arztes nur wundern. Aber auch mit meinem Verhalten, Arztpraxen zu wechseln, kam manch eine Neurologin nicht gut zurecht. – Jetzt ist mir klar, wieso ihre erste Ärztin sie nicht behalten wollte, griff mich eine an, nachdem ich sie ruhig darauf hingewiesen hatte, dass sie mich wohl falsch einordnete und ich nicht wegen eines Herdes im Hirngewebe, sondern wegen eines bewegungsgestörten Beines bei ihr saß. Diese Praxis habe ich dann selbst mit puterrotem Kopf und Tränen in den Augen verlassen. Alles Erfahrungen, die nicht unbedingt dazu führten, mein unterschwelliges Misstrauen gegen die Ärzteschaft und ihre Kompetenz zu entkräften. Ich schaffe es auch alleine, wurde das Credo dieser ersten Jahre und ich bin einige Zeit tatsächlich gut damit gefahren.
Es gibt immer wieder positive Berichterstattungen darüber, dass sowohl Homöopathie als auch Akupunktur bei Multipler Sklerose helfen können, gerade auch bei der Behandlung symptomatischer Beschwerden. Ein gut gewähltes homöopathisches Mittel, so die Heilpraktikerin Norma Gäbler im Amsel-Magazin Together vom 04.09.2006, kann akute Beschwerden wie Blasenstörungen, Spastiken oder Nystagmus verringern und vermag allgemein die Lebensqualität und Belastbarkeit von MS-Patienten zu stärken.
Siehe auch Christa von der Planitz, Thomas Lorz: „Homöopathie bei Multipler Sklerose. Ein gesamtmedizinisches Therapiekonzept mit neurologischem Repetitorium“, 2007.
Und auch die TCM, zu der die Akupunktur grundlegend gehört, besitzt eine schmerzhemmende, eine antientzündliche und eine stimmungsaufhellende Wirkung. Sie verbessert nachweislich die Durchblutung, erhöht die Sauerstoffversorgung des Gehirns und besitzt eine ausgleichende Wirkung auf Immunsystem und Muskelentspannung, schreibt Dr. med. Ulrich März, Arzt für Allgemeinmedizin und Akupunktur, in der Aktuell vom 01.03.2007.
Akupunktur und Homöopathie sind als Reiz- und Regulationstherapien anzusehen. Ihre Wirkung hängt stark vom Reaktionsvermögen des jeweiligen Organismus ab. Es ist davon auszugehen, dass, je schwerer Krankheitsverlauf und Symptombild sind, desto schwieriger wird es, auf die Selbstheilungskräfte des Organismus regulierend Einfluss zu nehmen. Grundsätzlich sollte man gerade als MS-Patient Wert darauf legen, sich in die Hände eines erfahrenen Therapeuten zu begeben.
Mein guter körperlicher Zustand wog mich in trügerischer Sicherheit. Ich habe alles im Griff, dachte ich. Ja, was hatte ich denn im Griff? Meinen Körper? Mein Leben? Es war eine aktive, aber auch undefinierte Zeit, in der ich arbeiten konnte, studieren, mich verlieben. Und doch merkte ich immer wieder, dass die Ermüdung bei mir schneller einsetzte als bei den anderen, dass ich nicht so viel vertragen konnte, mich nicht so stark hätte belasten sollen und machte dennoch weiter. Die Arbeit war nervlich anstrengend und ich hatte abends oft keine Energie mehr für Dinge, die ich zu erledigen gehabt hätte wie das Studium. Tatsächlich war meine Situation eine zwiespältige. Mir ging es nicht wirklich gut genug, als dass ich einfach so, ohne Sorgen, leichtfüßig durchs Leben hätte tanzen können und doch ging es mir gut genug, dass ich mir genau das wünschte. Ich versuchte soviel es ging zu realisieren nach den ruhigen Jahren der gemütlichen Heimeligkeit. Ich ging tanzen - ja die Beine machten wieder mit - kam spätabends nach Hause und überstand das alles ohne größere Blessuren. Als eine Liebe, emotional intensiv und leidenschaftlich wie sie war, zerbrach, weil wir zu verschieden waren und weil wir, so sehr wir die Gegenwart des anderen genossen, uns immer und immer wieder hoffnungslos ineinander verhackten, aber auch weil in sein Leben ein dunkler Schatten trat, den ich nicht verstand, obwohl doch gerade ich Augen dafür hätte haben müssen, da zerbrach für mich eine Welt. Damals fing ich wieder an zu Rauchen, nachdem ich es mehrfach schon aufgegeben hatte. Doch jetzt brauchte ich sie, die Zigarette, sie gab wenigstens meinen Fingern Halt und mir etwas zu tun, das die Leere in meinem Inneren zu füllen vermochte. Ich saß also in unserer Küche, starrte an die Wand und rauchte die Zigaretten meiner Mitbewohnerin leer, bis sie sie irgendwann versteckte.
Ich weiß noch, dass ich mich damals gewundert habe, dass mein Körper dies alles vertrug. Das würde nicht gut gehen! Mein inneres Gefühl war deutlich, aber hätte ich meinen Wehmut einfach so wegwischen können? Der Stress auf Arbeit tat sein übriges, ich hatte über Weihnachten mehrere, lange Tagesschichten am Stück zu absolvieren, bis sie wieder zuschlug, die Krankheit, ich hatte es fast schon erwartet, aber auf dieses Krankheitssymptom war ich dann doch nicht eingestellt. Wenn ich es gewusst hätte, ich hätte alles anders gemacht, nicht nur in den Wochen davor, sondern schon von Anfang an, schon in dem Moment, als die Krankheit sich in mein Leben eingeschlichen hatte. Vielleicht wäre mir jedes Medikament auf der Welt mit einer noch so langen Nebenwirkungsliste recht gewesen, nur um zu verhindern, was noch kommen sollte. Vielleicht, wer weiß, als wissende Seele, die auf das vor ihr liegende Leben klar und deutlich blicken kann, hätte ich dieses mein Leben schon von Beginn an anders gestaltet, viel bewusster, viel harmonischer, viel vorsichtiger, nur um dieser schrecklichen Krankheit zu entgehen, die lange harmlos bleiben kann, und dann, eines Tages, zeigt sie ihr wahres Gesicht und führt die ach so aufgeklärte, menschliche Überzeugung, Herr über sich selbst, über sein Leben zu sein, mit einem Wisch ad absurdum. Wie hatte es angefangen? Ich weiß nur noch, dass ich müder war als sonst. Dass mich die langen Arbeitstage anstrengten.
Dann, eines Tages, bin ich mit einer Freundin in der Stadt. Ich kaufe ein Geschenk für eine Kollegin, die am nächsten Tag heiraten wird. Eine kleine, private Hochzeit soll es werden. Ich habe von der Gruppe die Verantwortung für das Geschenk bekommen und ich mache mir Gedanken, mir macht das Freude. Aber an diesem Tag wird alles zuviel. Ich gönne mir keine Ruhe, laufe direkt von der einen in die nächste Verabredung. Sitze abends im Kino und kann dem Film nicht folgen. Mein Kopf schmerzt, die Bilderfolge ist zu schnell, mir schwindelt es. Am nächsten Morgen bin ich einfach nur noch müde. Die Glieder und der Kopf sind schwer vom aktionsreichen Vortag. Heute ist die Hochzeit. Beim Einpacken des Geschenks sagt es in mir: - Bleib doch zuhause! Ich mache mich fertig. Beim Wimperntuschen ruft es: - Bleib hier, bleib hier. Ich tusche weiter. Schon klingelt es an der Tür. Nach dem Standesamt und dem gemeinsamen Essen, ich habe den Tag eigentlich ganz gut rumgekriegt, möchte ich jetzt nach Hause, bietet sich mir eine gute Gelegenheit an. Doch die anderen bleiben, schauen enttäuscht. Möchte ich nicht auch noch ein bisschen dabei sein? Ich zögere kurz. Aber die Mitfahrgelegenheit, die ist jetzt verpasst. Der Abend wird lang und irgendwann warte ich einfach nur noch, bis einer sich aufmacht zu gehen. Sie amüsieren sich prächtig. Ich aber sitze auf meinem Stuhl und kann nicht mehr. Kann den Gesprächen, den vielen Stimmen im Raum nicht mehr folgen. In meinem Kopf macht sich pochender Kopfschmerz breit und ich habe nur noch dieses immense Bedürfnis nach Ruhe. Als ich endlich zu Hause bin, falle ich ins Bett, Gott sei Dank!
Aber am nächsten Tag da geht es weiter. Es ist die Zeit „zwischen den Jahren“, jetzt arbeitet keiner, aber wir von der Notrufzentrale haben Sonderschichten zu schieben. Ich bin müde, unkonzentriert, quäle mich durch die Arbeit. Meine Kollegin ist besorgt. – Du siehst so schlecht aus. Wenn ich auf dem Weg dorthin die Bahnsteige des U-Bahngeländes entlanglaufe, schwindelt es mir. Plötzlich ist diese Angst da, auf die Gleise zu fallen. Die Leute drängen sich an mir vorbei, schieben mich in die Nähe der Bahnsteigkante. Ich stehe doch sicher, keine Angst. Aber in meinem Kopf dreht sich’s und ich fühle mich stürzen. Wieder in der Bahn legen sich diese Empfindungen. Ich bin erleichtert und verdränge sie. Es ist doch so viel zu tun. Dann kommt Silvester. Ich habe mich nicht um eine Verabredung bemüht, doch eine Freundin möchte mich dabei haben. - Nur kurz. Wir haben doch auch nichts Großartiges vor. Daher sitze ich mit zwei Frauen und einem Mann, der wohl lieber mit seiner Freundin alleine hätte sein wollen, auf einem Bett und wir stoßen mit Sekt auf das Neue Jahr an. Ich habe mir dem Brauch nach rote Unterwäsche besorgt, die ich jetzt trage. Sie soll Glück bringen und mir ein wundervolles, erfolgreiches Jahr. (Tatsächlich wird es eines der schlimmsten Jahre meines Lebens werden.) Doch eigentlich möchte ich nach Hause, der Abend strengt mich an. Als ich mit meiner Freundin durch die Straßen laufe und nach einem Taxi suche, sind meine Nerven schon so überspannt, dass ich sie genervt antreibe. Dann kommen wieder einige Arbeitstage. Zwischendrin auch einmal Ruhe. Ich mache weiter, soweit ich kann, obwohl ich spüre, dass ich besser langsamer treten sollte. Ja besser wäre es, aber das, was man fühlt und das, was man macht, sind häufig zwei völlig verschiedene Realitäten.
Dann meldet sich meine Familie an. Sie kommen zum Wählen in die Stadt. Mir ist das egal, denn ich habe es so dringend nötig, ein ruhiges und aktionsfreies Wochenende. Ich bin inzwischen einfach nur noch durchgängig müde, erschöpft, nervlich völlig überfordert und gereizt, als dass das noch eine normale Körperreaktion hätte sein können und ich mir einreden könnte, es sei alles in Ordnung. Die Kopfschmerzen und die Müdigkeit sind ständig da. – Aber es ist doch deine Pflicht an der Präsidentenwahl deines Vaterlands teilzunehmen! Ist es das? Meine Familie kommt also und da ich die letzten Wochen kaum saubermachen konnte, viel zu müde war ich dafür und meine Mitbewohnerin ist eine faule Sau, sie fühlt sich wohl in dieser Unordnung, keine Chance, muss ich es wohl jetzt tun. Ich putze also den ganzen Tag, bin so erschöpft, aber putze weiter, habe abends noch die Familie bei mir, nur kurz, aber für mich ist das eigentlich schon zu viel. Hättest du nicht auf deine innere Stimme hören können? Sei doch vorsichtiger! Hast du eine Ahnung, was du ausgelöst hast!