Читать книгу Frau Helbing und der tote Fagottist - Eberhard Michaely - Страница 3
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ОглавлениеEs war ein schöner Montagmorgen. Nicht bilderbuch schön oder mediterran schön, aber für Hamburger Verhältnisse weit mehr als zufriedenstellend. Frau Helbing sah aus ihrem Küchenfenster, wie sie es jeden Morgen zu tun pflegte, und nickte. Sie konnte das Wetter lesen. Ein Blick in den Himmel genügte ihr, um eine zutreffende Prognose für den weiteren Tagesverlauf abzugeben. Dazu brauchte sie keine Wetter-App. Nicht einmal die Nachrichten im Radio mit der anschließenden Vorhersage. Die Meteorologen lagen sowieso meistens daneben. Frau Helbing kannte die Wolken über der Hansestadt schon so lange. Auch die Kapriolen des Windes und die feinen Abstufungen des morgendlichen Lichts wusste sie zu deuten. Und sie irrte sich fast nie.
»Mein Wetterfrosch«, hatte Hermann sie manchmal genannt. Halb bewundernd, halb genervt, wenn er mal wieder gegen den Rat seiner Frau mit der falschen Kleidung aus dem Haus gegangen war.
Leicht bewölkt, aber kein Regen, ab mittags Sonne, an die zwanzig Grad bei schwachem Wind. So würde es heute werden, und das war für die Jahreszeit durchaus akzeptabel.
Frau Helbing liebte ihre Morgenrituale. Während sie ihren persönlichen »Wetterbericht« gelesen hatte, war bereits der Kaffee durch die Maschine gelaufen. Nun setzte sie sich an den Küchentisch, trank starken Kaffee mit einem Schuss Milch und aß Brot mit Quittengelee. Das war Frau Helbings Frühstück. Jeden Morgen. Im Hintergrund lief das Radio.
Natürlich nicht wegen des Wetters, sondern wegen der Musik. Wer allein lebt, braucht ein wenig Unterhaltung. Vor allem beim Frühstück. Stille verstärkt das Gefühl der Einsamkeit, und in der Frühe schon diese drückende Leere zu spüren, während man Quittengelee auf eine Scheibe Graubrot streicht, ist keine gute Voraussetzung für einen gelungenen Start in den Tag.
Nach dem Frühstück, das Frau Helbing stets pünktlich mit den Acht-Uhr-Nachrichten beendete, spülte sie das benutzte Geschirr. Ab diesem Zeitpunkt variierte ihr Tagesablauf. Heute stand Staubsaugen auf dem Programm. Frau Helbing saugte gerne und vor allem gründlich. Sie huschte nicht nur flüchtig zwischen den Möbeln umher, sondern räumte alles aus dem Weg, bevor sie den Boden nach einem ausgeklügelten System von Staub, Flusen und dem üblichen Dreck reinigte. Danach entfernte sie die Bürste vom Rohr des Staubsaugers und nahm sich die Spinnen vor, die sich – besonders zum Herbst hin – zwischen Wand und Zimmerdecke häuslich einzurichten gedachten. Richtig saugen will gelernt sein.
Gerade hatte sie ihr betagtes Haushaltsgerät ausgeschaltet, als sie Schritte im Treppenhaus hörte. Das war bestimmt Herr von Pohl. Frau Helbing strich ihre Schürze glatt, die sie gewöhnlich bei der Hausarbeit trug, und öffnete die Wohnungstür. Sie tat, als wollte sie nur ihre Fußmatte absaugen, aber in Wirklichkeit trachtete sie danach, einen Blick auf ihren Nachbarn zu werfen. Wahrscheinlich hatte er die Nacht bei einer seiner Gespielinnen verbracht und schlich jetzt müde und befriedigt zurück in seine Höhle.
Herr von Pohl sah ein bisschen zerfleddert aus. Sogar seine Haare waren in Unordnung. So hatte ihn Frau Helbing noch nie gesehen. In der Hand hielt er seinen Instrumentenkoffer.
Frau Helbing hatte ihn schon mehrfach mit diesem Kasten beobachtet, aber seit sie wusste, wie lang so ein Fagott war, fragte sie sich, ob Herr von Pohl auch zaubern konnte.
Am Stück passte das Instrument jedenfalls nicht in dieses Behältnis. Vielleicht konnte man es zusammenschieben, mutmaßte sie. Etwa wie eine Angel, die auch nicht in voller Länge transportiert wird.
»Guten Morgen!«, rief sie ihm entgegen, als er auf ihrer Etage angekommen war.
»Guten Morgen, Frau Helbing«, lächelte Herr von Pohl zurück.
Es war mehr als ein Lächeln. Er strahlte. Eine positive Energie umgab ihn, obwohl er so derangiert wirkte. Sein Hemd steckte nicht mal richtig in der Hose.
Gerne hätte Frau Helbing ihn gefragt, wo er gerade herkomme.
Stattdessen sagte sie: »Möchten Sie mir vielleicht beim Frühstück Gesellschaft leisten?«
Mit dem Blick einer erfahrenen Frau erkannte sie sofort, dass Herr von Pohl einen knurrenden Magen hatte. Seine Freundinnen mochten Vorzüge und Talente haben, aber in Sachen Vorratshaltung, Kaffee kochen oder gar Frühstück zubereiten waren sie mit Sicherheit nicht zu gebrauchen. Die Kühlschränke dieser Frauen waren sehr wahrscheinlich leer, bis auf ein paar Becher Diätjoghurt und vielleicht einer Packung Salamisticks zum Knabbern.
Natürlich war es Frau Helbing nicht entfallen, dass sie selbst bereits gefrühstückt hatte. Schließlich litt sie nicht an Altersdemenz. Clever wollte sie Herrn von Pohl in ihre Küche locken, um ihm Informationen aus der Nase zu ziehen. Und der Musiker ging ihr in die Falle.
»Gerne«, sagte er sofort und drehte direkt in Richtung ihrer Wohnungstür ab.
Frau Helbing brühte ein zweites Mal Kaffee auf, stellte neben Brot und Quittengelee noch ein bisschen Wurst auf den Tisch, für den Fall, dass es ihren Gast nach etwas Herzhaftem gelüstete, und setzte sich auf einen Küchenstuhl.
»Das ist aber nett von Ihnen«, sagte Herr von Pohl und griff sofort nach der groben Leberwurst.
»Ich wollte sowieso gerade etwas essen«, log Frau Helbing. Sie schenkte Kaffee ein und sagte beiläufig: »Sie sind ja heute schon früh auf den Beinen.«
Dabei beobachtete sie ihren Nachbarn genau. Aus der Körpersprache konnte man jede Menge Schlüsse ziehen. Das wusste sie aus den Kriminalromanen. Jeder gute Detektiv stellte so ganz nebenbei einige vermeintlich unwichtige Fragen und wertete die Reaktion seines Gegenübers aus.
Herr von Pohl kaute mechanisch auf seinem Brot weiter, schreckte dann hoch und fragte: »Wie bitte?«
Er war nicht bei der Sache gewesen. Es lag nicht daran, dass er gerade Brot aß oder müde war. Nein, er war tief in Gedanken versunken. Frau Helbing spürte, dass etwas Außergewöhnliches passiert sein musste. Herr von Pohl war unkonzentriert. Mehr noch, zerstreut und fahrig wirkte er.
»Das Konzert gestern hat mir sehr gut gefallen. Vielen Dank noch mal für die Karten«, versuchte Frau Helbing die Aufmerksamkeit Herrn von Pohls mit einem anderen Thema zu erlangen.
»Ja, schön«, sagte er knapp.
Frau Helbing sah ihm in die Augen, aber anstatt ihren Blick zu erwidern, hatte er die Pupillen aufgezogen wie eine achtlos offen gelassene Tür, durch die der Wind pfeift.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte Frau Helbing besorgt.
Herr von Pohl lächelte.
»Ja, ja«, sagte er. »Es ging mir nie besser.«
Er beugte sich vor und flüsterte: »Manchmal bahnen sich Dinge nicht an, sondern brechen plötzlich über einen herein. Verrückt ist das.« Er schüttelte den Kopf. »Verrückt.«
Herr von Pohl trank seine Tasse aus und hielt sie Frau Helbing zum Nachschenken hin.
Frau Helbing war ratlos. Was um alles in der Welt hatte sich ereignet, dass ihr Nachbar sich in einem derart entrückten Zustand befand? Es musste von großer Tragweite sein.
Die Liebe!, schoss es ihr durch den Kopf. Wollte er Hanni heiraten? Oder Nanni? Hatte der alte Frauenheld entschieden, sich zur Ruhe zu setzen und in den Hafen der Ehe einzulaufen?
»Stopp!«, rief Herr von Pohl mit weit aufgerissenen Augen.
Frau Helbing schüttete den Kaffee direkt aus der Kanne an Herrn von Pohls Tasse vorbei. Jetzt war sie selbst in Gedanken gewesen. Eine große Pfütze war bereits auf den Tisch geschwappt, als sie ihr eigenes Ungeschick bemerkte.
»Sie sind aber auch nicht bei der Sache!«, rief Herr von Pohl belustigt.
Er stand auf und schnappte sich noch ein Brot vom Tisch.
»Ich muss jetzt los«, sagte er. »Ich habe eine wichtige Verabredung, und dann muss ich Vorbereitungen treffen.« Frau Helbing griff hastig nach einem Schwammtuch und beeilte sich, den verkleckerten Kaffee aufzuwischen.
»Was ist denn passiert?«, fragte sie.
Herr von Pohl war schon im Flur.
»Vielen Dank!«, rief er über die Schulter.
Dann war er weg.
Frau Helbing wrang den triefenden Lappen über der Spüle aus und schüttelte den Kopf. Das war ganz anders gelaufen, als sie es sich erhofft hatte. Ein bisschen tadelte sie sich. Einem guten Ermittler wäre das so nicht passiert. Sie hatte nicht eine einzige Information erhalten, aber Kaffee und die gute Leberwurst investiert. Na ja, das stimmte nicht ganz. Sie hatte Kenntnis von einer besonderen Situation ihres Nachbarn, freilich ohne zu wissen, was ihn in diese außergewöhnliche Gemütslage versetzt hatte. Und in besorgniserregender Verfassung schien Herr von Pohl zu sein, denn er hatte sein Fagott vergessen. Der mit beigefarbenem Stoff bespannte Koffer stand noch im Flur auf dem Boden. Das war ein Zeichen, fand Frau Helbing. Ein Musiker dieser Qualität, ein Profi, vergisst nicht sein Instrument. Es sei denn, er ist nicht im Besitz seiner geistigen Kräfte.
Einem ersten Impuls folgend wollte sich Frau Helbing den Koffer schnappen und Herrn von Pohl hinterherlaufen. Dann besann sie sich aber und atmete tief durch. Ruhe bewahren war das oberste Gebot eines jeden Detektivs. Sie beschloss erst einmal etwas einzuholen und schlüpfte in ihre Schuhe. Nach einer Runde an der frischen Luft würde sie wieder klar denken können.
Natürlich musste Frau Helbing nicht wirklich etwas »einholen«, wie man in Hamburg zum Einkaufen sagt. Ihre Vorratshaltung war ausgeklügelt, und sie war keine Konsumentin, die zum Spaß durch die Kaufhäuser der Stadt zog. Als Frau Helbing im Teenager-Alter war, wäre niemand, aber wirklich absolut niemand auf die Idee gekommen, Shoppen als Hobby anzugeben. Shoppen und mit Freunden treffen schien, zu ihrer großen Überraschung, für die Jugendlichen heutzutage tatsächlich eine ernst zu nehmende Freizeitbeschäftigung zu sein. Frau Helbing shoppte aber nicht. Nie! Sie besorgte die nötigen Dinge und gab kein Geld für Schnickschnack, Kinkerlitzchen und überflüssigen Tand aus. Brot brauchte sie heute und die Butter ging zur Neige. Das war schnell erledigt.
Auf dem Rückweg ging sie bei Herrn Aydin vorbei. In den Räumen der ehemaligen Helbing’schen Schlachterei betrieb Herr Aydin seit Jahren eine Änderungsschneiderei. Nichts in diesem Laden erinnerte mehr an die alten Zeiten, als Frau Helbing abends die Blutspritzer von den Fliesen geschrubbt hatte. Jetzt lag hier Teppichboden. Nach der Komplettrenovierung waren auch keine Kacheln mehr an den Wänden, sondern eine beigefarbene Tapete, die zur Decke hin mit einer aufwendig gearbeiteten Stoffbordüre abschloss. Der Raum erinnerte an die Rezeption eines alten Hotels oder an das Entree einer charmanten Pension, wie man sie vielleicht im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert in Wien hätte vorfinden können. Inklusive eines Lüsters, dessen Glasblätter glänzten, als würden sie jeden Tag auf Hochglanz poliert.
Statt eines Tresens beherrschte ein großer Zuschneidetisch den Raum. Genau da, wo früher die Wursttheke stand. In Hermanns Ecke – wo er seinen Hauklotz platziert hatte – war ein Bügelplatz eingerichtet. Um das Tageslicht auszunutzen, stand die Arbeitsplatte direkt hinter dem Schaufenster, flankiert von zwei großen Nähmaschinen.
Herr Aydin war ein sehr netter Mensch. Als Frau Helbing nach vierzig Jahren die Schlüssel für dieses Geschäft abgeben musste, liefen ihr Tränen über das Gesicht. Sie konnte kaum reden.
Das war 2003. Die Metzgerei hatte sich nicht mehr rentiert. Die Kunden gingen in den Supermarkt nebenan, wo man für zwei Euro neunundneunzig Putenfleisch im Angebot kaufen konnte. Das Kilo wohlgemerkt. Wurstbrote wurden auch immer seltener gekauft. Und wenn, wollten die Leute glutenfreie Brötchen und fettreduzierten Fleischsalat. Hermann wurde ganz schwermütig und starb ein Jahr später.
Herr Aydin zeigte damals spontan auf einen Hocker und sagte, dass dieser Stuhl immer für Frau Helbing reserviert sei, und er bot ihr an, sie könne vorbeikommen, so oft sie wolle, um ein Glas Tee mit ihm zu trinken. Es war eine schlichte, unbequeme Sitzgelegenheit, aber eine große Geste, die von Herzen kam. Und Herr Aydin hatte Wort gehalten. Unzählige Male hatte Frau Helbing im Laden gesessen und Herrn Aydin bei der Arbeit zugeschaut. Anfangs fast jeden Tag. Sie brauchte das, um den Übergang in den Ruhestand zu verkraften. Später wurden die Besuche seltener. Nach all den Jahren stand der Stuhl immer noch da.
Als Frau Helbing die Tür öffnete, hätte sie Herrn Aydin fast umgestoßen. Er stand auf der obersten Sprosse einer alten Leiter und konnte sich gerade eben mit dem Arm an der Wand abstützen. Frau Helbing schlug vor Schreck die Hand vor den Mund.
»Nichts passiert!«, rief Herr Aydin.
Er versuchte ruhig zu wirken, man konnte ihm aber ansehen, dass er gerade mächtig Panik gehabt hatte, sich den Hals zu brechen.
»Was machen Sie denn da oben?«, fragte Frau Helbing. »Ich hätte Sie fast umgebracht.«
»Ich habe die Glühbirne in einem Strahler ausgewechselt«, antwortete er leise.
In seiner Stimme schwang Angst mit. Herr Aydin war bauhandwerklich nicht begabt. Er gehörte zu den Menschen, die sich mit Werkzeug eher schwerwiegende Verletzungen zufügten, anstatt Schäden zu beheben. Selbst eine Glühbirne auszuwechseln stellte für ihn eine Herausforderung dar, verbunden mit einer schlaflosen Nacht vor der Aktion, Herzrasen während der Tätigkeit und einem kurzen Erschöpfungszustand nach der Reparatur.
Zwei linke Hände, sagt man landläufig, aber das ist natürlich Quatsch. Es gibt Geigenvirtuosen, bei denen man sich fragt, wie sie morgens ihre Schuhe zugebunden kriegen, aber deshalb sind ihre Finger nicht grundsätzlich ungeschickt. Es hat wohl etwas mit Veranlagung zu tun. Mit der Nadel konnte Herr Aydin nämlich umgehen wie kaum ein anderer. Er war ein guter Schneider, aber ein lausiger Glühbirnenwechsler. Dummerweise litt er unter Höhenangst, was die Arbeit auf einer Leiter zusätzlich erschwerte. Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, sagte er erleichtert: »Geschafft.«
Dann klatschte er in die Hände, als wollte er die Strapazen, Angstzustände und Schwindelgefühle der letzten Minuten vertreiben, und setzte das einladende Lächeln eines türkischen Gastgebers auf.
»Möchten Sie einen Tee?«, fragte er.
»Gerne«, antwortete Frau Helbing.
Eigentlich mochte sie keinen Tee, aber Herr Aydin hätte es als Kränkung empfunden, wenn sie abgelehnt hätte. Der Tee war ein Zeichen der Gastfreundschaft, der Wertschätzung. Herr Aydin reichte ihn immer in putzigen kleinen Gläsern mit Goldrand. Frau Helbing trank jedes Mal Tee, wenn sie hier war. Und immer rührte sie Zucker hinein. Herr Aydin fand, dass in Tee immer Zucker gehöre. Also tat Frau Helbing ihm den Gefallen.
Nachdem sie auf ihrem Privatstuhl Platz genommen und an ihrem Teeglas genippt hatte, fuhr Herr Aydin mit seiner täglichen Arbeit fort. Das war nicht unhöflich. Herr Aydin war ein fleißiger Mann, der seine Zeit zu nutzen wusste und trotzdem aufmerksam zuhören konnte. Auch während er, so wie jetzt, ein Schnittmuster mit Kreidestift auf einen dunklen Stoff übertrug. Frau Helbing wusste das und hatte überdies vollstes Verständnis für Menschen, die gewissenhaft ihrer Arbeit nachgingen und nicht bei jeder Gelegenheit eine ausgedehnte Pause einlegten.
»Gestern war ich in einem Konzert«, begann Frau Helbing zu erzählen. »Ein Stück von Mozart wurde gespielt.«
»Oh, Mozart«, sagte Herr Aydin, ohne von seinem Zuschnitt aufzusehen. »Ich war mal in der Zauberflöte.«
Frau Helbing war nicht überrascht, dass Herr Aydin Herrn Mozart kannte. Also nicht persönlich, aber als Komponist.
Herr Aydin hatte Niveau, wie Frau Helbing das nannte. Schon vor langer Zeit war ihr aufgefallen, dass Herr Aydin immer ein frisch gebügeltes Hemd anhatte. Dazu trug er Bundfaltenhosen in dezenten Farben, die ebenfalls penibel geglättet waren, und schwarze Lederschuhe, die glänzten wie frisch gefangene Fische. Er machte einen gepflegten, kultivierten Eindruck. Mindestens einmal am Tag schien er zum Frisör zu gehen. Sein Scheitel saß perfekt, und in seinem grau melierten Bart wagte es kein Haar länger zu sein als alle anderen. So jemand kannte natürlich Mozart.
»Ich kenne nur das Stück, das ich gestern gehört habe«, gestand Frau Helbing.
Gerne hätte sie gesagt, wie es hieß, aber sie kam nicht mehr drauf.
»Herr von Pohl hat mich eingeladen«, sagte sie stattdessen. »Das ist der Musiker, der über mir eingezogen ist. Ich glaube, ich habe ihn mal erwähnt.«
»Ich kenne Herrn von Pohl persönlich«, sagte Herr Aydin.
Er streifte sich ein Nadelkissen über das Handgelenk. Frau Helbing fand, das sah kompetent aus. Ein Schneider, der ein Nadelkissen mit einem Gummiband an seinem Arm trug, wirkte, als verstünde er wirklich etwas von seinem Fach.
»Er hat mir letzte Woche ein Jackett gebracht, damit ich die Ärmel kürze.«
»Ach«, sagte Frau Helbing.
»Die Ärmel sind nicht wirklich zu lang«, erklärte Herr Aydin, »aber sie stören ihn beim Spielen. Seine Handrücken müssen ganz frei sein, damit er die Klappen und Tonlöcher des Fagotts ohne Irritationen bedienen kann.«
Herr Aydin heftete geschickt mit Stecknadeln zwei eben ausgeschnittene Stoffe aufeinander. Das ging ihm so flink von der Hand, dass Frau Helbing sich fragte, wieso er so ungeschickt mit Schraubenziehern und Glühbirnen hantierte.
»Herr von Pohl hat sehr schöne Hände«, sagte Herr Aydin. Es klang ein bisschen verträumt. Sehnsuchtsvoll, als spräche er von einer einsamen Insel inmitten der Südsee.
Frau Helbing hatte schon immer den Eindruck gehabt, Herr Aydin sei eher dem männlichen Geschlecht zugeneigt. Sie wusste, dass er nicht verheiratet war, und in den Gesprächen der vergangenen Jahre hatte er auch nie eine Frau erwähnt. Dafür schien er eine Unmenge von Cousins zu haben. Frau Helbing hatte bei dreißig Verwandten aufgehört zu zählen. Immer wieder hatte er ihr Männer, die in seinem Laden ein und aus gingen, als Familienangehörige vorgestellt. Anfangs hatte sie das auch geglaubt, aber mit der Zeit konnte sie den Umstand, dass Herr Aydin schwul war, nicht mehr ignorieren. Ihr war das egal. Sie hatte keine Probleme mit Homosexuellen. Nicht wie Heide, die herablassend von »Andersgepolten« sprach. Aber für einen Mann mit türkischen Wurzeln war es bestimmt nicht leicht, andere Männer zu lieben. So deutlich wie jetzt hatte sich Herr Aydin ihr gegenüber noch nie geoutet. Frau Helbing nahm es als Kompliment und trank einen Schluck gesüßten Tees. Herr Aydin und Herr von Pohl als Paar, dachte sie. Das würde eigentlich richtig gut zusammenpassen. Gerne hätte sie Herrn Aydin davon in Kenntnis gesetzt, dass Herr von Pohl auf eins siebzig große brünette Kurzhaarfrauen stand und davon in diesem Leben bestimmt nicht mehr abweichen würde. Aber das war nicht ihre Aufgabe. Wahrscheinlich ahnte Herr Aydin das auch. Er schwieg und zog routiniert einen Faden durch das Öhr einer großen Nadel.
Frau Helbing fiel plötzlich ein, dass Herrn von Pohls Fagott noch immer in ihrem Flur stand. Vielleicht hatte ihr Nachbar bereits an der Tür geläutet und versucht, an sein Instrument zu kommen. Dieser Gedanke ließ Frau Helbing ganz nervös werden.
»Entschuldigen Sie, Herr Aydin«, sagte sie. »Ich habe etwas vergessen und muss jetzt dringend nach Hause.«
Eilig stand sie auf, verabschiedete sich und dankte noch mal für den Tee.
Herr Aydin ließ es sich nicht nehmen, ihr die Tür aufzuhalten, und zum Abschied vollführte er eine leichte Verbeugung. Frau Helbing fühlte sich immer wie eine Prinzessin, wenn sie Herrn Aydins Laden verließ. Schade, dachte sie dann, dass es immer weniger Männer mit guten Manieren gibt. Und nicht nur Männer. Frau Helbing war schon lange überzeugt, dass die Menschen im Allgemeinen rücksichtsloser geworden waren.
In der Rappstraße fiel Frau Helbing der silbergraue Mercedes von Herrn von Pohl ins Auge. Ein schönes altes Cabriolet mit einem schwarzen Verdeck, das noch verchromte Stoßstangen hatte, die ihren Namen zu Recht trugen. Das hatte Stil. Der Wagen war gepflegt. Eigentlich sah er aus, als wäre er gerade vom Band gelaufen.
Ein paar Mal hatte Frau Helbing Herrn von Pohl vom Fenster aus beobachtet, wie er in den umliegenden Straßen nach einem Parkplatz gesucht hatte. Damit konnte man in diesem Viertel gut und gerne eine halbe Stunde verbringen. Herr von Pohl fuhr immer mit offenem Dach, den linken Arm lässig über die Fahrertür gelegt, und hörte dabei klassische Musik.
»Angeber«, dachte Frau Helbing, wenn sie ihn in diesem Wagen sah. Sie meinte das nicht böse, sondern mit einem Augenzwinkern. Schließlich war er ein sehr netter Angeber.
Obwohl sein Auto am Straßenrand stand, war Herr von Pohl nicht zu Hause. Frau Helbing klingelte vergebens an seiner Wohnungstür. Sie machte sich Vorwürfe. Es war unhöflich gewesen, einfach wegzugehen, obwohl sie doch wusste, dass Herrn von Pohls Fagott in ihrem Flur stand. Vielleicht hatte er in der Zwischenzeit dringend sein Instrument gebraucht und bekam jetzt Scherereien, weil er eine Probe verpasst hatte oder, noch schlimmer, ein Konzert.
Frau Helbing war beunruhigt. Sie schenkte sich ein Glas Saft ein, setzte sich in ihren Ohrensessel und schlug einen äußerst spannenden Kriminalroman auf. Gerne las sie ein oder zwei Kapitel vor dem Mittagessen.
Ihr aktuelles Buch war ein klassischer Whodunit-Krimi, der im Vereinigten Königreich spielte. Bei diesem Genre kamen in der Regel zahlreiche Personen als Täter infrage. Frau Helbings Ehrgeiz bestand darin, noch vor dem Ermittler herauszufinden, wer die Tat – meist handelte es sich bei diesen Fällen um einen Mord – begangen hatte. Auch diesmal hatte sich Frau Helbing schon festgelegt. Mörder waren selten Personen, die im Fokus der Ermittler standen. Fast immer erwies sich eine der Randfiguren als Täter. Jemand, der anfangs kurz auftauchte und eher beiläufig Erwähnung fand.
Frau Helbing war eine begeisterte Krimi-Leserin. Wöchentlich suchte sie eine der Hamburger Bücherhallen auf, um sich spannende Romane auszuleihen. Sie las immer und überall. Im Sommer setzte sie sich mit ihren Büchern oft in Planten un Blomen, einen Park, den sie gut zu Fuß erreichen konnte, auf eine schattige Bank. Im Winter lag sie mit Krimis auf dem Sofa, eingewickelt in eine kuschelige Decke. In Reichweite standen Schnittchen und ein Alsterwasser. Oft erschauderte sie, wenn sich die Protagonisten in Gefahr begaben. Sie liebte dieses Kribbeln, den Anflug von Gänsehaut, die Spannung. Und am Ende löste sich immer alles auf.
Obwohl sich die Geschichte ihrem Höhepunkt näherte und Inspektor Murphy von Scotland Yard kurz vor der Aufklärung stand, fiel es Frau Helbing heute schwer, sich zu konzentrieren. Sie grübelte darüber nach, ob ihr Nachbar eventuell ein Zweitinstrument für Notfälle besaß. So ein Fagott ist bestimmt auch mal in der Reparatur, und in dieser Zeit muss ein Musiker trotzdem seiner Arbeit nachgehen können. Vielleicht gab es auch einen Fagottverleih, den man in dringenden Fällen aufsuchen konnte. Frau Helbings Gedanken kreisten immer wieder um Herrn von Pohl und sein Instrument. Außerdem lauschte sie ständig, ob sich nicht jemand im Treppenhaus bewegte. Nach kurzer Zeit legte sie das Buch aus der Hand. Es war ihr nicht möglich, in die Geschichte einzutauchen.
Schließlich ging sie in die Küche und bereitete ihr Mittagessen zu. Heute standen Eier mit Senfsoße auf dem Speiseplan. Dazu gab es Salzkartoffeln mit Petersilie. Die Küchentür ließ sie offen stehen, um nicht die Klingel zu überhören. Nur zur Sicherheit, falls Herr von Pohl vor der Tür stehen würde.
Als sie an ihrem Küchentisch saß und die Kartoffeln klein schnitt, um sie mit der Gabel in die Soße zu drücken, fiel ihr Blick direkt auf den Instrumentenkoffer im Flur. Sie überlegte, wie wertvoll das Fagott von Herrn von Pohl sein könnte. Unter Umständen handelte es sich um ein uraltes Instrument, das ein Vermögen gekostet hatte. Immerhin war Herr von Pohl Professor.
»Weißt du, was ein Fagott kostet?«
Direkt nach dem Essen hatte Frau Helbing ihre Freundin Heide angerufen.
»Oha«, rief Heide munter. »Willst du bei deinem Nachbarn Unterricht nehmen?«
»Nein«, beeilte sich Frau Helbing zu erklären. »Ich meine auch kein Schülerinstrument, sondern so eins, wie es Herr von Pohl spielt. Das ist doch bestimmt etwas ganz Besonderes.«
»Genau weiß ich das nicht, aber dreißigtausend Euro kann man für ein gutes Instrument bestimmt ausgeben.«
»Dreißigtausend Euro?«, wiederholte Frau Helbing andächtig. »Meinst du wirklich?«
»Das sind Peanuts«, rief Heide belustigt. »Es gibt alte italienische Geigen, die kosten Millionen.«
Frau Helbing sagte nichts. Heide hatte den Eindruck, ihre Freundin sei beunruhigt.
»Ich bin gerade in der Mönckebergstraße«, sagte Heide. »Willst du nicht mit dem Fünfer zum Jungfernstieg kommen? Ich lade dich zum Kaffee in den Alsterpavillon ein.«
»Das ist nett«, antwortete Frau Helbing, »aber ich kann jetzt nicht weg. Ich erkläre dir das später.«
Die Verantwortung für ein wahrscheinlich sehr teures Fagott lastete schwer auf Frau Helbings schmalen Schultern. Noch einmal versuchte sie ihr Glück, stieg die Treppe in den dritten Stock hoch und klingelte an Herrn von Pohls Tür. Um alle Möglichkeiten auszuschöpfen, ging Frau Helbing anschließend zurück in ihre Wohnung und versuchte den Fagottisten anzurufen. Vor ein paar Wochen hatte er ihr seine Festnetznummer gegeben. Nur für den Fall, dass Frau Helbing einmal Hilfe benötigen würde. Das fand sie sehr nett.
Jetzt kramte sie den Zettel hervor und wählte die aufgeschriebene Nummer. Zu Frau Helbings Überraschung klingelte es aber nicht, sondern eine monotone Stimme informierte sie darüber, dass dieser Anschluss zurzeit nicht erreichbar sei.
Frau Helbing setzte sich und dachte angestrengt nach. Hätte sie bloß die Handynummer von Herrn von Pohl oder die von Melanie, der Klarinettistin. So hätte sie ihn vielleicht erreichen können. Schließlich haben alle heutzutage ein Handy. Sogar Frau Helbing selbst besaß ein Smartphone. Heide hatte es ihr vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt. Heide sagte damals, das sei ein »Must-have«. Ja, so hatte Heide das genannt. Ein Gegenstand, ohne den der Mensch offensichtlich nicht mehr lebensfähig war. Tatsächlich stellte Frau Helbing immer wieder fest, dass bei den meisten Menschen das Handy mit der Hand fest verwachsen war. Ihr eigenes Mobiltelefon dagegen lag in der Küchenschublade. Originalverpackt mit Bedienungsanleitung und Ladekabel.
Den restlichen Montag blieb Frau Helbing in ihrer Wohnung. Sie wartete auf Herrn von Pohl. Irgendwann musste er sein Instrument vermissen. In unregelmäßigen Abständen pilgerte sie die Stufen zur Wohnung Herrn von Pohls hoch und klingelte an der Tür. Jedes Mal vergeblich. Gegen zehn Uhr wurde sie müde. Bevor sie sich zum Schlafen hinlegte, schob Frau Helbing den Koffer mit dem vermutlich wertvollen Fagott unter ihr Bett.