Читать книгу DER ABGRUND JENSEITS DES TODES - Eberhard Weidner - Страница 6
KAPITEL 2
ОглавлениеI
Am Tag nach dem letzten Telefonat mit ihrer Tochter bekam Mona Weinhart am späten Vormittag einen Anruf aus dem Klinikum Großhadern. Eine Kollegin von Nadine erkundigte sich nach ihrer Tochter. Diese war in der Früh nicht zur Arbeit erschienen und auch telefonisch nicht zu erreichen.
Als sie auflegte, war es 11:22 Uhr.
Das wusste Mona deshalb so genau, weil sie in diesem Augenblick auf die Uhr sah. Und außerdem war es exakt der Moment, an dem die 61-Jährige begann, sich ernsthafte Sorgen um ihre Tochter zu machen. Denn ein derartiges Verhalten war absolut untypisch für Nadine. Wenn es einen vernünftigen Grund gegeben hätte, nicht zur Arbeit zu erscheinen, und wenn Nadine die Möglichkeit gehabt hätte, jemandem darüber zu informieren, dann hätte sie das auch getan. Da sie es allerdings versäumt hatte, musste ihr etwas zugestoßen sein. Das war nur logisch. Und davon war die Mutter überzeugt.
Sie dachte natürlich sofort an die schlimmen Kopfschmerzen und die Übelkeit, unter denen Nadine in den letzten Wochen permanent gelitten hatte. Zuletzt hatte sie ihre Mutter beruhigt und behauptet, die Schmerztabletten, die ihr der Arzt verschrieben hatte, würden helfen. Doch Mona Weinhart kannte ihre Tochter gut genug, um zu wissen, dass sie ihr nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte. Deshalb hatte sie sofort das schreckliche Bild vor Augen, wie ihre Tochter hilflos oder – Gott bewahre! – sogar tot in ihrer Wohnung lag.
Mona war kein sehr gläubiger Mensch. Franz, ihr verstorbener Ehemann, war überzeugter Atheist gewesen. Daher hatte Religion in ihrer Familie oder bei Nadines Erziehung nie eine Rolle gespielt. Aber Mona war in einem winzigen niederbayerischen Dorf aufgewachsen. Dort war ihr der katholische Glaube von klein auf eingetrichtert worden und war nicht auszurotten. Er hob vor allem in Notsituationen sein dornengekröntes Haupt, sodass Mona gelegentlich im Stillen ein Bittgebet sprach. Das tat sie auch jetzt. Sie bat Gott inständig darum, dafür zu sorgen, dass es ihrem einzigen Kind gutgehen und es sich baldmöglichst bei ihr melden möge.
Gottvertrauen war zwar schön und gut, allerdings nicht genug. Entschieden besser war es, sie sah selbst nach dem Rechten.
Deshalb nahm die den Schlüssel, den sie für Notfälle in Verwahrung hatte – Und wenn das kein Notfall ist, was dann? –, und fuhr mit der U-Bahn in die Nähe von Nadines Wohnung im Stadtteil Hadern unweit der Klinik. Den Rest des Weges ging sie zu Fuß.
Seit einer leichten Herzattacke, die sie in einem Anfall von Galgenhumor manchmal als letzte freundliche Warnung des Sensenmannes bezeichnete, bemühte sie sich, gesünder zu leben. Dazu gehörte, dass sie im Gegensatz zu früher auf übermäßigen Kaffeekonsum verzichtete. Dafür ging sie öfter an die frische Luft und unternahm ausgedehnte Spaziergänge, statt ständig nur in der Wohnung zu hocken und Kreuzworträtsel zu lösen oder fernzusehen. Deshalb war sie für ihr Alter noch erstaunlich fit und vergleichsweise schlank. Nur ihr kurz geschnittenes Haar, das früher hellblond gewesen war, war längst schneeweiß geworden. Nadine hatte ihr geraten, es zu färben. Doch Mona hatte sich geweigert. Sie war der Meinung, dass man zu seinem Alter stehen sollte.
Nach wenigen Minuten Fußmarsch erreichte sie das dreistöckige Gebäude, in dem Nadine wohnte. Mona wappnete sich innerlich und war auf alles gefasst, als sie die Wohnung betrat. Sogar – Gott behüte! – darauf, die Leiche ihres einzigen Kindes zu finden. Aber die Wohnung war verlassen. Und Mona fand auch nicht das geringste Anzeichen dafür, dass Nadine sich in einer Notlage befinden könnte. Alles sah ordentlich und aufgeräumt aus. Es erweckte den Eindruck, als würde Nadine jeden Moment zur Tür hereinkommen, um ihre Mutter überrascht fragen, warum sie den Notfallschlüssel benutzt hatte, um in die Wohnung zu gelangen.
Vielleicht gibt es ja doch eine harmlose Erklärung für Nadines Abwesenheit. Und sie hat nur nicht daran gedacht, jemanden darüber zu informieren, sagte sich Mona, während sie im Wohnungsflur stand und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Der Gedanke war nicht nur tröstlich, sondern sogar in der Lage, das Bild der toten Tochter aus ihrem Kopf zu verdrängen. Gern hätte sie daran geglaubt, wäre nach Hause zurückgekehrt und hätte dort darauf gewartet, dass Nadine sich bei ihr meldete und dafür entschuldigte, dass sie es bislang nicht getan hatte. Dann müsste sie sich nicht länger diese furchtbaren Sorgen um ihre Tochter machen.
Sie schüttelte jedoch den Kopf. Nein, so einfach konnte die Sache nicht sein! Nadine war immer zuverlässig. Wenn sie daher nicht zur Arbeit erschien und auch niemandem Bescheid gab, musste ihr zwangsläufig etwas zugestoßen sein.
Mona legte die Hand auf ihr Herz, das schon seit dem Telefonat mit Nadines Arbeitskollegin schneller als üblich schlug. Sie dachte zuerst an ihren eigenen Infarkt vor zwei Jahren, der glimpflich verlaufen war. Dann an den ihres Mannes, der so heftig ausgefallen war, dass er ihn von einer Sekunde zur anderen das Leben gekostet hatte. Sie verdrängte diese Überlegungen allerdings sofort wieder. Sorgen um ihr eigenes Wohlergehen konnte sie sich immer noch machen, sobald sie wusste, dass es Nadine gutging. Doch solange das nicht der Fall war, durfte sie keine Rücksicht auf sich selbst nehmen, sondern sich wie jede liebende Mutter nur Gedanken um ihre Tochter machen.
Sie überlegte, was sie in einer Situation wie dieser tun konnte. Ihr erster Gedanke war natürlich, die Polizei darüber zu informieren und Nadine als vermisst zu melden. Aber dann erinnerte sie sich an einen Krimi, den sie unlängst gesehen hatte. War es ein Tatort oder eine Folge von »Der Alte«? Ach, egal!. Darin war von einer 24-Stunden-Regel gesprochen worden. Demnach konnten Erwachsene erst als vermisst gemeldet werden, wenn sie mehr als 24 Stunden verschwunden waren. Doch das war hier nicht der Fall. Sie selbst hatte vor weniger als 24 Stunden mit Nadine telefoniert.
Was dann?
Sie hörte Schritte im Treppenhaus. Dadurch kam sie auf die Idee, die Nachbarn zu befragen, ob jemand Nadine am heutigen Tag gesehen hatte. Rasch verließ sie die Wohnung. Im Treppenhaus traf sie auf einen Mann. Er war mindestens zehn Jahre älter als sie und wohnte ein Stockwerk über ihrer Tochter. Aber er hatte Nadine schon seit Tagen nicht gesehen.
Enttäuscht klingelte Mona bei der unmittelbaren Wohnungsnachbarin in derselben Etage. Die Frau, die ihr öffnete, sah uralt und tatterig aus. Mona hatte wenig Hoffnung, von ihr etwas Vernünftiges zu erfahren. Sie wurde jedoch angenehm überrascht. Genoveva Spitzeder, wie die Dame laut Türschild hieß, hatte trotz ihres hohen Alters einen hellwachen Verstand.
»Kommen Sie doch bitte herein und trinken eine Tasse Kaffee mit mir«, sagte die alte Frau herzlich. Sie war anderthalb Köpfe kleiner als Mona, die mit ihren 1,68 schon nicht besonders groß war. Außerdem war sie extrem schlank und zierlich. Mit ihren stahlgrauen Haaren, die an ihrem Hinterkopf zu einem Dutt verknotet waren, und den runden Brillengläsern wirkte sie wie eine Miniatur-Großmutter aus dem Bilderbuch. »Ich hab Käsekuchen da.«
Mona war normalerweise ein Fan von Käsekuchen. Sie konnte schlecht nein sagen, wenn ihr einer angeboten wurde. Doch in diesem Fall musste sie zu ihrem Bedauern standhaft bleiben. Sie hatte keine Zeit für einen ausgedehnten Kaffeeklatsch, wie er der alten Dame vermutlich vorschwebte. Und sie ahnte, dass sie nicht so schnell davonkommen würde, wenn sie die Einladung annahm. »Nein danke«, lehnte sie das Angebot höflich, aber entschieden ab.
Frau Spitzeder gab nicht so schnell auf. »Es macht mir überhaupt keine Mühe«, sagte sie, als hätte Mona etwas anderes behauptet. »Ich bin zwar schon dreiundneunzig Jahre alt, führe meinen Haushalt aber noch immer allein.«
Mona nickte anerkennend, bevor sie den Kopf schüttelte. »Ich hab leider trotzdem keine Zeit, um mit Ihnen Kaffee zu trinken und Käsekuchen zu essen, Frau Spitzeder. Dennoch vielen Dank für die Einladung.«
»Jammerschade.« Die alte Frau zuckte mit den Schultern.
»Ich wollte Sie nur etwas fragen«, kam Mona endlich auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen.
»Und was?«
»Haben Sie meine Tochter Nadine in den letzten Tagen gesehen?«
Frau Spitzeder dachte nur kurz nach, bevor sie nickte. »Das habe ich in der Tat. Ich habe sie erst gestern im Hausflur getroffen. Sie hatte nämlich Urlaub.«
»Urlaub?«
Die alte Frau nickte erneut. »Ihre Tochter hatte einen wichtigen Untersuchungstermin beim Arzt. Dafür hatte sie sich extra Urlaub genommen. Ich habe sie gefragt, ob es etwas Ernstes sei. Doch sie meinte, es handle sich nur um eine Routineuntersuchung und ich solle mir keine Sorgen machen.«
»Hat sie sonst noch etwas gesagt?«
Frau Spitzeder schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hatte es eilig und nicht viel Zeit, um es noch rechtzeitig zu ihrem Termin zu schaffen.«
»Und Sie sind sich sicher, dass das gestern war?«
»Natürlich! Das weiß ich genau.« Die alte Frau machte einen entrüsteten Eindruck.
»Vielen Dank«, sagte Mona. »Sie haben mir sehr geholfen.«
»Gern geschehen. Und Sie wollen wirklich nicht kurz für eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen hereinkommen?«
Mona lehnte noch einmal höflich ab. Sie verabschiedete sich, während sie über das nachdachte, was die Nachbarin ihr erzählt hatte.
Sie hatte nicht gewusst, dass Nadine gestern Urlaub gehabt hatte. Davon hatte auch die Kollegin am Telefon nichts gesagt. Ebenso wenig hatte sie von der angeblichen Routineuntersuchung gewusst. Nach dem Gespräch mit der Nachbarin machte sie sich noch größere Sorgen um ihre Tochter.
Mona klingelte an allen anderen Türen im Haus, hatte aber nur im Erdgeschoss Glück. Eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm öffnete. Sie konnte ihr aber auch nicht weiterhelfen, denn sie hatte Nadine zum letzten Mal am Wochenende gesehen.
Niedergeschlagen kehrte Mona in Nadines Wohnung zurück. Sie wollte eigentlich so schnell wie möglich nach Hause. Nur für den Fall, dass ihre Tochter zwischenzeitlich dorthin gekommen war oder sie anzurufen versucht hatte. Vorher wollte sie aber noch rasch ein paar Telefonate führen.
Zuerst rief sie ihren Hausarzt an, zu dem auch Nadine ging, wenn sie Beschwerden hatte. Die Sprechstundenhilfe stellte sie zu ihm durch. Sie teilte ihm mit, dass sie ihre Tochter nicht finden könne und Nadine nicht zur Arbeit gegangen, sondern allem Anschein nach verschwunden sei. Daraufhin erzählte er ihr, dass Nadine wegen ihrer Kopfschmerzen zu ihm gekommen sei und er sie an einen Kollegen, einen Facharzt für Neurologie, verwiesen habe. Er gab ihr die Nummer, woraufhin sie dort anrief. Die Frau am anderen Ende der Leitung teilte ihr mit, dass der Doktor momentan einen Patienten behandele, sie aber umgehend zurückrufen würde. Sie legte auf und suchte im Telefonbuch, das sie in einer Schublade der Kommode fand, nach der Nummer von Nadines bester Freundin Anne. Von ihr erfuhr sie, dass Nadine gestern Abend angerufen hatte. Aufgrund der Uhrzeit, die Anne ihr nannte, musste es unmittelbar nach dem Telefonat mit ihr gewesen sein. Auch der Freundin hatte Nadine erzählt, dass es ihr gutginge. Und sie hatte von einem Mann namens Johannes erzählt, den sie kennengelernt hätte und der sehr nett sein sollte. Die Alarmglocke in Monas Kopf, die nicht mehr verstummen wollte, begann sofort schriller und nervtötender zu läuten. Allerdings konnte Anne ihr nicht mehr über diesen Mann erzählen, denn mehr als seinen Namen hatte sie von Nadine nicht erfahren. Diese hatte das Gespräch beendet, weil sie einen Anruf ihrer Mutter erwartet hatte. Dabei hatten sie kurz zuvor miteinander telefoniert.
Eine faustdicke Lüge!
Zuerst die Tatsache, dass sie der Mutter nichts von dem Urlaubstag und dem Untersuchungstermin erzählt hatte. Und dann hatte sie auch noch ihre beste Freundin belogen.
Was ging hier vor? Und wieso hatte Nadine Anne belogen? Vermutlich aus dem einfachen Grund, weil sie Geheimnisse hatte! Und das sogar vor der eigenen Mutter! Denn sie hatte ihr und Anne nicht nur den Besuch beim Neurologen, sondern auch den Untersuchungstermin verschwiegen. Allerdings hatte sie das nach Monas Ansicht zweifellos in bester Absicht getan, um sie nicht grundlos zu beunruhigen.
Aber was war mit diesem mysteriösen Johannes? Gab es ebenfalls einen guten Grund, ihrer Mutter nichts und der besten Freundin kaum etwas von ihm zu erzählen?
Wohl kaum!
Doch viel mehr als dieser Mann beunruhigte Mona der Gedanke an die Kopfschmerzen, die ihre Tochter geplagt hatten. Denn wenn Nadine gestern tatsächlich einen Untersuchungstermin gehabt und dafür extra Urlaub genommen hatte, war das gewiss nicht grundlos geschehen.
Sie versprach Anne, sie auf dem Laufenden zu halten. Außerdem bat Mona sie, sich bei Freunden und Bekannten umzuhören, ob jemand Nadine seit gestern Abend gesehen oder gesprochen hatte oder vielleicht sogar wusste, wo sie sich aufhielt. Dann legte sie rasch auf, weil sie Angst hatte, den Rückruf des Neurologen zu verpassen. Sie lief ruhelos im Flur hin und her, während sie darauf wartete, dass das Telefon klingelte. Als es das endlich tat, fuhr sie dennoch erschrocken zusammen und stieß einen spitzen Schrei aus. Sie lief zum Apparat und hob den Hörer ans Ohr. Sie wünschte sich inständig, es wäre Nadine, die zum Haus ihrer Mutter gekommen war, dort festgestellt hatte, dass der Ersatzschlüssel fehlte, und hier anrief. Doch es war der Neurologe. Nachdem sie ihm den Sachverhalt geschildert hatte, erteilte er ihr bereitwillig Auskunft. Er sagte, dass er Nadine wegen ihrer Beschwerden zur Kernspintomografie in eine radiologische Praxis geschickt habe. Allerdings hatte er noch keinen Befundbericht der Praxis bekommen. Er versprach, sie anzurufen, sobald der Bericht in den nächsten Tagen eingehen würde.
Nachdem Mona aufgelegt hatte, sah sie auf die Uhr. Seit Nadines letztem telefonischem Kontakt mit Anne waren noch keine 24 Stunden vergangen. Aber sie wusste nicht mehr, was sie sonst tun sollte, um ihre Tochter zu finden. Sie beschloss, nach Hause zu gehen. Sofern Nadine nicht dort war und sie auch keine Nachricht ihrer Tochter auf dem Anrufbeantworter fand, wollte sie auf diese blöde 24-Stunden-Regel pfeifen. Dann würde sie umgehend die Polizei einschalten, um eine Vermisstenanzeige zu erstatten.
II
Eine halbe Stunde später sprach sie mit einem Beamten der Polizeiinspektion 41, die auch für den Stadtteil Hadern zuständig war. Dabei erfuhr sie, dass die 24-Stunden-Regel eine Erfindung von Film und Fernsehen war.
Der Polizist hatte sich ihr als Polizeiobermeister Tim Fischer vorgestellt. Seine sympathische Stimme hörte sich so an, als wäre er so alt wie ihre Tochter.
Er erläuterte ihr, dass die Polizei bei Erwachsenen erst dann eine Vermissten-Fahndung einleiten konnte, wenn drei Voraussetzungen erfüllt waren.
Erstens musste die Person ihren gewohnten Lebenskreis verlassen haben. Das umfasste das gesamte Umfeld, also nicht nur den Wohn-, sondern auch den Arbeits- und Freizeitbereich. Außerdem musste die Abwesenheit dem bisherigen Lebensrhythmus widersprechen und ein angemessener Zeitraum für die Rückkehr überschritten worden sein.
Zweitens musste der derzeitige Aufenthalt unbekannt sein. Das war der Fall, wenn nicht bekannt war, an welchem Ort sich die vermisste Person aufhielt.
Drittens musste von einer Gefahr für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit ausgegangen werden. Nach den Umständen des Einzelfalls musste also eine nicht unerhebliche Körperverletzung oder der Tod eines Menschen durch eine Straftat, einen Unfall, Hilflosigkeit oder eine Selbsttötungsabsicht drohen. Eine Ausnahme hiervon war lediglich bei Minderjährigen vorgesehen. Bei ihnen wurde grundsätzlich von einer Gefahr für Leib und Leben ausgegangen, sobald sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen hatten und ihr Aufenthalt unbekannt war. Zumindest solange die Ermittlungen nichts Gegenteiliges ergaben.
»In Nadines Fall«, sagte der Polizeibeamte, »sind die ersten beiden Voraussetzungen unzweifelhaft gegeben. Auch wenn man darüber streiten kann, ob der angemessene Zeitraum für eine Rückkehr bereits überschritten ist. Aber es fehlt eindeutig an der Gefahr für Leib und Leben.«
Daraufhin erzählte Mona ihm von den Kopfschmerzen, der Übelkeit, den Besuchen bei den Ärzten und dem gestrigen MRT-Termin in der radiologischen Praxis. All dies ließ sie sehr wohl um Leib und Leben ihrer Tochter fürchten. Doch das überzeugte den Beamten am anderen Ende der Leitung ebenfalls nicht, da sie momentan noch nichts Konkreteres vorweisen konnte.
»Im Gegensatz zu Kindern«, sagte POM Fischer, »dürfen Erwachsene, die im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte sind, ihren Aufenthaltsort frei bestimmen, ohne ihn Angehörigen oder Freunden mitteilen zu müssen. Es ist dann nicht die Aufgabe der Polizei, ihren Aufenthaltsort zu ermitteln. Zumindest solange keine gesicherten Erkenntnisse über eine Gefahr für Leib und Leben vorliegen.«
Mona hatte in diesem Moment gute Lust, den Polizisten anzuflehen oder anzuschreien. Sie konnte sich aber nicht entscheiden, welcher Reaktion sie den Vorzug geben sollte.
»Allerdings«, fügte er hinzu, bevor sie eine Entscheidung fällen konnte, »ist jeder Polizeibeamte zur Entgegennahme von Anzeigen über vermisste Personen und zur Einleitung von Sofortmaßnahmen verpflichtet. Und da ich nicht hundertprozentig ausschließen kann, dass das Ergebnis der MRT-Untersuchung Nadine zu einer Kurzschlusshandlung verleitet hat, werde ich Ihre Vermisstenanzeige aufnehmen und erste Fahndungsmaßnahmen einleiten.«
Mona war erleichtert und bedankte sich. Sie selbst konnte schließlich nicht mehr tun, um Nadine zu finden, als sie bislang schon getan hatte. Aber wenn sich die Polizei endlich der Sache annahm, musste doch bald etwas dabei herauskommen. Oder etwa nicht?
In der nächsten halben Stunde ließ sich der Polizeibeamte sämtliche Personalien und eine detaillierte Personenbeschreibung ihrer Tochter geben. Er fragte noch einmal nach den konkreten Umständen des Falls, die er direkt in den Computer eingab, denn sie konnte das Klicken der Tasten hören. Dann erkundigte er sich, welche Maßnahmen sie selbst ergriffen habe. Und auf die Frage nach möglichen Ursachen oder Beweggründen für Nadines Verschwinden konnte sie nur erneut auf ihre Beschwerden und die gestrige Untersuchung hinweisen.
Nachdem sie alle erforderlichen Angaben zur Vermisstenanzeige gemacht hatte, bat der Polizist sie, ein aktuelles Foto ihrer Tochter vorbeizubringen, falls Nadine in zwei Tagen noch immer nicht aufgetaucht sein sollte.
»Welche Maßnahmen werden Sie denn nun konkret einleiten?«, fragte Mona.
»Wegen der momentan noch nicht ersichtlichen Gefahr für Leib und Leben ihrer Tochter kann ich leider keine umfassenden Fahndungsmaßnahmen in die Wege leiten«, erklärte Fischer. »Ich werde allerdings sämtliche Kollegen, die im Großraum München auf Streife sind, darum bitten, nach einer Frau Ausschau zu halten, auf die Nadines Beschreibung passt. Außerdem werde ich alle Krankenhäuser, Rettungsleitstellen und Strafanstalten im München kontaktieren und auf eine eventuelle Einlieferung ihrer Tochter überprüfen. Mehr kann ich aber momentan beim besten Willen nicht tun.«
Mona bedankte sich trotzdem noch einmal überschwänglich bei ihm. Sie war so froh, dass sich endlich eine kompetente Person mit dem Verschwinden ihrer Tochter befasste, dass sie sogar in Tränen ausbrach. Erstaunt fragte sie sich, warum das so lange gedauert hatte und sie nicht schon viel früher zu weinen angefangen hatte. Doch dann wurde ihr klar, dass sie soeben die Verantwortung für die Suche nach ihrer Tochter abgegeben hatte. Jetzt, nachdem ihr diese Bürde von den Schultern genommen worden war, musste sich nicht länger stark sein, sondern konnte ihren angestauten Gefühlen endlich freien Lauf lassen.
Der Polizist sprach beruhigend auf sie ein. Er bemühte sich, ihr die Angst zu nehmen, indem er ihr erklärte, dass die meisten Vermissten schon nach wenigen Tagen wieder wohlbehalten auftauchten. »Oft verlassen sie freiwillig ihren gewohnten Lebenskreis, um sich eine kurze Auszeit von ihren Alltagsproblemen und -sorgen zu nehmen. Und so, wie Sie mir den Zustand von Nadines Wohnung geschildert haben, sieht es für mich ganz danach aus, als sei das einer dieser Fälle. Gewiss wird sich Ihre Tochter schon bald, vielleicht sogar noch heute, bei Ihnen melden.«
Allmählich beruhigte sich Mona, und ihre Tränen versiegten. Allerdings lag das nicht an den Worten des Mannes, sosehr er sich auch bemühte, ihr die Sorgen und Ängste zu nehmen. Doch das war nicht seine Schuld. Es war ihre eigene. Denn sie konnte noch immer nicht glauben, dass Nadine einfach verschwunden war, ohne jemandem Bescheid zu geben. So rücksichtslos und egoistisch war ihre Tochter nicht. So war sie von Mona und ihrem Mann auch nicht erzogen worden. Selbst wenn die MRT-Untersuchung etwas Besorgniserregendes ergeben hatte, wäre sie nicht einfach davongelaufen. Ganz abgesehen davon konnte man vor gesundheitlichen Problemen nicht weglaufen. Sie begleiteten einen überallhin. Nein, Mona war weiterhin davon überzeugt, dass mehr hinter Nadines Verschwinden steckte und dass ihr – Gott behüte! – etwas zugestoßen war.
»Ich gebe Ihnen sofort Bescheid, sollte ich etwas über Nadines Schicksal oder Verbleib erfahren«, versprach der Polizeibeamte. »Im Gegenzug kontaktieren Sie mich bitte umgehend, sobald Nadine auftaucht oder sich meldet. Und rufen Sie mich bitte an, wenn Sie das Ergebnis der MRT-Untersuchung vorliegen haben.«
Sie verabschiedeten sich voneinander. Danach war Mona wieder allein mit ihren Ängsten, während die Maschinerie der ersten Fahndungsmaßnahmen in Gang gesetzt wurde.
Nachdem sie die Verantwortung für die Suche nach ihrer Tochter auf jemand anderen übertragen hatte, wusste Mona nicht, was sie mit sich anfangen sollte. Sie machte sich eine Tasse löslichen koffeinfreien Kaffee. Dann begann sie, das Haus zu putzen. So hatte sie wenigstens etwas Sinnvolles zu tun. Allerdings entfernte sie sich dabei nie weit vom Telefon. Sie wollte sofort am Apparat sein, falls Nadine, der Polizist oder Anne anrief.
III
Das Telefon klingelte erst am späten Vormittag des nächsten Tages. Mona eilte zum Gerät und nahm mit zitternder Hand ab. Aber es war keine der erhofften Personen, sondern nur der Neurologe am Apparat. Er erkundigte sich zunächst, ob Nadine noch immer verschwunden sei.
»Ja«, sagte Mona mit zitternder Stimme.
Sie hatte eine furchtbare Nacht hinter sich und kaum Schlaf gefunden. Ständig schreckte sie auf und glaubte, das Klingeln des Telefons oder das Geräusch des Schlüssels im Schloss hätte sie geweckt. Doch jedes Mal, wenn sie ihren Morgenmantel überzog und nach unten ging, um nachzusehen, stellte es sich als falscher Alarm heraus. Um fünf Uhr morgens gab sie auf und stand auf.
Noch bevor sie in die Küche ging, um sich Kaffee und Frühstück zu bereiten, nahm sie den Hörer des Telefons ab und wählte Nadines Nummer. Nach dem sechsten Läuten nahm der Anrufbeantworter das Gespräch entgegen. Sie legte nicht gleich auf, sondern hörte sich Nadines aufgezeichnete Stimme an, die erklärte, dass sie momentan nicht ans Telefon kommen könne, und den Anrufer bat, eine kurze Nachricht zu hinterlassen. Erst als die Ansage vorüber war, legte Mona auf. Wozu hätte sie auch eine Nachricht hinterlassen sollen? Das hätte ihr nur noch mehr verdeutlicht, dass Nadine verschwunden war und niemand wusste, wo sie steckte. Und was hätte sie sagen sollen? Schatz! Ich bin’s, deine Mutter. Melde dich doch bitte umgehend, sobald du wieder zu Hause bist. Unter normalen Umständen hätte sie das sicherlich getan. Doch angesichts dessen, was sie befürchtete, wäre sie sich dabei lächerlich vorgekommen. Also wischte sie sich nur die Tränen aus den Augen und schlurfte mit kraftlosen Schritten in die Küche.
Den ganzen Vormittag war sie ruhelos und konnte keine fünf Minuten am Stück stillsitzen. Ständig ging sie zum Telefon, nahm den Hörer ab und überzeugte sich davon, dass sie das Freizeichen hören konnte und der Apparat funktionierte. Als er schließlich klingelte, hatte sie die Hoffnung schon beinahe aufgegeben. Sie saß am Küchentisch und versuchte, ein Kreuzworträtsel zu lösen, was sie normalerweise gern und oft tat. Doch heute kam sie nicht einmal auf die einfachsten Begriffe. Sie fühlte sich wie belämmert. Als das Telefon läutete, ließ sie vor Schreck den Kugelschreiber fallen. Sie sprang auf die Füße, sodass der Küchenstuhl hinter ihr umkippte. Aber sie kümmerte sich nicht darum, sondern eilte, so schnell ihre Beine sie trugen, in den Flur. Sie hob in der Hoffnung ab, dass es sich um Nadine handelte. Auch die Polizei oder Anne wären ihr recht gewesen, solange sie gute Neuigkeiten brachten. Doch es war nur der Facharzt für Neurologie, mit dem sie gestern gesprochen hatte.
Sie konzentrierte sich wieder verstärkt auf die Gegenwart und das Gespräch mit dem Arzt. Ihre Konzentrationsfähigkeit war aufgrund des Schlafmangels und ihrer Erschöpfung momentan nicht sehr ausgeprägt. Dennoch hatte sie keine Probleme, zu verstehen, was der Neurologe ihr erzählte.
Demnach hatte er soeben die Ergebnisse der MRT-Untersuchung aus der radiologischen Praxis erhalten. Und die Ergebnisse waren in der Tat besorgniserregend.
»Bei Nadine wurde eine Geschwulst im Gehirn festgestellt. Sie sitzt an einer schwer zugänglichen Stelle und ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht operabel. Allerdings besteht die Möglichkeit, eine Kombination aus Bestrahlung und Chemotherapie einzusetzen, um dem Tumor damit zu Leibe zu rücken. Gleichwohl sind auch hierbei die Chancen auf eine Heilung bei realistischer Einschätzung bedauerlicherweise nicht sehr hoch.«
Mona schloss die Augen, die nicht nur wegen der Müdigkeit schmerzten. Sie hatte von Anfang an geahnt, dass ihrer Tochter Schlimmes widerfahren war. Und sobald die Nachbarin von dem Untersuchungstermin erzählt hatte, war ihr klar gewesen, dass dabei etwas Besorgniserregendes herausgekommen sein musste. Besorgniserregend genug, dass Nadine das Ergebnis sowohl vor ihrer Mutter als auch vor ihrer besten Freundin verheimlicht hatte.
Der Arzt am anderen Ende der Leitung ergriff erneut das Wort, als Mona auf das, was er gesagt hatte, nicht reagierte. Er äußerte die Vermutung, Nadine sei möglicherweise wegen der niederschmetternden Diagnose verschwunden. »Nach Erhalt des Untersuchungsergebnisses habe ich umgehend den zuständigen Radiologen angerufen. Von ihm erfuhr ich, dass Nadine zutiefst schockiert auf die Diagnose reagiert und heftig geweint haben soll. Vermutlich stand sie unter einem schweren Schock, als sie die radiologische Praxis verließ.«
Mona erwiderte auch darauf nichts. Sie fühlte sich momentan nicht in der Lage, etwas zu sagen. Nicht nachdem ihre größte Befürchtung durch das, was sie soeben erfahren hatte, immer deutlichere Gestalt annahm. Ihr größter Albtraum schien wahr geworden zu sein. Ihr einziges Kind, der letzte geliebte Mensch, der ihr nach dem Tod ihres Mannes geblieben war, war todkrank. Und niemand auf dieser Welt, nicht einmal sie, konnte ihm helfen.
Der Arzt schien zu spüren, dass ihr nicht länger nach Reden zumute war. »Ich werde den Untersuchungsbericht an Ihren Hausarzt weiterleiten. Und ich hoffe sehr, dass Ihre Tochter schon bald wieder wohlbehalten auftaucht. Sie sollte sich anschließend auf jeden Fall umgehend mit mir in Verbindung setzen, damit wir einen Termin vereinbaren und die Therapie besprechen können.« Danach verabschiedete er sich.
Nachdem er aufgelegt und die Verbindung beendet hatte, blieb Mona noch eine Weile regungslos im Flur stehen, den Hörer weiterhin am Ohr und den monotonen Wählton ignorierend. Sie war tief in ihren Gedanken versunken.
Sie dachte an das letzte Telefonat, das sie mit ihrer Tochter geführt hatte. Nadine hatte ihr erklärt, dass es ihr gutginge und das Schmerzmittel die Schmerzen linderte. Mona hatte sofort gespürt, dass Nadine sie belog. Sie hatte es jedoch dabei belassen. Schließlich hatte sie nicht ahnen können, wie schlimm es wirklich um ihre Tochter stand. Woher auch? Außerdem hatte sie darauf vertraut, dass Nadine ihr demnächst alles erzählen würde. Genau so, wie sie es auch in der Vergangenheit immer getan hatte.
Jetzt, im Nachhinein, machte sie sich heftige Vorwürfe, nicht sofort nachgefragt zu haben, warum Nadine sie belog und wie es wirklich um sie stand. Aber jetzt war es dafür zu spät!
Tränen liefen ihr übers Gesicht, während sie wie eine Statue regungslos im Flur stand. Denn nach allem, was sie nun wusste, gab es nur eine einzige logische Erklärung, warum Nadine so überraschend und spurlos aus ihrer gewohnten Umgebung verschwunden war. Angesichts des inoperablen Tumors in ihrem Gehirn und der geringen Heilungschancen musste Nadine beschlossen haben, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen!
IV
Sobald ihre Tränen versiegt waren, erinnerte sich Mona an die Worte des Polizeibeamten bei ihrem gestrigen Telefonat. Er hatte davon gesprochen, dass die dritte Voraussetzung, die Gefahr für Leib und Leben der vermissten Person, beispielsweise durch eine suizidale Absicht, in Nadines Fall nicht gegeben wäre. Doch die Information des Neurologen veränderte diese Einschätzung grundlegend. Deshalb musste jetzt auch viel intensiver nach Nadine gefahndet werden. Sofern es nicht – Gott bewahre! – zu spät war und sie schon viel zu viel Zeit vertrödelt hatten. Aber daran wollte Mona lieber nicht denken.
Sie legte auf und nahm den Zettel, auf dem sie die Durchwahlnummer des Polizeibeamten notiert hatte, von der Pinnwand. Daran heftete sie normalerweise nur ihren Einkaufszettel, die Postkarten von Bekannten oder Rechnungen, die bezahlt werden mussten.
Polizeiobermeister Tim Fischer meldete sich nach dem zweiten Klingeln, als hätte er auf ihren Anruf gewartet. Allerdings war es vermutlich eher so, dass er gegenwärtig an seinem Schreibtisch saß und der Telefonapparat in Reichweite war.
Sie hatte damit gerechnet, dass er genervt reagieren würde, weil sie ihn schon wieder anrief und belästigte. Doch das Gegenteil war der Fall. Er schien sich zu freuen, von ihr zu hören. Oder zumindest gelang es ihm, bei ihr diesen Eindruck zu erwecken.
»Ist Ihre Tochter wieder aufgetaucht?« Seine sympathische Stimme klang erwartungsvoll.
Das konnte Mona leider nur verneinen. Auch wenn es ihr ebenso wie ihm lieber gewesen wäre, sie hätte bessere Neuigkeiten.
»Wir haben sie ebenfalls nicht gefunden.« Mona konnte aus seiner Stimme deutlich die Enttäuschung heraushören. »Den Funkstreifen ist keine Person aufgefallen, auf die Nadines Beschreibung gepasst hätte. Und meine Anrufe bei den Krankenhäusern und Rettungsleitstellen waren ebenfalls erfolglos. Niemand, auf den die Personenbeschreibung zutrifft, wurde in den letzten 48 Stunden gefunden oder irgendwo eingeliefert.«
Nachdem sie beide für ein paar Sekunden bedrückt geschwiegen hatten, fragte er: »Haben Sie mich aus einem speziellen Grund angerufen? Oder wollten Sie nur nachfragen, ob es Neuigkeiten gibt?«
Da erzählte ihm Mona von der niederschmetternden Diagnose nach der Untersuchung. Sie schloss mit der Befürchtung, Nadine könne vorhaben, sich das Leben zu nehmen, um dem Tumor zuvorzukommen.
»Ich stimme Ihnen zu. Diese Information verändert die Sachlage natürlich grundlegend. Wir müssen jetzt sehr wohl von einer Gefahr für das Leben oder zumindest die körperliche Unversehrtheit Ihrer Tochter ausgehen. Deshalb werde ich den Fall umgehend an die Spezialisten der Vermisstenstelle bei der Kripo weiterleiten. Die Kollegen dort sind für solche Fälle ausgebildet. Sie haben die notwendige Erfahrung und wissen genau, wie man am besten nach vermissten Personen sucht. Ich werde sofort alles Erforderliche in die Wege leiten und die Vermisstenanzeige per Kurier an das Kommissariat 14 schicken. Dabei werde ich auf die besondere Dringlichkeit des Falls hinweisen. Dann kann der zuständige Ermittler sofort alle notwendigen Fahndungsmaßnahmen einleiten.«
Mona befürchtete insgeheim jedoch, dass sämtliche Maßnahmen zu spät kamen. Nadine war schon immer sehr zielstrebig gewesen und hatte wichtige Aufgaben nie auf die lange Bank geschoben, sondern sofort erledigt. Dennoch war sie zutiefst dankbar, dass der Polizist ihre Ängste ernst nahm und die erforderlichen Schritte unternahm, um ihre Tochter zu finden.
»In Kürze wird sich ein Ermittler der Vermisstenstelle mit Ihnen in Verbindung setzen«, sagte der Beamte. »Und geben Sie bitte auf keinen Fall die Hoffnung auf, Ihre Tochter lebend und wohlbehalten wiederzusehen.« Dann verabschiedete er sich, um augenblicklich in die Tat umzusetzen, was er ihr zuvor versprochen hatte.
Obwohl sich an der Situation zunächst einmal nichts geändert hatte, fühlte sich Mona nach dem Telefonat trotzdem viel optimistischer. Und obwohl sie eigentlich zum Einkaufen hätte gehen müssen, weil der Kühlschrank fast leer war, blieb sie zu Hause, um den nächsten Anruf nicht zu verpassen. Allerdings wartete sie nicht länger auf einen Anruf ihrer Tochter, sondern stattdessen auf den eines Ermittlers der Vermisstenstelle.
V
Der Polizist hielt Wort. Bereits eine knappe Stunde später landete die Vermisstenanzeige auf Anja Spangenbergs Schreibtisch.
Sie legte den Altfall zur Seite, den sie bearbeitet hatte und las zunächst das Begleitschreiben des Polizeiobermeisters von der Polizeiinspektion 41 in Laim. In diesem gab er das letzte Telefonat mit der Anzeigenerstatterin in Stichpunkten wieder. Außerdem wies er auf die besondere Dringlichkeit des Falles aufgrund der Suizidgefahr hin.
Anja konnte ihm nur zustimmen. Nach der schrecklichen Diagnose und dem unmittelbar darauf erfolgten Verschwinden der Frau musste davon ausgegangen werden, dass die Diagnose ursächlich für ihre Abwesenheit war. Und da Nadine Weinharts Verschwinden nach Angabe der Mutter eindeutig ihrem bisherigen Lebensrhythmus widersprach, war ernsthaft zu befürchten, dass sich die Frau etwas angetan hatte oder noch antun würde. Es war daher höchste Zeit, alle notwendigen Fahndungsmaßnahmen einzuleiten, um die Frau, sofern sie noch lebte, zu finden, bevor sie ihre mögliche Absicht in die Tat umsetzte. Während Anja die Vermisstenanzeige bis zum Ende aufmerksam durchlas, dachte sie schon über die konkreten Maßnahmen nach, die sie ergreifen und in die Wege leiten wollte.
Der Polizeiobermeister hatte bereits die Personendaten der Vermissten mit den polizeilichen Datenbanken abgeglichen. Außerdem hatte er Krankenhäuser und Rettungsleitstellen kontaktiert. Damit konnte sich Anja all das sparen. Fischer hatte zwar auch schon mit Nadines Mutter gesprochen, dennoch wollte Anja die Frau persönlich befragen. Zudem hatte sie vor, mit weiteren Bezugspersonen zu reden, die Fischer noch nicht kontaktiert hatte. Das waren Angehörige, Freunde und Arbeitskollegen. Und schließlich wollte sie so schnell wie möglich die Wohnung der vermissten Frau durchsuchen.
Doch vordringlich war zunächst die unverzügliche Ausschreibung von Nadine Weinhart im Informationssystem der Polizei, kurz auch INPOL genannt. Auf diese Datei beim Bundeskriminalamt haben sämtliche deutschen Polizeidienststellen Zugriff. Sie enthält alle als vermisst gemeldeten Personen, deren Zahl derzeit knapp unter 10.000 liegt. Durch die Eingabe aller fahndungsrelevanten Daten einer vermissten Person in INPOL werden sie quasi über Nacht auch automatisch in die Datei über Vermisste, unbekannte Tote und unbekannte hilflose Personen übernommen. Für den Fall, dass eine unbekannte Tote auftauchte, auf die Nadines Personenbeschreibung und ihre besonderen Merkmale passten, konnte somit eine rasche Identifizierung erfolgen.
Volljährige Vermisste wurden im Gegensatz zu Minderjährigen grundsätzlich nur zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben. Anschließend wurden sie befragt, ob sie mit der Weitergabe ihres Aufenthaltsorts einverstanden waren. Damit war die Vermisstensache für die Polizei erledigt, und alle Fahndungsmaßnahmen wurden eingestellt. Minderjährige, die ihren Aufenthaltsort nicht selbst bestimmen konnten, wurden hingegen in Verwahrung genommen.
Nach der Ausschreibung in INPOL leitete Anja weitere Fahndungsmaßnahmen in die Wege. Dazu gehörte vor allem die Personen- und Funkfahndung. Sie verzichtete allerdings zunächst auf eine Öffentlichkeitsfahndung in den Medien und der lokalen Presse. Eine solche war ohnehin erst zulässig, wenn alle anderen Fahndungsmittel erfolglos geblieben waren. Da zudem Nadine Weinharts Auto nach Angaben der Mutter vor dem Haus stand, in dem sie wohnte, erübrigte sich eine Sachfahndung nach dem Fahrzeug. Diese hätte möglicherweise eher als eine Personenfahndung zum Erfolg geführt, denn ein Wagen konnte nicht so leicht verschwinden wie ein Mensch.
Als Nächstes initiierte Anja bei den zuständigen Kollegen eine Ortung von Nadines Handy. Die Mobilfunknummer entnahm sie der Vermisstenanzeige. Von nun an würde versucht werden, Nadines Mobiltelefon über Mobilfunkzellen, GPS oder mithilfe einer sogenannten »stillen SMS« zu orten. Allerdings musste das Gerät eingeschaltet sein und sich innerhalb des Funknetzes befinden, um eine Ortung zu ermöglichen.
Als Ermittlerin der Vermisstenstelle arbeitete Anja überwiegend vom Schreibtisch aus und telefonierte dabei viel. Doch gelegentlich war es auch notwendig, Personen persönlich zu befragen, Wohnungen zu durchsuchen und Identifizierungsmaterial zu beschaffen.
Deshalb rief Anja zunächst Nadines Mutter an, um ihren Besuch anzukündigen. Sie hatte ein paar ergänzende Fragen an die Frau und wollte sich einen persönlichen Eindruck von ihr verschaffen. Außerdem ging sie davon aus, dass die Frau einen Ersatzschlüssel für Nadines Wohnung besaß. So wäre sie nicht gezwungen, den Schlüsseldienst zu rufen, um in die Wohnung zu gelangen.
Mona Weinhart wohnte in einem Reihenhaus im Stadtteil Laim. Für Anja bedeutete das über die Zschokke- und die Gotthartstraße eine Fahrt von neun Minuten. Allerdings konnte die Frau, der man ihre Ängste deutlich ansah, denn sie war bleich und sah übernächtigt aus, Anja nicht viel Neues erzählen.
Die nächsten Angehörigen, die in den meisten Fällen die Vermisstenanzeigen aufgegeben hatten, gingen in der Regel sofort vom Schlimmsten aus. Sie vermuteten zumeist, die vermisste Person müsste einem Verbrechen oder einem Unfall zum Opfer gefallen oder sogar tot sein. Aber nur weil jemand eine Person vermisst, heißt das noch lange nicht, dass diese auch tatsächlich verschwunden ist.
Allein in München werden pro Jahr ungefähr 2.700 Menschen als vermisst gemeldet. Fast drei Viertel davon sind Kinder und Jugendliche, 20 Prozent wiederum demente und kranke Personen. Etwa 50 Prozent tauchen schon nach wenigen Stunden oder innerhalb einer Woche wieder auf. Nach einem Monat sind über 80 Prozent der Vermissten-Fälle erledigt. Der Anteil derjenigen, die länger als ein Jahr verschwunden sind, liegt hingegen lediglich bei drei Prozent.
Obwohl Anja ihr diese Zahlen nannte, ging Mona Weinhart weiterhin davon aus, dass ihrer Tochter etwas zugestoßen war. Wegen der Tumor-Diagnose unmittelbar vor Nadines Verschwinden war sie davon überzeugt, dass ihre Tochter vorhatte, ihrem Leben selbst ein Ende zu bereiten. Falls sie das nicht schon getan hatte.
Anja gab ihr insgeheim recht. Aber das sagte sie ihr natürlich nicht. Stattdessen versuchte sie, die Frau zu beruhigen, als diese plötzlich in Tränen ausbrach. Sie bemühte sich, ihre Ängste zu verringern, indem sie von ihren eigenen Erfahrungswerten erzählte. Außerdem nannte sie Fälle, die trotz aller vorherigen Unkenrufe positiv ausgegangen waren. Dabei bemühte sie sich, zuversichtlicher zu klingen, als sie es tatsächlich war.
Um die Frau auf andere Gedanken zu bringen, fragte sie nach Nadines Freunden und Arbeitskollegen. Die Kollegen im Klinikum Großhadern kannte Mona Weinhart nicht. Sie gab Anja jedoch den Namen, die Anschrift und die Telefonnummer von Nadines bester Freundin. Anne Schmelzer war vermutlich die letzte bekannte Person, mit der Nadine vor ihrem Verschwinden gesprochen hatte.
Anja notierte sich alles gewissenhaft in ihr Notizbuch. »Kennen Sie einen Ort, an dem Nadine in der Vergangenheit besonders glücklich war?«, fragte sie dann.
»Warum wollen Sie das wissen?«
Suizidgefährdete kehrten erfahrungsgemäß oft an Orte zurück, an denen sie sich in ihrem Leben wohlgefühlt hatten. Doch auch das sagte sie der Frau nicht. »Nadine ist wegen der Diagnose momentan vermutlich nicht besonders glücklich. Sie könnte daher gezielt einen Ort aufgesucht haben, an dem sie es in der Vergangenheit war«, erklärte sie stattdessen.
Aber Mona fiel kein solcher Ort ein. Nadine sei ihrer Meinung nach prinzipiell und überall ein glücklicher und fröhlicher Mensch gewesen.
Anja fiel auf, dass die Frau bereits in der Vergangenheit von ihrer Tochter sprach. Sie ging jedoch nicht darauf ein. »Können Sie mir ein aktuelles Foto ihrer Tochter geben?«
Mona hatte schon eine Aufnahme bereitgelegt. Sie hatte sie ursprünglich Polizeiobermeister Fischer bringen wollen.
Anja nahm das Foto entgegen und sah es sich an. Es handelte sich um ein Porträtfoto und zeigte Nadines Kopf und Oberkörper. Damit war es sowohl für die Fahndung als auch für eine eventuelle Identifizierung gut geeignet.
In jedem Vermisstenfall war Anja von Anfang an bestrebt, Material zu sammeln, das eine sichere Identifizierung ermöglichte. Das geschah für den Fall, dass die vermisste Person als unbekannte hilflose Person oder unbekannte Leiche wieder auftauchte. Dabei handelte es sich in erster Linie um Lichtbilder, eine detailgenaue Personenbeschreibung und eine Beschreibung der mitgeführten Gegenstände wie Schmuck oder Bekleidung. Außerdem wurde nach Möglichkeit der Zahnbefund, Fingerabdrücke und natürlich DNA-Vergleichsmaterial beschafft.
Sie steckte das Bild in ihr Notizbuch. »Haben Sie einen Schlüssel für Nadines Wohnung?«
Mona holte den Schlüssel. »Ich war gestern Vormittag selbst dort, um nach Nadine zu suchen. Ich … Ich habe befürchtet, Nadine könnte hilflos oder tot in der Wohnung liegen. Zum Glück hat sich das nicht bewahrheitet.«
»In welchem Zustand befand sich die Wohnung?«
»Sie war ordentlich und aufgeräumt.«
»Haben Dinge gefehlt?«
»Nein«, sagte Mona nach kurzem Nachdenken und schüttelte langsam den Kopf. »Alles sah so aus wie immer. Nur eben mit dem Unterschied, dass Nadine nicht da war.«
»Hatten Sie den Eindruck, dass Nadine ihre Wohnung für immer oder nur kurzzeitig verlassen hat?«
Diesmal dachte Mona länger nach, bevor sie die Frage beantwortete, als müsste sie sich erst noch einmal alles vergegenwärtigen, was sie in der Wohnung gesehen hatte. »Für mich sah es so aus, als wollte Nadine nur kurz weg und bald wiederkommen. Ich habe auch keinen Abschiedsbrief gefunden.«
»Haben Sie in die Schränke geschaut, um zu überprüfen, ob Nadine ein paar Sachen gepackt und mitgenommen hat? Vielleicht wollte sie sich nur eine Auszeit nehmen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Um in aller Ruhe eine Entscheidung zu treffen, wie sie auf die Diagnose reagieren soll. Schließlich besteht noch immer die Chance, dem Tumor mit einer Kombination aus Chemotherapie und Bestrahlung beizukommen.«
Mona schüttelte den Kopf. »Daran habe ich gar nicht gedacht.«
Anja konnte förmlich dabei zusehen, wie die Frau allmählich neue Hoffnung schöpfte, dass es für ihre Tochter doch noch nicht zu spät war. Als sie sich wenig später voneinander verabschiedeten, war Mona Weinhart nicht mehr so niedergeschlagen und hoffnungslos wie zu dem Zeitpunkt, als Anja an ihrer Tür geklingelt hatte. Doch das war nur ein Teilaspekt ihrer täglichen Arbeit. Das Wichtigste und Schwierigste stand ihr noch bevor. Die eigentliche Suche nach einem Motiv für Nadines Verschwinden und ihrem derzeitigen Aufenthaltsort. Und sollte diese nicht alsbald erste Erfolge zeitigen, würde Mona Weinharts Hoffnung ebenso schnell schrumpfen wie ein löchriger Luftballon.
Bevor sie das Reihenhaus verließ, versprach sie der Mutter, ihr umgehend Bescheid zu geben, sobald es Neuigkeiten gab. Sie reichte ihr eine Visitenkarte mit der Nummer ihrer Dienststelle und bat sie, anzurufen, falls Nadine auftauchte oder sich meldete.
VI
Danach fuhr Anja zu Nadines Wohnung, die sich in einem dreistöckigen Mietshaus südlich des Klinikums Großhadern befand. Sie fand einen Parkplatz vor dem Haus und sah sich um. Nadines Wagen war ein betagter blauer VW Polo, der so aussah, als müsste der TÜV-Prüfer beim nächsten Termin blind sein, um ihm die begehrte Plakette zu erteilen. Er stand nur drei Stellplätze von Anjas weißem MINI Cooper entfernt.
Anja ging hin und versuchte vergeblich, eine der Türen oder die Heckklappe zu öffnen. Sie beugte sich hinunter und warf einen Blick ins Innere. Drinnen sah es schlimmer aus als in ihrem eigenen Fahrzeug, doch das war noch kein Verbrechen. Außerdem waren nirgends Blutflecken oder sonst etwas Verdächtiges zu entdecken. Sie hoffte, dass sie in der Wohnung einen Ersatzschlüssel fand, damit sie die Heckklappe öffnen und einen Blick in den Kofferraum werfen konnte.
Als sie sich umdrehte und zum Haus sah, entdeckte sie hinter einem Fenster im ersten Stock eine alte Frau, die sie argwöhnisch beobachtete. Sie vermutete, dass es sich um Nadines unmittelbare Wohnungsnachbarin handelte, eine 93-Jährige namens Genoveva Spitzeder. Mona Weinhart hatte bereits mit ihr gesprochen. Von ihr hatte sie vom Untersuchungstermin ihrer Tochter erfahren. Ohne diese Information stünde Anja jetzt nicht hier. Sie hatte den Stein erst ins Rollen gebracht und dafür gesorgt, dass die Vermisstenanzeige an die Vermisstenstelle weitergeleitet wurde. Anja winkte und lächelte. Sie konnte den Argwohn der Frau damit allerdings nicht ausräumen. Eigentlich wollte sie nach der Wohnungsdurchsuchung nur mit Nachbarn sprechen, mit denen Nadines Mutter noch nicht geredet hatte. Doch jetzt würde sie auch bei Genoveva Spitzeder klingeln. Und sei es nur, um ihr zu erklären, wer sie war.
Sie holte die Schlüssel heraus, die Mona Weinhart ihr gegeben hatte, und ging zur Haustür. An dem Ring befanden sich drei Schlüssel. Die beiden größeren, die mit Schlüsselkennringen unterschiedlicher Farbe markiert waren, gehörten zur Haus- und zur Wohnungstür. Der dritte war für den Briefkasten. Sie öffnete zuerst den Kasten und leerte ihn. Neben den üblichen Werbeprospekten und Postwurfsendungen gab es vier Briefe. Anja wollte sie allerdings erst in der Wohnung lesen. Sie öffnete die Haustür und trat in den Hausflur. Es gab keinen Aufzug, deshalb nahm sie die Treppe in den ersten Stock. Sie ging zur linken Wohnungstür und steckte den rot markierten Schlüssel ins Schloss. Dabei konnte sie förmlich den Blick der alten Frau spüren, die sie durch den Türspion voller Argwohn beobachten musste. Aber sie ließ sich davon nicht beirren. Sie schloss auf, trat rasch ein und machte sofort die Tür hinter sich zu.
Sobald sie in der Wohnung war, zog sie Einweghandschuhe an. Erst dann tastete sie nach dem Schalter und machte Licht. Sie blieb für ein paar Momente regungslos stehen und hielt dabei die Luft an, um aufmerksam zu lauschen. Doch in der Wohnung war es absolut still. Nicht einmal das Ticken einer Uhr konnte sie hören. Sie war sofort davon überzeugt, dass sich außer ihr niemand hier drinnen aufhielt.
Sie steckte den Schlüsselring ein. Dann machte sie einen Rundgang durch die Wohnung, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Es gab nur zwei Zimmer, eine schmale Küche und ein winziges Bad. Anja musste Nadines Mutter insgeheim recht geben. Alles sah extrem ordentlich und aufgeräumt aus. Nirgends gab es das geringste Anzeichen für einen Kampf oder ein Verbrechen. Wäre es anders, hätte Anja umgehend die Kollegen von der Spurensicherung und der Mordkommission informiert. Doch nichts an diesem Ort deutete darauf hin, dass Nadine die Wohnung nicht freiwillig oder fluchtartig verlassen hatte.
Nachdem sie sich einen Überblick verschafft hatte, durchsuchte Anja die Wohnung gewissenhafter. Zunächst öffnete sie alle Schränke und sonstigen Behältnisse, die aufgrund ihrer Größe geeignet waren, um in ihnen einen menschlichen Körper oder Teile davon zu verstecken. Zu ihrer Erleichterung fand sie nichts dergleichen. Allerdings hatte sie das auch nicht unbedingt erwartet. Wenn Nadines Leichnam hier irgendwo verborgen gewesen wäre, hätte sie ihn bereits beim Betreten der Wohnung riechen müssen. Denn eine große Kühltruhe, die luftdicht schloss, gab es nicht.
Immerhin stellte sie bei der Überprüfung des Kleiderschranks im Schlafzimmer fest, dass Nadine augenscheinlich weder einen Koffer gepackt, noch Kleidung zum Wechseln mitgenommen hatte. Es sah also nicht danach aus, als hätte sie vorgehabt, für längere Zeit zu vereisen. Außerdem stand ihr Auto vor dem Haus.
Anja hatte gehofft, ein Schreiben oder zumindest eine Notiz von Nadine zu finden. Etwas, das Nadines Mutter in ihrer Aufregung übersehen hatte und Aufschluss darüber geben könnte, wohin Nadine verschwunden war und was sie vorhatte. In dieser Hinsicht wurde sie allerdings enttäuscht. Sie fand auch kein Tagebuch, das für einen Ermittler der Vermisstenstelle eine der ergiebigsten Informationsquellen war. Dafür entdeckte sie ein Adressbuch, einen Laptop und eine Reihe aktueller Dokumente und Briefe. Sie würde alles mitnehmen und im Büro auswerten.
Auf dem Anrufbeantworter befanden sich mehrere Nachrichten. Die erste, vom Vormittag des vorgestrigen Tages, stammte von einer Kollegin aus dem Klinikum Großhadern. Sie erkundigte sich besorgt nach Nadine, weil diese nicht zur Arbeit gekommen war. Anja notierte sich den Vornamen der Frau und die Nummer, die angezeigt wurde. Anschließend folgten Nachrichten von Nadines Mutter und ihrer besten Freundin Anne. Die beiden hatten mehrmals angerufen. Allerdings hatten sie nach dem ersten Mal nicht erneut aufs Band gesprochen.
Der Kühlschrank war für einen Singlehaushalt gut gefüllt. Die angebrochene Milch und der Käse in Scheiben waren aber nur noch bis übermorgen haltbar.
Im Bad entdeckte Anja auf der Ablage des Waschbeckens die offene Packung eines verschreibungspflichtigen Schmerzmittels. Nadine hatte es vermutlich gegen die von der Geschwulst in ihrem Kopf verursachten Schmerzen genommen. Es sah ganz danach aus, als hätte sie unmittelbar vor ihrem Verschwinden noch eine Tablette genommen. Außerdem fehlte eine der Blisterverpackungen. Anja notierte sich den Namen des Analgetikums und die Anzahl der Tabletten, die noch vorhanden waren.
Sie holte einen Beweismittelbeutel aus der Innentasche ihrer Blousonjacke und nahm Nadines Haarbürste. Mehrere weißblonde Haare hatten sich in den Borsten verfangen. Anja hoffte, dass darunter nicht nur ausgefallene Haare ohne Haarwurzel waren. Denn aus einem einzigen ausgerissenen Haar mitsamt Haarwurzel ließ sich die komplette DNA der Vermissten herauslesen. Sicherheitshalber steckte sie Nadines Zahnbürste in einen anderen Beweismittelbeutel. Anschließend fischte sie mehrere benutzte Ohrenstäbchen aus dem halbvollen Kosmetikeimer unter dem Waschbecken. Damit hatte sie genug Material für einen DNA-Vergleich, falls eine unbekannte Leiche oder eine unbekannte hilflose Person gefunden wurde, auf die Nadines Personenbeschreibung passte. Und sobald sie zurück im Büro war, wollte sie jemanden von der Spurensicherung damit beauftragen, hierherzukommen und Fingerabdrücke zu nehmen. Sie beschriftete die Beweismitteltüten sorgfältig und legte sie dann zu den anderen Dingen, die sie mitnehmen wollte.
Doch sie verließ die Wohnung noch nicht gleich, sondern machte einen weiteren Rundgang. Dieses Mal sah sie sich allerdings mit anderen Augen um. Sie bemühte sich, einen Eindruck von Nadine Weinharts Persönlichkeit zu gewinnen. Schließlich kannte sie die Frau nicht. Dennoch musste sie versuchen, sich so gut wie möglich in sie hineinzuversetzen, um eine Ahnung davon zu bekommen, wohin sie verschwunden war und was sie vorhatte. Gleichzeitig musste sie sich bemühen, die nötige Distanz zu wahren, damit ihr der Fall nicht zu nahe ging. Eine Gratwanderung, die nicht immer hundertprozentig gelang.
Anja überflog die Titel der Bücher und Videofilme im Wohnzimmerregal. Dann sah sie sich die gerahmten Fotos an, die in der Wohnung herumstanden oder an den Wänden hingen. Sie zeigten Nadine allein oder mit Verwandten, Freunden und Kollegen. Dabei machte sie sich Gedanken über das Motiv für das Verschwinden der anderen Frau.
Angesichts der schrecklichen Diagnose, die Nadine erhalten hatte, schien es auf den ersten Blick eindeutig zu sein. Sie war verschwunden, weil sie die Absicht hatte, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Allerdings war es gefährlich, sich zu früh und zu einseitig auf eine auf den ersten Blick zutreffende Version zu fixieren. Bei einer Fehleinschätzung liefen die Ermittlungen möglicherweise von Anfang an in die falsche Richtung oder sogar ins Leere. Und das konnte dazu führen, dass die Informationsauswahl nur einseitig und in eine Richtung stattfand.
Um das zu verhindern, überprüfte Anja gedanklich alle fünf Standardversionen für das Verschwinden eines Menschen. Neben der ersten, der Freitodabsicht, gehörte dazu zweitens das freiwillige Verlassen des gewohnten Lebenskreises wegen einer Konfliktsituation im Lebensbereich oder der Flucht vor Verantwortung. Drittens eine hilflose Lage, ein Unfall oder ein natürlicher Tod. Viertens eine Neigung zum Vagabundieren, Streunen oder Ausreißen. Und fünftens die Möglichkeit, dass die vermisste Person Opfer einer Straftat geworden war.
Die vierte Alternative konnte Anja von vornherein ausschließen. Eine Neigung zum Vagabundieren wäre bei ihrem Gespräch mit Nadines Mutter zweifellos zur Sprache gekommen. Möglicherweise wäre sie wegen früherer Vorfälle sogar aktenkundig gewesen. Es gab jedoch nicht den geringsten Hinweis, dass Nadine vorher schon einmal verschwunden war.
Ebenfalls nicht sehr wahrscheinlich war, dass Nadine ihren Lebenskreis aus eigenem Entschluss verlassen hatte und ihren derzeitigen Aufenthaltsort verbarg, um ihre Ruhe zu haben. Allerdings hätte Anja das gegenüber der Mutter niemals zugegeben. Sie wollte ihr nicht die letzte Hoffnung rauben, ihre Tochter lebend wiederzusehen. Gegen diese Version sprach vor allem, dass Nadine allem Anschein nach keine Wechselkleidung mitgenommen hatte und bis auf eine einzige Blisterverpackung die wichtigen Schmerztabletten zu Hause gelassen hatte. Anja würde im Laufe des Tages aber noch überprüfen müssen, ob Nadine unmittelbar vor ihrem Verschwinden größere Geldbeträge abgehoben hatte. Das könnte wiederum darauf schließen lassen, dass sie ihr Verschwinden geplant und vorbereitet hatte. Außerdem musste sie checken, ob es seit ihrem Verschwinden Transaktionen auf ihren Konten gegeben hatte.
Von den übrigen Versionen ließ sich zu Anjas Bedauern keine weitere so leicht ausschließen. Dadurch wurde die Konzentration auf ein bestimmtes Motiv für Nadines Verschwinden momentan noch unmöglich gemacht.
Der überraschende Schicksalsschlag in Form der vermutlich unheilbaren Krankheit sprach zwar dafür, dass die Vermisste verschwunden war, um Suizid zu begehen, doch es fehlten andere eindeutige Hinweise. Das konnten beispielsweise ein Abschiedsbrief, entsprechende Äußerungen gegenüber Dritten oder bereitgelegte Dokumente wie ein Testament sein.
Und da die Wohnung auf Anja so wirkte, als hätte Nadine sie nur kurzzeitig verlassen und bald zurückkommen wollen, durfte sie auch die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass Nadine einen Unfall erlitten hatte. Vielleicht hatte sie bei einem Spaziergang durch den Wald, um in Ruhe über alles nachzudenken, einen Schwächeanfall erlitten und war bewusstlos zusammengebrochen. Und nun lag sie dort hilflos oder war bereits eines natürlichen Todes gestorben.
Oder sie war doch das Opfer einer Straftat geworden. Denn ihr Verschwinden widersprach nach Aussage der Mutter eindeutig ihrer Persönlichkeitsstruktur. Außerdem hätte sie eine verzögerte Rückkehr, pflichtbewusst, wie sie war, umgehend gemeldet. Dagegen sprach wiederum der Zustand der Wohnung, in der erkennbar weder ein Kampf stattgefunden hatte, noch eine Straftat begangen worden war. Dennoch durfte Anja diese Möglichkeit nicht allein deswegen ausschließen. Vor allem, da sie sofort die Kollegen von der Mordkommission benachrichtigen musste, sollten sich im Laufe ihrer Ermittlungen Hinweise ergeben, die in diese Richtung wiesen.
Das Ergebnis ihrer Überlegungen war, dass sie sich in diesem Stadium ihrer Ermittlungen noch nicht auf ein Motiv für Nadines Verschwinden festlegen konnte. Sie musste daher weiterhin in alle Richtungen ermitteln und für alles offen sein, um nicht versehentlich in einer Sackgasse zu landen.
Sobald sie diesen Gedankengang abgeschlossen hatte, beendete sie auch die Durchsuchung der Wohnung. Sie hatte alles gründlich abgesucht und überprüft. An diesem Ort würde sie keine weiteren Erkenntnisse gewinnen.
Allerdings wollte sie noch einen kurzen Blick in Nadines Kellerabteil werfen. Schon unmittelbar nach Betreten der Wohnung war ihr im Flur ein Schlüsselbrett aufgefallen, das neben der Garderobe an der Wand hing. An den Haken hingen nur drei Schlüssel. Anja ging daher davon aus, dass Nadine ihre Haus-, Wohnungs- und Autoschlüssel mitgenommen hatte. Von den drei verbliebenen Schlüsseln schien einer ein Ersatzschlüssel für die Wohnung zu sein, der zweite zu einem Fahrradschloss und der dritte zu einem Vorhängeschloss zu gehören. Diesen nahm sie an sich, verließ die Wohnung und ging in den Keller des Hauses. Durch Türen auf beiden Seiten ging es zu den Kellerabteilen. Es handelte sich um Verschläge, deren Türen und Trennwände aus unbehandelten Holzlatten bestanden. Anja probierte den Schlüssel an einem Vorhängeschloss nach dem anderen, bis er endlich passte. Doch die Durchsuchung des Abteils erbrachte nichts Neues. Es enthielt nur ein Damenfahrrad, ausrangierte Kleinmöbel, mehrere Umzugskarton und eine Skiausrüstung. Aber wenigstens hatte Anja ihrer Pflicht zur gründlichen Untersuchung der Wohnanschrift der Vermissten Genüge getan und würde sich hinterher keine Vorwürfe machen müssen.
Sie versiegelte den Kellerraum und kehrte in die Wohnung zurück. Dort packte sie alles, was sie mitnehmen wollte, in eine Plastiktüte aus dem Küchenschrank. Dann verließ sie die Wohnung, versah die Wohnungstür ebenfalls mit einem Polizeisiegel und brachte die Tüte zum Auto.
Danach klingelte sie bei der Wohnungsnachbarin und zeigte der alten Frau ihren Dienstausweis. Deren misstrauische Miene machte daraufhin einem freundlichen Lächeln Platz. Frau Spitzeder lud Anja ein, in die Wohnung zu kommen und mit ihr Kaffee zu trinken und Käsekuchen zu essen. Doch dafür hatte sie keine Zeit. Deshalb lehnte sie das Angebot freundlich, aber bestimmt ab. Sie stellte der alten Dame ein paar Fragen über Nadine und den Tag ihres Verschwindens. Doch mehr als das, was sie bereits von Nadines Mutter erfahren hatte, kam dabei nicht heraus. Daher schlug sie eine weitere Einladung aus und verabschiedete sich rasch. Sie klingelte an den Türen der anderen Hausbewohner, hatte dort allerdings weniger Glück. Um die Leute vor Ort anzutreffen, musste sie zu einer anderen Tageszeit noch einmal vorbeikommen.
Da sie in der Wohnung keinen Ersatzschlüssel für Nadines Wagen gefunden hatte, musste sie die Durchsuchung des Kofferraums den Kollegen von der Kriminaltechnik überlassen.
Sie setzte sich in ihr Auto und fuhr los. Allerdings wollte sie nicht sofort zurück ins Büro, sondern vorher noch mit Nadines bester Freundin und den Kollegen im Klinikum sprechen.
VII
Da das Klinikum näher lag, lenkte sie den Wagen zunächst dorthin. Sie fuhr zum Haupteingang des Komplexes und parkte auf einem der Kurzzeitparkplätze. Dann ging sie zum Empfang, wies sich aus und erkundigte sich nach der Abteilung, in der Nadine arbeitete. Die freundliche Empfangsdame gab Nadines Namen in den Computer ein und teilte Anja mit, dass sie in der Privatstation im Direktionstrakt des Klinikgebäudes arbeite. Sie beschrieb der Polizistin den Weg, worauf Anja sich bedankte und verabschiedete.
Anja folgte der Wegbeschreibung. Sie begegnete Besuchern, Personal und Patienten im Bademantel. Letztere saßen teilweise im Rollstuhl oder schoben ihre Infusionsständer vor sich her. In der Privatstation suchte sie nach dem Schwesternzimmer. Dort stellte sie sich den diensthabenden Schwestern und Pflegern vor. Um Zeit zu sparen und Nadines Kollegen nicht allzu lange von der Arbeit abzuhalten, befragte sie alle gemeinsam. Doch niemand konnte sich Nadines Verschwinden erklären. Und von den körperlichen Beschwerden ihrer Kollegin erfuhren sie erst jetzt. Anscheinend hatte Nadine ein Geheimnis daraus gemacht und sich deshalb auch nicht hier im Haus untersuchen und behandeln lassen. Das wäre unkomplizierter gewesen. Allerdings hätte dann vermutlich in kürzester Zeit jeder davon gewusst.
Schon nach wenigen Minuten verließ Anja die Abteilung wieder, sodass die Versorgung der einträglichen Privatpatienten nicht länger beeinträchtigt war. Sie hatte nichts Neues erfahren. Aber das war bei ihren Ermittlungen oft der Fall. Viele Maßnahmen und Befragungen erwiesen sich im Nachhinein als überflüssig und gingen ins Leere. Doch das wusste man vorher leider nicht.
Sobald sie in ihrem Wagen saß, suchte sie in ihrem Notizbuch nach Anne Schmelzers Nummer. Nadines beste Freundin wohnte ebenfalls in der Nähe. Ein Besuch bei ihr war weder ein großer Zeitverlust noch ein Umweg. Bei Angehörigen und guten Freunden der Vermissten zog Anja das persönliche Gespräch einem Telefonat vor. In derartigen Fällen sah sie ihren Gesprächspartner lieber vor sich, um sich anhand seines Verhaltens, seiner Mimik und seiner Gestik ein besseres Bild von ihm machen zu können.
Anne war zu Hause. Sie war sofort einverstanden, dass Anja vorbeikam, um ihr ein paar Fragen zu stellen.
Die Schmelzers bewohnten die linke Hälfte eines zweistöckigen Doppelhauses. Im Vorgarten lagen so viele Bobby-Cars, Roller und Kinderfahrräder, dass man den Eindruck gewinnen konnte, eine ganze Horde von Kindern würde hier leben. Doch auf dem ovalen Namensschild aus Keramik neben der Tür standen neben dem Familiennamen und dem Vornamen der Mutter lediglich vier weitere Namen. Einer war allerdings wie eine schmerzhafte Wunde mit zwei Heftpflastern kreuzförmig überklebt worden, sodass man ihn nicht mehr lesen konnte.
Anne Schmelzer öffnete unmittelbar nach dem Klingeln, als hätte sie wie eine Falltürspinne hinter der Haustür auf Beute gelauert. Sie warf nur einen kurzen desinteressierten Blick auf Anjas Dienstausweis. Anja hoffte, dass sie nicht immer so vertrauensselig war. Dann begrüßte sie die Kriminalbeamtin herzlich, als wären sie alte Bekannte, und bat sie herein. Die Frau war anderthalb Köpfe kleiner als Anja und übergewichtig. Sie hatte langes rotblondes Haar, unzählige Sommersprossen und hellgrüne Augen, was sie in Anjas Augen wie ein frecher, dicker Kobold aussehen ließ, und trug eine Brille mit rotem Gestell.
Anne führte die Polizistin ins Wohnzimmer. Sie nahmen an einer Eckbank Platz, an der die Familie vermutlich ihre Mahlzeiten einnahm. Von den Kindern war außer zahlreichen Fotos an den Wänden, auf den Regalen und in den Fächern der Schrankwand nichts zu sehen. Allerdings waren sie nicht zu überhören. Aus dem Obergeschoss kamen kreischende Kinderstimmen. Sie wurden gelegentlich von Protest- oder Wehgeschrei unterbrochen. Außerdem war ständig das Trampeln von Füßen zu hören, sodass man das Gefühl bekommen konnte, eine Büffelherde durchquerte das obere Stockwerk auf dem Weg zur nächsten Wasserstelle.
Nadines beste Freundin richtete einen vielsagenden Blick zur Decke. Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern. Anja solle den Lärm einfach ignorieren, sagte sie und fügte hinzu, dass sie selbst ihn kaum noch höre. Sie fragte Anja, ob sie ihr eine Tasse Kaffee oder Tee und ein paar Kekse anbieten könne, doch Anja lehnte ab. Sie wollte rasch zum Wesentlichen kommen, weil sie noch viel zu erledigen hatte.
Sie stellte Anne die üblichen Fragen über ihre Freundin und den Tag ihres Verschwindens. Anne hatte ebenfalls nicht gewusst, wie schwerwiegend Nadines Beschwerden in Wahrheit waren. Auch die Besuche beim Neurologen und in der radiologischen Praxis einschließlich des niederschmetternden Befunds hatte Nadine ihr verschwiegen. Stattdessen hatte sie die Sache heruntergespielt und behauptet, es ginge ihr schon wieder besser.
»Hat es in letzter Zeit einen Mann in Nadines Leben gegeben?«, fragte Anja. »Einen Arbeitskollegen vielleicht? Oder jemanden, den sie woanders kennengelernt hatte?«
Von oben kam ein lautes Krachen, als wäre etwas Schweres zu Boden gefallen. Anne richtete ihren Blick zur Decke. Sie wartete und lauschte. Als keine Schmerzensschreie folgten, entspannte sie sich wieder.
Anja hätte nie so ruhig bleiben können, sondern nachsehen müssen, ob noch alle Kinder am Leben waren. Aber vermutlich bekam man bei drei derartigen Rabauken mit der Zeit die nötige Gelassenheit. Oder man erlitt früher oder später einen Nervenzusammenbruch und landete in der Irrenanstalt.
»Bei unserem letzten Telefonat erzählte Nadine von einem Kerl, den sie kennengelernt hatte und nett fand«, berichtete Anne. »Allerdings hat sie mir nur seinen Vornamen verraten. Er lautete Johannes. Ansonsten hüllte sie sich in Schweigen. Anschließend beendete Nadine das Gespräch ohnehin rasch, weil sie einen Anruf ihrer Mutter erwartete.«
»Wann haben Sie und Nadine miteinander gesprochen?«
Nachdem Anne ihr die ungefähre Zeit genannt hatte, fiel Anja nach einem Blick auf ihre Notizen auf, dass Nadine schon vor diesem Telefonat mit ihrer Mutter gesprochen hatte. Das kam ihr merkwürdig vor. Warum hatte Nadine ihre beste Freundin belogen? Vermutlich hatte sie das Gespräch beenden wollen, ohne unhöflich zu sein. Aber wieso? Hatte sie sich nicht länger von Anne löchern lassen wollen, die mehr über den mysteriösen Johannes hatte wissen wollen? Oder hatte sie an jenem Abend noch etwas vorgehabt? Eine Verabredung mit einem Mann möglicherweise?
»Wissen Sie schon von dem Tattoo über Nadines linkem Außenknöchel?«, fragte Anne unvermittelt und riss Anja damit aus ihren Überlegungen. »Es zeigt einen Marienkäfer.«
Anja nickte. »Nadines Mutter hat die Tätowierung bereits dem Polizisten gegenüber angegeben. Als er die Vermisstenanzeige entgegennahm, fragte er sie nach unverwechselbaren Kennzeichen.«
»Ich kann Ihnen ein Foto davon zeigen. Nadine schickte es mir aufs Handy, nachdem sie sich das Tattoo hatte stechen lassen.« Anne holte ihr Smartphone und zeigte Anja die Aufnahme. Sie prägte sich die Tätowierung ein. Allerdings verzichtete sie darauf, dass Anne ihr die Datei zuschickte, da es sich um ein einfaches Motiv handelte, das man sich leicht merken konnte.
Das Geschrei aus dem oberen Stockwerk wurde abrupt lauter. Anja hatte sich tatsächlich daran gewöhnt und es nur noch als stetes Hintergrundgeräusch wahrgenommen. Jetzt wurde sie wieder darauf aufmerksam.
Anne hob erneut den Kopf und warf einen Blick zur Decke. Als eins der Kinder zu heulen anfing, nickte sie, als hätte sie vorausgeahnt, dass es diesmal Tränen geben würde.
»Wenn Sie noch weitere Fragen an mich haben, gehe ich kurz zu den kleinen Monstern nach oben und sorge dafür, dass wieder Frieden zwischen ihnen herrscht.«
Aber Anja hatte genug gehört. »Falls ich noch etwas von Ihnen wissen möchte, rufe ich Sie an. Und falls Ihnen etwas einfällt, kontaktieren Sie mich bitte.« Sie gab der alleinerziehenden Mutter ihre Karte, bevor sie sich verabschiedete und das Haus verließ. Erst draußen fiel ihr auf, wie laut es gewesen war, denn ihr dröhnten noch immer die Ohren. Sie fragte sich, ob die Nachbarn in der anderen Doppelhaushälfte taub waren. Stampfende Schritte waren zu hören, als Anne Schmelzer die Treppe nach oben stürmte, um wie eine Einmann-Blauhelm-Truppe zwischen ihren kleinen Monstern zu intervenieren und Frieden zu stiften. Das Weinen verstummte kurz danach. Das Lärmen der anderen Kinder ging allerdings weiter, als störte sie die Gegenwart der Mutter nicht besonders.
Anja zuckte mit den Schultern. Sie beglückwünschte sich, dass sie noch keine Kinder hatte, da sie dann mittlerweile ebenfalls alleinerziehend wäre.
Sie setzte sich in ihren Wagen und fuhr ins Büro. Von dort rief sie bei den Kriminaltechnikern an und bat darum, in Nadine Weinharts Wohnung Fingerabdrücke zu nehmen und ihren Wagen zu durchsuchen. Den Schlüsselring, den sie von Nadines Mutter bekommen hatte, schickte sie per Boten ins Polizeipräsidium in der Ettstraße, wo die Büros der Kriminaltechnik lagen.
Anschließend sorgte Anja dafür, dass Nadines Bankkonten überwacht wurden und sie Auskunft über die letzten Kontobewegungen erhielt. Einer der Kollegen, die für die Telekommunikationsüberwachung zuständig waren, rief an. Er teilte ihr mit, dass eine Ortung des Handys der Vermissten fehlgeschlagen sei. Seit Nadines Verschwinden waren auch keine Gespräche mehr geführt worden.
Nachdem sie aufgelegt hatte, widmete sich Anja den Dingen, die sie aus Nadines Wohnung mitgebracht hatte. Sie ließ die Beweismittelbeutel mit der Haarbürste, der Zahnbürste und den Ohrenstäbchen abholen und ins kriminaltechnische Labor bringen. Dann widmete sie sich dem Adressbuch, den aktuellen Unterlagen und den Briefen. Sie rief die Personen an, die im Adressbuch aufgeführt waren. Bei ihnen handelte es sich vorwiegend um weitläufige Verwandte, Bekannte und ehemalige sowie aktuelle Arbeitskollegen. Aber niemand, mit dem sie sprach, wusste, wo Nadine steckte, oder hatte sie in letzter Zeit gesehen. Ein Johannes befand sich nicht darunter. Es gab auch keinen Eintrag unter der Initiale J., sosehr Anja auch danach suchte. Allerdings fand sie die Nummer von Nadines Zahnarzt und bat ihn darum, ihr ein Zahnschema seiner Patientin zu schicken. Er willigte erst ein, nachdem Anja versprochen hatte, jemanden vorbeizuschicken, der das Zahnschema abholte und sich als Polizist auswies. Nach dem Gespräch mit dem Zahnarzt sorgte Anja dafür, dass eine Streifenwagenbesatzung das Zahnschema abholte und in ihre Dienststelle brachte. Sie setzte sich sogar mit den Absendern der Briefe in Verbindung. Doch auch das führte zu nichts. Sie konnte nur hoffen, dass die anderen Fahndungsmaßnahmen, die sie in die Wege geleitet hatte, erfolgreicher waren.
Aber auch diese Hoffnung erfüllte sich nicht.
Selbst als nach dem Scheitern aller anderen Maßnahmen in der Öffentlichkeit nach Nadine gesucht wurde, meldete sich niemand, der sie gesehen hatte. Sie blieb verschwunden, ohne eine einzige Spur hinterlassen zu haben, der Anja folgen konnte, um sie zu finden.
Und nachdem sie sämtliche Fahndungsmaßnahmen ergriffen oder eingeleitet hatte, diese aber allesamt erfolglos geblieben waren, kam schließlich der Zeitpunkt, an dem Anja überhaupt nichts mehr tun konnte. Sie war allen Anhaltspunkten nachgegangen und hatte alles überprüft, was man überprüfen konnte. Der Fall war praktisch ausermittelt. Außerdem gab es ständig neue Fälle, die auf ihrem Schreibtisch landeten und ihre Aufmerksamkeit erforderten.
Und so wanderte die Akte auf den Stapel mit den Altfällen. Dort ruhte er, bis es irgendwann eine neue Spur oder einen neuen Hinweis gab, denen man nachgehen konnte. Oder bis eine Leiche auftauchte, die Nadine Weinharts Personenbeschreibung entsprach.
Und genau das geschah dann auch.