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PROLOG

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Ungefähr auf halber Strecke fing es schließlich an, heftig zu regnen.

»Muss das denn jetzt auch noch sein?«, fragte Zoe Bergmann. Sie verdrehte die Augen, seufzte genervt und schaltete den Scheibenwischer an.

Sie bekam allerdings keine Antwort, da sie allein im Wagen saß.

Zoe war achtzehn Jahre alt, mittelgroß, schlank und zierlich. Sie hatte lange rotblonde Haare und grüne Augen. Ursprünglich stammte sie aus Nürnberg, lebte aber seit acht Monaten in einer Studenten-WG in München, wo sie im zweiten Semester Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität studierte. Da ihre Mutter Ulrike am gestrigen Samstag ihren fünfundvierzigsten Geburtstag gefeiert hatte, hatte sie das Wochenende in ihrem Elternhaus im Nürnberger Stadtteil Gebersdorf verbracht.

Eigentlich hatte sie heute schon viel früher zurück nach München fahren wollen, denn sie mochte es nicht, wenn sie in der Dunkelheit mit dem Auto längere Strecken fahren musste. Doch dann war am späten Nachmittag überraschend ihre beste Freundin Patricia vorbeigekommen, die in Nürnberg Jura studierte und die sie vor drei Monaten zum letzten Mal gesehen hatte. Da die Freundinnen sich viel zu erzählen und dabei nicht auf die Zeit geachtet hatten, war es bereits dunkel geworden, als Zoe endlich losgekommen war.

Zum Glück kannte Zoe die Strecke; sie war sie schon ein paar Mal gefahren, seit sie von zu Hause ausgezogen war. Es wäre natürlich viel einfacher gewesen, wenn sie die Autobahn genommen hätte. Das wäre nicht nur viel schneller gegangen, sie hätte sich auch nicht so intensiv auf die Strecke konzentrieren müssen. Doch da sie eine stark ausgeprägte Autobahn-Phobie hatte, musste sie den umständlicheren und zeitaufwendigeren Weg über die Bundesstraße 13 nehmen.

Und als hätte sich an diesem Tag alles gegen sie verschworen, um ihr das Leben schwerzumachen, hatte es jetzt auch noch zu regnen begonnen. Und der Regen wurde mit jeder verstreichenden Minute stärker.

Na prima!

Sie stellte den Scheibenwischer auf eine höhere Stufe und machte das Radio aus. Die leise Musik und das gelegentliche Gequatsche des Moderators, auf die sie ohnehin kaum noch geachtet hatte, gingen ihr auf die Nerven und störten sie in ihrer Konzentration. Es war auch so schon schwer genug. Die Regentropfen, die mittlerweile so zahlreich und dicht fielen, dass sie wie ein fein gewebter Vorhang wirkten, und die Dunkelheit erschwerten die Sicht. Außerdem wurde das Scheinwerferlicht der Fahrzeuge, denen sie begegnete, von der regennassen Straße reflektiert und blendete sie. Allerdings war nur wenig Verkehr. Wer heute Abend nicht unbedingt irgendwohin musste, blieb bei diesen Witterungsverhältnissen lieber zu Hause.

Zoe umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen so fest, dass ihre Fingerknöchel schon ganz durchscheinend waren. Sie saß aufrechter als sonst hinter dem Steuer und spürte bereits erste Verspannungen in der Schulter-, Nacken- und Rückenmuskulatur. Sie überlegte, ob sie bei nächster Gelegenheit rechts ranfahren und anhalten sollte, um das Ende des Regens abzuwarten. Doch da sie nicht wusste, wie lange es regnen würde, ließ sie es vorerst bleiben. Sie wollte diese Albtraumfahrt eigentlich so schnell wie möglich hinter sich bringen und endlich nach Hause. Zoe schwor sich daher, nächstes Mal besser auf die Zeit zu achten, damit sie rechtzeitig losfahren konnte.

Allerdings hatte sie noch einen weiteren Grund, sich zu beeilen. Sonntags war in ihrer WG traditionsgemäß immer Filmabend. Das bedeutete, dass eins der drei Mädels, die sich die Wohnung teilten, einen Film aussuchte und sie ihn dann alle gemeinsam bei Popcorn und Cola ansahen. Nachdem ihre Mitbewohnerin Antonia vor ein paar Wochen einen absolut trashigen Film angeschleppt hatte, versuchten sich die drei jungen Frauen seitdem darin zu übertreffen, den schwachsinnigsten Film überhaupt zu finden. Heute war erneut Antonia an der Reihe, und Zoe war schon gespannt, welches »Meisterwerk der Filmkunst« sie diesmal ausgewählt hatte. Doch um das zu erfahren, musste sie erst einmal zu Hause ankommen.

Unmittelbar bevor sie losgefahren war, hatte Zoe in der WG angerufen. Katharina, ihre andere Mitbewohnerin, war an den Apparat gegangen.

»Wo bist du gerade?«, fragte Kati, die natürlich wusste, dass Zoe ungern im Dunkeln mit dem Auto fuhr, und daher annahm, sie würde bald kommen.

»Du wirst es nicht glauben, aber ich bin noch gar nicht losgefahren.«

»Was? Wieso denn nicht.«

Zoe seufzte tief. »Das erzähle ich Antonia und dir, wenn ich da bin. Ich wollte eigentlich nur Bescheid sagen, dass ich später komme. Ihr müsst mit dem Film also nicht unbedingt auf mich warten.«

»Natürlich warten wir auf dich, keine Frage«, erwiderte Katharina empört. »Ohne dich macht es doch ein Drittel weniger Spaß.«

Zoe lachte. »Hast du das ausgerechnet? Da spricht wohl die angehende Lehrerin für Mathematik und Physik. Aber ich meine es ernst. Ihr könnt ruhig ohne mich anfangen. Bei dem miesen Film, den Antonia vermutlich wieder ausgesucht hat, macht es ohnehin nichts aus, wenn man die erste halbe oder dreiviertel Stunde verpasst.«

»Das stimmt. Trotzdem fangen wir nicht ohne dich an, denn du sollst genauso leiden wie ich. Außerdem kommt Antonia auch später.«

»Wieso? Hat sie sich etwa in den zwei Tagen, in denen ich nicht da war, schon wieder einen neuen Freund geangelt?« Im Gegensatz zu ihren Mitbewohnerinnen verliebte sich Antonia alle naselang aufs Neue, entliebte sich allerdings auch ebenso schnell wieder, wenn der erste Rausch nach ein paar Tagen abgeklungen war.

»Nein. Aber sie hat sich spontan mit ein paar Kommilitonen getroffen und meinte, dass es ein bisschen später werden könnte. Du kannst dir also ruhig Zeit lassen und musst dich nicht abhetzen. Fahr lieber langsam und vorsichtig. Den Filmabend können wir notfalls auch verschieben. Wichtiger ist, dass du gesund und wohlbehalten hier ankommst.«

»Bei deiner Sorge um mein Wohlbefinden wird mir ja ganz warm ums Herz, Kati.«

»Wieso Sorge um dein Wohlbefinden? Ich denke rein pragmatisch. Allein können Antonia und ich uns die Miete für die Wohnung nicht leisten. Und wer weiß, wie schnell wir einen Ersatz für dich finden, der noch dazu miserable Filme mag.«

»Wer sagt, dass ich miserable Filme mag? Ich seh sie mir nur an, um euch einen Gefallen zu tun. Aber jetzt sollte ich endlich losfahren, sonst wird es noch später.«

»Und fahr bloß vorsichtig. Es soll später noch regnen.«

»Bloß nicht!«, sagte Zoe und stöhnte. »Das würde mir zu meinem Glück noch fehlen.«

»Vielleicht bleibt es ja ausgerechnet dort, wo du fährst, trocken.«

»Drück mir die Daumen.«

»Mach ich. Bis später dann.«

Zoe hatte sich verabschiedet und das Gespräch beendet. Dann war sie endlich losgefahren.

Jetzt musste sie natürlich wieder an Katis Worte denken, während sie durch den immer heftiger werdenden Regen fuhr. Sie hatte ihre Geschwindigkeit bereits beträchtlich reduziert, um sie den Wetter- und Straßenverhältnissen anzupassen; dennoch fühlte sie sich unsicher.

Vielleicht ist es doch besser, ich fahre rechts ran und warte, bis der Regen aufhört oder wenigstens schwächer wird.

Allmählich fand sie immer größeren Gefallen an dieser Idee. Deshalb hielt sie Ausschau nach einer Möglichkeit, bei der sie die Straße verlassen und irgendwo parken konnte.

Sie überlegte, ob sie ein Stoßgebet gen Himmel schicken sollte, damit der Regen endlich aufhörte. Aber derartige Hilferufe an den sogenannten lieben Gott hatten schon vor Jahren nicht funktioniert, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Damals hatte sie viel und nahezu bei jeder Gelegenheit gebetet. Ihre Mutter hatte ihr immer und immer wieder gesagt, sie sollte sich an Gott wenden, wenn sie ein Problem hatte. Und das hatte sie auch ausgiebig getan; auch wenn ihre Mutter vermutlich nicht damit einverstanden gewesen wäre, dass Zoe Gott ständig um ganz banale Dinge bat. Beispielsweise dass sie endlich einen Hund oder einen kleinen Bruder bekam. Ihre inständigen Bittgebete waren allerdings kein einziges Mal erhört worden. Zuletzt hatte Zoe als vierzehnjähriger Teenager eine halbe Nacht lang zu Gott gebetet, nachdem ihre Großmutter väterlicherseits nach einem Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Sie hatte ihn heulend angefleht, die alte Frau, an der sie sehr hing, unbedingt am Leben zu lassen. Außerdem hatte sie geschworen, dass sie sich nie, nie mehr an ihn wenden würde, sollte er ihr diesen Herzenswunsch ebenfalls nicht erfüllen. Oma Brigitte starb in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages; und Zoe hatte von einem Tag auf den anderen aufgehört, an Gott zu glauben und zu ihm zu beten.

Ihre Mutter, die ausgesprochen religiös war und mit ihrem Mann regelmäßig in die Kirche ging, wusste nicht, dass ihr einziges Kind längst vom Glauben abgefallen war. Bislang hatte Zoe nicht den Mut gehabt, es ihr zu sagen, denn dann, so befürchtete sie, würde für die Frau vermutlich eine Welt zusammenbrechen. Deshalb hatte Zoe mit ihren Eltern am heutigen Vormittag auch den Gottesdienst besucht und so getan, als würde ihr das Ganze noch etwas bedeuten. Und wenn sie ihre Mutter damit glücklich machen konnte, waren gelegentliche Kirchgänge ein geringer Preis.

Jetzt wünschte sich Zoe beinahe, sie könnte noch immer an einen gütigen und barmherzigen Gott glauben, der sie aus dieser schwierigen Situation errettete, indem er Petrus auf dem kurzen Dienstweg anwies, sofort die Himmelsschleusen zu schließen. Ein entsprechendes Bittgebet wäre zwar, wie sie aus bitterer Erfahrung wusste, nicht erfüllt worden, aber das Beten allein hatte ihr als Kind stets Trost gespendet. Doch sie hatte nach dem Tod ihrer Großmutter geschworen, es nie wieder zu tun, und bislang hatte sie in ihrem ganzen Leben noch keinen einzigen Schwur gebrochen. Also würde sie nicht ausgerechnet heute damit anfangen, obwohl sie sich hinter dem Steuer des Wagens immer unsicherer und unbehaglicher fühlte.

Schon seit einiger Zeit war ihr kein Fahrzeug mehr entgegengekommen. Und auch vor oder hinter ihr fuhr kein Wagen. Es hatte ganz den Anschein, als wäre sie mutterseelenallein auf weiter Flur. Und noch immer hatte sich keine Möglichkeit ergeben, in eine Nothaltebucht oder auf einen Rastplatz zu fahren.

Doch dann schien der Regen plötzlich nachzulassen, und Zoe atmete erleichtert auf. Vielleicht hörte der Schauer bald auf und es war gar nicht notwendig, dass sie anhielt.

Ihr Smartphone, das in der Mittelkonsole des Wagens lag, pfiff und signalisierte ihr damit, dass sie eine WhatsApp-Nachricht erhalten hatte. Wenn es noch immer so heftig wie vor wenigen Augenblicken geregnet hätte, hätte Zoe es nicht gewagt, das Telefon in die Hand zu nehmen. Doch jetzt fühlte sie sich wieder sicherer und eher als Beherrscherin der Situation. Deshalb nahm sie die rechte Hand vom Lenkrad und griff nach dem Handy.

Sie vermutete, dass die Nachricht von einer ihrer Mitbewohnerinnen stammte. Und tatsächlich: Antonia teilte ihr und Kati mit, dass sie in etwa einer Stunde nach Hause kommen würde.

Das passt zeitlich, dachte Zoe. Sie schätzte, dass sie, wenn der Regen noch mehr nachließ oder sogar ganz aufhörte, in eineinviertel bis anderthalb Stunden in der Studenten-WG ankommen würde. Zufrieden lächelnd legte sie das Smartphone zurück und hob den Kopf, um wieder durch die Windschutzscheibe auf die Straße zu blicken.

Es war der Moment, an dem ihr Herz zu schlagen aufhörte und sie daran erinnerte, dass sie sterblich war.

Was zum Teufel …?, dachte sie und glaubte, ihren Augen nicht trauen zu können. Denn etwa hundert Meter vor dem Wagen stand jemand mitten auf der Straße.

Die folgenden Sekunden dehnten sich in Zoes Wahrnehmung wie ein ausgelutschter, zäher Kaugummi zu einer halben Ewigkeit. Sie glaubte, ihr Herz hätte ihr den Dienst aufgekündigt und würde überhaupt nicht mehr zu schlagen anfangen. Außerdem war sie vor Schreck wie gelähmt und konnte nichts anderes tun, als die Gestalt anzustarren, die im Scheinwerferlicht stand, scheinbar völlig furchtlos dem heransausenden Wagen entgegenblickte und nicht die geringsten Anstalten machte, zur Seite zu gehen und sich in Sicherheit zu bringen.

In der gefühlten halben Ewigkeit, die verstrich, nahm sie zahlreiche Eindrücke von ihm auf, als sähe sie ihn wie durch eine riesige Lupe genauer und detaillierter als seine Umgebung, die von der Dunkelheit und dem Regen vor ihren Blicken verborgen wurde.

Bei der Person handelte es sich unzweifelhaft um einen Mann. Er schien riesig zu sein, nach Zoes Schätzung mindestens zwei Meter groß, und war breitschultrig und massig gebaut. Von seinem Gesicht war nicht viel zu erkennen, denn er trug einen schwarzen Hut mit einem roten Hutband, der ihm viel zu klein war und den er sich zum Schutz vor dem Regen tief in die Stirn gezogen hatte. Außerdem hatte er einen dunklen Vollbart, der die untere Hälfte seines Gesichts verbarg.

Der Mann erinnerte Zoe unwillkürlich an den Räuber Hotzenplotz, vor dem sie sich als Kind gefürchtet hatte. Ihre Mutter hatte ihr damals das Buch vorlesen wollen. Doch nachdem sie der sechsjährigen Zoe das Titelbild gezeigt hatte, hatte sich diese geweigert, auch nur ein einziges Wort anzuhören. Sie hatte die Augen fest zugemacht, sich die Zeigefinger in die Ohren gesteckt und ganz laut »Fuchs, du hast die Gans gestohlen« gesungen. Erst nachdem ihre Mutter das Buch aus dem Haus gebracht und in die Mülltonne geworfen hatte, hatte sich Klein-Zoe wieder beruhigt.

Im Hier und Jetzt passte allerdings die Kleidung des Mannes nicht zum Bild des von ihr damals so gefürchteten Räubers, denn er trug etwas, das wie ein zu groß geratener weißer Kinderschlafanzug mit buntem Aufdruck aussah, und war trotz des herrschenden Sauwetters barfuß.

Welcher Anstalt ist der denn entsprungen?

In der unglaublich kurzen Zeitspanne von drei Sekunden, die Zoe allein dafür benötigte, um all das wahrzunehmen und die Lähmung zu überwinden, die sie beim Anblick des Mannes erfasst hatte, überwand ihr Wagen bereits die Hälfte der Distanz zwischen ihnen. Zum Glück hatte sie die Geschwindigkeit zuvor schon auf 60 km/h reduziert gehabt, sonst wäre sie ihm inzwischen schon viel näher und hätte vermutlich keine Zeit mehr gehabt, rechtzeitig zu reagieren und auszuweichen.

Im gleichen Augenblick, als ihr Herz wieder zu schlagen anfing, was sie nur beiläufig, aber dennoch mit großer Erleichterung zur Kenntnis nahm, kam auch in den Rest ihres Körpers wieder Leben. Ohne lange darüber nachzudenken, was sie tun sollte, denn das hätte erneut wertvolle Zeit gekostet, die sie nicht hatte, tat sie drei Dinge gleichzeitig, um die sich anbahnende Katastrophe im letzten Moment noch abzuwenden. Erstens: Sie riss das Lenkrad nach rechts. Zweitens: Sie trat das Bremspedal durch, bis sie auf Widerstand traf. Drittens: Sie schickte trotz ihres Schwurs vor vier Jahren per Expresszustellung ein Stoßgebet gen Himmel, auf dass der Gott, an den sie sich damals zu glauben geweigert hatte, es bitte, bitte, bitte verhindern möge, dass sie diesen selbstmörderisch veranlagten Mann mit seinem dämlichen Hut über den Haufen fuhr.

Doch das Fahrzeug reagierte nicht so, wie sie es sich erhofft und ausgemalt hatte. Durch den heftigen Regen war die Fahrbahn überspült worden und mittlerweile fast so glatt wie eine Seifenbahn. Dadurch geriet das Auto sofort ins Schleudern und kreiselte um die eigene Achse. Zoe wurde schon nach der ersten Drehung schwindelig. Sie versuchte, den Wagen zu stabilisieren, doch er reagierte überhaupt nicht mehr auf ihre Lenkbewegungen. Dann erhaschte sie einen kurzen Blick auf den Mann, der sich allem Anschein nach keinen einzigen Millimeter von der Stelle bewegt hatte, als ihr Auto ihn knapp verfehlte und an ihm vorbei kreiselte.

Danke, lieber Gott!, dachte sie, als zum ersten Mal in ihrem Leben ein Gebet tatsächlich erhört wurde. Doch dann musste sie sich wieder auf das unkontrollierbare Fahrzeug konzentrieren. Sie spürte, wie es von der Straße abkam. Sobald die Vorderreifen den Asphalt verließen, hörte die Schleuderbewegung abrupt auf. Dennoch rutschte das Fahrzeug noch immer zu schnell über den leicht abschüssigen, unebenen Untergrund. Es brach durch mehrere Büsche, ohne dadurch allerdings merklich langsamer zu werden. Dann sah Zoe im Scheinwerferlicht einen Baumstamm vor dem Auto auftauchen. Sie wollte das Lenkrad herumreißen, um ihm auszuweichen, doch es war zu spät. Es krachte, splitterte und klirrte ohrenbetäubend laut, als die linke Frontseite des Wagens mit dem Baum kollidierte, und das Fahrzeug kam sofort ruckartig zum Stillstand.

Den Bruchteil eines Augenblicks später gab es einen ohrenbetäubend lauten Knall, als die Airbags ausgelöst wurden. Unter ihnen auch der Frontairbag im Lenkrad, der sich in wenigen Millisekunden komplett entfaltete und aufblies und Zoes Körper, der durch den Aufprall nach vorn geschleudert worden war, zusammen mit dem Sicherheitsgurt stoppte.

Zoe stöhnte laut, als sich der Gurt schmerzhaft in ihren Oberkörper grub und sie mit dem Gesicht gegen den prallen Airbag stieß. Doch der entleerte sich augenblicklich wieder, sobald er seine Aufgabe erfüllt hatte, und wurde schlaff.

Nach all dem Lärm empfand Zoe die Stille, die nun folgte, zunächst als vollkommen. Doch dann konnte sie das Prasseln des Regens auf dem Dach und das Ticken des rasch abkühlenden Metalls hören.

Sie stöhnte erneut, als sie, noch immer halb benommen, den Kopf hob. Ihr Brustkorb und ihr Gesicht taten weh; doch es war nicht sehr schlimm. Und ansonsten schien ihr nichts zu fehlen. Es sah also ganz danach aus, als hätte sie großes Glück gehabt und den Unfall dank Sicherheitsgurt und Airbag halbwegs unverletzt überstanden. Es hätte aber auch leicht anders ausgehen können.

Und das alles nur, weil dieser Idiot mitten auf der Straße stand!

Jäh wurde sich Zoe wieder des merkwürdigen Mannes bewusst, der den verhängnisvollen Geschehensablauf der letzten Minute erst ausgelöst hatte, indem er sich mitten auf die Fahrbahn gestellt hatte. Die alte, längst vergessen geglaubte Furcht vor dem Räuber aus einem Kinderbuch, dessen schlimmstes Vergehen es gewesen war, der Großmutter des Kasperls eine Kaffeemühle zu rauben, wurde erneut in ihr wach.

Obwohl sie den Unfall nahezu unbeschadet überstanden hatte, fühlte sie sich noch immer in Gefahr. Gleichzeitig hatte sie plötzlich das überwältigende Gefühl, beobachtet zu werden.

Zoe wandte den Kopf, um aus dem Seitenfenster zu schauen und blickte direkt in das Gesicht des Mannes, an den sie soeben gedacht hatte. Er stand gebückt neben dem Wagen, presste seine knollenartige Nase und beide Hände gegen die Scheibe und grinste wie ein debiler Irrer. Erst jetzt, aus unmittelbarer Nähe, sah Zoe, was die Hutkrempe, die Dunkelheit und der Regen bislang gnädigerweise vor ihr verborgen hatten. Und was sie sah, glich eher einem Albtraum als einem menschlichen Gesicht.

Sie schrie gellend und wünschte sich, ihr Stoßgebet von vorhin wäre wie all die anderen ebenfalls nicht in Erfüllung gegangen und sie hätte den Mann überfahren.

Das hast du jetzt davon, du dumme Kuh!

Der Mann verzog bei Zoes Schrei das verunstaltete Gesicht zu einer Grimasse, einer Mischung aus Schmerz und Wut, und knurrte dabei laut. Dann trat er einen Schritt zurück, riss die Tür auf und schlug Zoe kurzerhand mit der rechten Faust gegen die linke Schläfe.

Zoe verlor zwar nicht das Bewusstsein, verstummte aber dennoch. Sie war benommen. Ihr Kopf pendelte haltlos auf ihrem Hals hin und her, und sie stöhnte leise. Sie sah nur noch verschwommen und nahm jedes Geräusch gedämpft wahr.

Der Hüne beugte sich in den Wagen und löste Zoes Gurt. Anschließend hob er sie ohne Mühe vom Fahrersitz. Als er sie aus dem Fahrzeug holte, fiel ihr Kopf nach hinten und kollidierte mit einem Gegenstand, der sich wesentlich härter als ihr Schädel anfühlte.

Zoe spürte einen intensiven Schmerz und war überzeugt, dass ihr soeben die Schädeldecke gespalten worden war. Doch sie hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken oder auch nur Bedauern darüber zu empfinden, denn schon im nächsten Augenblick versanken der Angreifer, das Auto und alles andere um sie herum in tiefster Finsternis, die am Ende wie ein unersättliches Ungeheuer auch noch sie selbst verschluckte.

TODESSPIEL

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