Читать книгу Grüne Antibiotika - Eberhard J. Wormer - Страница 4
ОглавлениеAPOCALYPSE NOW
„Das Ende ist nah! Bereut! Tut Buße!“ Kaum ein Science-Fiction-Drama kommt ohne den bärtigen Propheten aus, der ein dermaßen beschriftetes Pappschild in die Höhe hält. Der anvisierte Weltuntergang vollzieht sich dann im konsumentenfreundlichen Kinoformat innerhalb von 90 Minuten. Und möglicherweise ist es einmal mehr Bruce Willis, der die Welt vor bösen Mächten rettet – als da sind: Profitgier, Eigennutz, Verblendung, Täuschung, Indoktrination, Narzissmus, Ignoranz, Arroganz, Machtstreben und Gewalt. Schaut man genauer hin, kommen in keinem Bereich der modernen Medizin solche destruktiven Faktoren klarer zum Vorschein als auf dem Gebiet der Antibiotika. Der viel beschworene „Krieg“ gegen Mikroorganismen war und ist ein aussichtsloses Unterfangen.
Er war und ist niemals zu gewinnen.
Die Resistenzentwicklung gegen Antibiotika beschleunigt sich und ist global unkontrollierbar geworden.
Die Kapitulation von Medizin und Wissenschaft angesichts der Macht der Keime fand bereits vor knapp 20 Jahren statt! Wir haben jeden Grund zur Besorgnis. Die Antibiotika-Ära ist längst beendet. Stattdessen müssen wir uns auf eine Zukunft einstellen, in der Antibiotika nur noch eine marginale Rolle spielen werden.
Durch Parasiten, Bakterien und Viren ausgelöste Epidemien oder Pandemien machen immer wieder und zunehmend häufiger Schlagzeilen. Ebola, H5N1, Malaria, MRSA-Keime und altbekannte Tuberkulosebazillen verursachen für Mensch und Tier tödliche Infektionen.
► „Acinetobacter baumannii in Kiel: Ein Keim zeigt, was Multiresistenz anrichten kann.“: 11 tote Klinikpatienten (medscape, Januar 2015)
► „Intensivstation nach Keimbefall geschlossen.“ (Privatklinik in München, SZ, Dezember 2014)
► „Segler befürchten Superbakterium vor Rio.“ (SZ, Dezember 2014), MRSA-Risiko bei den Olympischen Spiele 2016?
► „Gefährliches Vogelgrippevirus H5N8 nachgewiesen.“ (SZ, Dezember 2014)
► „Antibiotikaresistenzen verursachen allein im US-Gesundheitssystem geschätzte Kosten von 21 bis 34 Milliarden Dollar pro Jahr.“ (WHO, 2014)
► „Die jährliche Zahl der MRSA-Fälle in deutschen Krankenhäusern wird auf 132 000 geschätzt. Schätzungen zeigen, dass jährlich etwa 170 000 MRSA-Infektionen die europäischen Gesundheitssysteme mit mehr als 5 000 Todesfällen, mehr als einer Million zusätzlichen Hospitalisationstagen und Mehrkosten von circa 380 Millionen Euro belasten.“ (Deutsches Ärzteblatt, 2011)
► „Gérard Depardieus Sohn: Frankreich trauert um Guillaume Depardieu“: Tod nach MRSA-Infektion. (Der Spiegel, 2008)
► „Jährlich gibt es in Deutschland 800 000 Krankenhaus-Infektionen.“ (Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene, 2004)
Fragt man einmal im Bekanntenkreis gezielt nach Klinik- oder MRSA-Infektionen, erfährt man unter Umständen, dass bei einem Betroffenen aufgrund einer antibiotikaresistenten Infektion das Bein amputiert werden musste. Tatsächlich ist die Endzeitstimmung in Bezug auf Antibiotikaresistenz keine Übertreibung: Bereits im Jahr 1998 publizierte die renommierte Fachzeitschrift The Lancet einen Beitrag über Vancomycin-resistente Staphylokokken mit dem Titel „Apocalypse Now“.
Dass wir es mit einer globalen Bedrohung durchaus katastrophaler Dimension zu tun haben, verdeutlich der aktuelle WHO-Bericht Antimicrobial Resistance Global Report on Surveillance 2014: „Eine post-antibiotische Ära, in der harmlose Infektionen und kleine Verletzungen tödlich sind, ist alles andere als eine apokalyptische Fantasie – sie ist im Gegenteil ein sehr reales Szenario für das 21. Jahrhundert.“ Das deutsche Medizinportal DocCheck News kommentiert diesen WHO-Report mit dem Titel eines weiteren Katastrophenfilms: Antibiotikaresistenz: The Day After.
Kein Zweifel, seit 60 Jahren gelten Antibiotika als wichtige Heilmittel bei Infektionen – unabhängig davon, ob ihre Anwendung angemessen war, ob man sich im Krankenhaus oder „in freier Wildbahn“ infiziert hatte. Schon in seiner Nobelpreis-Rede 1945 warnte Alexander Fleming, der Entdecker von Penicillin, davor, dass sich Resistenzen gegen dieses bemerkenswerte Heilmittel entwickeln könnten. Tatsächlich wurde seither bei jedem weiteren Antibiotikum in relativ kurzer Zeit Resistenz nachgewiesen.
100 Jahre Antibiotika: Daten zur Entdeckung/Patentierung von Antibiotika. Seit 1987 wurde keine neue Antibiotika-Klasse mehr entwickelt!
Resistenz gehört zum normalen Evolutionsprozess von Mikroorganismen. Massenhafte, oft unsachgemäße Anwendung von Antibiotika bei Mensch und Tier erhöht die Wahrscheinlichkeit und beschleunigt die Entwicklung von Resistenzen – vor allem weil Präventions-, Hygiene- und Kontrollmaßnahmen missachtet werden.
Noch immer werden Antibiotika viel zu häufig verordnet. Sie werden zudem in unvorstellbarer Menge in der Fleischproduktion eingesetzt, sind mittlerweile Bestandteil der Nahrungskette und sogar im Trinkwasser vorhanden. Folglich wirken Antibiotika zunehmend schwächer oder sind komplett unwirksam. Vancomycin ist eines der letzten Reserveantibiotika bei multiresistenten Keimen.
Nach Ansicht der WHO haben wir es heute mit einer Notfallsituation in Bezug auf den globalen Gesundheitsstatus zu tun. Bis zu den 1970er-Jahren wurden zahlreiche neue Antibiotika entwickelt, die anfangs gegen die meisten pathogenen Keime wirksam waren. Die letzten neuen Antibiotika-Klassen wurden Mitte der 1980er-Jahre vorgestellt. Demnach haben wir derzeit eine nahezu leere „Pipeline“ für neue Antibiotika. Dies gilt vor allem für die Behandlung von gramnegativen Darm-/Enterobakterien. Die Erforschung von Ersatzantibiotika befindet sich noch in den Kinderschuhen. Demnach müssen wir bei gängigen Infektionen (Lungenentzündung, Harnwegsinfektionen u.a.), die Penicillin-resistent sind, mit Risiken und Komplikationen für Leib und Leben rechnen. Besonders gefährdet sind Neugeborene und intensivmedizinische Patienten, Krebspatienten und Organtransplantierte sowie ältere Menschen. Vorbeugend verordnete Antibiotika in der Chirurgie sind schwächer oder überhaupt nicht mehr wirksam.
Jedes Jahr sterben mindestens 25 000 Menschen in Europa an den Folgen antibiotikaresistenter Infektionen. Anlass genug, 2014 eine Konferenz in Oslo mit Teilnehmern aus 40 Ländern und der WHO abzuhalten, um über einen globalen Aktionsplan zum Antibiotika-Problem nachzudenken. Schon der WHO-Bericht hatte darauf hingewiesen, dass wir uns auf eine Post-Antibiotika-Ära zubewegen. Das Osloer Abschlussdokument listet 18 Empfehlungen für den Aktionsplan auf, der durch internationale Zusammenarbeit umgesetzt werden soll. Unter anderem werden strikte Vorgaben und Kontrollen für die Produktion, den Verkauf und Vertrieb von Antibiotika gefordert. Der Erfolg des Aktionsplans ist davon abhängig, ob es wirklich zu einer belastbaren internationalen und interdisziplinären Kooperation kommt. Dies ist zumindest fraglich.
Globale Antibiotikaresistenz: Status 2014
Der WHO-Bericht stellt den Resistenzstatus von neun infektiösen Mikroorganismen im Lebensalltag, in Kliniken und in der Nahrungskette vor. Er kommt zu folgenden Ergebnissen:
► Sehr hohe Resistenzraten bei Bakterien, die gängige Infektionen (Pneumonie, Harnwegsinfekte, Syphilis, Durchfallerkrankungen u.a.) betreffen, wurden in allen 129 WHO-Regionen beobachtet.
► In 36 Ländern sind Cephalosporine der dritten Generation als ultima ratio bei Gonorrhoe-Infektionen zunehmend schwächer wirksam.
► Der Resistenzstatus von Mitteln gegen Candida-Pilzinfektionen ist unbekannt. Resistenz gegen die neueste Antimykotika-Klasse ist bereits zu beobachten.
► Die Entwicklung multiresistenter Tuberkulosebakterien, der Artemisinin-resistenten Malaria und von Resistenzen gegen Anti-HIV-Mittel ist beunruhigend.
► Viele Befunde und Beobachtungen aus Studien sind lückenhaft.
Ein Beispiel für die weltweite Resistenzproblematik: Im Jahr 2010 ist in fast allen Industrie- und Schwellenländern eine erhöhte Unempfindlichkeit der Erreger von Tripper (Gonorrhoe, Neisseria gonorrhoeae) gegenüber Cephalosporinen der dritten Generation bzw. komplette Unwirksamkeit zu beobachten.
Gibt es noch Hoffnung für die Menschheit? Gibt es Lösungen für das Resistenzproblem? Ja, es gibt sie. Die erste Maßnahme wäre ein viel beschworener Umdenkungsprozess: Mikroorganismen, Bakterien und Viren sind keine „bösen Feinde“ des Menschen. Wir sollten aufhören, „Krieg“ gegen sie zu führen. Bakterien sind nützliche Mitbewohner des Menschen. Sie sollten unsere „Freunde“ sein. Durch massenhafte und kritiklose Anwendung von Antibiotika in der Medizin und in der Massentierhaltung haben wir selbst beste Bedingungen für die Resistenzentwicklung geschaffen. Antibiotika sind immer auch ein Angriff auf die Lebensgemeinschaft des Menschen mit seinen Mikroorganismen, die für seine Gesundheit und das Überleben gebraucht werden.
Alle modernen Antibiotika hemmen prinzipiell mit nur wenigen Stoffwechselmechanismen den Lebenszyklus der Mikroben. Demgegenüber haben Flora und Fauna in Jahrmillionen komplexe Abwehrmechanismen entwickelt, die es den Pflanzen mit einer Mixtur aus Hunderten von Abwehrstoffen erlauben, ihr Überleben zu sichern. Ein evolutionsbiologischer Vorteil, dem die Wissenschaft nur sehr wenig entgegenzusetzen hat. Es überrascht nicht, dass es pflanzliche Antibiotika gibt, die auch bei MRSA-Infektionen wirksam sind! Davon handelt dieses Buch.