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Kapitel 2

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Ich fürchte den Schlaf, der mich eintreten lässt in jenes Reich der Geister, der Feinde der Erdmutter – und damit meiner Feinde.

– 32. Akh’Eldash, 25. Eintrag, Vers 15

Kira saß allein in einem Boot. Über ihr wölbte sich ein schwarzer Himmel ohne Sterne. Dennoch erkannte sie alles um sich her: Bürgerhäuser glitten vorbei, Geschäftskontore, Werkstätten. Sie trieb einen Kanal entlang. Vor ihr zogen ähnliche Boote dahin, bewegten sich ohne Ruderer oder Passagiere zielstrebig, wie von einer unsichtbaren Hand geführt. Eine ebenfalls lautlose Prozession von Booten schwebte quer zum Kanal über ihr. Unter den algenbewachsenen Kielen glitt Kira hindurch wie unter einer Brücke.

Sie trieb auf einen Steg zu. Darauf stand ein hochgewachsener Mann in Uniform, der ihr den Rücken zukehrte. Prinz Siluren! Fiebrige Vorfreude erfasste sie. Kaum hatte das Boot angelegt, sprang sie auf den Steg. »Hoheit!«

Er wandte sich um. Nicht Siluren. Ein weißes Gesicht und wasserfarbene Augen: Krolan der Fahle, König von Oneräa. Sie blieb abrupt stehen.

»Welche Stadt ist das?«, fragte er. »Bethelgard?«

Sie wollte nicht mit ihm reden, wandte sich ab. Der Steg führte auf eine Tür zu, die sich öffnete. Dahinter lag ein erstaunlich hoher Giebelsaal.

Zögernd trat sie ein. Der Raum kam ihr bekannt vor, aber sie wusste nicht, woher. Käfige hingen von der Decke, leer bis auf einen. In diesem saß ein Mensch, das Gesicht von lang herabhängenden Haaren verborgen. Bei der mageren Gestalt war unmöglich zu sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war.

Krolan trat ebenfalls ein. »Es war schwierig, dich zu finden«, sagte er mit seiner sanften Stimme. »Du hast dich von mir entfernt.«

Schmerzerfülltes Stöhnen erfüllte den Raum, vibrierte in den Wänden, schien selbst Kiras Leib zu durchdringen. Sie blickte sich nach der Quelle des Lautes um, doch rundherum waren bloß gemauerte Wände aus roten Ziegeln, weit oben ein paar Fenster. Nicht einmal eine Tür gab es.

Aber war sie nicht eben durch eine solche hereingekommen? In einem Traum verschwinden Dinge und tauchen auf, verändern sich von einem Blick auf den anderen. Sie erinnerte sich an diese Worte, aber wer hatte sie gesprochen? Richtig, das war Magus Inselm gewesen, den sie aufgesucht hatte, um sich zu wappnen, falls Kughan ihre Träume erneut heimsuchen sollte. War dies etwa ein Traum?

Sie versuchte, sich an das Gespräch mit dem Magus zu erinnern. Es gibt Möglichkeiten zu prüfen, ob man träumt. Sich selbst zu kneifen gehört allerdings nicht dazu.

Kira schloss die Augen. Trotzdem sah sie Krolan, als könne ihr Blick ihre Lider durchdringen. Das war ein Beweis. Sie befand sich in der Welt der Geister, in der Welt, in die alle Träumenden Nacht um Nacht eintraten.

Dummerweise war sie nicht alleine hier, sondern mit König Krolan, einem Magus, der Träume lenken und formen konnte, der darin sogar töten konnte, wenn er Blut seines Opfers besaß.

Krolan besaß ihr Blut. Viel davon. Sie musste fliehen! Sich rückwärtsfallen lassen, damit der Schreck sie aus dem Schlaf riss, wie Inselm es ihr erklärt hatte.

Doch sie zögerte. Dies war eine Gelegenheit, die sie nicht verstreichen lassen durfte. Krolan vertraute ihr. Er glaubte sie noch immer treu in seinen Diensten. Sie konnte das nutzen, um mehr von ihm zu erfahren. Selbst wenn es Euch nicht gelingt, Euer Wissen über den Moment des Erwachens hinaus mitzunehmen, so kann es doch in einem verborgenen Teil Eures Geistes verbleiben und Eure Handlungen im rechten Moment lenken.

Wieder erklang ein alles durchdringendes Stöhnen. Aus den Fugen zwischen den Ziegelsteinen quoll Blut hervor, lief dickflüssig die Wände hinab.

Der Raum kam Kira zwar bekannt vor, aber er gehörte ganz sicher nicht zu ihrem Leben. Er musste aus Krolans Geist gebildet sein, aus seinen Erinnerungen. Der Wechsel von Eurem Traum in den eines anderen ist immer gekennzeichnet. Es ist eine Tür, ein Tor, eine Schwelle, die Ihr überschreitet. Also befand sie sich inzwischen in Krolans Traum.

Sie wandte sich ihm zu. »Was ist das für ein seltsamer Ort?«

»Der, an dem sich alles verändert hat.« Für einen Moment erklang ein rhythmisches Knarren. Krolan hob unwillig die Hand, und es verstummte. »Viel wichtiger: wo bist du gerade? Wo ist der Zauderer? Seid ihr noch auf Krailenhorst? Oder konntest du ihn, wie ich es dir befohlen habe, davon abhalten, in die Burg zu flüchten?«

Sie wollte ihm nichts preisgeben, sondern im Gegenteil mehr von ihm erfahren. Dies war seine Welt. Sie musste mit ihren Fragen die Gefühle weckten, die darin schlummerten. Auch wenn er stark ist, das eine oder andere wird ihm entschlüpfen, wird sich manifestieren, sodass Ihr es sehen könnt.

Sie lächelte spöttisch. »Das Geräusch eben – habt Ihr in diesem Raum etwa Eure Unschuld verloren?«

Da lag ein Sack mitten im Raum, weißes Mehl um ihn her verstäubt. Krolan ließ auch ihn mit einer Handbewegung verschwinden. »Ich erwarte Antworten von dir, keine Fragen. Der Zauderer?«

Sie zuckte die Achseln. »Wir sind nie auf Krailenhorst angekommen. Prinz Siluren schätzt weder die Burg noch deren Einsamkeit. Er ist in der Ortschaft am Talausgang geblieben.«

»Das ist günstig. Kannst du an sein Blut gelangen?«

»Den Prinzen verletzen?«

Er lächelte. »Ein zerbrochenes Glas, ein liegengelassener Dolch«, das Lächeln wurde niederträchtig, »eine Schramme der Leidenschaft. Lass dir etwas einfallen. Ein paar Tropfen auf einem Tuch würden mir vorerst genügen. Lass es mir durch Geran zukommen.«

Geran. Ob der überhaupt noch am Leben war? Oder hatte Trenkar ihn hängen lassen, nachdem er sich als unzuverlässige Quelle erwiesen hatte?

»Was ist?« Ein misstrauischer Blick Krolans. »Traust du dir das nicht zu?«

»Nein, es … geht um Geran. Ich weiß nicht, ob wir ihm noch trauen können.« Sie musste auf der Hut sein, durfte sich nicht zu sehr in Lügen verstricken. Sie war eine Kämpferin, verdammt, keine Ränkeschmiedin. Sie durfte sich nicht aushorchen lassen, musste zurück zu Krolan, zu seinen Erinnerungen. Was hatte er eben noch verschwinden lassen? »Dieser Mehlsack«, sagte sie. »Was hat es damit auf sich?«

Wieder lag der Sack auf dem Boden, und Kira setzte sich kurzerhand darauf. Berührung hält die Dinge im Sein.

»Was soll das?« Plötzlich verlor Krolans Stimme ihren weichen Klang.

Über ihr bewegte sich der Käfig, den Kira bisher zu übersehen versucht hatte. Sie hatte die verhungerte Gestalt darin für Inventar gehalten, eine weitere Erinnerung oder Vorstellung Krolans, die zu diesem Raum gehörte. Doch nun wandte die Gestalt den Kopf und fragte mit brüchiger Stimme: »Warum zeigst du es ihr nicht?« Das Gesicht hinter den strähnigen Haaren war nicht zu erkennen. Dennoch meinte Kira nun, es müsse eine Frau sein, die dort in dem Käfig dahinvegetierte.

Krolan antwortete mit beißender Liebenswürdigkeit: »Du solltest deine Zunge hüten, alte Krähe. Sonst vergesse ich am Ende noch, dich herauszulassen, ehe es zu spät ist.«

Ein heiseres Lachen antwortete, das tatsächlich an das Krächzen einer Krähe erinnerte. »Womit kannst du mich noch schrecken? Zeig es ihr. Zeig ihr die kleinliche Wut, derentwegen du mir meinen Sohn genommen hast.«

Kira saß noch immer auf dem Mehlsack, aber jetzt trug sie das Kleid einer Dienstmagd, die Beine gespreizt, den Rock gehoben. Vor ihr stand Krolan. Ein anderer Krolan. Ein blasser, magerer Jüngling mit schwarzem Haar, die Hand in der Hose.

»Wo bleibt Ihr denn?«, kam es von Kiras Lippen. Nicht ihre Worte, und doch seltsam zwingend. »Soll ich noch mal zurück in die Küche gehen und wiederkommen, wenn Ihr soweit seid?«

Der Junge warf ihr einen hasserfüllten Blick zu. Eine Tür krachte auf, und da stand ein junger Mann in Brokat und Seide. Er brach in schallendes Lachen aus. »Kriegst du ihn nicht hoch? Was für ein Schlappschwanz!« Hinter ihm erschienen weitere Gesichter: Köche, Mägde, feixende Küchenjungen.

Krolan – der erwachsene Krolan – brüllte wie ein verwundeter Ulphanbulle. Noch nie hatte Kira erlebt, dass er seine Stimme auf diese Weise erhob. Er wuchs in die Höhe, seine Gestalt streckte sich, bis er ein bedrohlicher, schwarzer Riese war, der seinen Rücken unter dem Giebel krümmte. Sein riesiges, fahles Gesicht brachte er ganz nahe an den Käfig heran. »Soll ich ihr den Rest auch zeigen?«

Ein Baldachin wölbte sich über Kira. Der Mehlsack unter ihr war zum Bett geworden, auf dem sie mit angezogenen Beinen saß. Neben ihr, halb bedeckt von seidenen Laken, lag ein junger Mann. Sie erkannte ihn wieder. Eben noch hatte er Brokat getragen und gelacht. Nun war er nackt, reglos, und aus seinem rechten Auge ragte der Griff eines Dolches.

Der entsetzte Schrei kam nicht von Kira, sondern von der Frau in dem Käfig. Die Bilder zerfielen, das Bett, die blutigen Laken, selbst der Tote. All das zerfloss wie Wasser, versickerte in den Spalten zwischen den Dielen und ließ Kira zurück in dem Giebelsaal mit Krolan und dem verhungerten Wesen, das wimmernd klagte.

»Schweig!« Krolan schlug mit der Hand durch die Luft und die Gefangene schrie auf. Blut färbte den Leinenstoff auf ihrem Rücken, als lägen blutige Striemen darunter. Sie verstummte.

Der Tote, das musste Krolans Bruder gewesen sein, der Kronprinz von Oneräa. Offenbar stimmten die Gerüchte nur halb. Krolan hatte seinen Bruder nicht getötet, um den Thron zu erlangen, sondern wegen einer Kränkung. Vermutlich nicht der einzigen. Hass zwischen Brüdern konnte endlos sein.

»Jetzt zu dir.« Krolan wandte sich Kira zu. »Dein Geist hat sich ganz offenbar einem anderen zugewandt. Wo ist deine Dankbarkeit mir gegenüber? Wo ist deine Furcht?«

Die Furcht war noch da. Definitiv. Um zu erwachen, lasst Euch rücklings fallen. Sie tat es.

Doch sie fiel nicht. Stattdessen kippte der Raum, sodass sie die Bodendielen als Wand in ihrem Rücken hatte, auf denen sie jetzt nach unten schlitterte, bis ihre Füße auf Wandputz trafen. Krolan stand in einem unmöglichen Winkel über ihr und blickte spöttisch auf sie hinab. »Denkst du wirklich, du könntest mit den armseligen Hinweisen irgendeines Dorfmagus‘ gegen mich bestehen? Du kannst keinen Traum verlassen, der nicht der deine ist.«

Wenn dies also nicht ihr Traum war, dann war sie auch nicht diejenige, die fallen musste. Noch immer stand Krolan waagrecht über ihr. Sie packte seine Fußgelenke und riss sie mit aller Kraft zu sich heran. Er stürzte, nein, sie stürzte, der Raum stürzte um sie herum, während Krolan in der Luft schwebte, der ruhende Pol, um den sich die Welt drehte. Die schwarze Kutte flatterte an seinen ausgebreiteten Armen wie ledrige Flügel.

Als der Raum zur Ruhe gekommen war, lag Kira auf den Dielen, die nun wieder Boden waren. Um sie herum sprossen metallene Stangen empor, vereinigten sich über ihr wie Totenhände.

»Nein!« Sie wollte die Stangen packen – doch sie konnte sich nicht regen. Ihre Arme und Beine waren weich und schwer, als gäbe es darin keine Knochen, keine Muskeln. Wie die Gliedmaßen einer mit Sand gefüllten Puppe.

Wieder lachte er. »Ich habe dein Blut, hast du das vergessen? Damit bist du mir ausgeliefert, zumindest in dieser Welt.«

Hilflos sah sie zu, wie er den Käfig an einer Kette in die Höhe zog, bis sie schwankend neben der abgemagerten Gestalt hing.

»Du hast mich verraten. Aber was kann man von einer Frau schon anderes erwarten? Da ich dich dafür nicht pfählen kann, bleibt uns nur dies hier.«

Er breitete die Arme aus und schwebte hinauf zu ihr, als erfasse ihn ein Wind von unten. Dann stand er vor dem Käfig, die leere Luft wie festen Grund unter seinen Füßen.

»Du bist auf einem Kanal zu mir getrieben. Vermutlich bist du also in Bethelgard, und ich nehme an, der Zauderer ist bei dir.«

Sie presste die Lippen aufeinander und schwieg.

»Das hatte ich so nicht geplant, aber es ist ausreichend. Eine königliche Geisel ist mehr wert als ein abgetrennter Kopf, auch Trenkar weiß das.«

Am liebsten hätte sie es ihm ins Gesicht gespuckt: General Trenkar hatte wie ein Straßenköter mit eingeklemmtem Schwanz das Weite gesucht, Bethelgard war sicher, weil ein besserer Mann seine Pläne durchkreuzt hatte. Aber sie schwieg. Nichts würde er von ihr erfahren.

»Ihr könnt mich nicht ewig hier festhalten. Irgendwann werdet Ihr erwachen, und dann bin ich frei.«

Er lächelte, und jetzt war seine Stimme wieder freundlich und sanft. »Du irrst schon wieder. Dies ist auch nicht mein Traum.« Er ließ den Blick schweifen, und wieder erklang das tiefe Stöhnen. Für einen Moment floss das Blut aus den Fugen der Wände noch üppiger. »Ich nutze ihn. Ich gestalte ihn. Aber der Wirbel, in dem ich diese Zuflucht errichtet habe, das ist der letzte Traum eines sterbenden Mannes, der seit fast einem Tag auf dem Pfahl sitzt.« Krolan wirkte sehr zufrieden, beinahe glücklich. »Niemand ist der Geisterwelt so nah wie ein Sterbender. Sein Traum wird nicht enden. Er wird aus dem Dämmerzustand des Sterbens hinübergleiten in jenes andere Reich, und weil er davor nicht mehr erwacht, wird er dich einfach mitnehmen.« Mit plötzlicher Wut wandte sich Krolan dem anderen Käfig zu. »Und du! Du solltest zu deiner Weibergöttin beten, dass ich dich gehen lasse, bevor das geschieht!« Damit schwebte er rücklings zur Wand hinüber, in der sich eine Tür öffnete, sich hinter ihm wieder schloss und mit der Wand verschmolz.

Kaum war er fort, versuchte Kira erneut, sich zu befreien, doch ihre Arme und Beine waren noch immer taub und bewegungsunfähig. Nur den Kopf konnte sie drehen, doch das half ihr nicht weiter, auch nicht die sanfte Schwingung, in die ihre Versuche den Käfig brachten. Schließlich brüllte sie Wut und Enttäuschung in den leeren Saal hinaus.

Dann fiel ihr Blick auf die Gestalt in dem anderen Käfig. »Du! Kannst du dich bewegen?«

Jetzt erst hob die Frau den Kopf, mühsam, wie es schien. Das herabfallende Haar verbarg ihr Gesicht. Mit einer Stimme wie knisterndes Papier sagte sie: »Ich habe oft genug zu entkommen versucht, und ich habe andere gesehen. Viele. Keinem ist es gelungen.«

»Du warst schon oft hier?«

Eine Hand, die nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien, umfasste einen der Gitterstäbe. »Er lässt mich gehen, bevor der Gepfählte stirbt, und wenn der nächste Mann gepfählt wird, bringt er mich wieder her.«

Wenn Krolan diese Frau immer wieder über Tage hier gefangen hielt, Tage, in denen ihr schlafender Körper keinerlei Nahrung zu sich nehmen konnte, dann war diese Gestalt vielleicht kein Traumgebilde. Dann war sie wirklich so abgemagert.

Welch unbarmherzige Strafe! Was konnte diese Frau Krolan angetan haben?

»Warum?«, fragte Kira. »Wer bist du?«

Jetzt wandte die Frau Kira ihr Gesicht zu, das frappierend an den Totenschädel in Magus Inselms Stube erinnerte. Wieder ertönte das rhythmische Knarren, das Kira zuvor für das eines Bettes gehalten hatte. Mit ihrem langen, knochigen Finger wies die Frau nach unten. Ein Säugling lag in einer Wiege und weinte. Das Knarren war das Geräusch der Kufen, auf denen das Kinderbett hin und her schwang.

Die Wiege war unnatürlich groß, und als Kira den schwarzhaarigen Jungen neben der Wiege sah, ahnte sie auch, warum. Dies war kein Saal. Es war bloß ein Zimmer. Doch der Raum war riesig in der Erinnerung des Kindes, das neben der Wiege stand. Krolans Erinnerung. In dieser Erinnerung legte Krolan Kissen in die Wiege, häufte sie auf den Säugling und dämpfte damit das klagende Weinen.

»Sie soll weggehen«, sagte der Junge, und Kira stellten sich die Nackenhaare auf bei dem kindlichen Klang, in dem Krolans spätere Stimme bereits zu erkennen war. »Es soll wieder so sein wie früher.«

Eine Tür öffnete sich. Eine Frau mit königlicher Haltung und eleganten Bewegungen trat ein. Eine schöne Frau, mit langem, schwarzem Haar, in kostbare Seide gehüllt. Als sie sah, was Krolan getan hatte, gellte ihr Schrei durch den Raum. Sie stürzte auf die Wiege zu, riss die Kissen heraus und hob das Kind hoch. Doch es war zu spät. Die Ärmchen hingen schlaff herab, die Augen, halb geöffnet, blickten ins Nichts. »Er hat sie umgebracht!«, schrie die Frau. »Er hat meinen kleinen Engel getötet! Er ist ein Monster! Ein Monster!«

Die Klänge verebbten, die Figuren verblassten. Kira sah wieder zu der Gefangenen hinüber. »Wer seid Ihr?«, fragte sie noch einmal, obwohl sie es wusste.

In der Stimme der Frau lag nicht einmal mehr Resignation.

»Ich bin seine Mutter.«

***

Siluren ließ Kira in seine eigenen Räume im Rathaus von Bethelgard bringen. Hier hatten die Ärzte ausreichend Platz, um sie zu untersuchen.

Der unnatürliche Schlaf, der sie gefangenhielt, ließ sie aussehen wie eine Tote. Die beiden Ärzte flößten ihr scharf riechende Elixiere ein, rieben ihr Salben in die Haut, rüttelten sie und schrien ihr in die Ohren. Einer hielt sogar ihre Hand über eine Flamme, und Siluren musste an sich halten, um ihm die Kerze nicht aus der Hand zu schlagen.

Nichts zeigte Wirkung. Es war schrecklich, Kira so daliegen zu sehen, still und bewegungslos, die Decke bis ans Kinn gezogen. Es passte so gar nicht zu ihr.

Die Ärzte absentierten sich, um sich in einem Nebenraum zu beraten. Das Hausmädchen Finny setzte sich neben das Bett und flößte Kira löffelweise Wasser ein. Zumindest schluckte sie.

Siluren lief zur Tür, zurück zum Fenster und wieder zur Tür. Die Ärzte hatten hilflos gewirkt, und ihre Beratung war vermutlich eine Farce. Sie hatten keine Ahnung, was Kira zugestoßen war.

Finnys Blick folgte ihm, und schließlich murmelte sie: »Ich glaube nicht, dass die Ärzte ihr helfen können.«

Das war nur allzu offensichtlich. Aber Finny war schüchtern. Sie hätte das Wort nicht ohne Not an ihn gerichtet. »Du hast einen Vorschlag?«

Sie zögerte. »Wenn jemand helfen kann, dann Magus Inselm.«

»Ach!« Siluren machte eine unwillige Handbewegung und bereute es sofort, als Finny den Kopf einzog. Er zwang sich zu einem ruhigeren Ton. »Ich glaube nicht an diese Dinge.«

Aber sie tat es, Kira, und wer wusste schon, welche Kräfte der menschliche Geist entwickelte, wenn er an etwas glaubte? Einen Moment lang stand Siluren unschlüssig mitten im Zimmer. Inselm. Das war der Magus, den er am Kanal so unfreundlich abgekanzelt hatte. Gerade ihn um Hilfe zu bitten war misslich. Aber weder sein Stolz noch sein Miusstrauen durften zwischen Kira und ihrer Rettung stehen. Er öffnete die Tür, vor der Leron Posten bezogen hatte. »Mache einen gewissen Magus Inselm ausfindig und bring ihn her. Zur Not mit Waffengewalt!«

Leron salutierte und machte sich davon.

Wieder nahm Siluren seinen unruhigen Gang auf. So ein schwarzgewandeter Scharlatan würde sicher nicht helfen können, aber er durfte nichts unversucht lassen. Schaden würde der Magus Kira jedenfalls nicht. Dafür würde er sorgen.

Trotzdem wehrte sich alles in ihm dagegen, einem solchen Mann Kiras Schicksal anzuvertrauen. Zu oft hatte er gesehen, wie diese Magoi Angst verbreiteten, wie sie die Menschen um ihres eigenen Vorteils willen einschüchterten. Das einfache Volk glaubte ihnen, weil es nichts wusste von Wissenschaft und Technik. Das Wissen machte einen Gewittersturm nicht harmlos, und doch war er weitaus erschreckender, wenn man glaubte, die Geister rüttelten gerade am Himmelsrund und versuchten, in die Welt einzudringen. Nur das Licht des Wissens würde solchen Aberglauben vertreiben, doch die Magoi zogen es vor, die Menschen im Dunkeln zu lassen.

Irgendwann klopfte es, und Magus Inselm trat ein, den schwarzen Mantel um sich geschlungen. Es war der gleiche Mann, den Siluren vor ein paar Tagen am Bootssteg so unwirsch abgefertigt hatte. Er hatte die Schultern gereckt und den Kopf erhoben. »Ich lege Wert auf die Feststellung, dass Ihr mich habt rufen lassen, Hoheit.«

»Das habe ich.« Siluren wies auf das Bett. »Man sagte mir, Ihr könntet helfen.«

»Mir sagte man, ich solle Euch nicht belästigen.«

»Dann solltet Ihr das auch vermeiden. Könnt Ihr helfen?«

Inselm sah noch immer nicht zum Bett hinüber. »Hoheit, es gibt Menschen, die dankbar sind für meine Unterstützung. Ich dränge mich niemandem auf. Aber ich helfe auch nicht aus reiner Freundlichkeit.«

»Dann nennt Euren Preis. Wenn Ihr erreicht, was die Ärzte nicht vermochten, werde ich ihn bezahlen.«

»Mein Preis«, sagte Inselm kühl, »sind die Erlaubnis, frei von Einschränkungen in Eurem Reich praktizieren zu dürfen, und der Titel eines königlichen Hof-Magus.«

»Unmöglich!«

»Dann, Hoheit, empfehle ich mich.« Inselm verneigte sich und schickte sich an, zu gehen.

»Wartet!« Siluren war unschlüssig. Er wollte diesen ganzen Lug und Trug, den Aberglauben und die geheimen Lehren über die Geister aus seinem Reich vertreiben. Nur dann würden die Menschen frei sein von Furcht, nur dann würden sie ganz im hier und jetzt leben können.

Aber was, wenn Inselms Wissen Kira tatsächlich retten konnte? Durfte er das ganz ausschließen?

»Berater«, sagte Siluren schließlich widerstrebend. »Ihr dürft Euch Berater der Krone nennen.«

Inselm dachte darüber nach. Dann nickte er. »Einverstanden. Ich verlange darüber einen schriftlichen Bescheid.«

»Den werdet Ihr erhalten, wenn es Euch gelingt, sie aufzuwecken. Ich gebe Euch mein Wort.«

»Das genügt mir, Hoheit.«

Inselm trat ans Bett, und Finny erhob sich voll Ehrerbietung. Oder war es Furcht?

»Dachte ich’s mir.« Inselm warf einen Blick auf die Decke, unter der sich Kiras Leib abzeichnete. »Der Page ist eine Frau.«

Kira lag noch immer regungslos da. Nur ihre Augen bewegten sich unter den Lidern. Siluren wies Inselm darauf hin.

»Sie träumt«, bestätigte der Magus. »Mehr als das, sie ist gefangen in einem Traum.«

»Könnt Ihr sie befreien?«

»Nicht von dieser Seite aus.«

»Von der anderen?«

Inselm seufzte. »Die körperlosen Gefilde sind weitläufig und in ständiger Veränderung begriffen. Ich bräuchte viele Versuche, um sie dort zu finden. Ich fürchte, so viel Zeit steht ihr nicht zur Verfügung.«

»Wieso?«

»Es gibt nur wenige Gründe, einen Menschen in einen Traum einzusperren. Ist sie im Traum eines Sterbenden gebunden, ist dessen Tod auch der ihre.«

»Sie ist seit Stunden in diesem Zustand. Man hätte diesen ominösen Sterbenden längst töten können.«

»Das hätte man. Womöglich will ihr Feind das nicht, um sie leiden zu lassen. Oder er hat zum jetzigen Zeitpunkt keinen Zugriff auf den Leib des Sterbenden.«

»Also könnt Ihr ihr nicht helfen.«

»Das habe ich nicht gesagt.« Inselm richtete sich auf. »Ich könnte einen anderen begleiten. Jemanden, dessen Gefühle sich nach dieser Frau ausstrecken, dessen Geist eine Verbindung zu ihr hat. Ein Verwandter zum Beispiel oder ein guter Freund.«

Siluren blickte auf sie hinunter. »Sie hat niemanden.« Kira Idrastochter, stolz und stark, die niemanden brauchte und ihren Weg ganz alleine ging. »Außer mir.« Jetzt sah er Inselm an. »Ich bin bereit, es zu versuchen.«

»Hoheit!« Leron trat einen Schritt vor. »Ihr dürft Euch nicht in solche Gefahr begeben!«

Der Magus nickte. »Er hat recht. Der Hauch des Todes könnte Euch streifen.«

Da war sie wieder, die Neigung, Angst und Furcht zu säen. Es ging nur um Träume, verdammt! Aber wenn Kira viele Tage in diesem Zustand blieb, konnte sie durchaus verhungern. »Sagt mir, was ich tun soll.«

»Nun, Hoheit, zuerst müssen wir uns auf einen Ort einigen, an dem wir uns wiederfinden können.« Inselm griff in seine Robe und förderte ein Säckchen zu Tage. »Außerdem benötige ich einen Tropfen Eures und ihres Blutes«, er nickte zu Kira hinüber, »und schließlich werde ich einen Tee bereiten, der Euch hilft, zu dieser frühen Stunde in den Schlaf zu finden.«

***

Schloss Hohenvarkas. Die Räume waren hoch, die Gänge endlos. An der Hand Aggas, seiner Amme, ging Siluren, um den mächtigsten Mann des Reiches zu sehen. Den König. Seinen Vater.

»Pst!« Coridan winkte hinter einem Vorhang hervor, das Holzschwert an der Seite, das schwarze Haar in wilder Unordnung. »Ich warte hier auf dich!«

Siluren winkte zurück, wünschte sich, Cor könne ihn begleiten. Doch Agga zog ihn unbeirrbar weiter, und sein Bruder blieb zurück.

Eine weiße Tür in einem ebensolchen Stuckrahmen, die sich für sie öffnete. Da stand sein Vater. Er wandte ihnen den Rücken zu und war trotzdem so einschüchternd wie immer. Doch als er sich umdrehte, war es gar nicht sein Vater. Es war Magus Inselm.

»Hoheit, wir haben nicht viel Zeit. Wir suchen nach Kira Idrastochter.«

Ja, sie suchten Kira. Siluren sah sich um. Außer ihm und Inselm war niemand im Raum. »Sie ist nicht hier.«

»Nein, das ist sie nicht. Aber vielleicht könnt Ihr sie hören?«

Siluren lauschte. Was sollte er hier in diesem Raum schon hören? Da war das Geräusch seines eigenen Atems, das Knarren der Dielen, der Gesang der Vögel vor dem Fenster.

»Ihr müsst durch die Dinge hindurchhören.«

Seltsame Worte. Durch die Dinge hindurchhören. Siluren wollte gerade etwas sagen, als er für einen winzigen Moment meinte, einen Duft wahrzunehmen. Einen vertrauten und doch erregenden Duft, der sein Herz schneller schlagen ließ.

Er wandte sich zur Tür: farbig bemaltes Schnitzwerk in einer Wand aus gemauerten Ziegelsteinen.

»Sehr gut.« Magus Inselm nickte anerkennend. »Ihr habt sie gefunden. Folgt mir.«

Der Raum, den sie betraten, war sehr hoch. Balken formten schräge Wände, die sich weit über ihnen in einem spitzen Winkel vereinigten. Von der höchsten Stelle hingen zwei Käfige herab. Der eine war leer, aus dem anderen hingen Arme und Beine heraus wie die Gliedmaßen einer Puppe.

Viel bedrohlicher jedoch waren die Wände. Sie waren merkwürdig durchscheinend. Nicht wie Glas oder Eis. Mehr wie Nebel, der sich zu der Form von Backsteinen zusammengeballt hatte, und der doch jederzeit von einem Windhauch auseinandergetrieben werden könnte. Siluren schauderte. Diese Wände boten kaum Schutz. Aber wovor eigentlich?

»Wir haben nicht viel Zeit.« Magus Inselm trat zu einer Kette und ließ den einen Käfig hinab. Kira lag darin, schlaff wie eine Puppe. Mühsam wandte sie den Kopf. »Hoheit! Ihr dürft nicht hier sein! Dieser Traum kann jederzeit enden!« Sie sah hinauf zu dem leeren Käfig, als wäre der ein Hinweis darauf, wie nah die Gefahr bereits war.

Doch Siluren war viel zu fasziniert von den Wänden. Er trat näher an eine heran und mühte sich, durch den Nebel hindurchzuspähen. Was er dahinter sah, ließ ihn erstarren: kreischender Schmerz und ein bedrohliches Nichts. Plötzlich wusste er, wovor ihn diese durchscheinenden, sich auflösenden Nebelwände schützten. Die Schwärze dort draußen war der Tod.

Unbändige Furcht erfasste ihn. »Wir müssen fort von hier!« Doch wohin? Die ganze Welt war erfüllt vom Tode, und Sicherheit war nur hier, in dieser winzigen, gefährdeten Zuflucht, deren Wände immer weiter verblassten und zugleich zusammenrückten.

»Hoheit!« Magus Inselm klang befehlend. Er wies auf den Käfig, der nun auf dem Boden stand. »Wir müssen sie hier heraustragen!«

»Es gibt keine Tür mehr«, sagte Kira.

Siluren drehte sich um, und tatsächlich: In keiner der Wände gab es eine Tür – und wohin hätte sie auch führen sollen? Das kreischende Nichts kam von allen Seiten näher.

Inselm schüttelte verärgert den Kopf. »Sprecht nichts aus, das nicht in unser aller Geist Gestalt annehmen soll!« Er sah hinauf zu den Gaubenfenstern in beträchtlicher Höhe. Obgleich hinter den Wänden der Tod lauerte, leuchtete durch die Fenster ein strahlend blauer Himmel. »Sie scheinen auf ein Dach zu führen«, stellte Siluren fest.

»Zumindest hinaus.« Inselm griff erneut nach der Kette. »Steigt auf den Käfig und lasst ihn schwingen, sodass er durch eines der Fenster bricht.«

Siluren gehorchte. Er kletterte über Kira, stellte die Füße auf die Querstreben und hielt sich an der Kette fest. Während Inselm sie beide hinaufzog, versetzte er den Käfig in Schwingung wie eine Kinderschaukel. Doch es war nicht einfach, mit all dem Gewicht genug Schwung zu bekommen.

»Schneller!«, rief Kira, deren Arme und Beine noch immer kraftlos zwischen den Streben hingen. »Die Wände!« Tatsächlich hatten diese sich an manchen Stellen nahezu aufgelöst. Schwärze troff in den Raum hinein, zerfraß den Boden, kroch hinauf zu den Fenstern, die nun ebenfalls zu verblassen begannen. »Schneller!«

Noch einmal holte Siluren Schwung, und plötzlich war Inselm hinter ihnen. Wie ein schwarzer Vogel flatterte er durch die Luft und gab ihnen am Scheitelpunkt noch einmal einen zusätzlichen Stoß. Gemeinsam flogen sie durch das Fenster, hinein in einen strahlend blauen Himmel. Dann fiel der Käfig, polterte auf ein Dach und zerbröselte dabei, als bestünden die Stangen aus Asche. Kira setzte sich auf, betrachtete mit offensichtlicher Freude ihre Hände. »Ich kann mich wieder bewegen!«

Ein Schatten streifte sie, und als Siluren den Blick hob, zog ein riesiger, leinenbespannter Flügel vor der Sonne vorbei. Sie waren auf das Dach einer Mühle gelangt. Ein Baum stand neben der Mühle, und in seinen Zweigen zeterte ein Schwarm Vögel. Gelbe Kiras.

Kira stand auf. »Ich weiß, wo wir langmüssen.« Sie wollte losgehen, doch der Magus hielt sie zurück.

»Wir haben den Traum des Sterbenden verlassen, und Ihr könnt nun erwachen. Aber zuerst sagt mir, ob Ihr etwas erfahren habt, das ich für Euch durch den Schleier retten soll.«

Sie sah ihn verwirrt an, doch dann huschte ein Lächeln über ihre Lippen. »Er hätte mich wohl besser nicht zusammen mit seiner Mutter eingesperrt.«

***

Kira erwachte mit einem Gefühl von Dringlichkeit, als müsse sie sich an etwas Wichtiges erinnern, aber es war, als stünde ihr Geist vor einem Dickicht, unfähig, den Rückweg zu dem gerade verlassenen Ort zu finden. Stattdessen kehrte die Erinnerung an den vergangenen Tag zurück: die Schlacht um Bethelgard, die Siegesfeier und die Zärtlichkeit danach – und mit der Erinnerung kam auch der Schmerz zurück. Die Enttäuschung darüber, nicht enttäuscht worden zu sein.

Die gemeinsame Nacht hatte nichts geändert. Sie wollte Prinz Siluren noch immer, womöglich sogar mehr als zuvor. Voll Sehnsucht dachte sie an das gegenseitige Berühren und Liebkosen und an seinen Blick, diesen klugen, mitfühlenden Blick, der sie sah, wirklich sah, und sie doch nicht verurteilte. Wie mochte es wohl sein, das ganze Leben bei diesem Mann zu verbringen, der sie sein ließ und leben ließ und sich an ihr freute? So gerne wollte sie ihm alles sein, denn er begann, ihr alles zu werden.

Doch er war der Kronprinz, und er war einer anderen verpflichtet.

Fort mit diesen Gedanken! Sie schlug die Augen auf. Über ihr spannte sich der Baldachin eines Bettes. Nicht des ihren. Dies war die Schlafstatt des Prinzen. Aber sie hatte sein Zimmer doch verlassen?

Sie wandte den Kopf. Er lag schlafend neben ihr auf dem Rücken, angekleidet, die Finger mit den ihren verschränkt. Ertappt zog sie die Hand zurück und richtete sich auf.

Magus Inselm saß in einem Sessel neben dem Bett. Außerdem waren Leron und Finny im Raum. Kira wischte sich über das Gesicht. »Was ist denn geschehen?«

Magus Inselm antwortete: »Der Mann, den Ihr fürchtet, hat Euch in den Traum eines Sterbenden gesperrt, um Euch zu töten.«

Krolan! Hatte sie ihm Wichtiges verraten? Etwa von Trenkars Niederlage in Bethelgard erzählt? Sie erinnerte sich an nichts!

»Glücklicherweise«, fuhr Inselm fort, »haben wir Euch rechtzeitig befreien können.« Er nickte zu dem Prinzen hin, um anzuzeigen, wer mit »wir« gemeint war.

»Aber der Prinz … er schläft ja noch! Ihr müsst ihn aufwecken!«

»Keine Angst. Sein fester Schlaf ist traumlos, nur noch die Nachwirkung eines Trunkes. Er wird bald erwachen.« Inselm erhob sich, aber Leron stellte sich ihn in den Weg. »Ihr bleibt, bis der Prinz ebenfalls erwacht!«

»Dann weckt ihn.« Inselm machte eine nachlässige Geste. »Er schläft nur, ich habe ihn nicht betäubt.«

Leron rüttelte den Prinzen an der Schulter, und tatsächlich schreckte der auf und sah sich verwirrt um.

Inselm nickte Leron zu. »Ich erwarte den schriftlichen Bescheid, mit Namen und Siegel des Prinzen. Als Zeuge des Handels ist es Eure Pflicht, ihn inmitten all seiner wichtigen Geschäfte daran zu erinnern.«

»Eure Mahnung ist eine Beleidigung, Magus. Das Wort der Krone ist über jeden Zweifel erhaben.«

»Ich bitte um Vergebung.« Inselm verneigte sich und wandte sich zur Tür.

»Magus!« Kira sprang aus dem Bett und störte sich nicht daran, dass sie nur ein Unterkleid trug. »Kann es wieder geschehen? Kann er mich wieder in einen Traum sperren?«

Der Magus überlegte. »Er ließ Euch zum Sterben zurück, und wir entkamen nur knapp. Falls er Euch für tot hält, wird er Euch in den Strudeln nicht mehr suchen. Womöglich vernichtet er sogar Euer Blut.«

Inselm ging, und der Prinz, dessen Blick sich inzwischen geklärt hatte, schickte auch Leron und Finny fort. Als sie beide allein waren, sagte er: »Ich erinnere mich an eine Mühle und einen Baum.«

Die alte Mühle. Hatte sie tatsächlich ausgerechnet davon geträumt?

»Außerdem an dich, in einem zerschlissenen Leinenkleid. Woran erinnerst du dich?«

Sie schüttelte frustriert den Kopf, versuchte noch einmal, das diffuse Gefühl in ihrer Brust zum Bild zu verdichten. Tatsächlich kam eine Erinnerung. Die Erinnerung an einen hohen Giebelsaal. Aber sie hätte nicht zu sagen gewusst, ob es die Erinnerung an den eben verlassenen Traum war, oder an einen ganz anderen, älteren. Dann kam noch ein Bild.

»Eine Frau, mager wie ein Gerippe. In einem Käfig.«

Der Prinz schnaubte verächtlich. »Also waren wir gar nicht im gleichen Traum. Inselm ist nur ein Schwindler, und du bist nur aus reinem Zufall in seinem Beisein erwacht.«

»Sagt das nicht.« Sie setzte sich auf die andere Seite des Bettes. »Dieser Baum an der Mühle, hat einer seiner Äste bis an das Dach gereicht?«

»Also erinnerst du dich doch daran?«

»Ja, aber nicht aus einem Traum. Ich habe in dieser Mühle gelebt.«

Das Dach war ihr Zufluchtsort gewesen. Von dort hatte sie so oft beobachtet, wie die Müllerin nach ihr suchte, es schließlich fluchend aufgab und ins Haus zurückkehrte. Dann hatte sie sich auf die Schindeln gelegt und in den Tag geträumt.

Nachdenklich sah der Prinz sie an. »Du glaubst also tatsächlich, Krolan habe dich in einen Traum eingesperrt und Inselm habe dich gerettet.«

Inselm und er, Prinz Siluren. Gegen alles, was er für wahr hielt, hatte er sich in Magus Inselms Hand begeben. Die Hand eines Mannes, dem er misstraute. »Wenn Ihr nicht daran glaubt, warum habt Ihr Euch ebenfalls in den Schlaf versetzen lassen?«

»Er behauptete, es sei nötig, um dich zu finden. Außerdem: Auch wenn ich nicht daran glaube, kann es wahr sein.« Er lächelte. »Falls dies Wirklich eine Gelegenheit gewesen wäre, Krolan selbst zu begegnen, hatte ich sie nutzen wollen.«

Sie senkte den Blick. »Ich wünschte, ich könnte Euch versichern, dass ich Krolan nichts verraten habe.«

»Aber du erinnerst dich nicht.«

Sie schüttelte den Kopf. »Man kann wohl üben, sich zu erinnern. Das tun die Magoi. Aber es ist schwer.«

Er sah sie nachdenklich an. »Angenommen, das alles wäre tatsächlich wahr. Dann spräche Krolans Versuch, dich zu töten, nicht gerade für deine Kooperation.«

Wie gern wollte sie das glauben! Wollte glauben, sie sei stark geblieben und wüsste selbst im Traum noch, wo ihre Loyalität lag. Aber es war zu riskant. Sie war eine undichte Stelle, eine mögliche Verräterin.

Sie stand auf. »Tut mir leid, Hoheit. Ich hätte Euch schon viel früher von meiner Anwesenheit befreien müssen. Lebt wohl.«

Seine Augen wurden groß. »Ich habe nicht verlangt, dass du gehst.«

»Ich muss aber. Wenn ich bleibe, seid Ihr in Gefahr.«

»Wenn du gehst, bist du in Gefahr.«

Sie lächelte matt. »Ich bin ein großes Mädchen.«

»Was, wenn Krolan dich noch einmal in den Schlaf zwingt? Nach Inselms Worten ist es nicht leicht, einen Menschen in jener Welt aufzuspüren. Dazu ist eine …«, er suchte nach dem richtigen Wort, »gefühlsmäßige Verbindung nötig. Du solltest also in meiner Nähe bleiben.«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Hoheit, Ihr seid kein Magus. Ihr könnt nicht einmal erkennen, wenn Ihr träumt.«

»Da magst du recht haben, aber es gibt mehr Magoi in Galathräa als nur Inselm.«

Sie verschränkte die Arme. »Ihr wollt also sagen, es lässt sich in Galathräa leichter ein weiterer Magus finden als ein weiterer Freund Kira Idrastochters.«

»Das fürchte ich, ja.«

Ehe Kira antworten konnte, klopfte es, und auf Silurens Aufforderung hin trat Finny ein und knickste. »Vergebung, Hoheit, aber der Herzog von Etharold verlangt, Euch zu sprechen.«

Der Prinz zögerte, unschlüssig. Offenbar wollte er das Gespräch so nicht beenden. Doch einen Herzog und Onkel ließ auch ein Prinz nicht warten, und so stand er auf und zog die Jacke straff. Mit strengem Blick zeigte er auf Kira. »Du wirst in diesem Haus bleiben, bis wir unser Gespräch beendet haben. Befehl der Krone!«

Welt der Schwerter

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