Читать книгу DER ABGRUND JENSEITS DES TODES - Eberhard Weidner - Страница 5
KAPITEL 1
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Sie stand wie festgenagelt im Erdgeschossflur des Hauses und starrte auf die Treppe, die nach oben führte. Im ersten Augenblick wusste sie nicht, warum sie das tat. Sie senkte den verwirrten Blick und entdeckte das Kochmesser in ihrer Hand. Es stammte aus dem Messerblock in der Küche und war für ihre schmale Kinderhand viel zu groß. Doch statt es erschrocken fallen zu lassen, weil ihre Mutter ihr verboten hatte, die Messer in die Hand zu nehmen, schloss sie ihre Finger nur noch fester um den Griff, denn das Kochmesser vermittelte ihr ein Gefühl der Sicherheit.
Dann fiel ihr jäh wieder ein, warum sie hier stand und die Treppe angestarrt hatte. Sie hatte von oben das Knarzen des Holzfußbodens gehört. Und das, obwohl sie allein im Haus war. Normalerweise hätte sie so etwas nicht beunruhigt. Das alte Haus, in dem sie mit ihren Eltern lebte, gab ständig irgendwelche Geräusche von sich, ohne dass jemand dafür verantwortlich war. Aber aus einem Grund, der ihr momentan nicht einfiel, hatten die Geräusche sie dennoch beunruhigt. Deshalb hatte sie das Messer an sich genommen und war von der Küche in den Flur gegangen.
Doch was jetzt?
Ohne dass sie eine bewusste Entscheidung getroffen hatte, setzte sie sich in diesem Augenblick in Bewegung. Sie ging zielstrebig auf die Treppe zu, obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte.
Als hätte sie eine unheilvolle Vorahnung, wusste sie, dass sie nicht nach oben gehen, sondern besser kehrtmachen und davonlaufen sollte. Aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie trugen sie unerbittlich vorwärts. Allerdings bewegte sie sich wie in Zeitlupe und schien für die wenigen Meter, die sie von der untersten Treppenstufe trennten, eine Ewigkeit zu benötigen. Eine Ewigkeit, in der ihre Angst vor dem, was sie im Obergeschoss erwartete, immer größer wurde. Bis sie das Gefühl hatte, die Furcht würde sich in ihrem Inneren wie ein Ballon ausdehnen und sie schließlich zum Platzen bringen.
Sie wünschte sich verzweifelt, ihre Eltern kämen endlich nach Hause. Gleichzeitig wusste sie jedoch, dass das nicht so bald geschehen würde. Allerdings hatte sie keine Ahnung, woher sie diese Gewissheit nahm. Vermutlich aus derselben Quelle, aus der ihre Überzeugung stammte, dass das, was sie oben entdecken würde, schrecklich war. Es würde ihr junges Leben von einem Augenblick zum anderen verändern.
Ihr Blick war auf die Biegung der Treppe gerichtet. Beinahe als befürchtete sie, etwas könnte dahinter hervorschnellen und sich auf sie stürzen, wenn sie nicht ständig hinsah.
Dann erreichte sie schließlich die Treppe. Sie setzte ihren rechten Fuß auf die unterste Stufe, ohne einen Moment zu zögern. Während sie langsam hinaufging, starrte sie furchtsam nach oben. Ihre Füße fanden instinktiv die Stellen auf den Stufen, die sie belasten konnte, ohne dass es knarrte. Auf diese Weise verursachte sie bei ihrem Aufstieg nicht das geringste Geräusch.
Im Obergeschoss war es ebenfalls still. Was immer den Laut verursacht hatte, hatte anscheinend innegehalten.
Lauert es etwa auf mich?
Sie schluckte. Ihre Kehle fühlte sich staubtrocken an. Für einen Schluck Wasser hätte sie alles gegeben.
Alles bis auf das Messer in meiner Hand!
Ihr Herz klopfte schnell und heftig. Jeder Schlag erschütterte ihren schlanken Körper von Kopf bis Fuß.
Als sie die Biegung der Treppe erreichte, wurde sie noch langsamer. Sie spähte um den Bogen und sah, dass dahinter und im oberen Gang niemand auf sie lauerte. Dann ging sie vorsichtig weiter. Dabei hielt sie sich außen, wo die Stufen weniger knarrten und breiter waren. So konnte sie nicht versehentlich stolpern und in das Messer fallen. Sie hielt es so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel blutleer und weiß waren.
Sie nahm die restlichen Stufen im selben Zeitlupentempo, in dem sie sich schon die ganze Zeit bewegte, seit sie an diesem Ort zu sich gekommen war. Dabei übersprang sie die beiden obersten Stufen, denn sie knackten besonders laut, sobald sie belastet wurden. Schließlich stand sie im oberen Flur, von dem vier Türen abgingen; alle bis auf die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern waren geschlossen.
Obwohl sie wusste, dass es draußen schon längst dunkel war, konnte sie alles gut sehen, ohne Licht machen zu müssen.
Erneut widerstrebte es ihr, weiterzugehen und das zu tun, weswegen sie nach oben gekommen war. Sie wünschte sich ein weiteres Mal, ihre Eltern würden kommen. Dabei wusste sie genau, dass dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen würde.
Sie hielt kurz inne, als wollten ihre Füße ihr Zeit geben, sich zu orientieren. Dann setzte sie sich gegen ihren Willen wieder in Bewegung.
Ihr Herz schlug schneller. Es wusste ebenso wie sie, dass hier oben etwas Furchtbares auf sie wartete. Die Ahnung bevorstehenden Unheils grenzte schon an konkretes Wissen und war schrecklicher, als wenn sie ahnungslos gewesen wäre. Sie hatte ständig das Gefühl, sie müsste nur konzentriert genug darüber nachdenken, um sich daran zu erinnern, um was es sich handelte. Doch sobald sie meinte, sie hätte die Erinnerung endlich erwischt, entzog sie sich ihr wieder wie ein scheuer Schmetterling.
Dann war dafür ohnehin keine Zeit mehr. Ihre Füße verhielten vor der Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters. Die Bodendielen knarrten laut. Es war dasselbe Knarzen, das sie zuvor gehört hatte. Ohne etwas dagegen tun zu können, hob sich ihre zierliche linke Hand. Sie legte sich auf die Türklinke, die sich unter ihren Fingern warm anfühlte, so als hätte jemand sie umfasst gehabt und erst vor wenigen Sekunden losgelassen.
Tu das nicht!
Ihre innere Stimme schrie so gellend in ihrem Verstand, wie sie es ebenfalls gern getan hätte. Und sei es auch nur, um sich Erleichterung zu verschaffen. Doch es waren nicht nur ihre Beine, Füße, Arme und Hände, die ihr nicht mehr gehorchten. Ihr ganzer Körper verweigerte den Dienst.
Der Schrei in ihrem Kopf war noch nicht verhallt, da drückte ihre Hand auch schon die Klinke nach unten. Und sobald sich die Tür öffnen ließ, gab sie ihr einen Stoß, sodass sie geräuschlos aufschwang.
Sie entdeckte den Mann augenblicklich. Sein Körper bewegte sich vor ihr im Halbdunkel des Arbeitszimmers ebenfalls wie in Zeitlupe.
»Du bist ja doch zu Hause, Papa«, sagte sie.
Dann setzte die Erinnerung ein, als hätte sie schon die ganze Zeit am Rand ihres Bewusstseins auf diesen Augenblick gewartet. Sie ließ das Mädchen mit schockierender Klarheit erkennen, was sie in Wahrheit vor sich hatte.
Sie schrie noch gellender als zuvor die Stimme in ihrem Kopf. Und sie hatte nicht vor, jemals wieder damit aufzuhören.
II
Sie setzte sich ruckartig im Bett auf und atmete schwer.
Im ersten Moment wusste Anja nicht, wo sie sich befand. Sie befürchtete, sie wäre noch immer in dem schrecklichen Albtraum gefangen. Dann erkannte sie im schwachen Mondlicht, das durchs Fenster fiel, dass sie sich im Schlafzimmer ihrer Wohnung befand und nicht in ihrem Elternhaus. Und sie war auch kein elfjähriges Mädchen mehr, sondern eine vierunddreißigjährige Frau.
Sie hob die Hände, die noch immer zitterten, und wischte sich damit über das Gesicht. Es war schweißnass; ebenso wie ihr restlicher Körper. Der Schlüpfer und das übergroße T-Shirt, die sie trug, klebten an ihr. Es fühlte sich unangenehm an. Allerdings war sie mittlerweile daran gewöhnt. Sie hatte diesen Albtraum in unberechenbarer Unregelmäßigkeit seit dreiundzwanzig Jahren. Dennoch war sie hinterher jedes Mal aufs Neue bis ins Mark erschüttert, nachdem sie ihr traumatischstes Kindheitserlebnis erneut so wirklichkeitsnah miterlebt hatte.
Ihr Herzschlag und ihre Atmung beruhigten sich allmählich. Gleichzeitig kühlte sich der Schweiß auf ihrer Haut ab und ließ sie frösteln. Sie machte das Licht an und sah auf die Uhr. Es war erst halb sechs. Dennoch wusste sie, dass sie an diesem Morgen keinen Schlaf mehr finden würde. Abgesehen davon musste sie sich etwas anderes anziehen. Also stand sie auf, tappte mit nackten Füßen ins Bad und machte auch dort Licht.
»Wer zum Teufel bist du denn?«, fragte sie ihr Spiegelbild. Mit dem zerknautschten, geröteten Gesicht, dem müden Blick und den teils abstehenden, teils angeklatschten Haaren hatte es nur wenig Ähnlichkeit mit ihrem üblichen Äußeren.
Anja starrte ihr Ebenbild für ein paar Sekunden mürrisch an, bis sie sich allmählich darin wiedererkannte. Auch wenn ihr noch immer nicht gefiel, was sie sah.
Sie drehte den Hahn auf und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Dann trank sie etwas davon aus der hohlen Hand, weil ihr Mund sich wie in ihrem Traum völlig ausgetrocknet anfühlte. Sie hätte in diesem Moment liebend gern etwas Stärkeres getrunken, ein Glas Wodka zum Beispiel. Doch das kam natürlich nicht infrage.
Anja hatte keine Ahnung, was sie mehr hasste. Den ständig wiederkehrenden Albtraum, der einem Kindheitserlebnis entsprungen war, das sie am liebsten längst vergessen hätte. Oder die Zeit unmittelbar danach, wenn sie den Lockruf besonders intensiv spürte.
Der Lockruf des Abgrunds jenseits des Todes!
Sie wusste nicht, wie sie es sonst nennen sollte. Anja stellte sich vor, dass auf der anderen Seite des Todes ein finsterer, bodenloser Abgrund gähnte. Dieser Abgrund lockte sie seit Langem; manchmal stärker und manchmal schwächer. Doch nie so spürbar wie in den Momenten, nachdem sie davon geträumt hatte, sie wäre wieder elf Jahre alt und allein in ihrem Elternhaus. Dann war der Sirenengesang so intensiv, dass sie ihm kaum widerstehen konnte.
Und wie immer, wenn das der Fall war, öffnete sie auch jetzt den Spiegelschrank und nahm die Schachtel mit den Schlaftabletten heraus. Ihr Hausarzt hatte sie ihr verschrieben, als sie eine Weile unter Schlaflosigkeit gelitten hatte. Sie hatte die Tabletten aber nicht benutzt. Stattdessen hatte sie versucht, ihre Eheprobleme, die eigentliche Ursache der Schlaflosigkeit, im Alkohol zu ertränken. Allerdings war ihr das nicht gelungen. Und seitdem ihre Ehe endgültig gescheitert war, war auch der Lockruf des Abgrunds jenseits des Todes stärker geworden. Deshalb bewahrte sie die Tabletten weiterhin auf. Um sie irgendwann vielleicht sogar zu benutzen, wenn der Sirenengesang schließlich übermächtig wurde und sie keinen Sinn mehr darin sah, ihm weiterhin zu widerstehen und ihr Leben fortzusetzen.
Anja starrte die Tablettenschachtel lange an und drehte sie dabei mehrmals in ihren Händen. Sie trank mittlerweile keinen Alkohol mehr, bewahrte jedoch im Küchenschrank eine Flasche Wodka auf. Einerseits, um damit ihre Willensstärke zu testen. Andererseits, um mit dem Alkohol die Tabletten hinunterzuspülen, sollte der Moment, an dem sie ihrem Leben ein Ende setzen würde, jemals kommen.
Doch auch heute war es noch nicht so weit, das erkannte sie schließlich. Sie würde ihr Rendezvous mit dem Sensenmann erneut auf einen späteren Zeitpunkt verschieben.
Sie seufzte, zum Teil aus Erleichterung, zum Teil aber auch vor Enttäuschung. Schließlich wusste sie genau, dass sie in wenigen Tagen oder Wochen erneut an dieser Stelle und vor derselben Entscheidung stehen würde. Doch für den Moment hatte sie wieder ein paar Tage oder Wochen gewonnen. Und das war alles, was zählte. Auch wenn sie dabei das Gefühl hatte, sie würde ihr Leben nur schrittweise oder auf Abruf leben. Sie legte die Tabletten rasch in den Spiegelschrank zurück, als hätte sie Angst, sie könnte es sich doch noch anders überlegen, und schloss ihn.
Ihr Spiegelbild erwiderte ihren Blick mit einem mürrischen Gesichtsausdruck. Es schüttelte den Kopf, als wäre es enttäuscht über ihre feige Entscheidung.
»Leck mich!«, sagte sie und wandte sich ab.
Sie entschloss sich, die Zeit, bis sie ins Büro musste, sinnvoll zu nutzen. Wenn sie schon so früh wach war und nicht mehr schlafen konnte, konnte sie genauso gut eine Runde durch den Westpark joggen.
III
Ihr Handy klingelte im selben Moment, als sie vom Joggen zurückkam und die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss. Anja öffnete eilig die Tür, betrat den Wohnungsflur und schloss sie hinter sich wieder. Erst dann holte sie das Smartphone, das ein Lied von Rammstein mit dem Titel »Engel« spielte, aus der Tasche ihrer Jogginghose. Sie warf einen Blick auf die unbekannte Nummer, die im Display angezeigt wurde. Allerdings konnte sie nichts damit anfangen. Sie zuckte mit den Schultern, nahm den Anruf entgegen und hob das Gerät ans Ohr.
»Spangenberg.«
Sie musterte sich im Spiegel, der neben der Garderobe an der Wand hing, und begegnete dem kritischen Blick ihrer grünen Augen. Ihr herzförmiges Gesicht mit den hohen, markanten Wangenknochen und der schmalen, geraden Nase war gerötet und verschwitzt. Aber das war normal, nachdem sie wie fast an jedem Tag, an dem kein Unwetter herrschte oder Schneesturm tobte, durch den Westpark gelaufen war. Obwohl das Zwielicht im Flur ihrem Äußeren schmeichelte und die eine oder andere Unzulänglichkeit kaschierte, war Anja nicht unzufrieden mit ihrem Äußeren. Sie hätte es beileibe schlechter treffen können. Lediglich ihr Mund gefiel ihr ganz und gar nicht. Er war ihrer Meinung nach zu breit und besaß zu schmale Lippen, sodass er einen maskulinen Eindruck erweckte. Und auch ihr dunkelblondes Haar bereitete ihr fortwährend Kummer. Da es ständig zerzaust war, egal, was sie damit anstellte, hatte sie es auf Anraten ihrer Friseurin zu einer praktischen Kurzhaarfrisur schneiden lassen, die man Garçon-Schnitt nannte. Dennoch sah sie immerzu so aus, als wäre sie in einen heftigen Sturm geraten.
»Wunderschönen guten Morgen, liebste Frau Kollegin«, sagte der Anrufer.
Anja erkannte die Stimme sofort, obwohl sie mit ihrem Besitzer zum Glück nur selten zu tun hatte. Man traf sich allenfalls sporadisch, wenn sich ihre Aufgabenbereiche überschnitten, weil eine ihrer Vermissten ermordet worden war. Glücklicherweise kam das nicht allzu oft vor. Und manchmal begegnete man sich auch im Aufzug oder in der Kantine. Allerdings war seine Stimme äußerst charakteristisch. Sie klang stets etwas anbiedernd und einschleimend, vor allem, wenn er mit Vorgesetzten oder Frauen sprach.
Sie verzog missmutig das Gesicht und beobachtete sich weiterhin im Spiegel. Wenn ein Kollege vom Kommissariat 11, das für vorsätzliche Tötungsdelikte zuständig war und meistens nur als Mordkommission bezeichnet wurde, um sieben Uhr in der Früh anrief, konnte das nichts Gutes bedeuten.
»Morgen, Krieger. Was verschafft mir die seltene Ehre deines Anrufs?«
»Habe ich dich etwa aufgeweckt?« Er hörte sich nicht so an, als würde er das auch nur im Mindesten bedauern. Eher so, als hätte er dabei Bilder im Kopf, die ihm Freude bereiteten.
»Nein. Ich komme gerade vom Joggen.«
»Schade.« Er seufzte. »Dabei hab ich mir schon vorgestellt, dass du noch im Bett liegst, vollkommen nackt, und dich räkelst und streckst, während wir miteinander sprechen.«
»Und dabei ist dir vermutlich auch noch einer abgegangen«, versetzte Anja und schüttelte den Kopf. »Träum weiter, Krieger! Aber wie wär’s, wenn du endlich zur Sache kommst. Du rufst mich doch nicht vor der Arbeit an, um mich mit deinen sexuellen Fantasien zu belästigen. Oder bist du neuerdings unter die Stöhnanrufer gegangen?«
Anton Krieger lachte anzüglich. »Ich liebe es, wenn du mir schmutzige Kosenamen gibst, Baby.«
Anja verdrehte die Augen, während sie in die Küche ging, um die Kaffeemaschine anzuschalten, die sie schon vor dem Joggen vorbereitet hatte. »Komm endlich zur Sache, Anton!«
Krieger verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. Die Benutzung seines Vornamens war ein deutliches Zeichen, dass es Anja allmählich zu bunt wurde. Er legte den Schalter um und wurde augenblicklich ernst und professionell.
»Wir haben eine weibliche Leiche.«
»Ist das etwas Neues? Ich dachte, ihr zwei seid bei der Mordkommission. Da dürfte das doch öfter vorkommen.«
Mit ihr zwei meinte Anja Kriminaloberkommissar Anton Krieger und seinen Kollegen, Kriminalhauptkommissar Peter Englmair. Die beiden waren unzertrennlich. Da einer selten ohne den anderen auftauchte, wurden sie in der Dienststelle die siamesischen Zwillinge genannt.
»Sehr witzig«, sagte Krieger, der jetzt, als es um berufliche Dinge ging, plötzlich keinen Spaß mehr verstand.
Auch Anja wurde ernst, während sie sich Kaffee in einen großen Henkelbecher goss. »Glaubt ihr etwa, dass es sich um eine meiner Vermissten handelt?«
Anja war Kriminalhauptkommissarin bei der Kripo. Sie arbeitete allerdings im Kommissariat 14, auch K14 genannt. Die sogenannte Vermisstenstelle war für Vermisste und unbekannte Tote zuständig. Wobei sich Anjas Zuständigkeit zu ihrer grenzenlosen Erleichterung auf Vermisstenfälle beschränkte, denn mit Leichen hatte sie nur äußerst ungern zu tun.
»Ja.«
»Und wer?«
»Eine Frau namens Nadine Weinhart.«
Anja hatte nach der Nennung des Namens sofort das dazugehörige Foto im Kopf. Die Mutter der Vermissten hatte es ihr gegeben. Obwohl sie mehr offene Fälle bearbeitete, als ihr lieb sein konnte, hatte sie viele Daten und Fakten im Kopf abgespeichert, um nicht ständig in den Akten blättern zu müssen. Und das Verschwinden von Nadine Weinhart war ihr aufgrund der Begleitumstände besonders zu Herzen gegangen.
Die 33-jährige Krankenschwester mit den kurzen weißblonden Haaren war vor drei Monaten verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Weder die Mutter, die sie als vermisst gemeldet hatte, noch die beste Freundin konnten sich ihr Verschwinden erklären. Sie hatten übereinstimmend erzählt, dass Nadine in den Wochen vor ihrem Verschwinden über heftige Kopfschmerzen und Übelkeit geklagt hatte. Anja hatte daraufhin mit dem Hausarzt gesprochen, der sie wiederum an den Neurologen verwiesen hatte, zu dem er seine Patientin geschickt hatte. Am Ende hatte sich Anja mit dem zuständigen Facharzt in einer radiologischen Praxis unterhalten. Er hatte bei Nadine am Tag ihres Verschwindens eine inoperable Geschwulst im Gehirn diagnostiziert. Es gab zwar die Möglichkeit, dem Tumor mit einer Kombination aus Bestrahlung und Chemotherapie zu Leibe zu rücken, doch die Erfolgschancen waren in Nadines Fall eher gering gewesen. Deshalb war Anja, nachdem Nadine auch nach zwei Wochen nicht wieder aufgetaucht war, insgeheim davon ausgegangen, dass sie sich das Leben genommen hatte, bislang aber noch nicht gefunden worden war. Bis heute!
»Was ist passiert? Suizid?«
Krieger lachte, allerdings absolut humorlos. »Wenn das ein Selbstmord war, dann ist es der bizarrste, der mir jemals untergekommen ist.«
»Was soll das heißen?« Anja stellte den Kaffeebecher ab, aus dem sie erst wenige Schlucke getrunken hatte.
»Es ist … kompliziert. Komm einfach her. Dann kannst du es dir mit eigenen Augen ansehen.«
»Gut. Aber ich muss erst noch unter die Dusche.«
Krieger stöhnte auf obszöne Weise. »Du glaubst ja nicht, welche Bilder mir jetzt durch den Kopf gehen.« Nachdem er ihr mitgeteilt hatte, was er hatte loswerden wollen, war er in seinen üblichen Arschloch-Modus zurückgefallen.
»So genau will ich das gar nicht wissen.« Anja war bereits auf dem Weg ins Bad, um dort die Laufschuhe abzustreifen und die Jogginghose, das Shirt, den Sport-BH und den Slip auszuziehen. »Wo finde ich dich und Englmair? Seid ihr am Tatort?«
»Ja, aber nicht mehr lange. Die Leiche wird gerade weggebracht. Deshalb treffen wir uns am besten in einer halben Stunde in der Gerichtsmedizin.«
IV
Sie duschte in Rekordzeit. Anschließend kämpfte sie fünf Minuten lang mit ihren widerspenstigen Haaren, bevor sie wie immer aufseufzend kapitulierte. Sie zog frische Unterwäsche, eine enge, graue Jeans und ein langärmliges, weißes Shirt an. Dann schlüpfte sie in schwarze Stiefeletten mit hohen, schmalen Absätzen. Zum Glück musste sie in ihrem Aufgabenbereich keine flüchtigen Verbrecher verfolgen; so etwas wäre in diesen Schuhen unmöglich gewesen. Obwohl sie das Schulterholster mit ihrer Dienstwaffe nicht trug, weil beides wie so oft in der Schublade ihres Büroschreibtischs lag, zog sie eine Blousonjacke aus schwarzer Seide über. Bevor sie ging, trank sie ihren Kaffee aus, der nur noch lauwarm war. Dann schaltete sie die Kaffeemaschine aus, schnappte sich ihren Schlüsselbund und verließ die Wohnung.
Anja bewohnte eine 78,5 Quadratmeter große 3-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock eines Hauses in der Hansapark-Wohnsiedlung, die nördlich des Westparks lag. Auf dem Weg nach unten begegnete sie ihrem Wohnungsnachbarn. Er ging wie ein Schlafwandler mit gesenktem Kopf die Stufen nach oben und bemerkte sie erst, als sie ihn ansprach.
»Guten Morgen, Raphael.«
Er blickte auf und lächelte, sobald er sie sah. Allerdings sah er müde und erschöpft aus.
Raphael Guthmann war wenige Zentimeter größer als Anja, aber ebenso schlank. Er hatte braune Augen, dunkelbraune Haare und war wie immer unrasiert. Obwohl Anja nicht auf dunkelhaarige Männer mit Dreitagebart, sondern eher auf den großen und breitschultrigen blonden Wikingertyp stand, musste sie zugeben, dass Raphael nicht schlecht aussah. Gleichwohl hatte es zwischen ihnen nie gefunkt. Sie waren lediglich Nachbarn und gute Freunde. Und das war nach Anjas Ansicht auch gut so. Erstens passte er nicht in ihr Beuteschema, und zweitens hatte sie nach der Trennung von ihrem Mann Fabian, die erst wenige Monate zurücklag, dringend eine Auszeit in Sachen Beziehung gebraucht. Und auch Raphael hatte nie erkennen lassen, dass er sich von ihr mehr als nur Freundschaft und gute Nachbarschaft erhoffte, obwohl er, seit Anja ihn kannte, Single war. Aber er war dennoch immer für sie da, wenn sie ihn brauchte. Sofern er nicht gerade in seinem Taxi saß und Leute durch die Landeshauptstadt kutschierte. Er war zuverlässig und hilfsbereit und lieh Anja ein Ohr, wenn sie kurzerhand jemanden brauchte, dem sie ihre Sorgen und Nöte anvertrauen konnte. Außerdem gingen sie oft zusammen im Westpark joggen oder gelegentlich zu einem Spiel des FC Bayern Basketball, da Anja eine Vorliebe für große Männer hatte.
»Nachtschicht?«, fragte sie. Obwohl sie es eilig hatte, nahm sie sich die Zeit, ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Sie hatte schon in weltrekordverdächtiger Zeit geduscht und benötigte bis zum Institut für Rechtsmedizin um diese Uhrzeit mit dem Wagen gerade einmal zehn Minuten.
Er nickte. Dann, als hätte ihn erst ihre Frage wieder daran erinnert, wie müde er war, riss er den Mund auf und gähnte. Schnell hob er die Hand vor den Mund. »Tschuldigung«, sagte er und zuckte mit den Schultern.
Anja winkte ab.
Raphael war Taxifahrer und wechselte sich regelmäßig mit einem Kollegen ab. Mal hatte der eine die Tagschicht und der andere die ungeliebte Nachtschicht. In der Woche darauf war es dann umgekehrt. Allerdings machte es der ständige Wechsel schwer, sich vor allem an die nächtlichen Arbeitszeiten zu gewöhnen.
Als Polizistin hatte sich Anja auch schon so manche Nacht um die Ohren schlagen müssen. Zum Glück gehörte das größtenteils der Vergangenheit an, seit sie in der Vermisstenstelle arbeitete. Dennoch wusste sie noch genau, wie es sich anfühlte, wenn man am nächsten Morgen müde und zerschlagen nach Hause kam, während alle anderen gerade aufgestanden und ekelerregend munter und fröhlich waren.
»Und was ist mit dir?«, fragte Raphael und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »So früh schon auf dem Weg zur Arbeit?«
»Sozusagen. Allerdings geht es nicht ins Büro, sondern direkt in die Rechtsmedizin.«
Er verzog angewidert das Gesicht. Er teilte diese Reaktion mit vielen anderen Menschen, sobald Anja das Wort Rechtsmedizin aussprach. Allerdings freute auch sie sich nicht darauf, den Ort aufsuchen und eine Leiche identifizieren zu müssen. Im Gegenteil, sie hasste es geradezu! Aber manchmal – zum Glück nicht allzu oft – gehörte das eben zu ihrem Job.
»Was ist passiert? Hat sich einer deiner Vermissten umgebracht?«
Anja war vor gut fünf Monaten nach der abrupten Trennung von ihrem Mann und einem vierwöchigen Aufenthalt bei ihrer Mutter in dieses Haus gezogen. Sie hatte sich schnell mit ihrem unmittelbaren Wohnungsnachbarn angefreundet. Zu den anderen Bewohnern hatte sie allerdings außer einem gelegentlichen »Grüß Gott« im Treppenhaus noch immer kaum Kontakt. Da sie nach dem endgültigen Scheitern ihrer Ehe emotional angeschlagen gewesen war, hatte sie sich anfangs mehr als einmal im übertragenen Sinne an Raphaels Schulter ausgeweint und ihm ihr Leid geklagt. Und er hatte stets ein offenes Ohr für sie gehabt, ihr aufmerksam und geduldig zugehört oder Ratschläge erteilt. Darüber hinaus hatte er versucht, sie anschließend wieder aufzurichten und ihr erschüttertes Selbstwertgefühl zu stärken. Ohne seine Hilfe hätte sie vermutlich viel länger gebraucht, die unausweichliche Trennung zu verarbeiten. Vor allem, weil sie Fabian trotz allem noch immer liebte. Außerdem hatte ihr Noch-Ehemann lange Zeit mit allen Mitteln versucht, sie dazu zu bringen, zu ihm zurückzukehren. Doch Anja wollte seine wiederholten Seitensprünge nicht länger hinnehmen und war hart geblieben. Mittlerweile war sie halbwegs darüber hinweg. Dennoch trafen Raphael und sie sich noch immer mehr oder weniger regelmäßig in einer ihrer Wohnungen und erzählten sich Anekdoten von ihrer jeweiligen Arbeit.
Anja schüttelte den Kopf. »Der Kollege von der Mordkommission, der mich anrief, meinte, dass es dann der bizarrste Selbstmord sei, den er je gesehen habe.«
»Was dann? Mord?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Vermutlich. Aber Genaueres weiß ich erst, sobald ich die Leiche gesehen und die Todesumstände erfahren habe.«
Raphael verzog erneut das Gesicht und schüttelte sich, als würde er am ganzen Körper erschaudern. »Da kann ich mir wirklich Schöneres vorstellen, als den Tag mit einem Leichnam in der Pathologie zu beginnen. Und ich dachte, du magst keine Leichen. Deshalb bist du ja auch nicht zur Mordkommission gegangen, oder?«
»Ich mag tatsächlich keine Leichen«, sagte Anja, die während des Duschens jeden Gedanken daran verdrängt hatte, wo sie danach hinmusste und was sie dort erwartete. »Aber manchmal lässt es sich eben nicht vermeiden, dass ich dennoch mit ihnen in Berührung komme. Das bringt die Arbeit bei der Vermisstenstelle eben so mit sich. Wenigstens habe ich nicht ständig und ausschließlich damit zu tun wie die Kollegen von der Mordkommission oder die Todesermittler.«
»Na dann viel Spaß.« Raphael gähnte erneut.
Diesmal war es Anja, die missmutig das Gesicht verzog. »Von Spaß kann keine Rede sein. Vor allem, wenn es sich tatsächlich um eine meiner Vermissten handelt. Trotzdem danke. Aber jetzt muss ich los, sonst komme ich zu spät. Und für dich wird es höchste Zeit, dass du endlich ins Bett kommst. Ich wünsche dir einen erholsamen Schlaf.«
Sie verabschiedeten sich voneinander. Anschließend setzte Anja mit eiligen Schritten ihren Weg nach unten fort, während Raphael mit langsamen, müden Bewegungen nach oben stieg.
Sie machte einen kurzen Abstecher zu den Briefkästen. Dort sah sie, dass die Ecke eines beigefarbenen Umschlags aus der Klappe ihres Briefkastens herausschaute. Also öffnete sie den Kasten, entnahm ihm das Kuvert und setzte ihren Weg in die Tiefgarage fort. Sie warf einen kurzen Blick auf den Umschlag. In großen schwarzen Druckbuchstaben stand lediglich ihr Name darauf. Ein Absender war nicht angegeben. Sie war neugierig, was der Umschlag enthielt und wer ihn eingeworfen hatte. Allerdings hatte sie jetzt keine Zeit, ihn zu öffnen und sich den Inhalt anzusehen. Deshalb warf sie ihn ungeöffnet auf den Beifahrersitz, sobald sie hinterm Steuer saß, und fuhr los.
Nachdem sie die Tiefgarage hinter sich gelassen hatte, nahm sie den kürzesten Weg über die Hansastraße, den Bavariaring und die Lindwurmstraße. In der Nähe des Goetheplatzes musste sie scharf bremsen, weil ein rücksichtsloser Porsche-Cayenne-Fahrer sich unvermittelt vor ihr in ihre Spur drängte und sie schnitt. Dabei rutschte der Umschlag vom Beifahrersitz und fiel in den Fußraum. Aber das bemerkte sie in ihrer Empörung nicht. Sie hupte mehrmals und schimpfte laut, doch das beeindruckte den anderen Fahrer nicht. Er fuhr einfach weiter und bog bei nächster Gelegenheit rechts ab.
Als Anja wenige Minuten später ihr Ziel erreichte, hatte sie sowohl den Vorfall als auch den Umschlag schon wieder vergessen. Schließlich gab es momentan Wichtigeres, über das sie sich den Kopf zerbrechen musste.
V
Das Institut für Rechtsmedizin der Universität München befindet sich in der Nußbaumstraße. Es besteht aus einem Altbau mit rotem Spitzdach und einem Neubau mit Flachdach, die miteinander verbunden sind. Neben dem Lehrbetrieb werden hier an drei Seziertischen jeden Nachmittag von jeweils zwei Ärzten bis zu zehn Leichen obduziert.
Anja hatte einen Parkplatz in der Nähe gefunden. Sie betrat das Institut mit einem mulmigen Gefühl im Magen und einem dicken Kloß im Hals durch den Haupteingang des Neubaus. Sie war schon ein paar Mal hier gewesen, allerdings nie freiwillig. Aber das war vermutlich bei den wenigsten Menschen der Fall, die hier landeten. Immerhin kannte sie den Weg zu dem weiß gekachelten Sezierraum im Keller, in dem außer den beiden Kollegen von der Mordkommission eine weibliche Leiche auf sie wartete.
Der Geruch, der sie im Kellergeschoss empfing, war eine Mischung aus Formaldehyd und süßlich-bitterer Verwesung. Er verursachte bei ihr augenblicklich Übelkeit. Und je näher sie der Quelle der Gerüche kam, desto intensiver wurde sie. Ihre Schritte hallten von den grauen Wänden wider, als sie im kalten Licht der Neonröhren dem Gang folgte. Sie begegnete auf ihrem Weg niemanden, als wäre das Institut ausgestorben. Allerdings hörte sie Geräusche hinter den geschlossenen Türen, die sie passierte. Da es hier unten kühl war, fröstelte sie trotz ihrer Blousonjacke; aber vermutlich nicht nur deshalb.
Die Tür des Sezierraums stand offen. Anja trat zögerlich ein, ohne anzuklopfen. Sie war erleichtert, dass die siamesischen Zwillinge Krieger und Englmair schon da waren und auf sie warteten. Die Aussicht, an diesem Ort mit einer Leiche als einziger Gesellschaft auf das Eintreffen der Kollegen warten zu müssen, hatte ihr auf dem ganzen Weg hierher Unbehagen bereitet.
Die beiden Männer sahen auf, als sie den Raum betrat. Englmair lehnte an der gekachelten Wand. Er hielt ein Handy in der Hand, als hätte er eine SMS geschrieben oder seine Mails gecheckt. Krieger hingegen hatte den Seziertisch mit der Leiche umrundet, als wäre er ein ruheloser Tiger und der Leichnam darauf seine Beute, die er bewachen musste.
»Da ist unsere frisch geduschte Joggerin ja endlich«, sagte er in seiner anzüglichen Art und musterte sie aufmerksam von oben bis unten. Anja fühlte sich sofort unbehaglich. »Schöne Schuhe. Sind die neu?«
Anja schüttelte den Kopf. Sie war in der Nähe der Tür stehen geblieben und vermied es bislang krampfhaft, einen genaueren Blick auf die Leiche zu werfen. Diese war mit einem weißen Tuch abgedeckt, unter dem sich lediglich ihre Konturen abzeichneten. »Wieso willst du das wissen, Krieger? Hast du vor, dir die Gleichen zu kaufen?«
Krieger verzog missmutig das Gesicht. Er verspottete andere für sein Leben gern, war aber ungern Ziel des Spotts anderer. Englmair lachte amüsiert, während er sein Handy wegsteckte.
»Morgen, Englmair«, begrüßte Anja ihn.
»Morgen, Kollegin.«
Die beiden Beamten der Mordkommission arbeiteten schon seit mehreren Jahren zusammen und waren ein eingespieltes Team. Obwohl sie charakterlich nicht unterschiedlicher hätten sein können, waren sie sich äußerlich im Laufe der Zeit wie Hund und Herrchen immer ähnlicher geworden. Wobei Anja nicht wusste, wer in ihrem Fall der Hund und wer das Herrchen war.
Beide hatten eine ähnliche Statur und waren leicht übergewichtig. Bei Anton Krieger war das von Anfang an der Fall gewesen. Peter Englmair hatte hingegen anfangs mindestens zehn Kilo weniger gewogen und erst ganz allmählich Gewicht zugelegt. Krieger war mit seinen eins siebzig allerdings zehn Zentimeter kleiner als sein Kollege. Gemeinsam hatten sie auch die Frisur, denn sie rasierten sich ihre Schädel. Krieger tat es aus Notwendigkeit, da er allmählich immer kahler geworden war, bis von seinem haselnussbraunen Haupthaar nur noch ein erbärmlich dünner Kranz übrig geblieben war. Warum Englmair es tat, der noch immer volles dunkelblondes Haar besaß, wusste hingegen niemand.
»Ist das die Tote?«, fragte sie, ohne auf den zugedeckten Leichnam zu deuten. Das war auch nicht nötig, schließlich war es die einzige Leiche im Raum.
»Nein.« Krieger grinste ölig. »Das ist der Gerichtsmediziner, den Peter und ich vor fünf Minuten um die Ecke gebracht haben.« Er schüttelte den Kopf. »Natürlich ist sie das! Oder siehst du hier noch eine andere Leiche herumliegen.«
Anja ließ sich von ihm weder irritieren noch provozieren. Je weniger sie auf seine Boshaftigkeiten einging, desto weniger Spaß hatte er daran. Und desto eher würde er auch damit aufhören. Krieger war eindeutig der aggressivere und angriffslustigere Teil des Mordermittler-Duos. Englmair war hingegen eher der väterliche und verständnisvolle Kumpeltyp. Die beiden ergänzten sich hervorragend und bildeten ein gutes Team. Sie mussten nicht einmal schauspielern, um mit einem Tatverdächtigen Guter-Polizist-böser-Polizist zu spielen.
»Wo habt ihr sie gefunden?«
»Wir haben sie überhaupt nicht gefunden«, entgegnete Krieger. »Das hat ein netter, älterer Herr für uns erledigt. Er ging mit seinem Zamperl Gassi und erlitt den Schock seines Lebens. Ein Wunder, dass er dabei nicht aus seinen Haferlschuhen gekippt ist und einen Herzkasperl erlitten hat.«
»Bevor wir dir Näheres über den Auffindeort und die Todesumstände erzählen, sollten wir zunächst klären, ob es sich tatsächlich um deine Vermisste handelt.« Englmair stieß sich von der Wand ab und trat an den Edelstahltisch heran.
»Wie habt ihr sie überhaupt identifiziert?«
»Vor allem anhand einer Tätowierung am linken Fußknöchel und eines Muttermals in der rechten Achselhöhle.« Englmair nahm mehrere zusammengefaltete Blätter aus der Innentasche seiner Lederjacke. Er entfaltete sie und hielt sie Anja entgegen. »Als wir die beiden Merkmale zusammen mit ihrer Körpergröße sowie der Haar- und Augenfarbe in die Datei über Vermisste, unbekannte Tote und unbekannte hilflose Personen eingaben, erzielten wir sofort einen Treffer. Auf diese Weise bekamen wir den Namen deiner Vermissten.«
Die Datei über Vermisste, unbekannte Tote und unbekannte hilflose Personen, kurz Vermi/Utot, wird beim Bundeskriminalamt geführt. Sie soll die Ermittlungsbehörden dabei unterstützen, anhand detaillierter Personenbeschreibungen und anderer Identifizierungshilfen Zusammenhänge zwischen vermissten Personen und unbekannten Leichen oder unbekannten hilflosen Personen herzustellen. Die Datei wird täglich aktualisiert, indem neue Vermisstenfälle aufgenommen, Veränderungen übernommen und erledigte Vermisstenfälle gelöscht werden. Dadurch ist sie immer auf dem aktuellsten Stand. Sie bietet die Möglichkeit, die komplette Personenbeschreibung einer vermissten Person aufzunehmen oder zu recherchieren. Die Datei enthält momentan annähernd 11.500 Fälle, darunter etwa 9.600 über vermisste Personen. Manche von ihnen klären sich innerhalb weniger Tage wieder auf. Andere Vermisste bleiben für immer verschwunden. Täglich werden etwa 250 bis 300 Fälle aufgenommen oder entfernt.
Trotz ihres Widerwillens wegen der Leiche auf dem Seziertisch musste Anja näherkommen, um die Papiere entgegenzunehmen. Wenigstens zitterte ihre Hand nicht allzu stark, als sie danach griff.
Es handelte sich um Computerausdrucke der Vermisstenanzeige. Sie enthielt unter anderem die Personalien der Vermissten. Daneben eine detaillierte und umfassende Personenbeschreibung einschließlich aller individuellen körperlichen Besonderheiten. Außerdem die Beziehung der anzeigenden Person zur Vermissten sowie die konkreten Umstände und möglichen Ursachen und Beweggründe des Verschwindens.
Anja blätterte zum dreiseitigen Folgeblatt der Vermisstenanzeige mit der ausführlichen Personenbeschreibung. Der Bereich »Tätowierungen« auf der zweiten Seite, in dem die Lage und das Motiv der Tätowierung vermerkt waren, die Englmair erwähnt hatte, war mit gelbem Textmarker hervorgehoben worden. Auf der nächsten Seite befand sich ein Körperschema, das Front- und Rückenansicht zeigte. Dort waren die exakten Positionen der Tätowierung und des Muttermals eingezeichnet.
Anja ließ die Blätter sinken. Sie sah zuerst Englmair und dann Krieger mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wenn die Tätowierung, das Muttermal, die Haar- und Augenfarbe sowie die Größe mit der Vermisstenmeldung übereinstimmen, habt ihr sie ja praktisch schon eindeutig identifiziert. Wozu braucht ihr mich dann eigentlich noch?«
»Es ist dein Vermisstenfall«, erinnerte Englmair sie. »Du hast dich intensiv mit der Vermissten beschäftigt, Fotos von ihr gesehen, ihre Wohnung durchsucht und mit ihren Angehörigen und Freunden gesprochen. Du kennst sie von uns dreien am besten. Wenn sie außer ihrer Mutter jemand identifizieren kann, dann du.«
Er hatte recht. Wurde bei einer Anfrage in der Datei Vermi/Utot eine Übereinstimmung zwischen einer unbekannten Leiche und einer vermissten Person festgestellt, wurden umgehend die beteiligten Dienststellen informiert. Sie mussten dann einen Abgleich der Merkmale der unbekannten Leiche mit der Personenbeschreibung der vermissten Person durchführen. Deshalb riefen die Kollegen von der Mordkommission oder die Todesermittler in einem derartigen Fall das K14 zu Hilfe. Und sie war nun einmal die zuständige Ermittlerin der Vermisstenstelle, auch wenn sie sich den Anblick des Leichnams liebend gern erspart hätte. Doch wie es schien, kam sie nicht darum herum.
»Außerdem …«, begann Krieger, verstummte aber sofort wieder, als wüsste er nicht weiter. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und sah zu Boden.
»Was?« Anja sah Englmair alarmiert an.
Der schürzte die Lippen, bevor er sagte: »Am besten, du siehst es dir selbst an.« Anschließend griff er nach dem Tuch, das die Leiche bislang verhüllt hatte. Er zog es so ruckartig zur Seite, als wäre er ein Bühnenmagier, der dem Publikum beweisen wollte, dass er die regungslose Person unter dem Tuch durch Zauberei hatte verschwinden lassen.
VI
Tu’s bitte nicht!, hätte Anja beinahe gerufen und nach der Hand des Kollegen gegriffen, um ihn daran zu hindern. Sie unterließ es. Stattdessen schloss sie die Augen, um sich innerlich gegen den Anblick zu wappnen, bevor sie sich ihm aussetzte.
Als Raphael vor der Fahrt hierher im Treppenhaus erwähnt hatte, dass sie keine Leichen mochte, hatte er recht gehabt. Es war allerdings nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit verabscheute sie menschliche Leichname und konnte ihren Anblick kaum ertragen. Dennoch war sie in ihrem Job gelegentlich gezwungen, den körperlichen Überresten vermisster Personen gegenüberzutreten. All denjenigen, die durch eigene oder fremde Hand oder einfach nur durch einen dummen Unglücksfall ums Leben gekommen und deshalb eine Zeitlang verschwunden waren, bis man irgendwann ihre Leichen fand. Um dem Anblick toter Menschen ganz aus dem Weg zu gehen, hätte sie sich schon in eine andere Abteilung versetzen lassen müssen. Irgendwohin, wo sie nicht das Geringste mit Leichen zu tun gehabt hätte. Oder sie hätte ihren Job bei der Polizei quittieren müssen. Aber beides wollte sie nicht, denn sie liebte ihre Arbeit in der Vermisstenstelle. Also musste sie hin und wieder in den sauren Apfel beißen und ihren extremen Widerwillen überwinden, der beinahe die Ausmaße einer Phobie hatte. Sie schwor sich ständig, es wäre das letzte Mal, dass sie sich so etwas antat. Doch hinterher war sie stets so erleichtert, es wieder einmal überstanden zu haben, dass sie ihren Schwur prompt vergaß. Bis sie, so wie heute, erneut vor einem Seziertisch stand und gegen ihre größte Angst ankämpfen musste.
Anja war klar, dass sie die Augen nicht ewig davor verschließen konnte. Außerdem wollte sie nicht, dass die Kollegen mitbekamen, was mit ihr los war. Bislang hatte sie ihr Handicap erfolgreich vor allen verheimlichen können.
Unmittelbar bevor sie die Augen öffnete, hatte sie das Bild eines aufgedunsenen, bläulich-violett verfärbten Gesichts mit heraushängender blauer Zunge im Kopf. Doch sie verdrängte es sofort wieder in die Tiefen ihrer Erinnerung, wo es sich vor Jahren eingebrannt hatte. Gleichzeitig stählte sie sich innerlich gegen den Anblick.
Normalerweise half es ihr, sich zunächst auf Einzelheiten zu konzentrieren und die Leiche nicht in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen. Erst hinterher, sobald sie den Blick abgewandt und den Leichnam nicht mehr vor Augen hatte, setzte sie die Details dann wie ein Puzzle zu einem Gesamtbild zusammen. Auf diese Weise war der Anblick für sie leichter zu ertragen.
Diese bewährte Vorgehensweise funktionierte hier und heute allerdings nicht. Denn auf das, was sie vor sich sah, war sie nicht im Mindesten vorbereitet. Dabei hätte die Reaktion der beiden Mordermittler sie vorwarnen müssen. In Filmen hatte sie zwar schon Schlimmeres gesehen, doch das hier war die Realität, das echte Leben. Anja schnappte daher erschrocken nach Luft, obwohl sie das bei den vorherrschenden Gerüchen an diesem Ort besser gelassen hätte. Zugleich trat sie unwillkürlich einen Schritt zurück.
Die Leiche auf dem stählernen Seziertisch war auf den ersten Blick kaum noch als menschliches Wesen zu identifizieren. Sie war bis aufs Skelett abgemagert und erinnerte unwillkürlich an eine Mumie. Die Haut wirkte extrem dünn, als würde sie jeden Moment reißen. Sie spannte sich über den Knochen, von denen sich jeder einzelne so deutlich abzeichnete, als handelte es sich um ein Anschauungsmodell für den Anatomieunterricht. Die einzige Ausnahme hiervon bildeten zahlreiche dunkle Beulen, hauptsächlich unter den Armen und in der Leistengegend.
»Was … was ist mit ihr geschehen?«
»Das wissen wir noch nicht.« Krieger starrte mit einem Ausdruck des Abscheus auf die Tote. »Sie wird erst heute Nachmittag obduziert.«
»Der Gerichtsmediziner, der sie am Tatort untersucht hat, meinte, dass sie längere Zeit gehungert haben muss«, erläuterte Englmair. »Vielleicht ist sie am Ende sogar verhungert. Anzeichen für einen gewaltsamen Tod oder Spuren, die auf heftige Gegenwehr oder einen Kampf hindeuten, gibt es bislang nicht. Sie hatte lediglich eine schlecht verheilte Schramme am Knie und wunde, teilweise entzündete Hand- und Fußgelenke. Außerdem zahlreiche Wundmale am Rücken. All das deutet darauf hin, dass sie lange Zeit gefesselt gewesen sein und auf dem Rücken gelegen haben muss.«
»Wurde sie vergewaltigt oder sexuell missbraucht?«
»Nach der vorläufigen Einschätzung des Pathologen anscheinend nicht.«
»Und wie lange ist sie schon tot?«
»Laut Aussage des Rechtsmediziners weniger als zwölf Stunden«, antwortete Englmair.
Anja schüttelte den Kopf. Nicht weil sie die Zeitangabe anzweifelte, sondern weil die Frau auf dem Seziertisch aussah, als wäre sie schon viel länger tot.
»Und diese …« Sie verstummte und suchte nach einem zutreffenden Begriff.
»Beulen?«, half ihr Englmair aus.
»Ja. Was haben diese Beulen zu bedeuten. Es sieht aus wie die …«
»… Beulenpest«, nahm ihr Krieger das Wort aus dem Mund und nickte. »Das war auch unser erster Gedanke.«
Anja wusste nicht viel über die Pest. Früher, vor allem im Mittelalter, hatte es Pestepidemien und -pandemien gegeben, denen teilweise Millionen von Menschen zum Opfer gefallen waren. Doch obwohl die verheerende Krankheit schon vor einiger Zeit aus Europa verschwunden war, war sie längst nicht ausgerottet. In anderen Teilen der Welt gab es noch immer Krankheitsfälle. War der Schwarze Tod, wie die Seuche auch genannt wurde, etwa nach Europa zurückgekehrt? Und war diese bedauernswerte Frau an der Pest erkrankt? War sie deshalb so abgemagert und schließlich qualvoll daran zugrunde gegangen? Aber wieso war sie dann längere Zeit gefesselt gewesen?
»Keine Bange, es handelt sich nicht um einen neuen Ausbruch der Beulenpest«, sagte Englmair, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Das erklärte auch, warum er und sein Kollege keine Bedenken hatten, sich dem Leichnam zu nähern. Und wieso die Tote hier lag und nicht in einer Quarantänestation. »Der Gerichtsmediziner gab sofort Entwarnung, nachdem er eine der Beulen aufgeschnitten hatte. Bei der Flüssigkeit handelt es sich nur um schwarze Tinte, die unter die obersten Hautschichten injiziert wurde. Nach Ansicht des Pathologen geschah das vermutlich post mortem.«
Anja erschauderte. Obwohl sie alles andere als glücklich darüber war, musste sie unwillkürlich noch einmal die Leiche und die nachgemachten Pestbeulen ansehen. »Aber wieso sollte jemand so etwas Schreckliches tun?«
»Möglicherweise wollte der Täter den Eindruck erwecken, sie wäre an der Pest gestorben.« Englmair zuckte mit den Schultern. »Vielleicht will er damit Panik verbreiten.«
»Wenn ihr mich fragt, ist zu etwas nur ein komplett durchgeknallter Irrer fähig«, konstatierte Krieger ungefragt, aber voller Überzeugung, als hätte er einen Universitätsabschluss und einen Doktortitel in Psychologie. Zur Verdeutlichung seiner Worte ließ er den Zeigefinger neben seiner Schläfe kreisen.
Anja ignorierte ihn noch immer; sie sprach ausschließlich mit Englmair. »Dann geht ihr trotz fehlender Anzeichen für ein Gewaltverbrechen dennoch davon aus, dass sie ermordet wurde?«
»Selbst hat sie sich diese Dinger jedenfalls nicht zugefügt«, sagte Krieger und deutete auf die Beulen im Schambereich, die ihn besonders anzuekeln schienen. Ausnahmsweise war ihm wohl nicht danach, die üblichen Anzüglichkeiten von sich zu geben, obwohl eine nackte Frau vor ihm lag. Doch angesichts dessen, was ihr widerfahren war, hatte es ihm anscheinend die Lust auf seine üblichen Sprüche genommen. »Zumindest nicht, wenn sie ihr nach ihrem Tod beigebracht wurden.«
»Nach der Obduktion und den chemisch-toxikologischen Untersuchungen wissen wir hoffentlich mehr«, sagte Englmair. Mithilfe dieser Tests konnten Gifte, Drogen, Medikamente oder Alkohol im Körper der Toten nachgewiesen werden. »Aber bis auf Weiteres gehen wir von einem Tötungsdelikt aus. Möglicherweise hat derjenige, der ihr die Tinte injizierte, sie aber auch nur verhungern lassen. Wichtiger ist es zunächst jedoch, dass wir sie zweifelsfrei identifizieren. Und wie du selbst sehen kannst, ist das aufgrund ihres Zustands trotz der Tätowierung, des Muttermals und der anderen Merkmale nicht so einfach. Deshalb möchte ich dich bitten, einen genaueren Blick auf die Leiche zu werfen. Du hast ein Foto der Vermissten in deiner Akte und kannst sie daher eher identifizieren als wir.«
Anja nickte. Sie seufzte tief und richtete ihren Blick wieder auf die Leiche. Die leichte Übelkeit, die der ekelerregende Geruch an diesem Ort hervorrief, wurde stärker. Sie hatte allerdings nicht das Gefühl, als müsste sie sich übergeben.
Da sie bis auf die Knochen abgemagert war, sah die Frau um Jahrzehnte älter aus, als sie es vermutlich war. Wahrscheinlich hätte sie in diesem Zustand nicht einmal ihre eigene Mutter wiedererkannt.
Widerstrebend trat Anja näher heran, bis sie direkt neben dem Seziertisch stand und einen besseren Blick auf das Gesicht der Toten hatte. Es war zum Glück nicht verzerrt, wie es oftmals bei einem qualvollen Todeskampf der Fall war. Stattdessen war es glatt und vergleichsweise entspannt, als wäre sie sanft entschlafen. Die Augen waren geschlossen, sodass Anja ihre Augenfarbe nicht erkennen konnte. Doch die Haarfarbe stimmte mit der Vermisstenmeldung überein; es handelte sich um ein auffallendes natürliches Weißblond. Die Haare waren länger, als es Anja beschrieben worden war. Aber da seit dem Verschwinden der Frau drei Monate vergangen waren, waren sie in dieser Zeit natürlich gewachsen.
»Und?«, fragte Krieger ungeduldig. »Ist unser knochiges Dornröschen nun deine Vermisste oder nicht?«
Anja sah ihn wütend an, woraufhin er schuldbewusst die Augen abwandte. Er trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als befürchtete er, sie würde ihn auch noch schlagen. Dazu hatte sie in diesem Augenblick sogar gute Lust. Doch dann richtete sie ihren Blick wieder auf das Gesicht der Leiche. Dabei konzentrierte sie sich vor allem auf markante, unveränderliche Merkmale. Den Rest blendete sie einfach aus. Dann verglich sie das, was sie sah, gedanklich mit dem Bild, das ihr Nadine Weinharts Mutter gegeben hatte, als Anja sie wenige Tage nach dem Verschwinden ihrer Tochter aufgesucht hatte.
Das Foto, das ein paar Wochen vor ihrem Tod aufgenommen worden war, zeigte Nadine als lebenslustige 33-Jährige. Es war entstanden, bevor die quälenden Kopfschmerzen und die Übelkeit eingesetzt hatten. Sie hatte in die Kamera gelächelt und nichts davon geahnt, was die Zukunft ihr Schreckliches bringen würde. Vor allem nicht, dass sie schon bald an diesem furchtbaren Ort landen würde.
Nadine war nicht dick gewesen, aber auch nicht besonders schlank. Doch falls es sich bei der toten Frau auf dem Seziertisch tatsächlich um Nadine Weinhart handelte, hätte der Unterschied kaum größer sein können.
Die eingefallenen abgezehrten Gesichtszüge veränderten ihr Aussehen grundlegend. Dennoch konnte Anja nach und nach Übereinstimmungen mit dem Foto erkennen, das sie im Gedächtnis hatte. Vor allem die etwas zu breite Nase, die schmalen Lippen und das spitze Kinn. Auch die kleinen Ohren und die dichten Augenbrauen hatten sich nicht verändert. Zusammengenommen festigten sie in Anja die Überzeugung, dass sie tatsächlich Nadine Weinharts Leiche vor sich hatte.
Nach einer Weile seufzte sie schwer und nickte. »Ich fürchte, sie ist es wirklich.«
»Bingo!« Krieger hob die Faust, als hätte er einen wichtigen Sieg errungen.
»Ich checke nur noch schnell die Tätowierung« Anja ging zum Fußende des Seziertisches. »Nur um auf Nummer sicher zu gehen.«
Das Muttermal in der rechten Achselhöhle musste sie nicht überprüfen. Schließlich hatte Englmair ihr schon bestätigt, dass es vorhanden war. Sie kannte nämlich weder seine genaue Form noch seine Größe. Außerdem hätte sie den Leichnam dazu anfassen müssen, und das wollte sie um alles in der Welt vermeiden. Davon ganz abgesehen trug sie keine Handschuhe und hätte auf der Leiche Spuren hinterlassen.
Sie ging in die Knie, bis sie das Tattoo direkt oberhalb des linken äußeren Fußknöchels besser sehen konnte. Es handelte sich um einen roten Marienkäfer in der Größe eines Zwei-Euro-Stücks. Er war plastisch dargestellt und warf einen dunklen Schatten auf die Haut; deshalb wirkte er extrem lebensecht. Das Tattoo wurde aufgrund der Magerkeit der Leiche etwas verzerrt. Dennoch erkannte Anja es sofort wieder. Sie hatte ein Foto davon gesehen. Nadine hatte es nach dem Besuch beim Tätowierer mit dem Handy gemacht und ihrer besten Freundin geschickt.
Anja richtete sich auf. Sie sah Englmair an und nickte mit ernster Miene. »Ich habe keinen Zweifel, dass es sich bei der Toten um die vermisste Nadine Weinhart handelt.« Damit war es offiziell.
»Gut, das reicht uns für den Augenblick«, sagte er. »Hundertprozentige Gewissheit bekommen wir ohnehin erst nach dem Abgleich der Fingerabdrücke, des Zahnstadiums und der DNA. Aber jetzt können wir unsere Ermittlungen wenigstens auf eine konkrete Person konzentrieren.«
»Erzählt ihr mir jetzt endlich, wo sie gefunden wurde?«
»Wieso willst du das überhaupt wissen?«, fragte Krieger. »Sei froh, dass der Fall für dich erledigt ist und du die Akte vom Tisch hast. Apropos Akte! Wäre schön, wenn du uns die Vermisstenakte noch heute ins Büro bringen könntest.«
»Es interessiert mich einfach, was mit ihr geschehen ist«, sagte Anja. »Immerhin habe ich mich in den letzten drei Monaten intensiv mit ihrem Fall beschäftigt. Außerdem ging mir ihr Schicksal nahe. Aber das kann ein gefühlloser Klotz wie du natürlich nicht verstehen.«
»Ich bin nicht gefühllos«, widersprach er und machte ein empörtes Gesicht. »Komm schon, Peter! Sag ihr, dass ich nicht gefühllos bin!«
»Anton ist nicht gefühllos«, sagte Englmair gehorsam. Nach einer kurzen Pause fügte er einschränkend hinzu: »Zumindest nicht ganz. Er ist aber auch nicht besonders gefühlvoll oder mitfühlend.«
»Jetzt fällst du mir auch noch in den Rücken.« Krieger verzog missmutig das Gesicht und verschränkte die Unterarme vor der Brust, als wäre er tödlich beleidigt. Man konnte jedoch sehen, dass er es nur vorgab und nicht böse auf seinen Kollegen war, denn seine Augen funkelten belustigt.
»Dann eben gefühlsarm«, korrigierte sich Anja.
Krieger bewegte den Kopf abwägend hin und her, als könnte er mit dieser Charakterisierung leben.
Anja wusste nicht viel über das Privatleben der beiden. Allerdings hätten sie auch da nicht unterschiedlicher sein können. Krieger war ein eiserner Verfechter der Ehe und mittlerweile schon zum dritten Mal verheiratet. Englmair hingegen hielt nicht viel von einem Trauschein, lebte allerdings seit mehr als zwei Jahrzehnten mit ein und derselben Frau zusammen. Er war kinderlos, während Krieger mit seinen ersten beiden Ehefrauen drei Kinder gezeugt hatte. Also war er vermutlich tatsächlich nicht völlig gefühllos, sondern gebärdete sich im Dienst nur so. Vermutlich war das nichts anderes als ein Schutzmechanismus. Manche Polizisten benötigten einen solchen, den sie wie eine Panzerung trugen, um weiterhin ihre Arbeit erledigen zu können und nicht resigniert das Handtuch zu werfen.
»Also, wo wurde Nadine gefunden?«
»Am Wurmeck«, sagte Krieger und fügte zweifelnd hinzu: »Wenn du weißt, wo das ist?«
»Natürlich weiß ich das«, antwortete Anja gereizt. Sie war ein Münchner Kindl. So hieß nicht nur die offizielle Wappenfigur der bayerischen Landeshauptstadt, ein Mönch mit goldgeränderter schwarzer Kutte und roten Schuhen. So wurde auch jeder genannt, der in München geboren war.
»Als Wurmeck wird der südwestliche neugotische Eckturm des Neuen Rathauses bezeichnet, da sich dort die Kupferfigur eines Drachen oder Lindwurms emporwindet« sagte Anja, als rezitierte sie aus einem Reiseführer. »Darüber befinden sich drei Steinreliefs, die die Sage vom Münchener Lindwurm veranschaulichen. Demnach soll im Jahre 1517 in der Stadtmitte ein Lindwurm aus der Erde gekrochen sein und die Pest verbreitet haben. Er wurde von mutigen Männern mit einem Kanonenschuss besiegt. Dennoch trauten sich die Bürger nicht mehr aus ihren Häusern. Bis erstmals die Schäffler, wie die Fassküfer oder Fasshersteller in Bayern auch genannt wurden, durch die Straßen tanzten. Sie wollten die Bevölkerung damit beruhigen und dazu bringen, wieder am öffentlichen Leben teilzunehmen. Daran soll bis heute der traditionelle Schäfflertanz erinnern, der alle sieben Jahre aufgeführt wird.«
Anja kannte die Details aufgrund einiger Stadtführungen. Sie hatte zu Beginn ihrer Tätigkeit bei der Münchner Kriminalpolizei daran teilgenommen, um ihren zukünftigen Einsatzort noch besser kennenzulernen.
Allerdings wusste sie auch, dass es sich dabei vermutlich um eine verfälschte Herkunftssage des Schäfflertanzes handelte. Denn obwohl München zur damaligen Zeit nachweislich mehrere Male von der Pest heimgesucht worden war, wurde dennoch bezweifelt, dass es 1517 ebenfalls eine Pestepidemie in der Stadt gegeben hatte. In den Sterberegistern für dieses Jahr waren jedenfalls keine auffälligen Sterberaten verzeichnet. Außerdem wurde der Schäfflertanz erstmals im 17. Jahrhundert als Zunftbrauch nachgewiesen. Von all dem sagte sie jedoch nichts, da es für die Ermittlungen keine Rolle spielte.
Englmair nickte anerkennend. Sogar Krieger schien von ihrem Wissen beeindruckt zu sein. Er starrte sie mit offenem Mund an und war ausnahmsweise sprachlos, wofür Anja dankbar war.
»Also ist der Fundort neben den Beulen ein weiterer Bezug auf die Pest«, sprach sie das Offensichtliche aus. Seitdem sie bestätigt hatte, dass es sich bei dem Leichnam aller Voraussicht nach um die vermisste Nadine Weinhart handelte, vermied sie es, die tote Frau noch einmal anzusehen. Außerdem hatte sie den Abstand zwischen ihnen automatisch wieder vergrößert, indem sie zwei Schritte zurückgewichen war.
»Das Thema scheint für den Mörder demnach eine wichtige Rolle zu spielen«, sagte Englmair. »Warum auch immer?«
Obwohl sie noch immer nicht wussten, wie Nadine Weinhart gestorben war, gingen sie alle insgeheim davon aus, dass es sich um Mord handelte. Andernfalls hätte der Täter ihre Leiche gewiss nicht mit den scheußlichen »Pestbeulen« verunstaltet und ihre Leiche an einem Ort wie dem Wurmeck abgelegt, als wollte er sie öffentlich zur Schau stellen.
Anja fielen spontan zwei weitere Stellen ein, die mit der Pest in Verbindung standen.
So gibt es an der Rathausfassade in Traufhöhe den Wasserspeier einer Megäre, eine Rachegöttin der griechischen Mythologie. Unter ihrem Mantel kriecht ein Geschöpf hervor, das die Pest symbolisieren soll. Neben ihr ein Arzt, ein Schäffler und ein Musikant als Bekämpfer der Seuche.
Außerdem befinden sich auf dem Sockel der Mariensäule vor dem Rathaus vier bronzene Putti. Das sind geflügelte Kinderengel. Sie kämpfen gegen vier in Tiergestalt dargestellte Menschheitsplagen. Dabei symbolisiert der Löwe den Krieg, der Drache den Hunger, die Schlange den Unglauben und der Basilisk, ein mythisches Tier, wiederum die Pest.
»Die Leiche wurde also nicht zufällig, sondern mit voller Absicht am Wurmeck abgelegt«, sagte Anja. »Der Täter will mit dem Fundort und diesen …« Sie deutete mit der Hand vage in Richtung Leiche, ohne sie anzusehen. »… Beulen vermutlich etwas mitteilen. Fragt sich nur, was?«
Sie bemerkte die Blicke, mit denen die beiden Kollegen sie ansahen und fragte: »Was ist los? Habe ich etwas Falsches gesagt?«
Englmair schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist nur …« Er verstummte und seufzte. »Die Leiche wurde nicht einfach nur abgelegt.«
»Sondern?«
»Komm her! Ich zeig’s dir.« Englmair nahm eine Klarsichthülle, die Anja erst jetzt bemerkte, von einer Ablage aus leicht zu reinigendem Edelstahl. Sie schien mehrere großformatige Fotos zu enthalten.
Sie ging mit großem Abstand um den Seziertisch herum und trat neben ihn. »Vielleicht könntest du inzwischen die Leiche zudecken«, sagte sie zu Krieger, ohne ihn dabei anzusehen. »Muss ja nicht sein, dass sie die ganze Zeit so entblößt daliegt.«
Krieger zuckte mit den Schultern. Er tat jedoch, was sie gesagt hatte, ohne zu murren oder es mit einem anzüglichen Spruch zu kommentieren.
»Das sind die Tatortfotos, die wir vom kriminaltechnischen Fotografen bekommen haben.« Englmair reichte ihr den Stapel, den er aus der Klarsichthülle geholt hatte.
Anja nahm ihn entgegen und betrachtete die oberste Aufnahme. Sie sog Luft ein und hielt sie unwillkürlich an.
Die Leiche war tatsächlich nicht einfach nur abgelegt, sondern geradezu in Szene gesetzt worden. Sie war auch auf den Bildern nackt. Die dunklen Beulen auf dem bleichen ausgemergelten Körper waren im Blitzlicht des Fotografen deutlich zu erkennen. Allerdings lag sie nicht am Boden, wie Anja vermutet hatte, sondern saß auf einem weißen Holzpferd mit silberner Mähne und braunem Zaumzeug. Ihr Oberkörper war gegen den Hals des Tieres gelehnt. In der rechten Hand hielt sie etwas, das wie ein Bogen mit einem eingelegten Pfeil aussah. Und auf dem weißblonden Haar hatte sie einen Kranz aus Zweigen und grünen Blättern.
»Was ist das für ein Pferd?«
»Wir vermuten, dass es sich um ein altes Karussellpferd aus Holz handelt«, sagte Krieger, der das Leichentuch wieder über die Tote gebreitet hatte. Er stand mit verschränkten Armen da und lehnte sich gegen den Seziertisch. »Falls sich das bestätigen sollte, kommen wir dem Kerl vielleicht auf die Spur, indem wir herausfinden, woher es stammt.«
»Die Leiche war mit Seilen daran festgebunden. So konnte sie nicht herunterfallen«, erläuterte Englmair.
Anja nahm das nächste Foto in Augenschein. Es zeigte Pferd und Reiterin aus einer anderen Perspektive. Jetzt konnte sie auch die Stricke sehen, mit denen die Fußknöchel unter dem hölzernen Bauch des Pferdes und die Handgelenke vor dem Hals zusammengebunden worden waren. Danach kamen Aufnahmen aus unterschiedlichen Blickwinkeln, gefolgt von Detailfotos des Bogens in ihrer Hand und des Kranzes auf ihrem Kopf.
»Ist das ein Bogen mit einem eingelegten Pfeil?«
Englmair nickte. »Vermutlich hat ihn der Täter eigenhändig hergestellt. Er besteht aus einer etwa ein Meter fünfzig langen und fünf bis sechs Zentimeter dicken Haselnussrute. Der Täter hat sie getrocknet, entrindet und anschließend gebogen. Das Sehnengarn besteht aus weißem Polyester. Als Pfeil dient ein getrockneter und entrindeter Haselnussschössling, durchschnittlich sieben Millimeter dick und 50 Zentimeter lang. Er wurde mit Sekundenkleber am Bogen befestigt, sodass er sich nicht davon lösen konnte. Dann wurde das Ganze mit Klebeband an der Hand der Toten fixiert.«
»Und der Kranz auf ihrem Kopf?«
»Lorbeer«, antwortete Krieger.
»Ein Siegerkranz«, verlieh Anja ihrer Vermutung Ausdruck. Nach ihrer Erfahrung war ein Lorbeerkranz vor allem ein Symbol für einen Sieg oder einen besonderen Erfolg.
Englmair zuckte mit den Schultern.
»Wie eine Siegerin sieht sie nicht gerade aus«, widersprach Krieger.
»Es geht auch nicht darum, wie wir sie sehen, sondern was der Täter in ihr sah«, entgegnete Anja. »Und er muss schon einen verdammt guten Grund gehabt haben, dass er sich die ganze Mühe mit dem Karussellpferd, dem Bogen und dem Kranz gemacht hat.«
Sie sah sich das nächste Foto an. Auf ihm war nur das Holzpferd zu sehen, nachdem man den Leichnam entfernt hatte. Der Sattel, der bislang verdeckt gewesen war, war ebenfalls braun. Anja blätterte die restlichen Bilder rasch durch, bevor sie sie Englmair zurückgab.
»Habt ihr schon eine Vermutung, warum der Täter die Leiche auf diese spezielle Art und Weise hinterlassen hat?« Der Mörder hatte sich gewiss nicht nur aus Spaß die Mühe gemacht, den Leichnam auf ein Karussellpferd zu setzen und darüber hinaus Pfeil und Bogen und einen Lorbeerkranz anzufertigen. In derartigen Fällen, die so eindeutig und auffallend von gewöhnlichen Mordfällen abwichen, geschah selten etwas ohne konkreten Grund. Jedes Detail hatte für den Täter eine manchmal offensichtliche, manchmal aber auch verborgene Bedeutung. Und erst, wenn es den ermittelnden Beamten gelang, diesen Geheimcode zu entschlüsseln, konnten sie darauf hoffen, dem Mörder einen Schritt näher und irgendwann auf die Schliche zu kommen.
Doch die beiden Männer schüttelten synchron die Köpfe. Damit wirkten sie trotz ihres Größenunterschieds wieder wie die Zwillinge, die sie entgegen ihrer Ähnlichkeit nicht waren. Allerdings standen sie noch am Anfang ihrer Ermittlungen. Sie hatten gerade erst damit begonnen, die Hintergründe der Tat zu enträtseln, und da konnte man in der Regel auch keine Wunder erwarten.
»Vielleicht soll sie so eine Art Jagdgöttin darstellen«, vermutete Krieger.
»Diana?«, nannte Englmair daraufhin den Namen der römischen Göttin der Jagd.
»Oder Artemis«, fügte Anja hinzu. »Das ist die Göttin der Jagd aus der griechischen Mythologie. Andererseits haben wir mit den nachgemachten Pestbeulen und dem Fundort einen eindeutigen Bezug zur Pest.«
»Dann meinst du also, dass die Art, wie der Leichnam arrangiert wurde, ebenfalls etwas mit der Pest zu tun haben könnte?«, fragte Krieger. Der Gedanke war naheliegend. Die Seuche schien das beherrschende Thema des Täters zu sein. »Immerhin scheint der Täter davon geradezu besessen zu sein. Nennt man ein weißes Pferd nicht auch Schimmel? Dann steht der Schimmelpilz vielleicht für die Pest?« Er zuckte fragend mit den Schultern.
Anja schüttelte den Kopf. »Schimmelpilze haben nichts mit der Pest zu tun. Das eine bezeichnet eine Gruppe von Pilzen. Das andere ist eine hochgradig ansteckende Infektionskrankheit, die durch ein Bakterium übertragen wird.« Sie hatte zwar das unbestimmte Gefühl, dass es dennoch einen Zusammenhang zwischen einem weißen Pferd und der Pest geben könnte, wusste jedoch nicht, woher diese Ahnung kam. Daher behielt sie es vorerst für sich.
»Wir werden uns darüber informieren und all diesen Dingen nachgehen«, beendete Englmair das Thema. In diesem frühen Stadium brachte es nichts, unnütze Spekulationen anzustellen. »Falls es einen Zusammenhang gibt, finden wir das schon noch heraus. Erzähl uns lieber etwas über die Tote.«
»Das Wichtigste wisst ihr ohnehin schon aus der Vermisstenanzeige«, sagte Anja und gab ihm den Computerausdruck mit Nadines Daten zurück. Sie hatte ihn auf die Ablage gelegt, bevor sie sich die Tatortfotos angesehen hatte.
Englmair nahm die Blätter entgegen. Er faltete sie einmal und steckte sie zu den Fotos in die Klarsichthülle. »Dann erzähl uns das, was nicht drinsteht.«
Anja seufzte. Sie sah die verhüllte Leiche an und wandte rasch wieder den Blick ab. »Nadine Weinhart hatte einen Gehirntumor.«
»Was?«, fragte Englmair und riss überrascht die Augen auf.
Kriegers Kommentar lautete: »Ach du Scheiße!« Er stieß sich abrupt vom Seziertisch ab, als hätte die Leiche eine ansteckende Krankheit, drehte sich um und sah mit gerunzelter Stirn auf die Tote unter dem Leichentuch herab. »Das auch noch!«
Anja nickte. »Nadine klagte vor ihrem Verschwinden ein paar Wochen lang über starke Kopfschmerzen und Übelkeit, die sie vor allem in der Nacht und am Morgen quälten. Schließlich ging sie zu ihrem Hausarzt, der sie an einen Neurologen verwies. Allerdings verschwieg sie das ihrer Mutter und ihrer besten Freundin. Vermutlich, um sie nicht zu beunruhigen. Der Neurologe schickte sie in eine radiologische Praxis, die sie am Morgen ihres Verschwindens aufsuchte, um ein MRT machen zu lassen. Dabei wurde eine Geschwulst in einem schwer zugänglichen Teil ihres Gehirns entdeckt.«
»Hätte man den Tumor entfernen können?«, fragte Krieger.
Anja schüttelte den Kopf. »Nach Ansicht des Arztes, der Nadine die Diagnose mitteilte, nicht. Es blieb nur eine kombinierte Behandlung aus Bestrahlung und Chemo übrig. Aber die Heilungschancen wären auch in diesem Fall gering gewesen.«
»Und wie hat sie die Nachricht aufgenommen?«, fragte Englmair.
»Nach Aussage des Arztes hat sie es so aufgenommen, wie der überwiegende Teil aller Krebspatienten es tut. Und wie es angesichts eines theoretischen Todesurteils auch nicht anders zu erwarten ist. Ich glaube, das waren in etwa seine Worte.«
»Was für ein Arschloch!« Krieger schüttelte den Kopf. Angesichts der tödlichen Krankheit des Opfers erwies er sich als erstaunlich einfühlsam. Damit widerlegte er Anjas vorherige Behauptung, er sei gefühlsarm.
»Der Typ war so kalt wie ein Eskimohintern und hätte von daher eher Klempner als Arzt werden sollen«, sagte sie.
Die beiden Polizisten lachten. Anja kam das an diesem Ort und in Gesellschaft einer Leiche unpassend vor. Dennoch musste auch sie schmunzeln, bevor sie mit ihrem Bericht fortfuhr: »Am Abend telefonierte Nadine sowohl mit ihrer Mutter als auch mit ihrer Freundin Anne. Sie erzählte allerdings keinem von dem Tumor, sondern spielte die Sache mit den Kopfschmerzen herunter. Danach hatte niemand mehr Kontakt zu ihr.«
»Außer dem Irren, der das mit ihr angestellt hat«, sagte Krieger und zeigte auf die verhüllte Leiche.
»Hatte sie keinen Ehemann oder Freund?«, fragte Englmair.
»Sie war nie verheiratet und trennte sich vor acht Monaten von ihrem letzten Freund. Danach war sie alleinstehend.«
»Und seitdem kein einziger Mann in ihrem Leben?« Krieger sah Anja an, als wollte sie ihn verarschen.
»Wenn, dann hätte sie ihrer besten Freundin etwas davon gesagt. Die beiden erzählten sich alles.«
»Von dem Tumor hat sie ihr auch nichts gesagt«, schränkte Englmair ein.
Anja nickte. »Allerdings sagte sie bei ihrem letzten Telefonat etwas von einem Mann, den sie kennengelernt habe. Sie nannte sogar einen Namen: Johannes.«
»Und?«, fragte Englmair. »Was hast du über den Typen herausgefunden?«
»Absolut nichts! Es kam mir schon so vor, als hätte Nadine ihrer Freundin nur etwas vorgeflunkert, um sie auf diese Weise davon abzuhalten, Fragen über ihre Kopfschmerzen zu stellen. Denn niemand, den ich befragte – weder ihre Bekannten noch ihre Arbeitskollegen oder die Wohnungsnachbarn –, hat diesen mysteriösen Johannes gesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen. Und mehr als seinen Namen offenbarte sie nicht einmal ihrer besten Freundin.«
»Eine Sackgasse also«, konstatierte Englmair.
»Im wahrsten Sinne des Wortes. Allerdings ging ich, nachdem ich Nadines Krankengeschichte in Erfahrung gebracht hatte, ohnehin davon aus, dass sie dem Tumor zuvorkommen wollte und ihrem Leben selbst ein Ende bereitet hat. Insgeheim rechnete ich daher schon die ganze Zeit damit, dass man früher oder später ihre Leiche finden würde.«
»Was nun ja auch geschehen ist«, meinte Krieger trocken.
Anja nickte. Sie vermied weiterhin jeden unnötigen Blick auf die tote Frau. »Allerdings rechnete ich natürlich nicht damit, dass sie in einem derartigen Zustand wiederauftauchen würde. Abgemagert bis auf die Knochen, mit nachgemachten Pestbeulen übersät und an ein Karussellpferd gebunden.«
Krieger nickte. »Wie ich am Telefon schon sagte: Suizid sieht anders aus.«
Keiner der Anwesenden wusste das besser als Anja. Doch sie verzichtete auf einen entsprechenden Kommentar.
»Sie war Krankenschwester, nicht wahr?«, fragte Englmair.
Anja nickte nur. Nadines Beruf stand schließlich auf dem Computerausdruck.
»Passt sogar irgendwie zur Pest. Findet ihr nicht? Immerhin handelt es sich dabei um eine Krankheit«, sagte Englmair.
»Stimmt.« Anja war dieser Zusammenhang noch gar nicht aufgefallen.
»Und ihr weißblondes Haar passt zur Farbe des Pferdes«, ergänzte Krieger, als wollte er nicht ins Hintertreffen geraten und eine ebenso scharfsinnige Beobachtung beisteuern. Doch die Kollegen reagierten nicht darauf.
»Wo arbeitete sie?«, fragte Englmair stattdessen.
»Im Klinikum Großhadern.«
Krieger hob überrascht die Augenbrauen. »Ach nee! Arbeitet da nicht auch dein Ex-Göttergatte?«
Anja sah ihn einen Moment lang irritiert an, bevor sie begriff, worauf er hinauswollte. Erst dann erkannte sie verblüfft, dass er recht hatte. Ihr selbst war das bislang noch gar nicht aufgefallen. Weder als sie die Vermisstenmeldung auf den Tisch bekommen hatte, noch bei dem Gespräch mit Nadines Mutter oder bei der Befragung der Kolleginnen und Kollegen im Klinikum.
Zu der Zeit hatte Fabian nämlich endlich damit aufgehört, sie anzurufen, ihr aufzulauern, ihr Blumen zu schicken oder sie auf sonstige Weise davon zu überzeugen, dass sie zu ihm zurückkehren sollte. Und Anja hatte sich daraufhin bemüht, ihn vollständig aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie wollte ihn einfach nur vergessen und endlich über das Scheitern ihrer Ehe und die Trennung hinwegkommen. Und so wie es aussah, war ihr zumindest Ersteres verdammt gut gelungen. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass er am selben Klinikum als Arzt arbeitete, an dem Nadine Weinhart als Krankenschwester tätig gewesen war. Allerdings war sein Name im Laufe ihrer Ermittlungen auch nicht aufgetaucht. Sie ging daher nicht davon aus, dass sich die beiden näher gekannt hatten.
»Wir sind noch nicht geschieden, da wir uns erst vor einem halben Jahr getrennt haben«, korrigierte sie Krieger automatisch, sobald sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte. Sie widerstand allerdings der Versuchung, sich dafür zu rechtfertigen, dass sie Fabian verlassen hatte. Schließlich war nicht sie am Scheitern ihrer Ehe schuld gewesen, sondern einzig und allein Fabian. Sie hatte also keinen Grund, sich zu entschuldigen. »Aber du hast natürlich recht, Krieger. Fabian arbeitet ebenfalls dort.«
»So wie unzählige andere auch«, schränkte Englmair ein.
Das Klinikum Großhadern gehört zum Klinikum der Universität München, zu dem es mit dem Klinikum Innenstadt 1999 fusioniert ist. Gemeinsam bilden sie eine der größten Kliniken Deutschlands. Das Klinikum Großhadern verfügt über 1.200 Betten. Es ist damit der größte zusammenhängende Krankenhauskomplex Münchens. Entsprechend groß ist die Zahl der Ärzte, des Pflegepersonals und der übrigen Beschäftigten.
»Kannte er die Frau?« Krieger wirkte auf Anja wie eine Alligatorschildkröte. Er konnte einfach nicht mehr loslassen, sobald er sich in ein Thema verbissen hatte.
»Verdächtigst du etwa Fabian, Nadine Weinhart ermordet zu haben?«, fragte sie verblüfft. »Warum? Nur weil er im selben Klinikum arbeitet, in dem auch Nadine tätig war? Das ist doch lächerlich!« Obwohl Anja aufgrund dessen, was Fabian ihr angetan hatte, nicht vorhatte, ihn zu verteidigen, konnte sie dennoch nicht glauben, dass er dazu fähig sein sollte, einer Frau etwas Derartiges anzutun. Außerdem war er Arzt. Er hatte einen Eid geschworen, Menschen zu helfen. Und obwohl er sie jahrelang betrogen und hinters Licht geführt hatte, glaubte sie nicht, dass sie sich so in ihm getäuscht haben konnte.
Englmair sah seinen Kollegen fragend an, als wäre er ebenfalls gespannt, worauf dieser hinauswollte.
»Momentan verdächtige ich noch gar niemanden«, entgegnete Krieger, als hätte er eingesehen, dass er zu weit gegangen war. »Ich habe nur gefragt, ob dein Mann sie kannte. Immerhin waren sie im selben Klinikum tätig. Kann ja sein, dass er uns etwas über sie oder diesen mysteriösen Johannes erzählen kann.«
Anja zuckte mit den Schultern. »Da musst du ihn schon selbst fragen, wenn du ihn triffst. Ich habe ihn schon seit Monaten nicht mehr gesehen, worüber ich ehrlich gesagt heilfroh bin, und ihn daher auch nicht nach Nadine gefragt. Dazu hatte ich im Übrigen auch keinerlei Veranlassung. Denn soweit ich weiß, waren sie in unterschiedlichen Abteilungen tätig. Ich habe alle unmittelbaren Kolleginnen und Kollegen von Nadine befragt, und dabei wurde sein Name kein einziges Mal erwähnt. Es kann natürlich sein, dass sie sich vom Sehen kannten. Aber selbst wenn das der Fall gewesen sein sollte, glaube ich nicht, dass Fabian etwas über diesen Johannes weiß, wenn nicht einmal Nadines beste Freundin mehr als seinen Namen kennt.« Anja wandte den Kopf und sah Englmair an. »Gibt es sonst noch etwas, das ihr über Nadine Weinhart wissen wollt. Es wird nämlich Zeit, dass ich ins Büro komme und anfange, meine zahlreichen anderen Fälle zu bearbeiten.«
»Kannst du uns sonst vielleicht noch etwas sagen, das uns dabei hilft, ihren Mörder zu finden?«, fragte Englmair.
Sie überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. »Ich hatte schon nichts Greifbares in der Hand, um in den letzten drei Monaten herauszufinden, warum und wohin sie verschwunden ist. Woher soll ich also etwas wissen, was euch zu ihrem Mörder führt?«
»Hätte ja sein können«, sagte Englmair und seufzte. »Schließlich stirbt die Hoffnung zuletzt.«
Anja nickte zustimmend. Sie beneidete die beiden nicht um ihre Aufgabe. Sofern die Kriminaltechnik und der Gerichtsmediziner nichts fanden, das einen Hinweis auf den Täter gab oder dabei half, den Kreis der Verdächtigen einzugrenzen, würde es schwer werden, ihm auf die Schliche zu kommen.
Sie warf – als würden ihre Augen magnetisch davon angezogen – einen Blick auf den Leichnam. Aufgrund des Lakens konnte sie nur die Konturen erkennen. Allerdings genügte das, um zu sehen, wie abgemagert die tote Frau war.
Sie stellte sich vor, welche Qualen Nadine Weinhart vor ihrem Tod hatte erdulden müssen. Die Kopfschmerzen, die ihr der Tumor bereitete, dazu die Übelkeit. Und dann auch noch der ständige Hunger, weil ihr der Täter, aus welchem Grund auch immer, nahezu jegliche Nahrung vorenthalten hatte. Denn anders wäre es nicht möglich gewesen, dass sie in drei Monaten so viel Gewicht verloren hatte.
Sie wandte den Blick ab und seufzte schwer.
Sekunden später verließen die drei Kriminalbeamten den Sezierraum.
Anja war froh, diesen ungastlichen Ort endlich hinter sich lassen zu können. In ihrer Vorstellung wirkte er düsterer und unheilvoller, als er es in Wirklichkeit war. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, in diesem Gebäude zu arbeiten und jeden Tag hierherzukommen. Aber andere Leute hatten eben nicht die gleichen Probleme mit den Toten wie sie.
Vor dem Gebäude atmete sie tief die frische Luft ein. Sie fühlte sich, als wäre ihr eine schwere Last von den Schultern genommen worden. So ähnlich musste man sich fühlen, wenn man nach Jahrzehnten aus dem Gefängnis entlassen wurde.
Krieger und Englmair verabschiedeten sich von Anja. Krieger erinnerte sie in gewohnt unfreundlicher Art noch einmal an Nadine Weinharts Akte. Dann marschierten die beiden Kollegen zu ihrem Dienstwagen, den sie neben dem Institut im Halteverbot abgestellt hatten. Anja machte sich währenddessen auf den Weg zu ihrem eigenen Auto.
VII
Sie fuhr direkt zu ihrer Dienststelle. Normalerweise hätte sie jetzt die traurige und schwere Aufgabe gehabt, Nadines Mutter vom Tod ihrer Tochter zu unterrichten. Aber da Nadine allem Anschein nach das Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war, mussten die siamesischen Zwillinge das übernehmen. Auch darum beneidete sie die Mordermittler nicht.
Während der Fahrt hatte sie ständig das Bild der toten Frau vor Augen, sosehr sie sich auch bemühte, es zu verdrängen. Doch es schien sich in ihren Verstand eingeätzt zu haben. So wie der Anblick einer anderen Leiche vor vielen Jahren, den Anja bis heute nicht losgeworden war und der sie bis in ihre schlimmsten Albträume verfolgte.
Sie schüttelte den Kopf, denn das war ein Gedankengang, den sie partout nicht bis zu seinem schrecklichen Ende weiterverfolgen wollte. Nicht jetzt jedenfalls, wo es so viel anderes gab, über das sie nachdenken musste. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Details im Fall von Nadine Weinhart, der über Nacht von einem Vermissten- zu einem Mordfall geworden war.
Krieger hatte völlig recht. Es war nicht mehr ihr Fall. Eigentlich könnte sie alles, was damit zusammenhing, guten Gewissens in ihren geistigen Aktenvernichter stecken und vergessen. So wie sie später auch die Akte an die Kollegen von der Mordkommission übergeben würde, nachdem sie den Vermisstenfall aufgrund des Todes der Vermissten für erledigt erklärt hatte. Erst dann wäre er für sie offiziell abgeschlossen. Dennoch konnte sie ihre Gedanken nicht daran hindern, sich mit den skurrilen Aspekten des Falles zu beschäftigen. Und es war immer noch besser, über derartige Dinge nachzudenken, als ständig das Bild der abgemagerten, von dunklen Beulen übersäten Leiche vor Augen zu haben.
Was Anja dabei am meisten zu schaffen machte, war der Umstand, dass Nadine nach Aussage des Rechtsmediziners vor weniger als zwölf Stunden gestorben war. Die Person, die sie aller Voraussicht nach entführt und drei Monate lang gefangen gehalten hatte, hatte sie aus Gründen, die sie nicht kannten, die ganze Zeit über am Leben erhalten. Allerdings hatte sie ihr kaum zu essen, sondern nur zu trinken gegeben, damit sie so stark abmagerte.
Warum?
Seitdem sie wusste, dass es sich bei dem Opfer tatsächlich um die vermisste Nadine Weinhart handelte, hatte Anja das Gefühl, versagt und die Frau im Stich gelassen zu haben. Wäre sie schon unmittelbar oder kurze Zeit nach ihrer Entführung gestorben, hätte Anja es ohnehin nicht verhindern können. Aber stattdessen hatte der Täter sie drei lange Monate in seiner Gewalt gehabt und gequält. Das war mehr als genug Zeit, um eine vermisste Person aufzuspüren. Gleichwohl hatte sie sie nicht geschafft.
Anja versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass es von vornherein keine einzige Spur und keinen Anhaltspunkt gegeben hatte, denen sie hätte nachgehen können. Der Täter war zu schlau gewesen und hatte nicht den geringsten Fehler gemacht; das tröstete sie jedoch nicht wirklich. Sie hatte schlicht und einfach ihren Job nicht gut genug gemacht. Sie hätte tiefer graben und gründlicher ermitteln müssen, um wenigstens irgendetwas herauszufinden.
Sie lenkte ihren Wagen automatisch durch den Verkehr. Dabei ging sie in Gedanken noch einmal akribisch Punkt für Punkt durch, was seit Nadine Weinharts Verschwinden geschehen und in die Wege geleitet worden war. Vielleicht fiel ihr ja dann ein, wo sie einen Fehler gemacht oder welche notwendige Maßnahme sie irrtümlicherweise unterlassen hatte. Und falls sie nichts entdeckte, sondern im Gegenteil zur Überzeugung kam, dass sie alles richtig gemacht hatte, dann musste sie sich auch nichts vorwerfen.