Читать книгу Das verlorene Kind - E. G. Seidel - Страница 6
Das Vorspiel
ОглавлениеDie Verkettung der Ereignisse – ob glücklich oder unglücklich sei erst einmal dahingestellt – begann bereits kurz vor der Jahrtausendwende mit meinem Arbeitsunfall. Die aus dem Unfall resultierenden Verletzungen, die Verbrennungen, das fehlende Trommelfell und der Tinnitus benötigten Zeit, um zu heilen. Mein Heilungsprozess wurde mit einer sogenannten Sauerstofftherapie unterstützt, um ihn positiv zu beeinflussen. Während dieser Therapie musste ich in einer „U-Boot-Kapsel“ sitzen, auch Tauchkammer genannt, und Sauerstoff unter erhöhtem Druck einatmen. Dabei fand ich mal wieder die Muße, Bücher zu lesen, statt meiner seit vielen Jahren anhaltenden Computerspielsucht nachzugehen. Gerade das Lesen brachte etwas in Bewegung, das mir erst viele Jahre später bewusst wurde. Ähnlich einem Dominoeffekt, wenn der erste Stein umgefallen ist. Ich saugte Bücher in mich auf, die die Kirche und ihre Geschichte kritisch betrachten. Werke wie:
„Im Namen Gottes“
„Als die Kirche Gott verriet“
„Die Inquisition“
„Die Kreuzzüge“ und einige mehr.
Mein Wissensstand über Kirche, Gott und Glauben war bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr fast nur von der Bibel und keinem anderen Buch geprägt. Was nicht im Einklang mit den Bibelgeschichten stand, fand nicht den Weg in mein Bewusstsein oder wurde von mir als Lüge abgetan. Das Lesen dieser kritischen und sündhaften Bücher säte weiteren Wissensdurst, der dazu führte, dass ich mir auch außerhalb der Sauerstofftherapie Zeit für Bücher und für Dokumentationen nahm. Ich wollte erfahren, was richtig und was falsch ist. Es begann die Zeit, in der ich das hinterfragte, woran ich glaubte. Der Sauerstoff hatte vermutlich auch dazu geführt, dass mein Gehirn endlich einmal arbeitete. Wer weiß, was zuvor in meinem Kopf abgelaufen ist? Bereits seit meiner Jugend befand ich mich in einem psychologischen Glaubensgefängnis, das dazu führte, dass ich meine homosexuelle Neigung unterdrückte, dass ich eine Ehe mit einer Frau einging, die ich belog – meine wahren sexuellen Gefühle betreffend.
Seit der Jahrtausendwende, seit dem Lesen kritischer Bücher und dem ausgelösten Zweifel an meinem Glauben, begann dieses neue Wissen immer mehr an meinen Mauern zu rütteln. An dem Bollwerk, in das ich meine homosexuelle Neigung eingekerkert hatte. Es wurden Fragen ermöglicht, an die ich zuvor nicht einmal zu denken wagte. Fragen, die ich nie zugelassen hatte, fanden den Weg in mein Bewusstsein. Mein Fundament „Die Bibel“, die Wahrheit Gottes, blieb dabei noch lange unangetastet und war über jede Kritik erhaben. Das Problem, dass die Bibel für mich unantastbar war, entstand bereits in meiner Kindheit, als der Glaube bei mir auf fruchtbaren Boden fiel. Eigentlich begann es mit meiner ersten Bibel, die ich bei meinem Opa entdeckte, den Erzählungen meiner Oma und den christlichen Filmen im Fernsehen, die ich mit diesem Buch verknüpfte. Daraufhin las ich immer öfter in dem Buch der Bücher, auch wenn ich anfangs wenig von dem verstand, was dort geschrieben stand. Nachdem ich viele Jahre später in meiner Jugend meine verwirrte Neigung und darauf die Verbote in der Bibel entdeckt hatte, entstand daraus ein Teufelskreis aus Glaubensregeln und Verboten, die das Unterdrücken meiner Homosexualität überhaupt erst ermöglichten. Denn ich wollte vor Gott nicht sündigen, sondern erstrebte, in den Himmel zu kommen. Um das zu erreichen, darf „Mann“ seine sündhafte Homosexualität laut Bibel natürlich nicht ausleben.
Wahrscheinlich hielt ich an meinem von der Bibel geprägten Weltbild fest und ließ keinen Zweifel zu, weil mein Glaube bereits seit meiner Kindheit in mir bestand. Die Gründe für mein damaliges Denken und Handeln kann ich heute jedoch nur vermuten. Ich bin kein Psychologe und kann nicht mit Bestimmtheit sagen, welche Einflüsse mir in meinem Leben diese Scheuklappen angelegt haben, die mich dazu bewogen, derart extrem und lange an der Bibel festzuhalten, meine Homosexualität zu unterdrücken, ohne Fragen zu stellen. Um zu verdeutlichen, wie stark ich im Glauben verankert war, wie die Bibel diese wichtige Stelle in meinem Leben einnehmen konnte, wie konsequent ich aufgrund meines Glaubens später gegen meine Homosexualität, meine sündige Natur ankämpfte, um Gott zu gefallen, und überhaupt, wie alles begann, wie ich in dieses Glaubensgefängnis geriet, möchte ich in groben Zügen die Zeit meiner Kindheit, meiner Jugend, die Entdeckung meiner verwirrten Sexualität und die Jahre danach, in denen ich meine heutige Frau kennenlernte und heiratete, näher erläutern. Weil ich nicht genau weiß, an welchem Punkt ich beginnen soll, nehmen wir einfach den Tag, an dem ich das Licht der Welt erblickte.
Die Zeitreise beginnt im Jahr 1970. Der Ernst des Lebens begann ... Aber davon ahnte ich nichts, denn als Baby hat man anderes im Kopf. Um vorab jeden Zweifel auszuräumen, der Storch hat mich nicht gebracht. Es war die BIENE! Also, die Biene hat mich natürlich nicht als fertiges Baby eingeflogen, sie hat nur die Blüte bestäubt und sich anschließend aus dem Staub gemacht. Bei Letzterem wäre es sicher besser gewesen, ich hätte es Ihr gleich getan. Denn mein Leben begann bereits von Geburt an nicht optimal. Ja, ich weiß, das ist der übliche Satz. Man schiebt schnell die ganze Schuld auf eine schwere Kindheit. Vielleicht liege ich falsch und meine Kindheit war nicht so schlimm? Wenn man nichts anderes kennt und keine Vergleichsmöglichkeit hat, wie soll man als Kind beurteilen, realisieren, wo der Fehler liegt, wie eine optimale Kindheit verlaufen sollte? Aufgrund eines Blackouts war mir sehr lange, eigentlich bis zu diesem Buch nicht klar, das in meiner Kindheit einiges schief gelaufen ist. Aufgrund eines Blackouts kann ich mich kaum an Ereignisse, die vor meinem neunten Lebensjahr stattfanden, erinnern. Vieles ist verzerrt , gelöscht und anders in meinem Kopf gespeichert. Dem entsprechend kann auf den ersten Seiten meines Buches manches unvollständig und lückenhaft erscheinen. Das Einzige was ich habe sind meine Albträume und die Erzählungen anderer Personen, um das Puzzle zu vervollständigen.
In den ersten neun Jahren meines Lebens wuchs ich in sehr desolaten Verhältnissen auf. In dieser Zeit der Prägung hatte ich nicht wie die meisten Kinder einen Vater, nein gleich vier, wenn man die Biene mitrechnet. Und alle konnte man in der Pfeife rauchen ...
Der Erste, mein genetischer Vater, die BIENE, war nur bei der Bestäubung anwesend. Das war der Mann, der sich an einer schönen Blüte zu schaffen machte, die bereits vergeben war; obwohl die Blüte der Fremdbestäubung sicher nicht abgeneigt war. Von diesem Vater habe ich nie etwas gesehen, nie etwas gehört. Der ist abgeschwirrt, ohne sich der sozialen Verantwortung zu stellen. Interesse an mir war nicht vorhanden. Vermutlich war es auch gut so, denn wer weiß, was ich mir mit dieser Kanaille eingehandelt hätte. Im Grunde hat er sich gegeben, wie man es von Männern meistens erwartet. Nur auf der Suche nach dem schnellen Spaß. Eben das übliche Verhalten, knick knack, zack zack, fertig und jeder geht seiner Wege. Alles andere geht spurlos an ihnen vorüber ...
Der Zweite, der Alkoholiker, der Gehörnte, kehrte in den ersten sieben Jahren meines Lebens täglich abgefüllt bis an die Oberkante abends nach Hause zurück und verursachte in seinem Alkoholrausch regelmäßig Ehestreitigkeiten, Gewalt und Schläge. Bei diesen Auseinandersetzungen, den Handgreiflichkeiten ist Einiges zu Bruch gegangen oder die Treppe hinuntergeflogen. So manches Kücheninventar und auch Küchengroßgeräte fanden sich nach einem Streit am unteren Ende der Treppe wieder. Er verschaffte sich in seinem Delirium regelmäßig Zutritt zum Kinderzimmer, in dem sich meine Mutter bei diesen Eskalationen oft vor ihm versteckte und verbarrikadierte, mit meinem Bett die Türklinke blockierte. Ich musste diese Streitigkeiten jeden Tag für mehrere Jahre, von meinem Kinderbettchen aus mit ansehen, mit anhören, mitfühlen. Bei diesen Auseinandersetzungen entstand eine besonders prägende Situation für mich, nachdem er die Tür durchbrochen hatte:
"Er bedrohte meine Mutter mit einem großen Küchenmesser, drohte sie zu erstechen und rammte es anschließend in die Schranktür, weil sie sich geduckt hatte."
Wobei ich nicht sagen kann, ob diese Eskalationen speziell mit dem Küchenmesser öfters vorkamen, denn aufgrund eines Blackouts kann ich mich an Ereignisse, die vor meinem neunten Lebensjahr stattfanden, nicht erinnern. Diese jahrelangen von Gewalt geprägten Zustände, vor allem das Ereignis mit dem Küchenmesser, sind Dinge, die sich für sehr viele Jahre in meinen nächtlichen Albträumen manifestierten, die sich wie folgt gestalteten:
"Ich verstecke mich im Kinderzimmer unter meinem Kinderbett und ein Mann bedroht mich mit einem großen Küchenmesser. Er sticht mit diesem Messer auf mich ein, um mich zu töten. Ich drücke mich in die hinterste Ecke meines Kinderbettes und hoffe, dass er mich mit dem Messer nicht erwischt. Dort harre ich aus, bis er irgendwann von mir ablässt, weil er mich nicht erreichen kann. Ich habe dabei Todesangst, denn ich will nicht sterben."
Dieser und andere Albträume in ähnlicher Form verfolgten mich regelmäßig bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr, ohne das ich die Gründe dafür kannte. Laut meiner Mutter soll dieser Vater aber auch seine guten Seiten gehabt haben, nur der Alkohol hätte ihn zum schlechten verändert. Allerdings kann ich kaum etwas über ihn sagen, da mir dieser Vater völlig unbekannt ist, obwohl ich 7 Jahre mit ihm verbracht hatte!
Die Atmosphäre in meinem Zuhause war angespannt, unberechenbar und willkürlich. Tägliche Streitigkeiten in der Familie, fast tägliche häusliche Gewalt, sowie Lieblosigkeit begleiteten mich, in den für die Entwicklung wichtigsten Jahren eines Kindes. Die Alkoholsucht meines Vaters wirkte sich negativ auf die gesamte Familienatmosphäre, auf den Familienzusammenhalt sowie auf die Befriedigung kindlicher Bedürfnisse nach Sicherheit, Verlässlichkeit, Geborgenheit und die Qualität der Eltern-Kind-Bindungen aus. Wenn ein Elternteil trinkt, kann ein Kind nicht Kind sein. Ein normales Leben ist kaum möglich. Aufgrund des emotionalen Stresses, unter dem ich stand, nässte ich nicht nur nachts, sondern auch tagsüber oft ein. Mir wurde jedoch immer Absicht unterstellt, ich würde extra einnässen und wurde dafür entsprechend bestraft. Das ist auch sehr einfach, die Schuld dem Kind zuzuschieben! Die bis zu meinem 14ten Lebenssjahr nicht enden wollende Inkontinenz löste immer wieder erneute Schläge und Bestrafungen der Eltern aus, die meinten, das damit unterbinden zu können. Aber niemand machte sich über die Gründe meines Verhaltens Gedanken. Warum auch? Von dem Gefühl ungerecht bestraft worden zu sein, dem zerstörten Selbstwertgefühl, mal ganz abgesehen.
Eines ist klar, Kinder leiden sehr unter der Alkoholsucht, ob nur ein Elternteil betroffen ist oder beide. Die Eltern kreisen oft nur noch um sich selbst, um ihre eigenen Probleme, sind von ihrer eigenen Situation total überlastet. Die Probleme des Kindes werden dabei nicht mehr beachtet. Das Kind loben, es unterstützen, vor allem Zuneigung zeigen, fällt in diesen Familien ganz aus. Die Bedürfnisse des Kindes bleiben auf der Strecke, alles wird nach dem Befinden des Süchtigen ausgelotet. Da ist kein Platz für Bedürfnisse, geschweige denn für Gefühle und Zuneigung. Zudem sind Kinder ständig einem inneren Konflikt ausgesetzt. Auf der einen Seite wollen sie nicht, dass etwas bekannt wird, schämen sich für die häuslichen Zustände, auf der anderen Seite fühlen sie sich nicht wohl, missverstanden und ganz schlimm: nicht geliebt! Sie ziehen sich unter den gegebenen häuslichen Umständen in ihre eigene Welt zurück. Was in der Kindheit durch fehlende Liebe zerstört wird, damit lebt ein Kind als Erwachsener weiter und führt zu einer Abwärtsspirale. Man kann sie nur durchbrechen, wenn man sich selbst genug wert ist. Denn gerade Kinder von Süchtigen haben ein erheblich gestörtes Selbstbewusstsein.
Meine beiden Vornamen erhielt ich auf sehr kreative Weise von dieser Schnapsdrossel. Einer stammte von ihm selbst und der andere war der Vorname seines Saufkumpanen, mit dem er sich fast täglich die Kante gab. Auf diese Weise, im Alkoholrausch, einen Namen zu bekommen ist absolut lieblos. Jedes leblose Spielzeug bekommt auf emotionalere Weise einen Namen. Seine Alkoholsucht und die häufigen Ehestreitigkeiten bestanden bereits schon vor meiner Geburt, wie ich erfahren habe. Vermutlich der Grund, warum die Blüte der Fremdbestäubung nicht abgeneigt war? Als ich etwa sieben Jahre alt war, trennte sich meine Mutter von diesem Mann, der wenige Monate danach in seinem Alkoholrausch Suizid beging. Die Gründe für seinen Suizid kann ich heute nur vermuten. Aber es zeigt das er mit seinem Leben total überlastet und sehr unglücklich war. Vielleicht auch aus Liebeskummer und/oder Trennungsschmerz?
Der Suizid aus Liebeskummer ist bei uns eine Familientradition, denn er war und wird nicht der Einzige bleiben. Wie eine Krankheit, wie ein roter Faden setzte er sich immer weiter fort. Wie ich sehr viele Jahre später über einen Anwalt herausfand, der auf der Suche nach meinem genetischen Vater war, hatte er einige Monate vor seinem Suizidversuch einen Vaterschaftstest machen lassen. Wobei ich nicht sagen kann, ob er diesen Test gemacht hat, weil er daran zweifelte, dass ich von ihm bin oder weil er durch die Trennung von meiner Mutter finanzielle Einbußen befürchtete. Meine Mutter war kein Kind von Traurigkeit und lachte sich relativ schnell den nächsten Kerl an. Aber wenn ein Mann meiner Mutter beim Flirten zu nahe kam, er sie aus Spaß traktierte, schubste und kitzelte und sie daraufhin zu schreien begann, war ich jedes Mal von Angst und Schmerz erfüllt. Ich konnte aufgrund der vergangenen täglichen Gewalt in unserem Zuhause nicht mehr zwischen Spaß und Ernst unterscheiden. Ich hatte in jeder Situation Angst um meine Mutter, weil ich sie in Gefahr glaubte. Rückblickend weiß ich, dass es Spaß war, aber damals als Kind war das für mich unerträglich. Dann folgte die Einschulung, mit der ich total überfordert war, denn das bedeutete gleichzeitig eine zeitliche Trennung von meiner Mutter. Eine Trennung war für mich unvorstellbar und kaum zu bewerkstelligen. Jeden Tag erneut lief ich von der Schule weg, meiner Mutter hinterher. Das führte dazu, das sie anfangs für viele Wochen, jeden Tag mit mir die Schulbank drücken musste, damit ich mich irgendwann daran gewöhnte einige Stunden dort auch mal ohne sie zu verbringen. Letztendlich hat es dann auch geklappt. Leider fand ich in dieser Schule keine Freunde. Die Gründe dafür verstand ich nicht. Ich fühlte mich abgelehnt und ausgeschlossen. In den 4 Grundschuljahren stand ich in den Pausen immer alleine da, war von Angst erfüllt.
Der dritte Vater, der Portugiese, der aufgrund der Flirts meiner Mutter zwischen meinem siebten und achten Lebensjahr bei uns sein Lager aufschlug, verteilte an uns Kinder täglich Prügel, manchmal mehrmals am Tag. Dennoch, nach Zuneigung sehnend, hoffte ich wieder auf die Liebe eines Vaters. Aber seine liebste Erziehungsmethode waren Schläge mit dem Gürtel, bei jeder Gelegenheit, statt Liebe und Geborgenheit. Hatte er von seinem Vater auch ständig Prügel bezogen und meinte jetzt, den Radfahrer mimen zu müssen? Aufgrund meiner anhaltenden Inkontinenz wurde ich von diesem Mann weiterhin entsprechend gemaßregelt. Alle Strafen und Schläge bewirkten nichts und ich nässte weiterhin ein. Glücklicherweise blieb der Schläger nur für etwa ein Jahr. Die kurze Zeit war jedoch ausreichend um weitere dauerhafte Verhaltensanomalien bei mir auszulösen.
Mit meinem neunten Lebensjahr tauchte dann der letzte Vater, „Werner“, bei uns auf. Der Choleriker, emotionslos und eifersüchtig, lehnte uns Kinder ab. Nur seine eigenen leiblichen Kinder waren es wert, geliebt und umsorgt zu werden. Das machte sich allerdings erst über die kommenden Jahre bemerkbar. Zu Beginn, als er meine Mutter kennenlernte, war er wirklich sehr nett. Dieses Gefühl hatte ich auch wegen der Schokolade, die er jedes Mal für uns Kinder mitbrachte und mir damit Zuneigung suggerierte. Und sicher auch, weil er die desolaten Zustände, in denen wir uns befanden, deutlich verbesserte. Aber Liebe für ein Kind zu empfinden, zu zeigen, Geborgenheit zu vermitteln, dazu war auch er nicht fähig. Als Kind ist man immer auf der Suche nach bedingungsloser Liebe von der gerade anwesenden Vaterfigur. Jedoch Liebe und Geborgenheit war für alle meine „Väter“, etwas Extraterrestrisches. Sie vermittelten mir das Gefühl, nicht dazuzugehören. Auf diese Weise starb die Hoffnung auf Liebe jedes Mal erneut. Wenn die Suche nach Liebe jedes Mal auf Ablehnung stößt, ist das nicht gerade aufbauend für das eigene Selbstbewusstsein und endet schließlich in Resignation. Ich konnte es nie in Worte fassen, was mir fehlte. Man weiß nicht, warum und was hier überhaupt falsch läuft. Man fühlt sich abgelehnt! Ist es nicht so, dass man sein Kind hin und wieder in den Arm nehmen sollte, um ihm zu sagen, dass man es liebt? Ich kann mich nicht erinnern das mir diese Art Zuneigung von einem meiner Väter auch nur ein einziges Mal in meinem Leben widerfahren ist.
Das Kuriose ist, das beim Schreiben dieses Buches ein Blackout bei mir zum Vorschein kam, mit vielen fehlenden und auch falschen Erinnerungen. Ich entdeckte einen Teil meines Lebens völlig neu. Durch die Korrespondenz mit meiner Mutter, denn wir redeten erstmals über diese Zeit in meinem Leben, wurde mir klar, das ich viele falsche Erinnerungen hatte, die sich in vielen Ereignissen und in dem Folgenden bemerkbar machten. Nachdem meine Mutter sich damals von dem dritten Vater, dem Portugiesen getrennt hatte, er bei uns ausgezogen war, bezogen wir ebenfalls eine andere Wohnung, um vor der Vergangenheit und der üblen Nachrede zu fliehen. Denn den Nachbarn blieben unsere desolaten Zustände, die seit vielen Jahren bestehenden fast täglichen lautstarken Ehestreitigkeiten und die häusliche Gewalt nicht verborgen. Ich kann mich jedoch nicht an den tatsächlichen Auszug aus der alten Wohnung und den Einzug in die neue Wohnung, erinnern. In meiner Erinnerung befindet sich eine etwas andere Version der Geschehnisse. Demnach sind wir alle zusammen mit dem vierten Vater „Werner“ gleichzeitig in die neue Wohnung eingezogen. Obwohl das in dieser Weise nie stattgefunden hat. Laut meiner Mutter wohnten wir für über ein halbes Jahr mit einer portugiesischen Familie zusammen, ohne Vater. In meiner Erinnerung befinden sich keine Bilder mit dieser portugiesischen Familie, auch keine Erlebnisse aus dieser Zeit, wie alltägliche Begegnungen im Haus, die ganz sicher stattfanden. Kinder spielen doch miteinander und in einem Alter von acht Jahren sollte man sich zumindest an solche Ereignisse erinnern. Wegen Platzmangels teilte ich mein damaliges Kinderzimmer sogar mit meinem älteren Bruder. Diese Details sind mir absolut neu und völlig unbekannt, als wäre es nie passiert. Im ersten Moment dachte ich meine Mutter würde mir einen Bären aufbinden. Es gibt jedoch keinen Grund, warum Sie mir nicht die Wahrheit sagen sollte. Also muss es an mir liegen, dass mir Erinnerungen von vielen Jahren aus einem unbekannten Grund fehlen. Stimmt hier etwas mit meinem Kopf nicht? Kann es sein, dass auch andere Erinnerungen in meinem Kopf falsch sind? Es gab damals zu ungefähr derselben Zeit, neben der häuslichen Gewalt, den Alkoholexzessen und dem Suizid meines Vaters, ein paar Erlebnisse, die ebenfalls einen Gedächtnisverlust ausgelöst haben könnten. Zum einen eine Begegnung mit einem Mann, der mich mit meinem Fahrrad an der Straße angehalten hat, um mir die Süßigkeiten auf dem Rücksitz seines Autos zu zeigen. Laut meiner Erinnerung konnte ich mich losreißen und mit meinem Fahrrad flüchten. Ist hier etwas anderes passiert an das ich mich nicht mehr erinnern kann? Oder der zwanzig Jahre alte Nachbar, der in dieser Zeit mit mir des Öfteren spazieren ging. Hatte er keine Freunde, dass er mit kleinen Kindern spielte? Meine Mutter dachte sich nichts dabei und ließ es zu. Diese Spaziergänge sind in meiner Erinnerung wie in Nebel gehüllt. Ich weiß das der eine oder andere Spaziergang stattfand, mehr nicht. In einer späteren Situation fragte mich dieser Nachbar ob ich mal seinen Hodenkrebs sehen will. Ich wusste in meiner Unschuld damals nicht, was er damit meinte oder was das überhaupt bedeutet. Als ich das meiner Mutter beiläufig beim Abendessen erzählte, war sofort Schluss mit diesen Spaziergängen.
In der weiteren Aufarbeitung meiner Vergangenheit folgten weitere Unstimmigkeiten, aufgrund meiner Gedächtnislücken, dem Blackout. Dabei wurde mir bewusst, dass ich mich noch nicht mal an die Räume von unserem Zuhause, in denen ich die ersten sieben bis acht Jahre meines Lebens verbracht hatte, erinnern kann. Sicherlich hat ein Baby oder Kleinkind normalerweise keine oder kaum Erinnerungen. Aber in den späteren jahren sollte man sich zumindest ein wenig an alltägliche Dinge wie, Begegnungen, Frühstück, Mittag, Abendessen, Ostern, Weihnachten, Geburtstage, die Räume in denen ich spielte und Freizeit verbrachte, erinnern. Bei mir ist an dieser Stelle ein großes schwarzes Nichts! Es gibt nur ganz wenige kleine Lichtblitze in dieser Dunkelheit meiner Erinnerungen, die sich jedoch alle außerhalb der Familie abspielen, z.B beim Spielen im Wald oder auf dem Spielplatz. Auch banale alltägliche Erlebnisse mit meinen ersten Vätern sind nicht vorhanden. Dass ich mich an meinen genetischen Vater nicht erinnern kann, ist verständlich, dem bin ich nie begegnet. Aber an meinen Vater, die Schnapsdrossel, mit der ich die ersten sieben Jahre meines Lebens verbracht hatte, fehlen mir fast sämtliche Erinnerungen. Lediglich eine einzige eigene Erinnerung besitze ich. Diese fand kurz vor seinem Suizid statt, wie ich heute vermute. Er kehrte abgefüllt bis an die Oberkante nachmittags von seiner Kneipentour zurück und auf dem Weg nach Hause schenkte er mir zehn DM, damit ich mir davon Eis kaufen konnte. Vermutlich kann ich mich daran erinnern, weil es die erste und Einzige positive Geste von ihm war, die mir zuteilwurde.
Das Fehlen von wichtigen Erinnerungen zieht sich wie ein roter Faden durch die ersten neun Jahre meines Lebens. Es gibt einige Hinweise, die auf einen Missbrauch, Misshandlung, in meinem Leben hindeuten, um nicht alle meine heutigen Probleme und Verhaltensanomalien nur auf die Alkoholsucht meines Vaters zu schieben. Bisher war ich aus Angst jedoch nicht bereit den genauen Gründen näher auf den Grund zu gehen. Ein Blackout bei einem Kind passiert nicht grundlos. Zudem bin ich aufgrund der Ereignisse die bereits zu diesem Buch geführt haben emotional nicht in der Lage weitere Probleme zu verkraften. Wer kann schon genau sagen, wie sich das Leben gestaltet, wenn man das ans Licht holt, was besser im verborgenen bliebe? Im Grunde ist es ganz einfach: "Die Wahrheit ist zu schmerzhaft, also erinnert man sich besser nicht daran!" Diese Art Trauma ist auch bekannt als dissoziative Störung. Sie wird ausgelöst durch Erlebnisse akuter Lebensbedrohung, das über einen längeren Zeitraum anhält und der man hilflos ausgeliefert ist. Auch starker, rein psychischer Stress in der Kindheit kann ähnlich wirken. Diese Erinnerungsverfälschung ist im Allgemeinen um so stärker beeinträchtigt, je jünger das Opfer, je akuter, länger und häufiger die traumatischen Belastungen waren.
Erwachsene Kinder von Alkoholkranken Eltern fühlen sich zudem minderwertig, besitzen keine Lebensfreude, haben häufig Beziehungsstörungen, können nicht "nein" sagen und keine Veränderungen eingehen und leiden unter gnadenloser Selbstverurteilung. Sie tragen die schmerzhaften Gefühle aus der Vergangenheit in sich. Gerade in Partnerbeziehungen, auch Jahrzehnte später, kommen diese alten Probleme zum Tragen. Sie suchen Nähe aber finden sie nicht, weil sie meist Partner wählen, die unerreichbar, selbst abhängig oder nicht bindungsfähig sind. Sie erleben immer wieder, dass sie allein gelassen werden, fühlen sich in vielen Situationen überfordert, wie in ihrer Kindheit. Diese Erwachsenen sind selbst hoch gefährdet, in eine Abhängigkeit zu geraten, da sie es nicht anders kennengelernt haben, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Sie leiden unter einer erheblichen Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses mit tiefer Verunsicherung bezüglich des eigenen Wertes. Im Erwachsenenalter können vielfältige seelische und körperliche Symptome auftreten. Je früher und schwerer die Traumatisierung in der Kindheit erfolgte, desto schwerwiegender können später die Folgen sein.
Aufgrund der dauerhaft vermittelten Ablehnung und Lieblosigkeit meiner Väter, holte ich mir abends zum Kuscheln, wenn alles schlief, so oft ich konnte, die Jacke von dem anwesenden Vater, um wenigstens auf diese Weise Liebe und Geborgenheit von ihm zu erfahren. Ich wusste sehr viele Jahre nicht, warum ich mich so verhielt. Warum ich dieses Bedürfnis nach seiner Jacke hatte. Ich schämte mich, es überhaupt zu sagen und hielt es geheim. Ich hatte dabei immer das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun.
Psychologisch betrachtet, wenn die Zuneigung und Fürsorge der Eltern zu einem Kind fehlt, kann sich eine Verlagerung der Liebe von einem Menschen auf etwas anderes, das als Ersatz für diesen Menschen dient, entwickeln, z.B. ein Kleidungsstück der betreffenden Person. Es ist der Versuch eines Kindes, auf diese Weise Liebe und Geborgenheit zu erfahren.
Meine Situation mit neun Jahren verbesserte sich mit dem Einzug des vierten Vaters "Werner" in Sachen Liebe und Geborgenheit erneut nicht. Seine Schokolade hatte anfangs nur erneut die Hoffnung in mir geweckt, dass es endlich mal ein netter Mann ist, den meine Mutter angeschleppt hat. Den Teufelskreis der Lieblosigkeit setzte er weiter fort, wenn auch nicht mehr ständig mit körperlicher Züchtigung. Den Part übernahm meine Mutter des Öfteren auf seine Anweisungen. Er bestrafte mich gerne auf andere, auf psychische Weise. Hausarrest, Strafarbeit und viele andere Bestrafungsmethoden wurden bei mir angewendet, die mir willkürlich und ungerecht erschienen. Zugegeben, wir waren drei Brüder mit Verhaltensauffälligkeiten aufgrund unserer nicht optimalen Vergangenheit, mit der er sicher überfordert war. Laut meiner Mutter soll er auch auf mich eifersüchtig gewesen sein. Aber ich habe das in der Art nie wahrgenommen. Ich fühlte mich abgelehnt und verstand es nicht. Auch bei ihm lief ich der Liebe eines Vaters viele Jahre hinterher. Das war keine bewusste Entscheidung, das war ein Reflex, ein unterbewusstes Verlangen wie die Suche nach Nahrung. Als Kind kann man nicht benennen, was einem fehlt. Man folgt einer Sehnsucht, ohne zu wissen, was es ist. Wird sie nicht erfüllt, reagiert man mit auffälligem Verhalten, um Aufmerksamkeit zu bekommen, machte blödsinn. Darauf folgten erneute hilflose Erziehungsmethoden und Züchtigungen. Davon abgesehen, das muss man ihm zugutehalten, hatten wir seit seinem Einzug bei uns das erste Mal ein einigermaßen normales, geregeltes Familienleben, ohne die desolaten Zustände und Extreme der Vergangenheit mit den anderen Lebensgefährten meiner Mutter.
Mit etwa neun Jahren entdeckte ich auch Jesus, Gott und den Glauben für mich. Vor allem die christlichen Filme, die ich im Fernsehen sah, die ich für bare Münze hielt, beeinflussten mich total. Jedes Mal brach ich in Tränen aus und war davon ergriffen; ich war wirklich sehr sensibel. Zusätzlich beeinflusste mich meine Oma, die mich oft mit in die Kirche genommen und mir von Gott und Jesus erzählt hatte. Sie war damals der einzige Mensch, der mir offen, selbstverständlich und bedingungslos Zuneigung, Liebe und Geborgenheit entgegenbrachte. Seitdem glaubte ich an Gott wie andere Kinder an den Weihnachtsmann, an den ich übrigens nie glaubte. Ich sah einmal zu Weihnachten durch das Schlüsselloch, als die Eltern die Geschenke unter den Weihnachtsbaum legten. Und dann bekam man erzählt, der Weihnachtsmann sei vorbeigekommen. Hallo? Der Weihnachtsmann war es jedenfalls nicht! Oder er verkleidete sich als meine Eltern? Über die Jahre wurde Gott für mich so selbstverständlich, wie die Sonne, die auf und untergeht. In meiner Jugend hatte ich sogar den Wunsch Jude zu werden, um Gott möglichst nah zu sein, um auch zu seinem Volk zu gehören. Im Glauben fand ich über die Jahre „Halt“. Denn ich war in meinem Umfeld überwiegend geprägt von Angst, Einsamkeit und Ablehnung. Richtige Freunde fehlten in meinem Leben. Sicher auch geschuldet durch unsere häufigen Umzüge, die Freundschaften zusätzlich erschweren, gar unmöglich machen. Selbst heute nach über 40 Jahren, besitze ich keine einzige Freundschaft. Den Grund kann ich nicht mal eindeutig benennen. Vermutlich liegt es an mir. Kindergeburtstage mit anderen Kindern, die mit mir feiern, gab es schon in meiner Kindheit nicht. Bis auf einen Geburtstag, meinen zehnten. Und das nur, weil meine Lehrerin aus Mitleid die anderen Kinder und deren Eltern dazu überredete. Das Ereignis gestaltete sich in der Weise, dass meine Lehrerin während des Unterrichts verkündete, dass wir heute ein Geburtstagskind unter uns haben. Damit meinte sie mich! Das allein war eigentlich schon peinlich genug. Aber nein, anschließend fragte sie noch, ob ich Geburtstag feiere und wer alles zu meiner Party komme. Woraufhin ich vor der ganzen Klasse anfing zu weinen. Denn niemand wollte aus eigenem Antrieb heraus diesen Tag mit mir verbringen, geschweige denn mit mir spielen. Letztendlich konnte meine Lehrerin einige Eltern aus Mitleid dazu bewegen, ihre Kinder zu meinem Geburtstag zu schicken. An diesem Geburtstag war ich überglücklich, sehr viele Kinder waren gekommen. Er sollte jedoch die goldene Ausnahme bleiben. Ein Jahr später folgte die große Enttäuschung. Voller Hoffnung verteilte ich Geburtstagseinladungen, worauf auch einige zusagten. Aber als alles vorbereitet, gerichtet und gedeckt war, erschien niemand. Keiner war gekommen! Ich wartete stundenlang … Das empfand ich als überaus demütigend. Ich war unglaublich enttäuscht und schämte mich vor meinen Eltern. Was war so schrecklich an mir? Damals verstand ich die Ablehnung nicht, die mir entgegengebracht wurde. Das einzige Positive war, ich hatte die Geburtstagstorte für mich allein. Heute weiß ich, das Verhalten der Kinder lag darin begründet, dass meine Familie bei deren Eltern als asozial galt, es ihnen verboten wurde, mit mir zu spielen. Unsere Vergangenheit, Alkoholprobleme, häusliche Gewalt und der Suizid meines Vaters vor vielen Jahren blieben den Nachbarn nicht verborgen. Alles das war nach Jahren immer noch Dorfgespräch und wurde mit Verachtung gestraft. Es verfolgte uns sogar bis in unser neues Zuhause. Als Kind versteht man ein derartiges Verhalten nicht, man fühlt sich einsam, verstoßen und abgelehnt. Man bezieht das auf sich selbst. Das ist nicht gerade aufbauend für das eigene Selbstbewusstsein.
Aber was bedeutet „asozial“ eigentlich? Asoziale sind doch Individuen – angeblich nur in den Unterschichten –, die als unfähig oder unwillig gelten und sich nicht in eine soziale Gemeinschaft einordnen wollen. Aber die vielen Millionäre und Unternehmer, die vielen Banker, Politiker, Fußballfunktionäre und selbstgefälligen Manager in den feinen Nadelstreifenanzügen gelten als sozial, wenn sie ihre Millionen steuerfrei in der Schweiz oder auf irgendwelchen pazifischen Inseln verstecken und sich ohne Rücksicht auf Verluste die eigenen Taschen füllen! Diese Menschen werden letztendlich noch mit Achtung belohnt – schizophren! Sogar Massenmörder werden auf diesem Planeten heiliggesprochen. Aber ein Kind aus angeblich asozialen Verhältnissen, das diese selbst nicht verursacht hat, sondern dort hineingeboren wurde, wird mit Missachtung gestraft. Eine verdrehte Welt, oder?
Und welche Bedeutung hat „sozial“? Beinhaltet das nicht die Fähigkeit, sich für andere zu interessieren, sich einfühlen zu können, das Wohl anderer im Auge zu behalten oder fürsorglich auch an die Allgemeinheit zu denken? Bedeutet es nicht auch, anderen zu helfen und nicht nur an sich selbst zu denken? Gegenüber Untergebenen großmütig oder leutselig zu sein, gegenüber Unterlegenen ritterlich, gegenüber Gleich- und Nichtgleichgestellten hilfsbereit, höflich, taktvoll und verantwortungsbewusst zu sein? Die Menschen, die mich mit Missachtung straften, fühlten sich wahrscheinlich noch der anderen, der „sozialen“ Gruppe zugehörig.
Natürlich gab es in meiner Kindheit auch schöne und unbeschwerte Tage und Momente. Aber leider viel zu wenige. Negative Erfahrungen sind zudem viel prägender. Vor allem die, die sich in der Familie ereignen. Die Familie, das Zuhause, sollte eigentlich ein Rückzugsort sein. Der Ort für Geborgenheit und Liebe. Das Gegenteil davon ist durch meine gestörte Eltern-Kind-Beziehung eingetreten. Die mit meinem auffälligen Verhalten und meinem einnässen einhergehende körperliche Züchtigung wurde auch erst in meiner Jugend, als ich ungefähr vierzehn Jahre alt war, gänzlich eingestellt. Das „Einnässen“ hörte ungefähr zur selben Zeit auf. Ob es einen Zusammenhang gibt? Das wäre naheliegend oder doch nur Zufall? Die Angst vor Schläge blieb auch noch lange danach im Kopf haften. Bleibt die Frage, wozu sind Eltern überhaupt zu gebrauchen? Die Spirale der Gewalt, die einhergehende Angst vor derselben nahm für mich für viele Jahre kein Ende. Mit keinem der neuen Lebensgefährten meiner Mutter trat eine Besserung ein, sie hatten alle nur „Strafen“ und hilflose Erziehungsmethoden im Sinn. Aber Liebe, nur mal so zwischendurch ohne irgendeinen Anlass, einfach mal in den Arm nehmen, sagen "Ich hab Dich lieb" das war nicht drin. Das, was die Eltern mit ihrer falschen und unbeholfenen Erziehung in einem Kind zerstören, hat Einfluss auf das gesamte Schicksal. Die fehlende Liebe der Eltern zu ihrem Kind ist prägend für die weitere Entwicklung. Durch fehlende Liebe und Wärme hat ein Kind ein höheres Risiko, an Depressionen und/oder einer Persönlichkeitsstörung zu erkranken. Je nachdem, wie wir das, was wir in unserer Kindheit erlebt haben, verhalten wir uns entweder sehr ähnlich oder entgegengesetzt in unserem weiteren Leben. Ein rote Faden, der sich fortzusetzen droht...
Jeder einzelne meiner Väter hatte mit seinen unbeholfenen Erziehungsmethoden und der Lieblosigkeit in der wichtigsten Zeit meiner Entwicklung jeweils eigene Verhaltensanomalien bei mir zurückgelassen. Verhaltensweisen, die auch heute nicht mehr auszulöschen sind, von denen mir lange nicht bewusst war, woher sie stammen, ohne jetzt näher auf alle Probleme eingehen zu wollen. Trotz christlicher Werte fällt es mir schwer, das Erlebte zu vergeben. Denn meine Eltern beraubten mich der Möglichkeit, ein normales Leben zu führen. Einfach zu schreiben, dass ich ihnen vergebe, wäre nicht ehrlich und käme nicht von Herzen. Wahre Vergebung ist zwar etwas höchst erstrebenswertes, aber auch etwas sehr schweres. Dass ich das lange nicht konnte, lag daran, dass mir die Gründe für meine Probleme und Verhaltensanomalien erst mit diesem Buch bewusst geworden sind und ich mehr Zeit zum Verarbeiten benötigte. Viele Jahre befand sich in mir ein Fass, voll mit Wut und Trauer. Je nach Tagesstimmung und weiteren Schicksalschlägen fiel es mir leichter oder schwerer, den Deckel geschlossen zu halten. Zugegeben, Eltern sind keine Übermenschen und machen selbst Fehler und hatten meist Eltern, von denen sie sich Fehler abgeschaut haben, deswegen kann ich ihnen keinen Vorwurf machen. Auch mir ist klar, niemand ist absichtlich lieblos oder kalt, niemand wird absichtlich zum Alkoholiker, niemand schlägt verbal oder physisch um sich, weil er sich dabei besonders gut fühlt. Sondern nur, weil er selber hilflos ist. Aber man muss sagen dürfen, was vorgefallen ist.
Anlässlich meiner dauerhaft gestörten Vater-Sohn-Beziehungen entstand in mir eine, damals noch nicht bewusst wahrgenommene Verhaltensanomalie. Ich wollte nicht erwachsen werden! Folglich will man die Wirklichkeit nicht sehen und hält unbewusst am „Kindsein“ fest. Vermutlich wird man gerade dadurch auch in anderen Dingen, wie in Glaubensfragen oder Fragen der Sexualität, in einer Traumwelt gefangen gehalten. Der Wunsch, nicht erwachsen werden zu wollen, ist heute unter dem sogenannten „Peter-Pan-Syndrom“ bekannt. Die Ursachen sind noch nicht vollends geklärt, mir ist jedoch klar, dass einige Symptome exakt auf mich zutreffen. Meine, im Peter-Pan-Syndrom beschriebene, durch die Ablehnung der Väter verursachte emotionale Missbildung oder auch Unfähigkeit zu Liebe in zwischenmenschlichen Beziehungen führte letztendlich dazu, dass ich meinen heutigen Sohn nie wie einen Sohn lieben konnte. Immer nur wie einen Bruder oder Kumpel. Ich konnte ihm nie Vatergefühle, Vaterliebe vermitteln, weil ich diese Gefühle selbst nie erfahren durfte. Vor diesem Buch konnte ich mein eigenes Fehlverhalten noch nicht mal benennen, es überhaupt als solches erkennen.
Gefühle und Emotionen, die man als Kind nicht lernt, sind als Erwachsener nur sehr schwer weiter zu vermitteln. Als Eltern, kann man oft nur die Erfahrung weitergeben, die man selbst gemacht hat. Das gilt im Positiven, wie im negativen Sinne. Ein Bäcker kann erst dann richtiges Brot backen, wenn er das Handwerk erlernt hat. Ein Bogenschütze wird erst dann zum Meisterschützen, wenn er sich die Technik aneignet durch Üben und Nachahmen. Es ist in allem und auch mit Verhaltensweisen so, die in einer Eltern-Kind-Beziehung geprägt werden. Wenn die Eltern dem Kind keine Liebe und Geborgenheit vermitteln, kann es, wenn es erwachsen ist, diese Liebe und Geborgenheit oft nicht weitergeben. Weil es dies nie gelernt, nie erfahren hat. Zugegeben, auch meine Eltern wurden in ihrer Kindheit schlicht und einfach aufgrund der selbst erfahrenen fehlerhaften Erziehung unfähig darin, Kinder zu lieben. Die Verkettung dieser unglücklichen Umstände ist der besagte rote Faden, der sich auch in die nächste Generation, bei meinem Sohn, fortzusetzen droht. Unser Sohn hat immer gemerkt, dass bei uns etwas anders ist als in anderen Familien. Er konnte es früher nie richtig zuordnen oder benennen. Und ich verstand damals nie, was ich falsch machte oder woran es lag. Er fühlte sich von mir abgelehnt, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Denn ich liebe meinen Sohn, auch wenn ich es nie richtig zeigen konnte. Glücklicherweise versuchte meine Frau, mein emotionales Defizit gegenüber unserem Sohn mit ihrer Liebe auszugleichen. Sie stand immer auf seiner Seite, wenn es darauf ankam, und das war auch gut so. Ich kann heute nur hoffen, dass er seine Kinder mehr lieben wird, als ich es je konnte. Damit sich meine emotionale Missbildung, der rote Faden, nicht in die übernächste Generation fortsetzt.
Ich kann hier leicht über meine Unfähigkeit zu tiefen Gefühlen innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen reden und schreiben, weil ich die Ursachen verstehe. Aber richtig nachfühlen, die Liebe zu einem Sohn, wie es sein sollte, wie es normal ist, das kann ich nicht. Mir fehlt etwas, was ich nicht nachholen, nicht nachfühlen kann. Die Folge der erlebten Traumas in meiner frühesten Kindheit. Das Problem an vielen negativen Kindheitserfahrungen ist, dass sie prägend sind. Besonders die ersten sieben Jahre im Leben eines Kindes sind wichtig. Trotz späterer positiver Einflüsse lassen sich Fehlentwicklungen in dieser Zeit nicht mehr auslöschen. Viele Dinge sind dann unwiederbringlich zerstört. Dank meiner Frau sind jedoch ein paar Verhaltensanomalien des „Peter-Pan-Syndroms“ bei mir heute nicht mehr so ausgeprägt, da sie während unserer Ehe die „Mutterrolle“ übernahm und mein emotionales Defizit auszugleichen schien. Sie übernahm die überfürsorgliche, nachgiebige, stets auf Harmonie und Konfliktvertuschung bedachte, sich zur Märtyrerin stilisierende „Mutterrolle“. Dass sie sich so aufopferte, liegt vermutlich in ihrer eigenen schwierigen Kindheit begründet, in der sie auch nie die Liebe erhielt, die für die „normale Entwicklung“ eines Kindes notwendig gewesen wäre. Bei ihr hat sich diese negative Kindheitserfahrung aber anders ausgeprägt. Denn negative Kindheitserfahrungen müssen sich nicht zwangsläufig immer in dieselbe Richtung entwickeln. Das Ganze ist abhängig von einer Vielzahl von Ereignissen, Traumas und Erfahrungen, die man als Kind macht. Viele positive und negative Lebensumstände kreieren sozusagen ihr eigenes Süppchen, eine eigene Persönlichkeit. Man könnte diesen Vorgang tatsächlich mit einem Kochrezept einer Suppe vergleichen. Jede Zutat, die hinzukommt, wegfällt, anders dosiert wird, verändert das Ergebnis mit zum Teil schwerwiegenden Folgen. Dazu reicht bereits etwas zu viel Salz aus und die Suppe ist ungenießbar ... Bei meiner Frau hat ihre negative Kindheitserfahrung dazu geführt, dass Sie sich im späteren Leben anders verhalten hat als ich. Ein Umstand, der eine Partnerschaft mit mir zusätzlich begünstigen wird. Zwei problembehaftete Menschen, meine Frau und ich, haben sich sozusagen gesucht und gefunden! Aber dazu später mehr …
Mit meinem elften Lebensjahr begann die Schulzeit in der Hauptschule, die auch noch von Gewalt und Mobbing durch andere Schüler geprägt war. Vermutlich spüren andere instinktiv, wenn man schwach und verängstigt ist. Insbesondere ein mehrere Jahre älteres Mädchen, das mir in der Schule vor und/oder nach Unterrichtsbeginn auflauerte. Nur, um mich zu schlagen, anzuspucken, zu demütigen oder um mir zu drohen, mir einfach Angst zu machen. Dieses Mädchen verhielt sich wie ein Junge, kleidete sich wie ein Rocker und hatte ein entsprechend aggressives Auftreten. Soweit ich damals erfahren habe, saß ihr Vater wegen Bankraub hinter schwedischen Gardinen. Allerdings kann das auch dummes Gerede gewesen sein. Menschen bauschen Geschichten gerne auf, wie man an der Klatschpresse gut erkennen kann. Aber wenn der Bankraub tatsächlich stattgefunden hat, war sie selbst nur ein Opfer ihrer eigenen häuslichen Umstände. Ich kann mich noch sehr gut an diese tägliche Angst vor diesem Mädchen erinnern, kurz vor der Schule, wenn ich aus dem Bus ausstieg, nach dem Unterricht und bei Schulschluss auf dem Weg zur Bushaltestelle. Sie löste mit ihren ständigen Drohungen und den Demütigungen für viele Jahre, tägliche Angstzustände in mir aus. Die Schulferien waren dabei immer meine Erlösung! Und während der Schulzeit suchte ich nach Gründen, nicht zur Schule gehen zu müssen, um vor diesen bedrohlichen Situationen zu fliehen. Das konnte ich oft nur erreichen, wenn ich krank war. Daraus entwickelte sich der Versuch, mich krank zu machen, und ich schluckte allerlei Zeugs. Mal irgendwelche grünen Blätter, mal Beeren von Bäumen aus dem Wald. Und ich erkrankte in der Tat. Entweder folgte eine sofortige Reaktion oder ich kehrte des Nachts mein Innerstes nach außen. Manchmal wurde das mit „schulfrei“ belohnt. Dass ich von den Pflanzen und Waldfrüchten hätte sterben können, bedachte ich in meiner kindlichen Naivität nie. Aufgrund der immer wieder erneut ausgelösten Übelkeit ließ ich irgendwann von dieser Idee ab. Die Jahre der Angst vor Schlägen und den Demütigungen in dieser Schule werde ich nie vergessen können. Eine weitere Erfahrung, die nicht gerade aufbauend ist für das eigene Selbstbewusstsein.
Ungefähr zwei Jahre später folgte ein Umzug unserer Familie von NRW nach Niedersachsen und diese täglichen Bedrohungen durch andere Schüler hörten damit glücklicherweise von ganz allein auf. Denn durch den Wechsel der Bundesländer musste ich auch die Schule wechseln. Das war eine unglaubliche Erleichterung für mich, denn in der neuen Schule war Mobbing kein Thema mehr. Aber wie das im Leben oft ist, das eine Problem beendet und das Nächste ist bereits im Anmarsch.
Denn in den ersten Monaten nach unserem Umzug spürte ich plötzlich diese fremden homosexuellen Gefühle, als ich einen nackten Mann in einer bekannten Jugendzeitschrift sah – auf der Seite mit der sexuellen Aufklärung! Ich fühlte mich zu diesem Bild mehr hingezogen als zu dem Bild mit dem nackten Mädchen. Um nicht zu sagen, weibliche Reize hatten plötzlich keine Wirkung mehr auf mich. Für einen Jungen sind diese Gefühle sehr seltsam, wenn man zuvor noch dieselben Gefühle für das andere Geschlecht hatte. Denn in meiner alten Heimat hatte ich eine Freundin, in die ich verliebt war. Sozusagen meine erste große Liebe nach meiner Mutter. Ich kann mich noch an den ersten Kuss mit diesem Mädchen erinnern, der mich total elektrisierte, als hätte ich Strom in den Lippen. Sogar den Wunsch nach sexuellem Kontakt hatte ich bei meiner Freundin bereits sehr früh. Ein Wunsch, der unerfüllt blieb. Nachdem ich von diesem Mädchen enttäuscht worden war, weil sie mit einem anderen Jungen ging, war ich auf der Suche nach einer neuen Freundin. Eine Suche, die nicht von Erfolg gekrönt war.
Zum Zeitpunkt meiner gerade neu entdeckten Neigung, mit zwölfeinhalb Jahren, war ich jedoch noch sehr naiv, verträumt und verspielt und wenig nachdenklich, was die Dinge in der Welt betraf, deshalb beachtete ich sie vorerst nicht weiter. Ich war schon länger der verträumte, in sich gekehrte Typ – möglicherweise wegen der vielen vergangenen negativen Erlebnisse. Diese neuen sexuellen Gefühle und das Nachdenken darüber sollten mich aber bald einholen, als ich mich in der neuen Schule in einen Klassenkameraden verliebte. Die Liebe auf den ersten Blick traf zum ersten Mal in meinem Leben auf einen Mann. Ich schämte mich unglaublich dafür, konnte aber nichts sagen. Unterbewusst wurde diese Scham vor diesen Gefühlen ausgelöst, weil mir klar war, dass ich von etwas Schlechtem heimgesucht werde, dass ich schwul bin, dass es etwas Falsches, Krankes und Verbotenes ist. Warum diese homosexuellen Gefühle damals in meinem Kopf derart negativ verankert waren, weiß ich nicht genau. Es war einfach so! Ich glaube, es lag daran, weil meine Umgebung das Wort „schwul“ als Schimpfwort benutzte und damit das Negative bereits suggeriert wurde.
Seitdem ich in meinen Klassenkameraden verliebt war, wurde der mit der Liebe einhergehende Liebeskummer und das Gefühl krank und unnormal zu sein mit jedem Tag unerträglicher. Alles in mir sehnte sich jeden verdammten Tag nach ihm und suchte seine Nähe. Ständig musste ich diese fremdartigen Gefühle aushalten. Jede Minute, jede Stunde, konnte ich an nichts anderes mehr denken als an ihn. Trotz meiner ständigen Gebete war der Liebeskummer ein Jahr später immer noch nicht vorbei. Ich konnte keine Minute mehr von diesem Mann abschalten, denn ich sah das Objekt der Begierde jeden Tag in der Schule. Völlig unverhofft entdeckte ich kurz darauf die Verbote in der Bibel. Ich las zwar bereits seit Jahren hin und wieder in diesem Buch, aber mit Hinweisen auf mein sexuelles Problem rechnete ich nicht. Die gelesenen Worte lösten unmittelbar ein konstant schlechtes Gewissen gegenüber Gott in mir aus. Meine Scham war von jetzt auf gleich extrem vergrößert. Die Bibel sagt, dass meine sexuelle Ausrichtung eine Sünde gegen Gott ist. Dass auf das Ausleben und Zulassen dieser sündhaften Gefühle die Todesstrafe steht. Das suggerierte mir, dass es etwas sehr Schlimmes sein musste, wenn man von Gott dafür mit dem Tode bestraft wird. Ich vermutete, das war der Grund, warum meine Gebete wegen dem unerträglichen Liebeskummer nicht erhört wurden. Entsprechend stark bauten sich seit diesem Tag meine Ablehnung gegen diese seltsamen Gefühle und sexuellen Bedürfnisse auf. Die Bibel war für mich bindend, da Gottes Wort. Hier ein Überblick über die Bibelverbote und Ermahnungen, die mir das Leben zur Hölle machten:
„Korinther Brief“ Was? Wisst ihr nicht, dass Ungerechte das Königreich Gottes nicht erben werden? Lasst euch nicht irreführen. Weder Huren noch Götzendiener, noch Ehebrecher, noch Männer, die für unnatürliche Zwecke gehalten werden, noch Männer, die bei männlichen Personen liegen, Blutschande und Sodomie sind ebenfalls Sünden gegen Gott.
„3. Mose 20,13“ Wenn ein Mann bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Gräuel ist, und sollen beide des Todes sterben.
„3. Mose 18,22“ Und du sollst nicht bei einer männlichen Person ebenso liegen, wie du bei einer Frau liegst. Es ist eine Abscheulichkeit.
„Römer 1,26 – 27“ Deshalb übergab Gott sie schändlichen sexuellen Gelüsten, denn sowohl ihre weiblichen Personen vertauschten den natürlichen Gebrauch von sich selbst, mit dem widernatürlichen und desgleichen verließen auch die männlichen Personen den natürlichen Gebrauch der weiblichen Person und entbrannten in ihrer Wollust zueinander, Männliche mit Männlichen, indem sie unzüchtige Dinge trieben und an sich selbst die volle Vergeltung empfingen, die ihnen für ihre Verirrung gebührte.
Seit ich Kenntnis davon hatte, gestaltete sich meine Situation immer schwieriger. Auch, weil über die Jahre meine Hormone immer mehr in Wallung kamen und sexuelle Wünsche immer mehr den Weg in mein Bewusstsein fanden. Gedanken, gegen die ich mich nicht wehren konnte. Wenn dir das Objekt der Begierde jeden Tag über den Weg läuft, sind Gedanken, nicht einfach auszulöschen. Die Bibelermahnungen verursachten mit der Zeit mein gnadenloses Unterdrücken meiner Homosexualität. Auch das Nachdenken und Zweifeln wurde gnadenlos unterdrückt, weil Fragen und Zweifel laut Bibel ebenfalls Sünde sind. Ich haderte zwar oft mit mir und meiner Situation, blieb jedoch immer treu und ließ keinen Zweifel zu. Sicher war das dumm von mir, aber was sollte ich machen ohne Erfahrung, ohne Wissen? Woher sollte ich wissen, dass ich falsch lag, wenn doch alle Welt die Bibel las? Woher soll ein Kind wissen, dass auch das geschriebene Wort in Büchern gelogen sein kann? Wissen fällt nicht vom Himmel auf einen herab. Die Gesellschaft, die Menschen um mich herum bestätigten mir immer wieder indirekt meine Handlungsweise durch ihre negative Einstellung gegenüber der Homosexualität. Auch durch ihre Kirchgänge mit der Bibel in der Hand! Von meinen Eltern wurde es mir ebenfalls nicht vermittelt, dass Homosexualität normal ist. Ganz im Gegenteil! Sonst wäre es wohl kaum so negativ in meinem Kopf verankert gewesen. Dass mein „Halt“ im Glauben über die Jahre durch die Bibelermahnungen zu einem Glaubensgefängnis mutierte, ahnte ich nicht im Entferntesten. Lange Zeit hielt ich mich nicht nur für krank, sondern auch von einem bösen Geist oder Dämon besessen, weil dieser Quatsch auch in der Bibel steht. Meine Schuldgefühle gegenüber Gott sind mit der Zeit derart ausgeprägt gewesen, dass ich fast jeden Tag die Zehn Gebote durchging. Ich fragte mich, welche Gebote ich nicht befolgte und warum ich von Gott mit Homosexualität bestraft werde. Nach einiger Zeit gab ich diese Manie auf, weil mir klar wurde, dass es daran nicht liegen konnte, dass es keine Strafe, vielleicht eine Bürde war. Beten und hoffen war das Einzige, was ich tun konnte.
Viele werden sich fragen, warum ich mich mit meinen Problemen nicht an einen Elternteil gewendet habe? Das war jedoch von vornherein ausgeschlossen. Meinem Vater brauchte ich mit Problemen, geschweige denn sexuellen Problemen nicht zu kommen, er lehnte mich schon seit Jahren ab. Liebe, Geborgenheit und Verständnis waren für ihn Fremdworte. Zudem war er für diese sexuellen Anomalien nicht gerade empfänglich, um nicht zu sagen, er lehnte Homosexualität total ab. Als Kind spürt man das! Und zu meiner Mutter fehlte ebenfalls das Vertrauensverhältnis. Sie fügte sich immer dem Willen ihres Lebensgefährten. Sie stand immer auf der Seite des Mannes, der gerade anwesend war, und nicht auf der Seite ihres leiblichen Kindes. Dadurch fühlte ich mich von ihr verraten und die Mutterliebe glaubte ich verloren zu haben. Jegliches Vertrauen wird hier bereits im Keim erstickt. Wir alle wissen, dass im Leben eines Menschen die Muttererfahrung entscheidend ist. Die Sehnsucht nach der Mutter ist eine unheilbare Krankheit. Zudem ist sie die erste große Liebe im Leben eines Kindes. Ohne sie fühlt man sich verwaist. Und Freunde hatte ich auch keine. Es gab außer Gott niemanden, mit dem ich über solche pikanten Dinge hätte reden können, über die ein kleiner Junge aus Scham eigentlich mit niemandem reden kann. Es gab keinen Menschen, zu dem überhaupt irgendeine Art von Vertrauensverhältnis existierte. Eigentlich sollten Eltern für diese Art von Vertrauensverhältnis da sein. Aber die bemerkten über die Jahre nicht, dass mit mir etwas nicht stimmte, dass ich mich in Jungs verliebte und es mir jahrelang fast täglich hundeelend ging, dass mir der Liebeskummer und die Schuldgefühle das Leben zur Hölle machten. Sie bemerkten nicht, dass ich mit den Jahren immer mehr Depressionen hatte, dass ich bereits in der Schule auffällig wurde, dass ich immer häufiger auch unter Darmbeschwerden litt. Niemand bemerkte, wie schlecht es mir eigentlich ging.
Fortan kämpfte ich allein gegen die sexuellen Gedanken und Wünsche und vor allem gegen den ständig präsenten Liebeskummer zu meinem Klassenkameraden an. Gerade dieser wurde immer unerträglicher. Aber sagen konnte ich nichts, Gott bewahre. Ich hätte mich vor Scham in Luft aufgelöst, wenn nur ein falsches Wort gefallen wäre. Ich verhielt mich unauffällig und versuchte mir nichts anmerken zu lassen. In der Schule wurde ich infolge der Erkrankung am Liebeskummer immer öfter auffällig aufgrund fehlender Konzentration. Denn ich suchte während des Unterrichts emotional die Nähe des Klassenkameraden, der mir in der Klasse auch noch gegenübersaß. Da war so etwas wie Konzentration im Unterricht natürlich nicht mehr existent. Anlässlich meines dauerhaft auffälligen Verhaltens verwies mich mein Klassenlehrer an den Schulpsychologen. Durch meine hyperaktiv verträumte Art blieb ich jedoch verschlossen und öffnete mich dem Schulpsychologen nicht. Wie käme ich dazu, einem wildfremden Mann von meinen Problemen zu erzählen? Ich hatte unglaubliche Angst etwas zu offenbaren, veranlasst durch meine Schuldgefühle, und ich wollte auch nicht darüber reden. Der Schulpsychologe hakte nicht weiter nach und verordnete mir autogenes Training, um meine Konzentrationsfähigkeit zu verbessern. Letztendlich musste ich allein mit diesen, für einen Jungen seltsamsten Gefühlen sowie den Scham- und Schuldgefühlen gegenüber Gott, mit der Gewissheit, dass ich nicht normal bin, klarkommen. Nicht mal im Traum konnte ich mir vorstellen, dass sehr viele Menschen homosexuell sind. In der Schule wird die Wahrheit nicht vermittelt und in der Bibel stehen auch keine genauen Zahlen. Verbote und Strafen stehen drin, alles andere nicht. Aber mir war schon klar, dass die Verbote nicht für mich dort eingetragen waren, dass es Menschen mit demselben Problem geben musste. Ich kannte nur keinen! Wenn ich wenigstens einen guten Freund, einen Menschen gehabt hätte, dem ich vertrauen konnte, hätte ich vielleicht meine Probleme klären können, um einen anderen Blickwinkel zu bekommen. Im besten Fall ein Freund, der mir sagt, dass ich falsch lag. Doch ich besaß weder Freundschaften noch selbst genügend Verstand.
In der neuen Umgebung, in Niedersachsen, war ich erneut sehr einsam. Ich konnte einfach keine Freunde finden. Das „Peter-Pan-Syndrom“ lässt grüßen? Ein Symptom dieser Erkrankung ist, dass die Suche nach Freunden erfolglos bleiben wird. Die Freunde, die ich nach zwei Jahren glücklicherweise durch Zufall fand, waren leider nur oberflächlich, denn für niemanden war ich besonders wichtig. Aber das war allemal besser als keine Freunde zu haben. Durch einen dieser Freunde entdeckte ich eine Fluchtmöglichkeit in eine Traumwelt. Die Welt der Fantasy-Rollenspiele! Dadurch eröffnete sich mir unbewusst ein Weg, mich zu betäuben, um nicht jeden Tag über meine Probleme und den Liebeskummer nachzudenken, um aus der Wirklichkeit zu flüchten. Schon als Kind, lange bevor diese seltsamen Gefühle bei mir zum Vorschein kamen, war ich ein Träumer. Ständig in meiner eigenen Welt versunken und nicht in der Wirklichkeit zu Hause. Durch das Fantasy-Rollenspiel war es jetzt leicht, mir neue Traumwelten zu schaffen. Wenn die Welt um einen herum zu schrecklich ist, erträumt man sich seine eigene Welt. Und die Fantasy-Rollenspielwelt war eine Welt, in der es mir besser ging. In der ich jemand ganz anderer sein konnte. In der ich der sein konnte, der ich sein wollte. Bei dieser Flucht bzw. bei diesem Rollenspiel verbrachte ich möglichst viel Zeit mit meinen neuen Freunden, was mir sehr gut tat, obwohl ich nicht wichtig war. Denn dabei sein ist alles! In dieser Rollenspielrunde konnte ich meine Probleme oft ganz vergessen. Und das waren immer meine schönsten Tage!
Mit meinem fünfzehnten Lebensjahr hörte Gott sei Dank, der Liebeskummer zu meinem Klassenkameraden endlich auf. Von Tag zu Tag nahm die Intensität der Gefühle ab. Ich war so was von erleichtert, wieder frei atmen zu können, das kann sich keiner vorstellen. In solchen Momenten spürt man erst, welchen Klotz man jahrelang am Bein hatte. Doch nur wenige Wochen später lernte ich Norbert, meine große Jugendliebe, kennen. Als ich ihn das erste Mal sah, schlug die Liebe wie ein Blitz ein, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Der Ort des Geschehens ist bis heute unvergessen. Erneut begann das Kopfkino mit dem Liebeskummer und den einhergehenden sexuellen Gedanken und Wünschen. Und die Verbote in der Bibel lösten erneute Schuldgefühle aus. Ich betete jeden Tag zu Gott, er soll die Liebe wieder aufhören lassen oder Norbert dazu bringen, mir zu sagen, dass er mich auch liebt. Denn ich hatte erstmals die Hoffnung, den Wunsch, der Liebe mit Gottes Segen nachgehen zu dürfen, dass Norbert auch so krank ist wie ich. Aber alles Bitten und Beten nutzte nichts. Ohne eine Antwort auf meine dringendsten Fragen blieb ich zurück.
Trotz dieser sündhaften Liebe ging ich dennoch eine Freundschaft mit ihm ein. Die „Liebe“ in mir wollte unbedingt in seiner Nähe sein. Ich wollte möglichst viel Zeit mit IHM verbringen, wenigstens seine Nähe spüren. Ich war letztendlich der Meinung, wenn ich nur in seiner Nähe bin und nicht aktiv werde, kann das keine Sünde sein. Durch die Freundschaft mit Norbert wurde meine Situation jedoch noch schwieriger als jemals zuvor. Es war jetzt kein Klassenkamerad mehr, mit dem ich nichts zu tun hatte, den ich ignorieren konnte, den ich nur in der Schule während des Unterrichts sah. Jetzt verbrachte ich fast täglich meine Freizeit mit einem Mann, in den ich unsterblich verliebt war. Wenn das Objekt der Begierde direkt neben einem sitzt, geht und steht, einen durch Zufall berührt, ist es kaum möglich, in eine Traumwelt zu flüchten. Diese zufälligen Berührungen fühlten sich jedes Mal an wie Stromschläge, als würde er und nicht ich unter Strom stehen. Das war alles unglaublich anstrengend! An unzähligen Tagen schmerzte mir das Herz. Herzrhythmusstörungen und Stiche bis in die Schulter. Jeden Tag ging ich durch die Hölle. Damals konnte ich mir nicht mal im Traum vorstellen, dass auch andere Männer homosexuell sind. Jedenfalls niemand, der in meiner Nähe war. Alle Jungs um mich herum redeten immer nur von Frauen. Und ich hielt mich mit meiner sexuellen Vorliebe immer mehr für einzigartig erkrankt.
Dieser erneute penetrant anhaltende Liebeskummer mit den einhergehenden Schuldgefühlen und dem ausgelösten emotionalen Stress schlug sich in den darauffolgenden Monaten in immer stärker auftretenden Darmbeschwerden und Magenschmerzen bei mir nieder. Sogenannte somatoforme Störungen oder auf Deutsch gesagt: "Seelischer Schmerz, der sich in körperlichen Reaktionen äußert, die keine körperliche Ursache hat." Diese somatoformen Störungen existierten aber schon lange vor der Entdeckung meine Homosexualität, die auch in meinen negativen Kindheitserlebnissen geschuldet sind. Obwohl ich mit den Jahren immer häufiger Darmbeschwerden hatte, die mich manchmal durch die heftig auftretenden schmerzen und Anfälle zu Boden drückten, gab es bei meinen Eltern keinen Grund zur Sorge. Warum sollten Sie mit ihrem Kind zum Arzt fahren? Es simuliert sicher nur! Statt mich zum Arzt zu bringen, wurde sich lustig gemacht. Bereits lange vor dem auftreten der Magen und Darmbeschwerden, begann bei mir ständiges Augenzucken und Nasendrehen, ebenfalls eine nervöse Störung, ausgelöst durch emotionalen Stress. Ein Umstand, der bei meiner Familie ebenfalls nur für Belustigung sorgte. Das Nasendrehen blieb zwar nur wenige Jahre, aber das Augenzucken war neben den Magen und Darmbeschwerden ein Symptom, welches sich bis zu meiner Heirat und noch viele Jahre darüber hinaus zeigte. Die Darmbeschwerden sind sogar bis heute geblieben, äußern sich jedoch nur noch alle paar Jahre, wenn es gut läuft. Die Abstände zwischen zwei Phasen wurden mit der Zeit immer länger.
Der Alkoholismus meines Vaters, der Mangel an elterlicher Fürsorge, die vielen wechselnden Partner meiner Mutter, Gewalt, Schläge, Streitigkeiten und Trennung der Eltern, Suizid des Vaters, veränderte die Familienstruktur in erheblicher Weise und sorgten bei mir neben dem Mobbing in der Schule, der Einsamkeit durch fehlende Freunde und der als krankhaft geglaubten sexuellen Ausrichtung, sowie dem nicht enden wollenden Liebeskummer zu anderen Männern für einen Summierungseffekt vieler negativer Faktoren.
Die Schuldgefühle aufgrund meiner verwirrten sexuellen Ausrichtung und der ständige Liebeskummer waren seit den stärker auftretenden Darmbeschwerden eine zusätzliche enorme Belastung. Das raubte mir die ganze Kraft. Ich war in den kommenden Jahren nur noch erfüllt von tiefer Trauer und schlechtem Gewissen wegen dieser verbotenen fremdartigen Gefühle und Begierden. Von morgens bis abends lief das Gedankenkarussell. Es gab selten und eigentlich nie Tage, an denen ich abschalten konnte. „Es“ war immer allgegenwärtig! Letztendlich dauerte es bei Norbert zwei Jahre, bis auch die Liebe wenigstens etwas an Kraft verlor. Ganz vorbei war sie jedoch nie. Beeinflusst wurde das Abnehmen der Gefühle, weil sich unsere Wege durch Beruf und Umzug trennten. Meine Eltern sind mit mir wieder zurück nach NRW gezogen und Norbert ist seiner Lehrstelle nachgereist – in die entgegengesetzte Richtung. Die Entfernung verhinderte, dass wir uns sehen oder treffen konnten. Nur auf der Berufsschule sah ich ihn noch manchmal, das fachte meine unerfüllte Sehnsucht jedoch immer wieder erneut an und sorgte für viele Wochen erneutem Kummer!
Ein paar Monate, vielleicht ein Jahr später, genau kann ich es nicht mehr sagen, verliebte ich mich erneut. Diesmal in einen Arbeitskollegen auf meiner Ausbildungsstelle. Selbst auf der Arbeit hatte ich jetzt keine Ruhe mehr vor dem Liebeskummer. Bis relativ schnell, Gott sei Dank, die Liebe dem Ende entgegenging, weil das Objekt der Begierde kündigte und mir folglich nicht mehr begegnete. Kurz darauf verliebte ich mich abermalig, diesmal in einen Mann aus dem Karateverein. Monate danach trat ich aus dem Verein aus, um vor diesen Gefühlen zu flüchten. Ich hatte die Nase gestrichen voll von diesem ständigen Gefühlschaos, dem Liebeskummer und vor allem davon, ständig dem Objekt der Begierde zu begegnen. Ich igelte mich zu Hause ein und es war wenig später zum Glück überstanden. Ich habe keine Ahnung wie das emotional geht, sich trotz der Liebe zu Norbert in weitere Männer zu verlieben. Das waren anscheinend nur Strohfeuer, eine Schwärmerei oder rein sexueller Natur. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Ich war anscheinend völlig durch den Wind. Die Einsamkeit wurde mein häufigster Begleiter, weil mich diese fremden Gefühle, die Bibelverbote, dazu drängten, zu flüchten. Weil es für mich scheinbar auch nicht möglich war, in einem Sportverein meinem Interesse am Kampfsport nachzugehen, übte ich fortan allein zu Hause. Mein Vater war davon nicht begeistert, denn ich plante, das Training mit einem Schwert zu erweitern. Aber er verbot mir den Besitz jeglicher Waffen. Ein Schwert, um Gottes willen, das durfte ich mir nicht kaufen. Wer weiß, was ich damit anstelle? Und das, obwohl er früher selbst mit Pistole und Gewehr hantierte. Heimlich versteckte ich die bereits vorhandenen Waffen wie Wurfsterne, Wurfmesser, Pfeil und Bogen in meinem Zimmer. Pfeil und Bogen waren Erinnerungsstücke von Norbert, die er mir schenkte, bevor sich unsere Wege trennten. Ich habe mich über das Geschenk riesig gefreut. Weil er mir etwas schenkte, was ihm selbst wichtig war. Das war damals in meinem Leben einmalig, dass mir ein Freund das Gefühl vermittelte, wertvoll zu sein. Als mein Vater eines Tages mein Zimmer heimlich durchsuchte, fand er Pfeil und Bogen und entsorgte diese sogleich im Mülleimer. Ich wurde vor vollendete Tatsachen gestellt! Davon war ich natürlich nicht begeistert, um nicht zu sagen, das stieß bei mir sofort auf massiven Widerstand. Denn der Bogen von Norbert war etwas Besonderes für mich!
Seit diesem Tag wurde ich erstmals verbal und konstant aufsässig. Zuvor wagte ich es nie, auch nur ein Widerwort zu geben. Mein neues, unerwartetes und aufsässiges Verhalten verursachte noch größeren Ärger. Wenn man sich jahrelang alles gefallen lässt und plötzlich aus diesem eingefahrenen Verhalten ausbricht, löst das natürlich Unverständnis auf der Gegenseite aus, weil sie keine Gegenwehr gewohnt ist. Aber mich mit siebzehn Jahren noch körperlich zu züchtigen, war nicht mehr angebracht, deshalb ließ sich mein Vater eine andere Bestrafungsmethode einfallen. Weil ich es wagte, mich aufzulehnen, mich seinen Anordnungen zu widersetzen, wurde ich mit konstanter Missachtung gestraft. Ich wurde von jetzt auf gleich vom gesamten Familienleben ausgeschlossen. Mir wurde verboten, mit der Familie an den alltäglichen Dingen wie Frühstück, Mittag- und Abendessen oder an anderen Aktivitäten teilzunehmen. Zum Essen, Waschen, Duschen und zu den Toilettengängen durfte ich die Räume, in denen sich mein Vater aufhielt, weder betreten noch durchqueren. Er konnte meinen Anblick nicht mehr ertragen. Weil er ständig Wohnzimmer und Küche belegte, fiel die eine oder andere Mahlzeit, der eine oder andere Waschgang für mich aus. Die eine oder andere Notdurft wurde von mir direkt neben der Haustür an der Tanne erledigt. Auch aus Trotz, um zu sagen, wie angepi... ich von der Situation war. An manchen Tagen bin ich nach der Arbeit erst gar nicht nach Hause gefahren und speiste gleich im Imbiss. Meine Mutter war, wie nicht anders zu erwarten, auf seiner Seite. Selbst meine Rollenspielfreunde wurden angefeindet, wenn sich mal eine der äußerst seltenen Situationen ergab, dass ich in meinem Zuhause ein oder zwei Mal im Jahr besucht wurde. Das war für die losen Freundschaften oder Bekanntschaften nicht gerade förderlich. Es reichte schon aus, wenn einer meiner Freunde auf die Toilette ging. Schon stand die Kanaille von Vater vor der Toilettentür und faltete ihn zusammen, fragte, was er hier zu suchen habe. Dieser kehrte anschließend irritiert zu mir ins Zimmer zurück und fragte, ob mein Vater noch ganz gesund sei. Natürlich verspürte niemand den Drang, mich noch einmal zu besuchen – klar, bei der außergewöhnlich freundlichen Gastfreundschaft ...
Diese bereits über viele Monate laufenden täglichen Anfeindungen, der konsequente Ausschluss vom alltäglichen Familienleben, wurden zu einem konstanten Problem für mich. Damit stocherte man in alten Wunden aus Lieblosigkeit und Ablehnung. Die Missachtung der Nächsten und die Isolation in der familiären Gemeinschaft sind nur schwer zu ertragen. Die psychische Belastung ist enorm. Meine Oma, die mit uns im Haus wohnte, empfand die Situation nach einigen Monaten ebenfalls als unerträglich. Ich bat sie schließlich, mit mir das Jugendamt aufzusuchen, um die Situation für mich zu verbessern. Gesagt, getan! Die Dame vom Jugendamt, die gleich am nächsten Tag bei uns vorbeischaute, konnte jedoch nichts ausrichten außer einer weiteren, noch größeren Eskalation als zuvor. Allerdings erst nachdem sie uns wieder verlassen hatte. Vorher wurde gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Meine Eltern waren alles andere als begeistert von diesem Überraschungsbesuch. Auch meine Oma war jetzt den Anfeindungen meiner Eltern ausgesetzt, weil sie mich auch noch zum Jugendamt begleitet hatte, für mich Partei ergriff. Die Dame vom Jugendamt meinte zu mir, dass ich bald achtzehn werde und ausziehen könne. Maßnahmen vom Jugendamt wären unter diesen Umständen nicht sinnvoll. Damit war die Angelegenheit für das Jugendamt erledigt. Aber die hatte gut reden, die musste das Leben in diesem Nest nicht ertragen. Natürlich hätte ich auch ihren Rat annehmen, meine Sachen packen und gehen können. Aber was bedeutete das? Mir fehlte jegliche Erfahrung, wie ich das "Ausziehen" anstellen sollte. Schließlich lebte ich schon immer zu Hause und etwas anderes konnte ich mir nicht vorstellen. Für diese Art Selbstständigkeit war ich noch zu naiv, zu kindlich und unerfahren, zu verträumt. Ich wusste Nichtmal, das man sich ein Zimmer oder eine Wohnung mieten kann. Ich war in meiner Entwicklung um Jahre zurück. Also blieb erst einmal alles, wie es war.
Etwa ein Jahr lang wurde ich mit Missachtung gestraft und vom alltäglichen Familienleben ausgeschlossen. Dieser tägliche Druck, diese tägliche miese Stimmung wurde immer unerträglicher. Meine losen Freundschaften lösten sich zu dieser Zeit ebenfalls in nichts auf und ich war wieder einsam und allein. Das drängte mich immer weiter in meine Traumwelt. Entweder in die Welt der Fantasy-Rollenspiele oder – ganz neu – in meine Computerspielwelt. Denn von meinem Ersparten gönnte ich mir meinen ersten eigenen Spielecomputer. In der Computerspielwelt konnte ich sogar noch besser abschalten und alles um mich herum verdrängen und vergessen. Diese Welt konnte ich nach Belieben auch ganz allein betreten. Und die Monate flogen dahin ... Bis zu meinem achtzehnten Geburtstag! Hier riss mich ein völlig unerwartetes Ereignis abrupt aus meiner Traumwelt. Es fand keine Party an meinem Geburtstag statt, wie sich das die meisten vorstellen oder wie das „normal“ ist. Denn ich feierte seit den negativen Erlebnissen an meinem zehnten und elften Geburtstag nicht mehr. Ein Geschenk gab es an meinem achtzehnten Geburtstag ebenfalls nicht. Das Verhältnis zu meinen Eltern war zerrüttet, seit dem Auftritt des Jugendamtes. Zudem befanden sie sich zu dieser Zeit im Urlaub. An diesem Tag war ich ganz allein und Norberts Mutter rief mich an. Aber nicht, um mir zu gratulieren, denn sie wusste nichts von meinem Geburtstag, sondern um mir Norberts Tod mitzuteilen, der in der Nacht zuvor verstorben war. Als Norberts bester Freund sollte ich das als Erster erfahren, sagte sie. Im ersten Moment war ich sehr gefasst und vergoss keine einzige Träne. Mancher Schmerz ist so groß, dass das Auge keine Träne weinen kann, sondern nur das Herz still und leise Blut weint. Ich konnte es bis zur Beerdigung nicht begreifen, dass er tot war. Nach dieser Hiobsbotschaft setzte ich mich wieder vor meinen PC und spielte weiter. Am späten Abend, am Ende des Computerspiels, fühlte ich mich allein und spürte diese Depression, diese Leere, wie sie mich packte. Erstmals gefolgt von Suizidgedanken, dieser Unlust am Leben. Es war niemand da, mit dem ich reden konnte. Ich weiß nicht mehr, was an dem Abend in mir vorging. Ich weiß nur, dass eine Spontanreaktion folgte. Ohne lange zu überlegen, griff ich zu einem Gift, einem Härter einer Spachtelmasse und schluckte den Inhalt der ganzen Tube hinunter. Auf der Tube war ein Totenkopf abgebildet mit dem Hinweis „Giftig“! Folglich musste das tödlich sein, dachte ich zumindest in meiner kindlich naiven Denkweise. Ich wartete darauf, dass ich sterbe ... Stunde um Stunde verging und es passierte nichts. Es tat sich nichts, nicht einmal Magenschmerzen. Ich war einfach zu naiv und zu dumm, mich umzubringen. In meinen Gedanken war zwar noch die Möglichkeit, mich mit einem Messer zu erstechen, aber das erschien mir zu schmerzhaft und deshalb war der Gedanke schnell vergessen. Dass Gift auch schmerzhaft sein kann, darüber dachte ich nicht nach. Das mit der Naivität ist so, dass man es selbst nicht bemerkt, das Problem damit haben in der Regel die anderen.
Wenige Tage später kehrten meine Eltern aus ihrem Urlaub zurück, und der Tag von Norberts Beerdigung stand ebenfalls fest. Sie waren wie immer so sehr um mich besorgt, dass ich noch nicht mal zur Beerdigung begleitet oder hingefahren wurde. Folglich musste ich selbst sehen, wie ich dorthin gelangte. Für die Hunde war kein Kilometer zuviel, für die eigenen Kinder schon. Auf Norberts Beerdigung angekommen, als ich am Grab stand, begriff ich seinen Tod wirklich. Ich wollte ihn noch ein letztes Mal sehen, aber es war zu spät. Der Sarg war bereits verschlossen. Vielleicht konnte ich deshalb bis heute nicht mit seinem Tod abschließen, weil ich ihn nie tot sah? Erst an seinem Grab begann ich zu weinen und konnte nicht mehr aufhören. Ich störte nach wenigen Minuten bereits den Ablauf der Beerdigung und Norberts Schwester musste mich beiseitenehmen.
Nach diesem Tag fiel ich in ein tiefes Loch, noch tiefer als jemals zuvor. In den kommenden Wochen folgten erneute Depressionen und ich unternahm einen zweiten ebenso hilflosen Suizidversuch, diesmal mit Quecksilber aus einem Thermometer. Denn Quecksilber soll bekanntlich auch giftig sein. Ich schluckte es, aber es passierte wieder nichts. Von einem auf den anderen Moment kam ich mit meinem Leben nicht mehr klar. Meine Depressionen verstärkten sich nach den missglückten Suizidversuchen noch weiter. Auf der Suche nach Hilfe in meiner verzweifelten Situation wendete ich mich an den ortsansässigen Pfarrer, den ich aus dem Sonntagsgottesdienst kannte. Denn mit Problemen brauchte ich meinen Eltern nicht zu kommen. Wenn mein Vater erfahren hätte, dass ich homosexuell bin, wäre er total ausgerastet und hätte noch zusätzliche Waffen bekommen, um mich fertigzumachen. Seit seinem Motorradunfall vor vielen Jahren war er schon länger mit seinem eigenen Leben unzufrieden und ich bekam seitdem den ganzen Frust ab. Deshalb musste ich mir anderweitig Hilfe organisieren. Den Pfarrer aus dem Gottesdienst, als Mann Gottes, hielt ich für eine gute Wahl bei Fragen und Problemen. Meine letzte Hoffnung sozusagen ...
Nach meinem spontanen Besuch im Pfarramt, nach einem kurzen Gespräch, begleitete mich der Pfarrer in die Kirche, legte mir die Hand auf und vergab mir meine Sünden. Zugegeben, er wusste so gut wie nichts von meinen Problemen. Ich war durch meine plötzlich aufkommende Scham, auch aufgrund der Schuldgefühle, sehr wortkarg. Offensichtlich konnte er nicht anders reagieren, als mir eine individuelle Sündenvergebung zu erteilen sowie den Rat, der ortsansässigen Bibeljugendgruppe oder dem CVJM beizutreten. Dieser erste Hilfeversuch war irgendwie gescheitert, er löste meine Probleme nicht. Seine Sündenvergebung verstärkte die Schuldgefühle lediglich. Er bestärkte meine Gewissheit, dass es etwas Verbotenes ist, sich in Jungs zu verlieben. In der darauffolgenden Woche folgte ich seinem Rat und trat der Bibeljugendgruppe bei, die mir über die weiteren Monate auch so weit ganz gut tat, weil ich abgelenkt war und überaus freundlich aufgenommen wurde. Hier waren Menschen, die mir ausschließlich Freundlichkeit entgegenbrachten. In dieser Gemeinschaft lernte ich innerhalb kurzer Zeit ein Mädchen namens Gaby kennen. Daraus entwickelte sich über die weiteren Wochen und Monate eine Freundschaft und Vertrauen baute sich zu ihr auf. Auch wegen ihrer Computerspielekonsole, ein gemeinsames Laster. Nach einigen Monaten, sehr vielen gemeinsamen Spieleabenden und gemeinsamen Besuchen der Bibelstunde sah Gaby in mir bereits mehr als nur einen „Freund". Und ich ließ mich darauf ein, obwohl mir selbst nicht ganz klar war, was sich hier anbahnte. War dies mein unbewusster Versuch, eine Frau lieben zu lernen, so wie es die Bibel vorsah?
Aufgrund des aufgebauten Vertrauens, der seit vielen Monaten anhaltenden Freundschaft und einer erneuten Depression offenbarte ich ihr nach einer der abendlichen Bibelstunden mein Problem mit meiner sündigen Natur, mit meiner verwirrten Sexualität. Ich benannte es aber nicht mit dem Wort „Homosexualität“. Das Wort konnte ich vor Scham nicht aussprechen. Ich erzählte ihr nur von einem der oben aufgeführten Bibelverbote, die mein Problem benennen. Weil keiner von uns an diesem Abend eine Bibel dabei hatte, wollte sie es zu Hause nachschlagen und wir verabschiedeten uns vorerst, um am nächsten Tag darüber zu reden. Als ich am darauf folgenden Tag Gaby zu Hause besuchte, erhielt ich sofort Haus- und Umgangsverbot von ihren Eltern. Mitgeteilt wurde mir das aber durch Gaby. Ihre Eltern ließen sich seltsamerweise nicht mehr blicken wie sonst üblich. Diese zuvor, seit vielen Monaten, vermittelte Freundlichkeit wandelte sich in Missachtung. Die Gründe dafür ahnte ich wenig später. Denn Gaby hatte vermutlich mit ihren Eltern über die von mir genannten Bibelverbote gesprochen. Sie sagte, ich müsse das Haus umgehend verlassen und dürfe es nie wieder betreten. Ihre Eltern waren anscheinend so angewidert von mir, dass sie mir das nicht einmal persönlich ins Gesicht sagten und ihre Tochter vorschickten. Als ich das Haus verließ, ließ sich keiner dieser scheinheiligen Christen blicken! Ohne Worte, ohne eine Erklärung wurde ich einfach abgelehnt und hinausgeworfen. In der Bibeljugendgruppe und Bibelstunde durfte ich mich ebenfalls nicht mehr sehen lassen, denn ihre Eltern leiteten diese. Damit waren die Freundschaft und meine Besuche der Bibelstunde von jetzt auf gleich beendet. Ich schämte mich in Grund und Boden. Aber innerlich gab ich ihnen recht, hegte keinen Groll. Ich wusste, dass ich der Sünder, der Aussätzige war mit meiner Homosexualität. Ich war der Schuldige!
Heute frage ich mich, warum haben sie nicht so etwas gesagt, wie: "Homosexualität ist ganz normal. Es ist OK, wenn du auf Männer stehst." "Oder, die Worte in der Bibel darfst du nicht wörtlich nehmen, die entsprechen nicht der Wahrheit. Gott liebt dich so, wie du bist." Aber nein, sie konnten mich nur hinauswerfen und mich noch tiefer in die Schuldgefühle stürzen als jemals zuvor. Und überhaupt, warum hatte Gaby es gleich ihren Eltern erzählt? War sie genauso naiv wie ich und wusste keinen Rat? Letztendlich stand ich wie zuvor allein da mit meiner sündigen Natur. Homosexuelle wollen die Christen weder in ihrer Nähe noch in ihrer Bibelstunde sehen? Da wird die Nächstenliebe gepredigt auf Teufel komm raus, aber bei Homosexualität hört der Spaß auf? Dieser Hilfeversuch beim Pfarrer und bei Gaby war mehr als gescheitert. Alle bestätigten nicht nur meine Schuldgefühle, sie steigerten sie sogar noch weiter.
Kurz darauf eskalierte meine Situation auch zu Hause und es gab noch größerer Streit und Ärger mit meinen Eltern. Der war zwar bisher schon unerträglich, seitdem das Jugendamt bei uns gewesen war, aber nach diesen Ereignissen eskalierte die Situation. Denn ich hatte auch keine Nerven mehr … In der letzten heftigen Auseinandersetzung mit meinen Eltern überschlugen sich die Ereignisse. Es folgte meine plötzliche Flucht von zu Hause und meine Obdachlosigkeit. In der neuen Umgebung (im Wald und am Baggersee) war ich von jetzt auf gleich frei wie ein Vogel und meine Probleme waren schnell vergessen und verdrängt. Ich versuchte, alles Alte hinter mir zu lassen. Es fühlte sich an wie ein neues Leben, dabei war die Obdachlosigkeit kein Problem für mich. Das realisierte ich überhaupt nicht durch dieses neue Gefühl der Freiheit. Ich übernachtete in dieser Zeit im Wald – ohne Decke und ohne Zelt. Aber mit täglichem Lagerfeuer, Bratwürstchen grillen, der einen oder anderen Flasche Bier und neuen Freunden, die ich dort glücklicherweise kurz zuvor kennenlernte. Freunde, die, "GOTT SEI DANK!", meine verwirrte Sexualität nicht reizten – das Positivste dieser Zeit. Zum Glück hatte ich in diesen Wochen ausschließlich gutes Wetter. Ohne Zelt wäre es ansonsten etwas feucht geworden. Diese Erlebnisse, jeden Tag mit Freunden etwas unternehmen, nicht mehr alleine sein, war meine schönste Zeit. Einer dieser neuen Freunde sorgte wenig später sogar dafür, dass ich bei ihm zu Hause ein Zimmer bekam, damit ich nicht noch länger im Wald nächtigen musste. Dass es so viel Glück auf einmal gab! Sonst hätte ich mich im Wald womöglich häuslich niedergelassen. Meinen Eltern war es nur recht, dass ich weg war. Die interessierte es nicht, wo ich abgeblieben bin. Fürsorgliche Eltern würden sich doch um ihr Kind sorgen, trotz des Ärgers, wenn es für Monate zu Hause nicht mehr auftaucht? Wie es dem Kind geht und wo es untergekommen ist? Ob es seine Ausbildung beendet hat, ob es etwas zu essen hat, ob es noch lebt? Meine Eltern machten sich keine Gedanken! Die waren froh darüber, dass Ruhe einkehrte. Von deren Seite war das Problem mit mir erledigt, als wenn man einen alten wertlosen Schrank zur Abholung, zum Sperrmüll an die Straße stellt. Denn wo der Müll letztendlich bleibt interessiert keinen mehr ... Daran erkennt man die Wertschätzung, die mir entgegengebracht wurde, sehr deutlich. Das in mir vorherrschende Gefühl wertlos und unwichtig zu sein, wurde damit unterbewusst bestätigt.
Norberts Tod, der Ärger zu Hause und meine Homosexualität verdrängte ich in der neuen Umgebung unverarbeitet. Viele Monate klappte das auch! Aber neue Freunde hieß auch wieder neue unbekannte Begegnungen. Und prompt passierte es aufs Neue. Ich verliebte mich wieder in einen Mann. Die Liebe auf den ersten Blick traf mich ein weiteres Mal! Er wohnte im selben Haus und ich begegnete ihm mehrmals täglich. Das machte es mir unmöglich, vor den Gefühlen wegzulaufen, und mein Beten zu Gott nutzte wieder nichts. Ich unternahm hier erstmals einen vorsichtigen Annäherungsversuch am Objekt der Begierde, als er bei mir zu Besuch war. Nachdem er bemerkte, welche Absichten ich hatte, verlies er erschrocken mein Zimmer. Da ich an diesem Abend etwas Alkoholisches getrunken hatte, konnte ich es damit entschuldigen und hoffte er würde es auch so sehen und diese Peinlichkeit vergessen ohne mich zu kompromittieren. Das Ganze empfand ich als höchst demütigend. Veranlasst durch den erneuten Liebeskummer und das Gefühlschaos mit meiner verwirrten Sexualität erreichten meine Depressionen und Suizidgedanken, meine Verzweiflung in den folgenden Monaten ein erneutes Hoch. Alle alten Probleme stürzten wieder auf mich ein. Ich wusste damals nicht mehr, wie ich dem Gefühlschaos meiner sündigen homosexuellen Neigung entkommen sollte. Jeden Tag ging es mir auf Deutsch gesagt „Scheiße“. Für mich schien der Freitod der einzige Ausweg zu sein. Der einzige Weg, den Kummer und das Leid endlich zu beenden. Der einzige Weg, die Sünde gegen Gott zu verhindern. In der Bibel steht geschrieben, wenn dich dein Arm zur Sünde verleitet, reiß ihn aus. Und wenn mich mein Körper zur Sünde verleitete, konnte der Suizid keine Sünde sein, dachte ich zumindest in meiner naiven Denkweise. Bei der Planung meines Ablebens kam mir dann der Zufall zu Hilfe. Bei einem Arztbesuch lagen Schlaftabletten auf dem Tisch im Behandlungszimmer und ich las aus der Entfernung das Kleingedruckte: „Nicht an Suizidgefährdete verschreiben.“ Das begriff jetzt auch so ein Naivling wie ich. Ohne lange zu überlegen, leerte ich beide Packungen und steckte mir die Pillen in die Tasche. Ich nahm gleich alle mit, diesmal sollte nichts schiefgehen. Die leeren Packungen legte ich wieder hin, um den Schein zu wahren. Der Diebstahl war geglückt!
In dieser verlorenen Situation, in diesem Gefühlschaos kurz vor meinem dritten Suizidversuch, trat völlig unerwartet ein Engel in mein Leben. Nein, kein leibhaftiger Engel, sondern meine zukünftige Frau, die ich im Haus meines Freundes kennenlernte. Die von dem ganzen Ausmaß meiner Situation nichts wusste, nichts ahnte. Sie bemerkte lediglich, dass es mir sehr schlecht ging, bohrte und fragte in den folgenden Monaten immer wieder penetrant nach, was mit mir los sei. Bis ich Ihr schließlich offenbarte, dass ich nicht mehr leben wollte. Aber im Grunde meines Herzens wollte ich eigentlich nicht sterben. Ich wollte nur das Leid mit meiner verwirrten Sexualität nicht mehr aushalten müssen. Ich wollte diese Schuldgefühle, dieses unerträgliche Kopfkino, den Liebeskummer loswerden und frei davon sein. Sie bohrte immer wieder nach, um auch die Gründe für meine Depressionen zu erfahren. Aber ich wollte den Grund meines geplanten Suizids nicht offenbaren. Ich weiß nicht, warum, aber der Suizid war erst einmal verschoben. Vielleicht aufgrund der Hoffnung? Meine zukünftige Frau war der erste Mensch, neben meiner Oma, der mir ganz selbstverständlich Verständnis und Liebe entgegenbrachte, der mir das Gefühl gab wertvoll zu sein.
In der Anfangszeit, als ich sie kennenlernte, folgte ein eigentlich harmloses Essen in ihrer Wohnung. Wie jeder weiß, Liebe geht bekanntlich durch den Magen. An diesem Tag ging mir auch Liebe durch den Magen. Denn der Mann, in den ich mich vor Kurzem verliebt hatte, ausgerechnet der sollte an diesem Tag auch zum Essen kommen. Letztendlich ist er zwar nicht erschienen, aber meine zukünftige Frau spürte, dass etwas mit mir nicht stimmte. Daraufhin löcherte sie mich erneut, was mit mir los sei, was ich habe. Ich empfand es als grausam, dass ich so penetrant mit Fragen gelöchert wurde, weil mir nicht nur die Fragen, sondern vor allem die Antworten höchst unangenehm waren. Nach langem Hin und Her fasste ich allen Mut zusammen und sagte ihr wörtlich, dass es etwas ganz Schlimmes ist. Sie dachte erst, dass ich jemanden ermordet hätte. Ich sagte wörtlich: „Nein, es ist etwas viel Schlimmeres.“ Ich gestand ihr schließlich, dass ich glaubte, homosexuell zu sein. Im selben Moment bin ich vor Scham im Boden versunken, lief weg und schloss mich im Badezimmer ein. Erst nach langem Diskutieren vor der Badezimmertür wagte ich es, ihr wieder unter die Augen zu treten, mit geneigtem Kopf. Anschließend wollte sie dem "homosexuell" genauer auf den Grund gehen und fing an, unangenehme Fragen zu stellen, die ich nicht beantworten wollte. Sexuelle Fragen, denen ich auch in den späteren Jahren immer aus dem Weg ging. Fragen, die ich vor Scham nicht hören wollte. In dieser Diskussion kam schnell das Thema auf, was mich an einem Mann interessiert, was ich anziehend finde. Oh Gott, das war so unglaublich peinlich! Ich konnte diese Antworten, die ich hätte geben müssen, vor Scham nicht in Worte fassen. Aber sie ließ nicht locker und diskutierte mit mir weiter über dieses schreckliche Thema. Sie bohrte immer wieder nach und ich wiegelte immer wieder ab. Um das Thema endlich zu beenden, sagte ich, dass mich alles, was sich unterhalb des Bauchnabels am Mann befindet, NICHT interessiert. Was sollte ich anderes sagen? Ich konnte die Wahrheit nicht aussprechen. Ich konnte nur zugeben, dass ich die Muskeln an Männern anziehend finde, alles andere behielt ich für mich. Sie war deshalb der Meinung, das wäre bei mir keine homosexuelle Neigung, sondern nur eine Art Bewunderung für Männer mit Muskeln. Und mir war das auch recht so. Meine anfängliche Aussage, dass ich glaubte, homosexuell zu sein, war für mich schon mehr als unerträglich. Dass ich das alles bis ins kleinste Detail aussprechen, beschreiben, benennen und ausdiskutieren sollte, war unüberwindlich. Durch die Schuldgefühle, meine Scham, das Gefühl krank und unnormal zu sein und der daraus resultierenden Weigerung mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, nahm das Schicksal seinen Lauf.
In einer Jahre späteren ähnlichen Diskussion, nach unserer Heirat, um dasselbe Thema, denn meine Frau schnitt das Thema immer wieder mal an, sagte ich noch, selbst wenn ich homosexuell wäre, würde ich es niemals ausleben. Die Verbote in der Bibel waren für mich bindend, da gab es keine Diskussion! Seitdem entwickelte es sich, dass sich meine Frau in dem Glauben bestätigt fühlte, dass ich nicht schwul sein konnte. Ich wollte dabei meine Traumwelt nicht verlassen und redete mir schon selbst ein, dass ich nicht homosexuell sein kann, weil mich das NICHT zu interessieren hat. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Mein Geständnis beim Essen war mein letzter gescheiterter, etwas hilfloser und auch ungewollter Hilfeversuch. Innerlich war ich schon länger nicht mehr dazu bereit, diese seltsamen Gefühle zu offenbaren.
In den darauffolgenden Monaten, bei gemeinsamen Unternehmungen, verliebte meine Frau sich in mich und wir fanden einander. Wir kamen uns näher und sie ist mir dabei sehr ans Herz gewachsen. Aber leidenschaftliche Liebe für eine Frau zu empfinden, das konnte ich nicht. Ich liebte sie auf die einzig mögliche Weise für einen homosexuell veranlagten Mann. Das sagte ich jedoch nicht und zog sie damit in meine Situation mit hinein. Ich weiß nicht einmal, warum ich mich auf diese Beziehung einließ. Es gab, denke ich, verschiedene Faktoren, die zusammentrafen. Zum einen, weil mir mein eigenes Leben nichts wert war und ich sie vor ihrem Exfreund beschützen wollte, der sie anfangs oft bedrängte. Und natürlich, weil ich nach Liebe und Geborgenheit suchte und genau das bei ihr fand. Natürlich auch in dem Gedanken, dass meine homosexuelle Neigung verboten, krank und nicht von Gott gewollt ist und – das Peter-Pan-Syndrom lässt grüßen. Ich steckte mitten in einem sexuellen Rollenkonflikt und bemerkte es nicht. Mein Wunsch, geliebt zu werden, wertvoll und geborgen zu sein, meine Unsicherheit und mein mangelndes Selbstvertrauen führten letztendlich auch zu dieser Partnerschaft. Zudem wollte ich leben, wie Gott es will, oder zumindest, wie ich glaubte, dass Gott es will.
„Seid fruchtbar und mehret euch.“
So, wie es die Bibel vorsieht. Letztendlich ist es darauf hinausgelaufen. Auch darauf, dass ich meine Angst vor der Sünde gegen Gott und meine Scham nicht überwinden konnte. Ich glaubte, wenn ich Gottes Willen erfülle, eine Frau zu heiraten, wird sich das Problem schon von alleine lösen. Ich wollte unbedingt normal, „hetero“ sein, wie alle anderen Menschen um mich herum. Viele Probleme und Konflikte führten dazu, dass ich mich auf diese Ehe einließ.
Seitens meiner Frau führten ihre eigenen Probleme zu dieser Partnerschaft. Ihre zehnjährige Beziehung war erst seit Kurzem beendet. Ihr Ex schlug sie sehr oft und behandelte sie viele Jahre lieblos, wie eine Gefangene. Das löste massive Angstzustände sowie immer weiter zunehmendes Übergewicht bei ihr aus. Aufgrund der erlebten Gewalt war sie am Ende der Beziehung wie gelähmt. Sie musste sogar in einer Kur wegen ihres Martyriums behandelt werden. Als ich davon erfuhr, tat mir das unglaublich leid und wollte sie behüten vor dem bösen Mann, denn der ließ immer noch nicht locker, wollte sie zurück und bedrängte sie ständig. Wir rückten in dieser Situation beide näher zusammen, weil wir beide Liebe, Geborgenheit und Zuneigung brauchten. Innerhalb kurzer Zeit bezogen wir relativ schnell eine gemeinsame Wohnung und darauf wurde auch schon die Heirat geplant. Heute ist mir bewusst, unser Verhalten war eher eine Art Flucht als eine wohlüberlegte Handlung. Vor allem von mir, denn noch immer litt ich unter Depressionen und Suizidgedanken aufgrund meiner verwirrten sexuellen Neigung, dem Liebeskummer zu einem Mann, der nicht enden wollte. Noch immer hielt ich die Schlaftabletten versteckt, mit denen ich meinen Suizid durchführen wollte, wenn es unerträglich werden würde. Ich wollte diese für mich befreiende Lösung meines großen Problems nicht einfach aufgeben.
Als meine zukünftige Frau die Tabletten entdeckte, setzte sie alles in Bewegung, um mir zu helfen. Sie war der erste Mensch in meinem Leben, der sich wirklich für mich interessierte und sich selbstlos einsetzte, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Sie überzeugte mich davon, dass ich die Tabletten dem bestohlenen Arzt zurückgeben sollte. Ohne das ich davon wusste, hatte sie schon zuvor mit ihm ein längeres Gespräch geführt, wie man mir am besten helfen könne. Nach der Rückgabe der Tabletten überzeugte mich mein Hausarzt, ohne dass er von den Details meiner Probleme wusste, dass eine Therapie der beste Weg sei, meine Suizidgedanken loszuwerden. Aufgrund der Dringlichkeit war alles relativ schnell beantragt und es standen die ersten Therapiestunden im psychologischen Beratungszentrum an. Bei den ersten Terminen mit einer Psychologin erzählte ich ihr von der geplanten Hochzeit und von meinen Depressionen, meinen Suizidgedanken. Ich offenbarte jedoch nichts von den Gründen, von meiner verwirrten Sexualität, dem Liebeskummer zu einem Mann und meinen Schuldgefühlen aufgrund meines Glaubens. Ich war sehr wortkarg und wenig freizügig mit weitergehenden Informationen. Die vergangenen Erfahrungen hatten mich gelehrt, dass mir nicht mehr zu helfen ist, dass eine Offenbarung meiner Gefühle mir alles andere als Hilfe einbrachte, und meine Lippen blieben versiegelt. Auch meine Scham war ganz erheblich daran beteiligt! Nach den ersten Therapiestunden verzweifelte die Psychologin langsam an mir. Sie sagte am Ende der letzten Sitzung, dann solle ich mich halt umbringen, es warten genug auf meinen Therapieplatz. Aber heiraten, das darf ich auf keinen Fall. Meine Freundin und ich, jeder von uns beiden, solle in eine andere Richtung ziehen. Am besten wäre es, wenn der eine nach Hamburg und der andere nach München ziehe. Zwei Lahme können sich nicht stützen, meinte sie. Das machte mich total unsicher, ob meine Entscheidung mit der Heirat richtig war. Als meine zukünftige Frau von der Aussage der Psychologin erfuhr, das ich aufgrund ihrer Warnung die Heirat verschieben wollte, war sie wie vor den Kopf gestoßen und völlig aufgelöst. Auch, weil für die anstehende Hochzeit bereits alles organisiert und bestellt war. Sie verstand nicht, wie meine Psychologin so etwas sagen, mich verunsichern konnte. Nachdem meine Frau sich wieder beruhigt hatte, sagte sie, ich solle mich frei und ohne Druck entscheiden, ob ich sie heiraten möchte. Aber ich wusste nicht mehr, was richtig oder falsch war. Alles drehte sich in meinem Kopf und ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich wusste nur, dass sie der einzige Mensch auf der Welt war, der mich liebte, der mir Geborgenheit und Liebe gab. Ein Mensch, der mir sehr viel bedeutet. Außer ihr hatte ich sonst niemanden! Also blieb es dabei, wie es geplant war. Ich sagte, dass ich sie heiraten wolle, Punkt.
Danach folgte – wie in diesen Jahren häufiger – häusliche Eskalationen. Anlass gaben meine launische Art, mein kindliches Verhalten und meine Depressionen, ursächlich bedingt durch den Liebeskummer, meiner verwirrten sexuellen Ausrichtung und der daraus entstandenen Unzufriedenheit. Wir gerieten in den ersten Jahren aufgrund meiner Probleme des Öfteren aneinander. Denn der Liebeskummer zu diesem Mann hielt noch ca. 3 Jahre an, ohne dass für mich ein Ende in Sicht war. Ich war nervlich oft so stark angespannt, dass ich schnell in Wut geriet, die sich plötzlich auch gegen mich selbst richten konnte. Aber das sagte ich meiner Frau nicht, sie wusste nichts von den Gründen. Sie wusste zwar von einer Art Liebeskummer zu diesem Mann, den schob sie jedoch auf eine harmlose Schwärmerei, auf eine Art Bewunderung. Bei diesem Streit, ich weiß nicht mal mehr, worum es ging, folgte der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich reagierte in meiner Wut mit einer Kurzschlussreaktion, einem erneuten Suizidversuch mit einer giftigen Pflanze. Die Schlaftabletten hatte ich leider nicht mehr. Von der Pflanze las ich zuvor in einem Bericht, dass sie sehr giftig und tödlich ist. Ich entdeckte, dass diese Zimmerpflanze auch bei uns zu finden war. Seltsamerweise konnte ich mir solche Dinge gut merken. Nach der Einnahme musste ich sofort ins Krankenhaus. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht hatte. Vermutlich passierte es aus meiner Verzweiflung und/oder Hilflosigkeit heraus oder ich stand unterbewusst unter Druck angesichts der geplanten Hochzeit. Die Psychologin hatte mich ebenfalls zum Suizid ermuntert. Im Krankenhaus angekommen, wurde ich nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst. Ich wurde auf einer Liege fixiert und mir wurde der Magen ausgepumpt. Sehr angenehm war das nicht ... Nach einer Woche wurde ich ohne weitere Auflagen aus dem Krankenhaus entlassen.
Unweigerlich folgte in den darauf folgenden Monaten die standesamtliche und die kirchliche Heirat, die Schwangerschaft meiner Frau und darauf die Geburt meines Sohnes. Zu unserer standesamtlichen Hochzeit ist weder meine Mutter noch mein Stiefvater erschienen. Und das, obwohl sie eingeladen waren, genau wussten, wann wir heiraten. Es waren nur ganze sechs Personen anwesend, das Ehepaar, zwei Trauzeugen, Schwiegermutter und eine Freundin meiner Frau. Von meiner Seite war niemand gekommen! Das Gefühl was mir immer wieder vermittelt wurde, war Ablehnung. Von meinem Stiefvater habe ich nichts anderes erwartet, aber von meiner Mutter konnte ich das nur schwer verarbeiten. Alle diese Veränderungen fanden innerhalb eines Jahres statt, um nicht von Umzügen und wechsel mehrerer Arbeitsstellen und vieler anderer Probleme und Ereignisse und einem erneuten Suizidversuch zu reden. Das Jahr war eine emotionale Achterbahn! Ich war weder psychisch stabil genug, noch in der Lage eine Beziehung einzugehen, geschweige denn selber "Vater" zu sein.
In den weiteren Ehejahren konnte ich meine verwirrte Sexualität nicht leicht mit den alltäglichen Dingen im Leben in Einklang bringen. Ich lebte oft nur vor mich hin, flüchtete immer öfter in meine Traumwelt, in die Computerspielwelt oder die Welt der Fantasyrollenspiele. Meine Frau hatte in dieser Zeit zwei Kinder statt eines! Die nervliche Anspannung auf beiden Seiten und mein eigenes falsches Verhalten in den ersten Ehejahren war Anlass für noch mehr Streitigkeiten und einen weiteren Suizidversuch im Alkoholrausch. Daraufhin begab ich mich in eine weitere Therapie, die ebenfalls nichts bewirkte, weil ich dem Psychologen (ein Mann) nichts von meiner verwirrten Sexualität offenbaren wollte. Ich zweifelte damals nie daran, dass das Unterdrücken dieser fremdartigen homosexuellen Gefühle falsch war. Dass ich damit meine Frau mit meinen eigentlichen sexuellen Gefühle betreffend anlog, nahm ich nie wahr. Es folgten viele Jahre des Aushaltens, Lügens und Verleugnens. Viele Jahre kämpfen gegen mich selbst, viele Jahre NICHT leben. Auch nachdem der Liebeskummer nach vielen Jahren endlich vorbei war, fand ich keine Ruhe. Der Sommer, der Herbst und die Vorweihnachtszeit waren immer eine Tortur für mich. In dieser Zeit war es besonders schwer, das sexuelle Verlangen zu Männern zu unterdrücken. Ständig diese Parfümwerbung mit den erotischen, halb nackten Männern. Wenn ich eine Werbung sah, fing ich schizophrenerweise an, danach zu suchen, um sie mir erneut anzusehen. Obwohl ich wusste, dass es mir danach auf Deutsch gesagt „Scheiße“ ging. Ich lag ständig im Zwiespalt mit mir. Und im Sommer lief alle Welt, insbesondere Männer, halb nackt durch die Gegend. Ich verspürte oft keine Lust mehr, vor die Tür zu gehen. Mein Glaubensgefängnis beeinflusste meine Aktivitäten immer mehr, sodass ich mich immer mehr vor meinem PC verschanzte. Insbesondere ein Traum, den ich mit einundzwanzig Jahren, drei Jahre nach Norberts Tod hatte, bestätigte mein Handeln.
In diesem Traum wachte ich auf, weil ich eine Person neben meinem Bett bemerkte. Das Schlafzimmer sah aus wie in Wirklichkeit. Ich war in dem Bewusstsein, wach zu sein, obwohl ich noch schlief. Verrückte Sache! Jedenfalls stand meine verstorbene Jugendliebe Norbert in einem strahlend weißen Nachthemd neben meinem Bett. Mich überkam das Gefühl, das er sich von mir verabschieden wollte. Er lächelte mich mit seinen braunen Augen an und sagte mit einem dankbaren Gefühl: "Durch dich bin ich ins Kloster gekommen!" Dann durchfuhr mich ein Schreck, mir wurde im Traum bewusst, dass ich träumen musste. Das konnte unmöglich wahr sein! Prompt wurde ich wach... Ich schaltete das Licht an, aber leider war niemand mehr da.
Dieser Traum erschien völlig überraschend! Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter, weil er dermaßen real gewirkt hatte. Dieses nächtliche Ereignis löste eine neue Sehnsucht nach Norbert aus. Das ganze Drama habe ich bis heute nicht richtig verarbeitet. Ich werfe mir vor, dass ich damals nicht den Versuch unternommen hatte, ihm meine Gefühle zu offenbaren. Vielleicht wäre dann alles ganz anders gekommen? Aber im Grunde weiß ich nicht, was besser gewesen wäre. Viele Entscheidungen, viele Weggabelungen, die man im Leben geht, sei es aus Naivität oder Dummheit, für die man sich entscheidet, sind nicht mehr rückgängig zu machen. Ist ein Weg erst einmal eingeschlagen, ist der Rückweg oft nicht mehr möglich.
In den folgenden Jahren vermied ich zusehends Aktivitäten, die das Risiko erhöhten, auf Männer zu stoßen, in die ich mich womöglich noch verliebte. Schwimmen und Sportvereine waren völlig ausgeschlossen. Es gab zwar Versuche aus diesem Käfig auszubrechen, aber diese scheiterten jedes Mal. Wenn ich einem Sportverein beitrat, folgte die übliche Konsequenz. Männer, sexuelle Gefühle, vielleicht Liebe und darauf Liebeskummer und Depressionen, erneute Suizidgedanken. Meine Frau wusste nichts davon. Zum Teil hatte sie Kenntnis von dem Problem, dass es mir schlecht ging, wenn attraktive Männer anwesend waren. Das hielt sie jedoch für eine harmlose Schwärmerei und ein Problem mit meinen Minderwertigkeitskomplexen. Sie wollte öfters zum Schwimmen fahren und verstand meine Ablehnung nicht. Und wenn ich mich doch mal durchringen konnte, dann stets widerwillig. Befand sich schließlich kein attraktiver Mann im Schwimmbad, war ich unglaublich erleichtert. Auch bei anderen Aktivitäten sowie beim Wechsel der Arbeitsstellen stand ich ständig unter Strom. In mir herrschte immer die Angst vor, attraktive Männer zu erblicken, die meine homosexuelle Neigung reizten, in die ich mich womöglich verliebte und die erneut Liebeskummer und Depressionen auslösten. Meine daraus resultierende Flucht in die Welt der Computerspiele entwickelte sich über die Jahre schleichend zu einer Sucht. Ich vermied letztendlich andere Aktivitäten nur noch, um diesem Laster nachgehen zu können. Denn es machte ja auch Spaß! In einem schleichenden Prozess nahm meine Flucht von Jahr zu Jahr stetig zu, bis ich nach einigen Jahren täglich zehn bis zwölf Stunden vor dem Computer verbrachte. Frau und Kind vernachlässigte ich immer mehr und ein normales Familienleben fand praktisch nicht mehr statt. Wollte meine Frau etwas unternehmen, war ich oft lustlos. Der Computer war das Einzige, was mich noch interessierte, ohne den ich scheinbar nicht leben konnte. Wenn ich mich überhaupt noch zu einer Unternehmung durchringen konnte, durfte es nie lange dauern, weil der PC lockte. Die Sucht hatte sich bereits derart weiter entwickelt, dass nicht mehr das ursächliche Problem Verursacher war, sondern die Traumwelt selbst zur Sucht wurde. Kaum zu glauben, aber meinem Job bin ich noch regelmäßig nachgegangen. Dass die Computerspielsucht mich derart extrem vereinnahmte, dass ich mich völlig gehen ließ und alles andere sang- und klanglos an mir vorbeizog, so schlimm war es dann nicht. Aber es war sehr grenzwertig und verursachte bereits eine Einschränkung der Lebensqualität, vor allem für die Familie. Vermutlich wäre es noch weiter eskaliert, wenn meine Frau nicht gewesen wäre, die mir trotz allem Verständnis, Liebe und Geborgenheit entgegenbrachte. Sie übernahm teilweise den Part, für den ich in unserer Familie zuständig gewesen wäre. Ich erbrachte nur 50 % Leistung, ging regelmäßig meiner Arbeit nach, um für den Lebensunterhalt zu sorgen. Aber die restlichen 50 %, für meine Familie da zu sein, waren nicht mehr drin. Meine Frau liebte mich so sehr, dass sie sich trotz der zusätzlichen Belastungen dennoch darüber freute, wenn ich nach der Arbeit heimkehrte.
Mit meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr hatte ich eine fixe Idee: Ich wollte mein Abitur nachholen, um anschließend Astrophysik zu studieren. Das hing mit meinem Faible für Science-Fiction, Star Trek und Star Wars zusammen. Weltraum, Sterne und Planeten interessierten mich zu dieser Zeit am meisten. Es überkam mich das unbefriedigende Gefühl, nicht alles erreicht zu haben, was ich mir wünschte. Meiner homosexuellen Neigung, meinem ständigen Liebeskummer gab ich die Schuld, dass ich in meiner Jugend keine Lust auf Schule entwickeln konnte. Zugegeben, wenn das nicht gewesen wäre, hätte ich einen anderen Schuldigen gefunden. Schuld schob ich öfter und gerne anderen zu, nur um nicht selbst die Schuld zu tragen. Aber jetzt wollte ich einiges aufholen, einen neuen Versuch starten. Prompt meldete ich mich im Abendgymnasium an, um fortan von Montag bis Freitag die Schulbank zu drücken. Das Lernen war hier etwas völlig anderes. Wenn man die Sache mit Spaß und Lust in Angriff nimmt, geht alles viel leichter. Meine Computerspielsucht war in dieser Zeit wie abgeschaltet. Dafür blieb auch keine Zeit übrig. Hausaufgaben und Klausuren beanspruchten fast die ganze Zeit, die nach der Arbeit zur Verfügung stand. Es war sogar keine Zeit mehr übrig, um über meinen Konflikt mit meiner verwirrten Neigung nachzudenken. Nur am Anfang, die ersten Tage, als ich die Schule betrat, stand ich unter Strom. Hier war wieder kurz diese Angst, es könnte ein attraktiver Mann in meiner Klasse sein, der mir Probleme bereitete. Diese Angst war glücklicherweise unbegründet und schnell vergessen. Und das erste Schuljahr verging wie im Flug …
Nach diesem Schuljahr wurde die Klasse durch neue Schüler vergrößert. Leider auch Männer und nicht nur Frauen, was mir persönlich lieber gewesen wäre. Das Glück wie am Anfang war mir diesmal leider nicht vergönnt. Es war ein Mann dabei, der meinen Konflikt neu entfachte, der mich sexuell reizte und das Kopfkino wieder in mir in Gang setzte. Zusätzlich brachte ein weiterer Mann das Fass zum Überlaufen. In meiner Klasse befand sich jetzt ein Mann, den ich zwar nicht anziehend fand, der jedoch seine sündige Natur auszuleben schien. Das war sozusagen für mich der erste visuell sichtbare homosexuelle Mann. Ich sah zufällig, wie er sich vor Unterrichtsbeginn zum Abschied von einem anderen Mann innig auf den Mund küssen ließ – vermutlich sein Lebensgefährte. Das ärgerte mich und kotzte mich regelrecht an, das rüttelte erheblich an meinem christlichen Weltbild. Immer wenn ich ihn in der Klasse sah, erinnerte er mich daran. Aber auch der anderen Mann, der mich sexuell reizte. Ich konnte und wollte mir das nicht mehr mit ansehen. Zusätzlich gab es auch noch Ärger in meinem Job, weil ich keine Überstunden mehr ableisten konnte wegen des vielen Lernstoffs. Das leicht gestörte Arbeitsverhältnis konnte ich jedoch ertragen. Aber die Situation in der Schule wurde immer unerträglicher. Das sorgte für einen Summierungseffekt vieler negativer Faktoren und führte letztendlich dazu, dass ich die fixe Idee "Abitur und Studium" aufgab. An dem Tag, als ich meine Schulbücher abgeben musste, überkam es mich plötzlich auf der Rückfahrt und ich musste Rotz und Wasser heulen. Ich war so unglaublich enttäuscht, weil ich es nicht geschafft hatte, meinen Traum zu verwirklichen. Jedes Mal, wenn ich in meinem Leben Männern begegnete, die meine verwirrte Neigung reizten, trat ich die Flucht an. Das veränderte und beeinflusste mein Leben nachhaltig. Im Grunde war ich ein Spielball in einem Flipperspiel. Stets wurde ich in eine andere Richtung gelenkt. Immer auf der Flucht vor der Sünde. So plötzlich, wie die Computerspielsucht mit der Schule beendet war, begann sie wieder. Es war wieder viel Zeit verfügbar! Zeit, die ich in den folgenden Jahren erneut am PC in meiner Traumwelt verbrachte...
Nachdem für lange Zeit keine "Liebe", kein Liebeskummer mehr aufgetreten war, nachdem ich es geschafft hatte, meine verwirrte Sexualität in meinem Burgverlies wegzuschließen, weil ich den Kontakt zu Männern, die mich reizten, vermied, weckten mich die Trompeten von Jericho aus meiner Traumwelt. Ich hoffe, jeder kennt die „Trompeten von Jericho“? Sie erschallten an meiner Festung mit dem CSD (Christopher Street Day), den ich im Jahr 1999 im Fernsehen sah, kurz vor meinem am Anfang des Buches genannten Arbeitsunfall. Das rüttelte erheblich an meinem Weltbild, an meiner Burgmauer, aber es löste noch keinen Zweifel an meinem Glauben an Gott oder gar der Bibel aus. Ich kann ich mich noch sehr gut an diesen Tag erinnern, weil es in mir eine unglaubliche Empörung auslöste. Ich sah eine Welt mit wirklich existierenden und freizügig lebenden Schwulen. Ohne Gewissensbisse, ohne Scham, ohne sich selbst zu unterdrücken. Vor diesem CSD vermutete ich, weltweit sind es vielleicht vierzig oder fünfzig, vielleicht auch hundert homosexuelle Menschen. Aber viele konnten es nicht sein, da war ich mir absolut sicher. In meiner Jugend war meine Vorstellung über die Anzahl der existierenden Homosexuellen sogar noch wesentlich geringer. Ich dachte damals an höchstens zwei bis zehn. Erst mit der Zeit passte ich die Anzahl immer weiter nach oben an. Homosexualität war meiner Meinung nach nicht so weit verbreitet. Selbst bei diesem CSD fehlte mir noch die tatsächliche Vorstellung von der Wahrheit. Denn ich war immer noch sehr naiv und ungebildet, was die Sexualität an sich betraf. Lange Zeit wusste ich nicht, was der Schritt ist. Geschweige denn, was Mütze-Glatze-Spielen bedeutete. Auch die meisten anderen Begriffe waren für mich böhmische Dörfer. Ich war absolut unbelastet, unschuldig, jungfräulich, schüchtern und naiv. Das Wort "schwul" kam mir bisher immer als Schimpfwort zu Ohren und sagte nichts darüber aus, dass die beschimpfte Person auch homosexuell ist. Es war eben nur ein Schimpfwort. In den Medien sagte man hin und wieder dem einen oder anderen Schauspieler oder Musiker nach, schwul zu sein. Aber für mich war das physisch nicht greifbar. Den einzigen physisch sichtbaren Homosexuellen kannte ich vom Abendgymnasium, der seiner sündigen Natur nachzugehen schien. Und jetzt mit dem CSD tanzten, sprangen und rekelten sich plötzlich Tausende halb nackte Männer im Fernsehen. Die Straßen waren voll von homosexuellen Menschen. Ich verstand die Welt nicht mehr, ließ mir gegenüber meiner Frau aber nichts anmerken. Innerlich fielen mir jedoch die Augen aus dem Kopf. Ich regte mich sogar gegenüber meiner Frau auf, wie die da so offen mit ihrer sündigen Sexualität Werbung machen können. Meine Abwehr gegen alles Homosexuelle verstärkte sich seit diesem Tag urplötzlich. Diese vielen sündigen Menschen im Fernsehen störten meine Ruhe. Die sollten doch wissen, dass gleichgeschlechtliche Liebe verboten, eine Sünde gegen Gott ist. Ich entsorgte von jetzt auf gleich alle CDs und Videos von angeblich homosexuellen Musikern und Schauspielern, von denen ich Kenntnis erlangte. Schon der Verdacht auf Homosexualität reichte für mich aus, um die Bücher-und-CD-Vernichtung dieser Interpreten einzuleiten. Weil diese Menschen an meiner "Burgmauer" rüttelten, verstärkte ich die Mauern meiner Burg mit der Verbannung dieser Medien aus unserem Haushalt, um einen entsprechenden Gegendruck zu erzeugen, um die Angreifer zurückzuwerfen. So wie das in der Wirklichkeit mit Burgen, Bollwerken und Befestigungen ist, wenn Angreifer diese erstürmen oder niederreißen wollen. Man verstärkt die Befestigung!
"Sturm um Sturm, Welle um Welle stürmen die Heerscharen die Festung. Welle um Welle brechen sie an meiner Mauer. Ich bleibe standhaft, ich halte die Festung wie der Fels in der Brandung."
Unterbewusst setzten sich in den letzten Jahren Prozesse in Gang, die "Mann" selbst nicht bemerkt. Das Schizophrene, mir heimlich nackte Männer auf Bildern anzusehen, war für mich nicht problematisch. Ich übte keinen Beischlaf aus, und Ansehen konnte keine Sünde sein. Immer schön heimlich, nur nicht offen, das war in Ordnung. Ich animierte meine Frau auch einmal dazu, mir so eine sündige Zeitung zu kaufen. Diese Zeitung erwarb ich aus Scham natürlich nicht selbst. Schizophren ist auch, dass ich CDs und Videos vermeintlich homosexueller Menschen entsorgte, andererseits Bücher mit Abbildungen nackter Männer versteckte und das, ohne dass meine Frau davon Kenntnis erlangte, dass diese Bücher noch vorhanden waren. Diese Begebenheit mit den nackten Männern im Bildband fand ihren Anfang bereits im Jahr 1995, lange vor diesem CSD. Das gestaltete sich folgendermaßen:
Unser Nachbar, ein Lektor, verstarb und seine Lebensgefährtin verkaufte anschließend seine Habseligkeiten. Sie veräußerte uns eine komplettes Wandregal mit Büchern. Unter anderem befanden sich unter den vielen literarischen Werken ein paar anzügliche bzw. auszügliche Bücher mit Abbildungen nackter, muskulöser Männer. Das war das erste Mal, dass ich so etwas sah! Dabei bekam ich Stielaugen. Heimlich wollte ich mir die Bücher später genauer ansehen, aber vor meiner Frau tat ich desinteressiert. Sie meinte, dass der verstorbene Lektor vermutlich homosexuell gewesen war. Seiner Lebensgefährtin teilten wir natürlich nicht mit, was wir dort fanden. Einen Verstorbenen wollten wir nicht in Verruf bringen. So entsorgten wir bzw. ich entsorgte die Bücher im Papiermüll – dachte meine Frau jedenfalls. Für viele Jahre versteckte ich sie hinter unserer Bücherwand, um hin und wieder darin zu lesen, um heimlich zu studieren. Glaubenstechnisch legte ich mir das zurecht bzw. legalisierte ich mir das, indem ich mir sagte, das bloße Ansehen sei keine Sünde. Die eigentliche und verspätete Entsorgung dieser erotischen Werke erfolgte erst viele Jahre später, nachdem wir ein Haus erworben hatten. Mir wurde an diesem Punkt in meinem Leben klar, dass ich für immer mit meiner Frau zusammenleben werde. Dass ich meine Sexualität niemals ausleben darf. Selbst der verstorbene Lektor, von dem diese sündhaften Bücher stammten, lebte mit einer Frau zusammen und lebte seine Sexualität nicht aus. So glaubte ich es zumindest. Unterbewusst bestätigte das mein eigenes Handeln. Letztendlich hielt ich weiter an meinen verkorksten Weltvorstellungen fest und lebte vor mich hin, ohne dass in meinem Kopf etwas wie Verstand Einzug hielt. Meine Computerspielsucht verlief ebenfalls durchgängig bis zum Jahr 1999, bis zu dem zu Beginn dieses Buches genannten Arbeitsunfalls und dem Lesen kritischer Bücher. Durch den Arbeitsunfall erhielt ich für ein Jahr Lohnfortzahlung und hatte viel Freizeit. In diesem Jahr gab es, außer wieder gesund zu werden, nichts Besonderes für mich zu tun und Bücher zu lesen natürlich. Bücher, die mein bisheriges Weltbild ins Wanken brachten.
Seit der Jahrtausendwende veränderte sich unser Leben innerhalb eines Jahres komplett, auch aufgrund des Verlustes meines Arbeitsplatzes durch den Verkauf des Unternehmens, in dem ich tätig war, an die Konkurrenz, die kein Interesse daran hatte die Arbeitsplätze zu erhalten. Dadurch geriet ich nach meiner Genesung (Ende der Lohnfortzahlung) in die Arbeitslosigkeit, fand aber glücklicherweise schnell einen neuen Job. Die neue Tätigkeit entpuppte sich leider als Auslöser alter längst vergessener Magen-Darm-Beschwerden (somatoforme Störungen), die aufgrund der plötzlich auftretenden starken Schmerzen einen Krankenhausaufenthalt, darauf die Kündigung und die erneute Arbeitslosigkeit zur Folge hatten. Die Computerspielsucht nahm ebenfalls rapide ab, weil ich eine neue Aufgabe hatte. Das lag zum einen daran, dass ich das Bücherlesen für mich entdeckte und zum anderen an unserer Selbstständigkeit, die in dieser Zeit geboren wurde, die ich langsam aufbaute. Ich war voll beschäftigt und hatte eine Aufgabe, die mir Spaß machte, die mich ablenkte. Das Sich-in-Arbeit-Stürzen scheint auch eine Art Traumwelt zu sein. Aufgrund meiner Arbeitslosigkeit planten wir kurz darauf einen Umzug in die Heimat meiner Frau. Und unsere Selbstständigkeit lief in der neuen Umgebung, nach unserem Umzug, weiter an. Meine homosexuelle Neigung vergaß ich dabei total, bis sie sich plötzlich wieder zurückmeldete. Denn ich verfolgte zufällig im Fernsehen die erste gleichgeschlechtliche Eheschließung in einer Kirche. In einer Kirche!!! Hallo? In den Niederlanden war das, glaube ich. Damit erschallten die Trompeten von Jericho erneut an meiner Burg. Das rüttelte erheblich an meinem Weltbild, meiner Festung. Gott lehnt in der Bibel Homosexualität ab und nun werden diese Individuen in der Kirche verheiratet. Wie kann das sein? Ist die Kirche nicht mehr bibeltreu? Was ist das für eine Kirche, die das zulässt? Habe ich die Bibel womöglich falsch verstanden? Machte ich mich mein ganzes Leben lang völlig umsonst verrückt? Habe ich völlig umsonst meine Neigung unterdrückt? Ich war verunsichert und schockiert. Diesen Brocken musste ich erst einmal schlucken. Dieses Ereignis arbeitete noch Jahre in mir. Ich wusste nicht wirklich, was ich davon halten sollte. Zu meiner Frau sagte ich nichts, ich machte das mit mir selbst aus. Es folgte meine übliche Verdrängung bzw. die Ich-rücke-es-mir-zurecht-Taktik. Es darf nicht sein, was nicht sein kann! Für mich waren das abtrünnige Kirchendiener, die auf den falschen Weg geraten waren. Denn eine Erkenntnis, die eine große Enttäuschung und große Trauer auslösen könnte, die das eigene Weltbild zerstören, ignoriert man leicht, um die Wahrheit nicht zu akzeptieren, nicht zu realisieren. Die Trompeten von Jericho erschallten an meiner Burgmauer wieder vergeblich. Ich war weiterhin der Überzeugung, homosexuell zu sein ist krank, ist nicht normal, ist eine Abscheulichkeit und Sünde gegen Gott. Die Bibel, das Fundament meines Glaubens, gab mir recht und damit war das für mich erledigt. Jedoch mit jedem weiteren kritischen Buch über Kirche und Bibel wurde mir immer klarer, dass meine Kenntnisse unzureichend waren, um sicher zu wissen, ob das, woran ich bisher glaubte, richtig oder falsch war. Das trieb mein Bücherlesen und mein Interesse an Bibel und Kirchengeschichte immer weiter an.
Zeitgleich stürzte ich mich in den folgenden jahren weiter in die Arbeit, in den Ausbau unserer Selbstständigkeit und die Suche nach einem neuen Job. Das hatte absolute Priorität. Ein Job würde das Risiko der Selbstständigkeit mildern und wir entschieden, zweigleisig zu fahren. Vom Arbeitsamt wurde mir in dieser Zeit eine Umschulung zum Physiotherapeuten angeboten, die ich in Anspruch nahm. Das war mir eigentlich sehr recht, denn ich war immer an Sport interessiert. Auch, wenn ich den Sport schon länger aus den Augen verloren hatte. Ohne einen Gedanken an die Problematik mit meiner verwirrten Sexualität zu verschwenden, nahm ich an einem einwöchigen Schnupperkurs zur Umschulung zum Physiotherapeuten teil. Tatsächlich schnupperte ich alte, vergessene Probleme. In dem Kurs befanden sich außer mir noch andere Männer. Unter anderem gab es hier einen Mann, den ich sexuell anziehend bzw. ausziehend fand. Und das war ein großes Problem! Wie schon früher und zum x-ten Mal, bei allen anderen Gelegenheiten, begann die sexuelle Komponente augenblicklich an mir zu zerren. Ich hatte Angst vor dieser kranken homosexuellen Neigung, vor der Sünde. In mir herrschte die Angst, die Gefühle nicht mehr kontrollieren zu können. Aufgrund dieser Angst gab ich mich letztendlich geschlagen und entschied mich gegen die Umschulung zum Physiotherapeuten, um nicht in Kontakt mit diesem und vielleicht später mit anderen Männern zu kommen. Eine erneute Flucht!
Der ewige Kampf gegen meine Homosexualität und die ständige Flucht vor ihr, manifestierte sich bereits seit meiner Jugend in meinen nächtlichen Träumen, die sich folgendermaßen gestalteten:
"Ich bin in dieser Traumwelt vor einem unbekanntem Mann, vor einer unsichtbaren Person auf der Flucht. Mein Schwert führte ich immer mit mir, um gegen diesen Verfolger zu kämpfen. Ich versuchte oft, dem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Ich hetzte im Traum über Stock und Stein, sprang über Bäche, Zäune und Mauern, um den unsichtbaren Verfolger abzuhängen. Aber er war immer auf gleicher Höhe mit mir, egal, wie schnell ich war."
Ich nahm die Träume früher als gegeben hin und beschäftigte mich nicht weiter damit. Mir war damals nicht der Grund für diese Träume bewusst. Das war für mich reine Fantasie und eine belanglose nächtliche Beschäftigung meines Gehirns. Aber heute weiß ich, der Kampf und die Flucht im Traum vor der unsichtbaren Person ist meine Flucht vor meiner Homosexualität. Ich konnte nur deshalb nie schneller sein, weil sie sich in mir befand. Denn der unsichtbare Gegner ist meine Homosexualität, das unentdeckte Land. Das Schwert im Traum steht als Traumsymbol für mein starkes Glaubenssystem. Griff, Parierstange und Klinge bilden gemeinsam ein Kreuz. Das Schwert verweist darauf, dass es ein kriegerisches Element in mir gibt, dass ich bereit bin, für meinen Glauben zu kämpfen. Außerdem steht es für die spirituelle Energie, welche mich dazu befähigt meine sexuellen Bedürfnisse für meinen Glauben aufzugeben. Das Traumsymbol "Schwert" hat für mich eine besondere Bedeutung, weil es meine Einstellung, meinen festen Glauben an Gott bestätigt. Denn meine Frau nimmt mir das heute nicht so recht ab, dass ich meine Homosexualität nur wegen meines Glaubens unterdrückt habe. Sie hört sich das an und nickt, aber ich merke, dass sie es nicht wirklich glaubt. Wenn ich sie darauf anspreche, sagt sie, dass sie nicht glauben kann, dass ich so naiv sein konnte. Aber meine Träume lügen nicht, sie bestätigen meine Einstellung, denn sie kommen aus dem Innersten der Seele.
Die genannten Ereignisse in diesem Kapitel vermitteln nur einen groben Überblick über meine Vorgeschichte. Diese vielen Jahre des eigenen Lebens in so wenige Sätze verpackt wird den Ereignissen und Beteiligten natürlich nicht gerecht, das alles könnte ein eigenes Buch füllen.