Читать книгу TODESSPIEL - Eberhard Weidner - Страница 4

1

Оглавление

Auf die weiß lackierte Wohnungstür hatte jemand, der künstlerisch nur mittelmäßig begabt war, mit sämtlichen Farben, die ein gewöhnlicher Farbkasten hergab, die Vornamen der drei Bewohnerinnen gepinselt: Antonia, Katharina und Zoe. Auf dem Klingelschild neben der Tür standen hingegen die dazugehörigen Nachnamen: Bergmann, Richter und Wallner. Es sah aus wie der Name einer renommierten Anwaltskanzlei; in Wahrheit handelte es sich um drei Studentinnen. Aus der Akte der vermissten jungen Frau wusste sie, welcher Vorname zu welchem Nachnamen gehörte und setzte sie wie ein Puzzle zusammen: Zoe Bergmann, Antonia Wallner und Katharina Richter.

Sie drückte auf die Klingel und wartete. Rasche Schritte näherten sich der Tür und verstummten unmittelbar dahinter; dann wurde sie geöffnet.

»Hallo, ich bin Anja Spangenberg. Wir haben miteinander telefoniert.«

Die junge Frau, die der Kriminalhauptkommissarin von der Vermisstenstelle der Kripo München die Tür geöffnet hatte, war etwas mollig und geradezu winzig. Anja schätzte ihre Größe auf höchstens eins zweiundfünfzig und überragte sie damit um ganze zwanzig Zentimeter. Sie konnte nicht älter als achtzehn Jahre sein, hatte kurz geschnittenes, dunkelblondes Haar und strahlend blaue Augen. Neben einer schlabbrigen grauen Jogginghose, die ihr ein paar Nummern zu groß war, trug sie ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift »Ich bin nicht klein, ich bin nur auf das Beste reduziert«. Sie hatte ein Tattoo am rechten Oberarm, von dem Anja allerdings nur einen Teil sah, und ein Piercing im linken Nasenloch.

Die junge Frau kniff die Augen zusammen und beugte sich nach vorn, als sie gewissenhaft den Dienstausweis studierte, den Anja ihr entgegenhielt. Vielleicht benötigte sie eine Brille, war aber zu eitel, eine zu tragen. Sie schien zufrieden mit dem zu sein, was sie auf dem Ausweis gesehen hatte, denn schließlich nickte sie und erwiderte Anjas Blick. Dann streckte sie dieser ihre kleine, zierliche Hand entgegen und sagte mit einem Lächeln: »Wir haben sie bereits erwartet. Mein Name ist Antonia Wallner. Es war meine Mitbewohnerin Kati, mit der sie am Telefon geredet haben.« Sie sprach mit niederbayerischem Dialekt und hatte eine hohe Stimme, die einem vermutlich auf die Nerven ging, wenn man ihr länger zuhören musste.

Aus der Vermisstenakte, die sie sich unter den linken Arm geklemmt hatte, kannte Anja zwar die Namen der beiden Frauen, mit denen Zoe Bergmann, die seit vorgestern vermisst wurde, in dieser Studenten-WG in der Balanstraße im Münchener Stadtteil Haidhausen zusammenlebte. Ansonsten wusste sie jedoch nicht viel über die Studentinnen.

Nachdem sie einen kurzen Händedruck ausgetauscht hatten, trat Antonia zur Seite und gab den Weg frei. »Kommen Sie schnell rein«, sagte sie und warf an Anja vorbei einen Blick auf die Eingangstür der gegenüberliegenden Wohnung. »Herr Lamprecht von gegenüber klebt bestimmt schon wieder an seiner Wohnungstür, ein Auge am Spion und ein Ohr gegen die Tür gepresst. Anatomisch ist das zwar unmöglich, der Mann schafft es aber trotzdem irgendwie. Er ist Rentner, hat viel zu viel Zeit und ist darüber hinaus furchtbar neugierig. Außerdem verdächtigt er uns, wir würden hier ein illegales Bordell betreiben und Unmengen von Drogen konsumieren. Wenn er mitkriegt, dass Sie von der Polizei sind, fühlt er sich in seinen Vermutungen nur bestätigt und schreibt mal wieder einen seitenlangen Brief an die Hausverwaltung, die Polizei und den Bundespräsidenten.«

Anja trat mit einem Lächeln ein und steckte ihren Dienstausweis in die Innentasche ihrer Lederjacke.

Antonia streckte dem möglichen unsichtbaren Beobachter hinter der Tür zur Nachbarwohnung die Zunge heraus, kicherte ausgelassen und schloss die Tür.

»Folgen Sie mir«, sagte sie dann und eilte so schnell davon, dass die Polizistin Mühe hatte, ihr zu folgen. Die junge Frau erinnerte Anja nicht nur wegen ihrer Größe an ein Kind, sondern auch aufgrund ihrer kindlichen Art und ihrer Lebhaftigkeit.

»Die Polizistin ist da, Kati«, sagte Antonia, als sie an mehreren geschlossenen Türen vorbeigekommen waren und das Wohnzimmer betraten.

Eine zweite junge Frau, die auf einem Ecksofa gesessen hatte, stand bei Anjas Eintreten auf und sah ihr gleichermaßen erwartungsvoll wie sichtlich nervös entgegen. Sie wirkte wesentlich älter als ihre kleine quirlige Mitbewohnerin, obwohl die beiden Studentinnen im gleichen Alter sein mussten. Auch sonst war sie das genaue Gegenteil von Antonia, denn sie war mindestens fünf Zentimeter größer als Anja und hatte eine schlanke, sportliche Figur. Ihr lockiges Haar, das bis über ihre Schultern fiel, war dunkelbraun, und die Farbe ihrer Augen bestand vorwiegend aus einem hellen Braun. Sie trug eine Brille mit blau-silbernem Rahmen und großen Gläsern, dunkelblaue Jeans und eine weiße Hemdbluse.

Als Anja näher kam, sah sie, dass die Augen der jungen Frau gerötet waren. Allem Anschein nach hatte sie erst vor Kurzem geweint. Antonia hingegen schien sich entschieden weniger große Sorgen um ihre verschwundene Mitbewohnerin zu machen, denn sie wirkte eher unbekümmert.

»Wir haben heute früh miteinander telefoniert«, sagte die zweite Studentin, als sie sich kurz die Hände schüttelten. »Ich bin Katharina Richter. Aber nennen Sie mich ruhig Kati, das tun alle.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Anja. »Schön, dass Sie beide die Zeit gefunden habe, mich zu empfangen und meine Fragen zu beantworten.«

»Das ist doch selbstverständlich«, erwiderte Kati. »Wir machen uns nämlich große Sorgen um Zoe und wollen, dass sie so schnell wie möglich gefunden wird.«

»Du machst dir große Sorgen um Zoe«, schränkte Antonia ein, die sich mit untergeschlagenen Beinen auf die Eckcouch gesetzt hatte. »Ich hingegen denke, dass sie schon bald wieder auftaucht und wir uns keine allzu großen Sorgen um sie machen müssen.«

»Was glauben Sie denn, warum Zoe vorgestern Nacht nicht nach Hause gekommen ist und wo sie steckt, Antonia?«, fragte Anja.

Die Angesprochene zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt habe ich keinen blassen Schimmer. Aber ich glaube nicht, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen ist. Dafür ist Zoe viel zu vorsichtig.«

»Im Gegensatz zu dir!«, versetzte Kati, die noch immer stand und die Arme vor der Brust verschränkt hatte.

»Was willst du denn damit sagen?«

»Dass du ständig unvorsichtig bist. Es ist ein Wunder, dass du noch nicht spurlos verschwunden bist.«

»Pfft«, machte Antonia abfällig und schüttelte den Kopf. »Auch wenn es für Zoe und dich vielleicht nicht so aussieht, bin ich für meine Verhältnisse sehr wohl vorsichtig.«

»Ach ja?«, fragte Kati. »Und wieso gehst du dann ständig mit fremden Männern mit oder schleppst sie hierher.«

»Das sind keine fremden Männer«, widersprach Antonia. »Immerhin weiß ich ihre Vornamen, weil ich sie alle immer kurz vorher kennengelernt habe.«

»Für mich ist das fremd!«

»Kein Wunder. Für dich sind doch alle Männer Fremde.«

Kati schnappte empört nach Luft und riss Mund und Augen auf.

Anja beschloss, einzuschreiten, bevor der Streit eskalierte. Sie war nicht hier, um Zeuge einer verbalen Auseinandersetzung der beiden jungen Frauen zu werden. Sie konnten sich gerne weiter zanken, wenn sie wieder weg war. Aber so verschwendeten sie nur ihre Zeit.

»Beruhigen Sie sich gefälligst, und zwar alle beide«, sagte sie und schenkte sowohl der einen als auch der anderen einen strengen Blick. »Wir sollten uns stattdessen über Zoe unterhalten.«

Kati nickte. »Entschuldigen Sie. Sie haben vollkommen recht.« Sie wies auf den einzigen Sessel. »Nehmen Sie doch bitte Platz. Wollen Sie etwas trinken? Viel Auswahl haben wir zwar nicht, weil wir noch nicht beim Einkaufen waren, aber ich kann Ihnen Pfefferminztee, Kaffee und Leitungswasser anbieten.«

»Nein danke«, lehnte Anja das Angebot ab und setzte sich. Sie legte die Vermisstenakte auf den Tisch, klappte ihr Notizbuch auf und nahm den Kugelschreiber, der in einer Lasche steckte. »Erzählen Sie mir doch einfach, was am Sonntag passiert ist«, kam sie sofort zur Sache.

Die beiden jungen Frauen sahen sich an, als wüssten sie nicht, welche von ihnen den Anfang machen und wo diejenige beginnen sollte. Der Streit von eben war scheinbar wieder vergessen. Wahrscheinlich kam das Thema öfter auf den Tisch, sodass es kein großer Aufreger mehr war.

»Am besten fängst du an, Kati!«, sagte Antonia. »Du warst zu Hause, als Zoe angerufen hat.«

Kati nickte. »Das stimmt.«

»Wann war das?«, fragte Anja.

»Es wurde schon dunkel, als sie anrief.« Kati überlegte kurz. »Ich würde sagen, das muss ungefähr um halb acht gewesen sein. Plus minus zehn Minuten.«

Anja notierte sich die Uhrzeit. »Worum ging es bei dem Gespräch?«

»Zuerst dachte ich, Zoe wollte nur Bescheid geben, dass sie bald da sei. Schließlich wissen alle, dass sie ungern mit dem Auto unterwegs ist, wenn es dunkel ist. Aber als ich fragte, wo sie sei, sagte sie, sie sei noch gar nicht losgefahren.«

»Warum nicht?«

»Ich weiß es nicht.« Kati zuckte mit den Schultern. »Sie wollte es uns später erzählen. Zoe meinte bloß, wir müssten nicht auf sie warten.«

»Womit? Hatten Sie an dem Tag noch etwas vor?«

»Sonntags ist immer unser gemeinsamer Filmabend«, antwortete Antonia, die nicht lange stillsitzen konnte und ständig auf dem Sofa herumzappelte und eine neue Sitzposition suchte, was Anja ein bisschen irritierte. »Das heißt, dass eine von uns dreien einen Film aussucht, den wir uns dann ganz klassisch mit viel Popcorn und Cola angucken. Und egal, wie grässlich der Film ist, jede muss ihn vom Anfang bis zum Ende ansehen.«

»In letzter Zeit versucht jede von uns, die anderen zu übertreffen, indem sie den miserabelsten Film aussucht«, sagte Kati. »Dreimal dürfen Sie raten, wer von uns damit angefangen hat.«

Anja wandte den Blick und sah Antonia an.

»Richtig!«, sagte Kati.

Antonia streckte ihrer Mitbewohnerin die Zunge heraus. »War doch eine supergute Idee, oder?«

Kati wiegte den Kopf hin und her. »Ich wollte ja eigentlich nichts sagen, um euch beiden den Spaß nicht zu verderben, aber meiner Meinung nach könnten wir ruhig auch mal wieder einen guten Film nehmen und nicht immer nur diesen anspruchslosen Mist.«

»Wenn du meinst«, sagte Antonia, schien aber alles andere als begeistert von dem Vorschlag zu sein und zog einen Schmollmund, der sie noch jünger wirken ließ.

»Lassen Sie uns auf Zoes Anruf zurückkommen«, meinte Anja. »Was erwiderten Sie auf ihren Vorschlag, nicht auf sie zu warten.«

»Ich sagte, dass wir auf keinen Fall ohne sie anfangen und Antonia ja auch später kommen würde.«

»Und wo waren Sie, Antonia?«

»Am Nachmittag rief mich Daniel – das ist ein Kommilitone – an und sagte, dass ein paar Studienkolleginnen und -kollegen zu ihm kommen. Er fragte, ob ich auch vorbeikommen wolle.«

»Was studieren Sie denn?«

»Medizin.«

»Können Sie sich Antonia als Ärztin vorstellen?«, fragte Kati. Ihr Tonfall und ihr skeptischer Gesichtsausdruck machten deutlich, dass zumindest sie mit dieser Vorstellung ihre Schwierigkeiten hatte. »Sie ist dann vermutlich die kleinste Ärztin der Welt.«

»Besser klein und auf das Beste reduziert als so ein langer Lulatsch wie du«, sagte Antonia, meinte es aber allem Anschein nach nicht böse, denn sie grinste dabei. »Und stell dir vor, ich würde wie du Gymnasiallehrerin für Mathe und Physik werden. Die meisten Schüler wären größer als ich und könnten mir auf den Kopf spucken. Dann schon lieber die kleinste Ärztin der Welt.«

Kati lachte. Anscheinend neckten sich die beiden Mitbewohnerinnen gern mit ihrer jeweiligen Körpergröße, die nur eins der auffälligsten Merkmale war, die sie voneinander unterschieden.

»Wann kamen Sie dann an Sonntag nach Hause?«, fragte Anja die Medizinstudentin.

»Ich glaube, das war um kurz nach zehn«, sagte Antonia und sah Kati hilfesuchend an.

Diese nickte. »Ja, das kommt ungefähr hin.«

»Ich dachte natürlich, Zoe wäre schon längst da«, sagte Antonia, »Aber das war sie nicht.«

»Um noch einmal auf das Telefonat zurückzukommen, Kati. Worüber sprachen Sie noch mit Zoe?«

Kati dachte ein paar Sekunden nach. »Ich sagte ihr, sie könne sich ruhig Zeit lassen und solle vorsichtig fahren. Sie fuhr nicht gern Auto, wenn es dunkel war. Aber das sagte ich ja schon. Außerdem hatte ich im Radio gehört, dass es noch regnen sollte. Das teilte ich Zoe mit. Sie war natürlich alles andere als begeistert und meinte, dass ihr das zu ihrem Glück noch fehlen würde.«

Antonia sagte: »Ich hab zwar im Gegensatz zu Zoe kein Problem damit, nachts Auto zu fahren. Aber wenn es dann auch noch wie aus Eimern schüttet, mag ich das auch nicht.«

»Wissen Sie zufällig, welche Strecke Zoe gefahren ist?«, fragte Anja. »Ich vermute mal, über die A 9, denn das ist die schnellste und kürzeste Verbindung zwischen Nürnberg und München.«

Beide Studentinnen schüttelten synchron die Köpfe.

»Zoe fuhr nicht nur nachts ungern«, sagte Antonia. »Sie hatte auch noch panische Angst vor Autobahnen. Wenn sie irgendwo mitfuhr, ging es gerade noch, obwohl sie auch da ständig Angst hatte. Aber sie selbst fuhr unter keinen Umständen auf der Autobahn.«

»Dann muss sie die Bundesstraße genommen haben«, sagte Anja, während sie sich Notizen machte. »Kennen Sie zufälligerweise die genaue Strecke.«

Kati schüttelte den Kopf. »Zoes Vater müsste darüber Bescheid wissen. Haben Sie schon mit den Eltern gesprochen?«

»Nein. Das steht allerdings als Nächstes auf dem Programm. Bei der Gelegenheit werde ich Zoes Vater nach der Strecke fragen. Zurück zu Ihrem Telefonat mit Zoe. Worüber haben Sie noch mit ihr gesprochen.«

Kati zuckte mit den Schultern. »Das war’s eigentlich schon, denn Zoe wollte endlich losfahren. Wir beendeten das Gespräch, und seitdem haben wir nichts mehr von ihr gehört.«

»Und danach hatten Sie beide keinerlei Kontakt mehr zu ihr?«

Kati nickte.

»Ich hab Zoe und Kati eine WhatsApp-Nachricht geschickt, um ihnen mitzuteilen, dass ich in einer Stunde nach Hause kommen würde«, sagte Antonia. »Aber Zoe hat nicht geantwortet.«

»Um welche Uhrzeit war das?«

»Um neun. Das weiß ich noch ganz genau. Später hab ich dann gesehen, dass Zoe die Nachricht gelesen hat.«

»Was haben Sie beide getan, nachdem Antonia nach Hause gekommen war?«

»Wir haben auf Zoe gewartet«, sagte Antonia nach einem Seitenblick auf ihre Mitbewohnerin.

»Aber sie kam nicht,« ergänzte Kati und bekam erneut feuchte Augen. »Und da begannen wir uns allmählich Sorgen zu machen.«

»Ich dachte, Sie machen sich keine Sorgen«, sagte Anja zu Antonia.

Die Angesprochene schüttelte den Kopf. »Ich sagte, dass ich mir keine allzu großen Sorgen um sie mache«, stellte sie richtig. »Aber ein bisschen schon. Vor allem am Sonntag. Schließlich hätte sie ja auch einen Unfall haben können.«

»Aber jetzt glauben Sie anscheinend nicht mehr daran, dass ein Unfall passiert ist.«

»In dem Fall hätte uns doch schon längst jemand informiert. Immerhin saß Zoe in ihrem Wagen, der auf sie zugelassen ist, und hatte wie immer ihre Papiere dabei.«

Anja nickte. Einen Verkehrsunfall hielt sie ebenfalls für ein eher unwahrscheinliches Szenario. Denn erstens hatte Antonia recht, dass in dem Fall die Angehörigen oder die Mitbewohnerinnen längst benachrichtigt worden wären. Und zweitens hatte sie, nachdem ihr der Vermisstenfall heute früh zugewiesen worden war, umgehend alle Unfallkliniken zwischen hier und Nürnberg kontaktiert. Doch eine Person, auf die Zoes Beschreibung passte, war nirgendwo eingeliefert worden.

Das teilte sie jetzt auch den beiden jungen Frauen mit.

»Ich habˈs ja gleich gesagt«, meinte Antonia und warf ihrer Mitbewohnerin einen triumphierenden Blick zu.

»Das beruhigt mich zwar ein bisschen«, sagte Kati. »Es stellt sich aber immer noch die Frage, was dann mit Zoe geschehen und warum sie noch immer nicht aufgetaucht ist.«

»Vielleicht hat sie einen rattenscharfen Anhalter aufgelesen und sich mit ihm ein Hotelzimmer genommen«, vermutete Antonia. »Dann hätte sie gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können. Erstens hätte sie nicht bei Dunkelheit und Regen weiterfahren müssen. Und zweitens hätte sie auch noch jede Menge Spaß gehabt.«

»Das glaubst du doch wohl selbst nicht.« Kati schüttelte ungläubig den Kopf. »Schließlich reden wir hier von Zoe. Wenn du verschwunden wärst, wäre das eine ganz andere Geschichte. Dann wäre so ein Szenario durchaus denkbar. Aber doch nicht Zoe!«

»Stimmt«, sagte Antonia. »So etwas würde die heilige Zoe nie im Leben tun.«

»Außerdem war das vorgestern Nacht«, gab Kati zu bedenken. »Selbst wenn sie irgendwo geparkt und im Auto geschlafen oder sich über Nacht irgendwo ein Zimmer genommen hätte, um nicht weiterfahren zu müssen, hätte sie spätestens gestern Vormittag heimkommen müssen. Deshalb muss ihr irgendetwas zugestoßen sein. Nur was?« Sie sah Anja an, als hätte diese als Ermittlerin der Vermisstenstelle eine Antwort auf ihre Frage.

Doch Anja konnte ihr keine Antwort geben, sondern allenfalls Vermutungen äußern. Doch noch wusste sie zu wenig über Zoe Bergmann und die Umstände ihres Verschwindens. Ihre Vermutungen wären daher nicht mehr als reine Spekulation. Deshalb gab sie der Studentin keine Antwort.

Antonia sah nun ebenfalls so aus, als würde sie sich langsam doch größere Sorgen um ihre Mitbewohnerin machen.

»Sie müssen Zoe finden!«, sagte sie ungewohnt ernsthaft.

»Genau das habe ich vor«, sagte Anja, »Aber um herauszufinden, was geschehen ist und wo Zoe steckt, muss ich alles erfahren, was Sie mir über Ihre Mitbewohnerin erzählen können.«

»Was wollen Sie noch wissen?«, fragte Kati.

»Sie sagten, dass Sie sich am Sonntag in der Nacht immer größere Sorgen um Zoe machten.«

Kati nickte. »Wir haben immer wieder versucht, sie auf ihrem Handy anzurufen, aber sie ging nicht ran.«

»Außerdem schickte ich ihr mehrere Nachrichten«, ergänzte Antonia. »Die wurden aber nicht einmal gelesen.«

»Als es Mitternacht war«, übernahm wieder Kati, »war ich schon ganz krank vor Sorge. Ich hatte es satt, einfach nur auf Zoe zu warten, und sagte, dass wir etwas unternehmen sollten. Antonia war da viel gelassener. Sie meinte, wegen des schlechten Wetters und der Dunkelheit werde es eben etwas länger dauern, bis Zoe nach Hause kommt.«

Antonia zuckte mit den Schultern. »Wie ich schon sagte: Wenn sie einen Verkehrsunfall gehabt hätte, hätte man uns bestimmt benachrichtigt.«

»Um ein Uhr nachts hielt ich es dann nicht länger aus. Ich sagte, dass ich Zoes Eltern anrufen wolle. Antonia riet mir allerdings davon ab. Vermutlich schliefen die Bergmanns schon, sagte sie. Ich würde sie aufwecken und wahrscheinlich völlig grundlos in Unruhe versetzen.«

»Ich ging noch immer davon aus, dass Zoe jeden Moment zur Tür hereinspaziert käme. Und sie würde bestimmt nicht wollen, dass wir ihre Eltern wegen nichts in Panik versetzen.«

»Sie kam aber nicht zur Tür hereinspaziert«, sagte Kati. »Und um halb zwei habe ich dann ihre Eltern angerufen. Sie schliefen tatsächlich schon. Doch nachdem ich ihnen mitgeteilt hatte, dass Zoe noch nicht zurückgekommen wäre, bedankte sich Herr Bergmann bei mir und sagte, sie seien froh, dass ich ihnen Bescheid gegeben hatte.«

»Wissen Sie, was Zoes Eltern daraufhin unternommen haben?«

Kati nickte. »Wir haben seitdem noch ein paar Mal miteinander telefoniert, deshalb weiß ich es. Frau Bergmann erzählte mir, dass sie noch in der Nacht die Polizei angerufen hätten. Doch dort sagte man ihnen, man könne momentan noch nichts tun. Schließlich sei Zoe volljährig und könne tun und lassen, was sie wolle. Doch wenn sie am Morgen noch immer nicht zu Hause angekommen wäre, sollten die Eltern eine Vermisstenanzeige aufgeben.«

»Am nächsten Morgen rief Frau Bergmann schon um sieben Uhr an«, berichtete Antonia. »Kati schlief noch, aber ich war schon wach, weil ich eine Vorlesung hatte. Frau Bergmann fragte, ob Zoe doch noch gekommen sei. Sie klang sehr hoffnungsvoll. Ich hatte nach dem Aufstehen sofort in Zoes Zimmer nachgesehen; aber sie war noch immer nicht da und ihr Bett war unberührt. Das sagte ich auch ihrer Mutter. Sie seufzte traurig, bedankte sich und legte auf.«

»Nach dem Telefonat haben die Bergmanns dann unverzüglich eine Vermisstenanzeige aufgegeben«, übernahm wieder Kati. »Nachdem ich aufgewacht war, rief ich ein paar Bekannte und Kommilitonen von Zoe an und fragte, ob sie von Zoe gehört hätten. Ich dachte mir, dass es ihr vielleicht unangenehm gewesen sein könnte, dass sie bei dem Regen und der Dunkelheit so lange für die Fahrt gebraucht hatte und deshalb unser Filmabend buchstäblich ins Wasser gefallen war. Und dass sie deshalb bei jemand anderem Unterschlupf gesucht hatte. Ich weiß selbst, wie unwahrscheinlich sich das anhört. Aber ich klammerte mich an jeden Strohhalm. Doch niemand hatte Zoe gesehen oder von ihr gehört. Den ganzen gestrigen Tag hoffte ich, sie würde doch noch nach Hause kommen.« Sie seufzte und zuckte mit den Schultern, wobei ihre Augen erneut feucht wurden. »Aber sie kam einfach nicht.«

»Und dann?«, fragte Anja.

»Dann riefen Sie vor einer halben Stunde an und sagten mir, wer Sie sind und dass Sie mit Antonia und mir über Zoe sprechen müssten. Mehr wissen wir auch nicht.«

»Gibt es außer den Bekannten und Kommilitonen, die Sie bereits anriefen, sonst noch Personen, bei denen Zoe aufgetaucht sein könnte?«

Kati sah Antonia fragend an, doch die erwiderte den Blick ebenso ratlos.

»Nicht dass wir wüssten«, sagte Antonia. »Sie hat natürlich noch eine Menge Freunde in Nürnberg. Aber soweit ich weiß, haben ihre Eltern alle angerufen. Doch auch von denen hat sie seit Sonntagnacht niemand gesehen.«

»Hatte Zoe einen festen Freund, seit sie hier wohnte und studierte?«

Beide Studentinnen schüttelten erneut synchron den Kopf.

»Sie konzentrierte sich vollständig auf ihr Studium«, sagte Kati.

Und Antonia fügte hinzu: »Außerdem war sie ein gebranntes Kind.«

Anja sah sie fragend an.

»Sie hatte in Nürnberg für ein paar Jahre einen festen Freund. Doch der machte kurz nach dem Abitur Schluss mit ihr. So ein Arschloch!«

»Das hat sie damals anscheinend ziemlich mitgenommen«, sagte Kati. »Ich glaube, auch deshalb wollte sie weg von zu Hause und nicht in Nürnberg, sondern hier in München studieren. Um Abstand zu gewinnen.«

»Sie war also gewissermaßen von den Männern enttäuscht?«

Kati nickte. »Sozusagen. Sie meinte, dafür hätte sie auch später noch genügend Zeit, nach dem Studium. Bis dahin wollte sie sich stattdessen voll aufs Studieren konzentrieren.«

»Ich hab trotzdem versucht, ihr ab und zu mal einen heißen Typen vorzustellen«, sagte Antonia. »Aber sie hat überhaupt nicht darauf reagiert und alle Kerle abblitzen lassen.«

»Du wolltest sie ständig mit deinen abgelegten Liebhabern verkuppeln«, warf Kati ihrer Mitbewohnerin entrüstet vor. »Als wäre sie ein Trostpreis für all die Herzen, die du gebrochen hast.«

»Der Spruch gefällt mir. Darf ich ihn benutzen, Kati?«

Die Angesprochene schüttelte genervt den Kopf, erwiderte aber nichts mehr darauf.

»Wissen Sie zufällig, ob Zoe ihren Ex-Freund getroffen hat, als sie übers Wochenende bei ihren Eltern war?«

»Meinen Sie etwa, dass der Kerl etwas mit Zoes Verschwinden zu tun hat?«, fragte Antonia aufgeregt. »So schäbig, wie der sich verhalten hat, würde ich es ihm durchaus zutrauen.«

»Im Augenblick habe ich über den Grund für Zoes Verschwinden noch überhaupt keine Meinung«, erklärte die Polizistin. »Ich befinde mich momentan noch ganz am Beginn meiner Ermittlungen, in einem Stadium also, in dem ich möglichst viele Informationen über die vermisste Person sammle. Erst wenn ich diese Informationsfindung abgeschlossen habe, kann ich, darauf aufbauend, darüber nachdenken, welches Motiv diesem Vermisstenfall möglicherweise zugrunde liegt.«

»Aber er ist doch bestimmt einer Ihrer Hauptverdächtigen, oder etwa nicht?«, fragte Antonia. »So nennt man das doch bei der Kriminalpolizei.«

»Bei der Mordkommission vielleicht«, schränkte Anja lächelnd ein. »Aber hier haben wir es zunächst einmal nur …« Sie malte Anführungszeichen in die Luft. »… mit einem Vermisstenfall zu tun. Dass Zoe das Opfer einer Straftat wurde, ist nur eins der gängigen Standardszenarien. Momentan deutet aber noch absolut gar nichts auf diese Möglichkeit hin. Außerdem ermittle ich in diesem frühen Stadium noch in sämtliche Richtungen. Aus diesem Grund werde ich diesen Gesichtspunkt auch nicht außer Acht lassen. Wissen Sie sonst noch etwas über den Ex-Freund.«

»Nur dass er ein ausgemachter Arsch ist!«, sagte Antonia.

»Zoe hat logischerweise nicht viel über ihn gesprochen«, meinte Kati. »Er soll aber sehr groß und gutaussehend sein. Ein Fußballspieler.«

»Quatsch«, widersprach Antonia und schüttelte den Kopf. »Er hat kein Fußball, sondern Football gespielt.«

»Fußball oder Football, wo ist denn da der Unterschied?«, fragte Kati.

»Mit Football ist American Football gemeint«, erläuterte Antonia. »Das ist was ganz anderes als Fußball. Hast du’s jetzt endlich geschnallt, Kati?«

»Ist ja schon gut, Antonia. Du musst nicht auch noch darauf herumreiten, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin.«

»Die angehende Frau Gymnasiallehrerin mag es gar nicht, wenn sie mal etwas nicht weiß«, sagte Antonia zu Anja.

»Stimmt doch gar nicht!«

Anja seufzte innerlich. »Gibt es sonst noch etwas, das Sie mir über Zoes Exfreund erzählen können?«

Beide Studentinnen schüttelten die Köpfe.

»Wahrscheinlich können Zoes Eltern Ihnen mehr über ihn sagen«, meinte Kati.« Vielleicht ja auch, ob Zoe ihn während ihres Aufenthalts in Nürnberg getroffen hat.«

»Hatte Zoe wegen der Trennung Depressionen?«

»Auf gar keinen Fall«, sagte Antonia entschieden.

Kati ergänzte: »Sie war am Anfang eine Zeitlang traurig. Ich glaube, sie hatte auch ein bisschen Heimweh. Aber nach ein paar Wochen war sie meiner Meinung nach darüber hinweg. Zumindest erweckte es für uns den Anschein.«

Antonia nickte zustimmend. »Sie ist überhaupt nicht depressiv veranlagt, sondern immer fröhlich und heiter.«

»Ausgeglichen«, präzisierte Kati.

»Hat sie sich vielleicht über andere Dinge Sorgen gemacht?«, fragte Anja, die längst Routine darin hatte, in einem Vermisstenfall einen ganzen Katalog von Fragen zu stellen. »Über ihr Studium vielleicht? Oder gab es kürzlich Ärger oder Streit mit jemandem?«

Während Kati noch nachdachte, schüttelte Antonia bereits den Kopf.

»Zoe hat mit niemandem Streit oder Ärger«, sagte sie voller Überzeugung. »Es gibt, soweit ich weiß, auch keine Probleme in ihrem Studium. Sie ist intelligent und fleißig. Manchmal konnten wir sie überreden, mit uns auszugehen. Ansonsten hat sie sich allerdings völlig auf ihr Studium konzentriert.«

»Das stimmt«, sagte Kati.

»Gab es zwischen Ihnen in letzter Zeit Streit?« Anja erinnerte sich dabei vor allem an die Wortgefechte der beiden jungen Frauen, die sich nun mit fragenden Blicken ansahen. Dann begann Kati den Kopf zu schütteln, während Antonia ratlos mit den Schultern zuckte.

»Sicher haben wir auch ab und zu unsere Meinungsverschiedenheiten«, sagte Kati. »Über den Putzplan beispielsweise. Es gibt in unserer WG nämlich eine Person – ich will keinen Namen nennen –, die es damit nicht ganz so genau nimmt und öfter mal vergisst, dass sie mit dem Putzen des Wohnzimmers, des Flurs, des Bads oder der Küche dran ist. Oder dass sie den Müll runterbringen und einkaufen muss oder mit dem Kochen dran ist.«

»Ich weiß gar nicht, von wem diese Person da drüben, deren Name ich nicht nennen möchte, redet«, sagte Antonia mit übertrieben unschuldiger Miene.

Kati verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Sie erwiderte jedoch nichts darauf, weil es entweder unter ihrer Würde oder zu diesem Thema ihrer Meinung nach schon alles gesagt worden war.

»Aber das war nie ein richtiger Streit«, sagte Antonia zu Anja. »Zoe und Kati haben mich dann immer daran erinnert, dass ich dies oder das hätte tun müssen. Ich habe mich dann wortreich entschuldigt und es nachgeholt. Damit war der Fall erledigt.«

Kati nickte. »Nein, richtigen Streit, bei dem die Fetzen flogen oder es Tränen gab, hatten wir keinen. Und wenn doch, dann hätten wir das geklärt. Wir drei sind zwar alle sehr unterschiedliche Charaktere, aber grundsätzlich verstehen wir uns trotzdem sehr gut.« Sie sah Antonia bedeutungsvoll an. »Ansonsten hätte ich es mit der da auch gar nicht so lange in einer Wohnung ausgehalten.«

»Ja, ich liebe dich auch«, sagte Antonia und warf Kati einen Handkuss zu.

Kati verzog das Gesicht und tat so, als würde sie ihm ausweichen.

»Und wie ist Zoes Verhältnis zu ihren Eltern?«

Die beiden Studentinnen richteten ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Hauptkommissarin.

»Prima«, meinte Antonia.

»Zoe ist ein Einzelkind«, sagte Kati. »Nicht dass sie deshalb ein verwöhnter Fratz oder so was wäre. Aber man merkt es ihr trotzdem ein bisschen an. Ihre Eltern hätten es, glaube ich, lieber gesehen, wenn Zoe bei ihnen wohnen geblieben wäre und in Nürnberg studiert hätte. Dort hätten sie weiterhin ein Auge auf ihre Tochter gehabt.«

»Das betrifft, glaube ich, hauptsächlich die Mutter«, sagte Antonia. »In den ersten drei, vier Wochen rief Frau Bergmann jeden Tag mindestens einmal an.«

Kati schüttelte den Kopf. »Und wenn Zoe nicht da war, wollte sie immer ganz genau wissen, wo sie sich aufhielt und was sie da tat.«

Antonia lachte. »Außerdem fragte sie am Anfang der Woche immer, ob Zoe am Sonntag auch in der Kirche war.«

»Genau. Und wir mussten dann immer lügen und sagen, dass Zoe die Sonntagsmesse besucht habe.«

»Wieso?«, fragte Anja.

»Zoes Mutter ist anscheinend sehr, sehr, sehr religiös«, antwortete Antonia. »Zoe ist aber vor ein paar Jahren aus irgendeinem Grund komplett vom Glauben abgefallen. Ihrer Mutter hat sie aber nie etwas davon gesagt. Sie meinte, für die gute Frau würde dann eine Welt zusammenbrechen. Und das wollte sie ihr dann doch nicht antun, denn sie liebt ihre Eltern wirklich sehr. Deshalb hat sie es verschwiegen und seitdem immer so getan, als würde sie den Glauben ihrer Mutter noch immer teilen.«

»Als sie noch bei ihren Eltern wohnte, ist sie sonntags auch immer noch brav mit zur Kirche gegangen«, übernahm erneut Kati. »Aber hier in München war sie noch kein einziges Mal.«

Antonia sagte: »Nur wenn sie ihre Eltern besucht, was sie wie letztes Wochenende aus gegebenem Anlass gelegentlich tut, muss sie wieder mit in die Kirche.«

»Wahrscheinlich war das vorgestern auch wieder der Fall«, meinte Kati. »Außer, sie hat ihrer Mutter endlich die Wahrheit erzählt.«

»Wieso hätte sie das tun sollen?«, fragte Antonia ihre Mitbewohnerin.

»Weil sie mich gefragt und ich ihr geraten habe, endlich reinen Tisch zu machen. Schließlich ist Zoe volljährig und kann glauben oder nicht glauben, was sie will. Und die ewige Lügerei finde ich ohnehin nicht gut.«

»Ach«, sagte Antonia erstaunt. »Und wieso erfahre ich das erst jetzt?«

Kati zuckte mit den Schultern. »Entschuldige, aber du warst eben nicht da, als sie mich fragte. Wahrscheinlich warst du gerade bei deinem letzten Drei-Tage-Liebhaber. Und dann muss ich wohl vergessen haben, es dir zu erzählen.«

»Okay.«

Die beiden Studentinnen wandten sich wieder Anja zu, die sich Notizen machte.

»Was wollen Sie noch wissen?«, fragte Antonia eifrig, die anscheinend Gefallen an der Befragung gefunden hatte.

Anja überprüfte ihre Notizen und überlegte kurz, dann blickte sie auf und sah die beiden jungen Frauen der Reihe nach an. »Das war es für den Moment.«

Antonia sah beinahe ein bisschen enttäuscht aus.

»Und was passiert jetzt?«, fragte Kati.

»Ich würde mir noch ganz gern Zoes Zimmers ansehen«, sagte Anja. »Danach rufe ich ihre Eltern an und frage, ob sie heute Nachmittag Zeit für mich haben.«

»Sie wollen dafür extra nach Nürnberg fahren?«, fragte Antonia.

Anja nickte, während sie den Kugelschreiber in die Lasche steckte und das Notizbuch zuklappte. »Sicherlich könnte ich sämtliche Fragen auch am Telefon stellen und damit eine Menge Zeit sparen. Aber ich mache mir bei den Vermisstenfällen, die ich zu bearbeiten habe, lieber einen persönlichen Eindruck von den Angehörigen und Freunden der vermissten Personen.« Sie nahm die Akte vom Tisch und stand auf. »Wenn Sie mir jetzt bitte Zoes Zimmer zeigen könnten.«

Sobald Antonia und Kati sie in Zoes Zimmer geführt hatten, bat Anja die beiden Studentinnen, sie allein zu lassen.

Antonia öffnete den Mund, als wollte sie protestieren. Doch noch ehe sie ein einziges Wort äußern konnte, packte ihre Mitbewohnerin sie bereits am Arm und zog sie in Richtung Tür.

»Komm mit!«, sagte Kati. »Lassen wir die Frau Kommissarin in Ruhe ihre Arbeit machen.«

Anja wartete, bis die beiden jungen Frauen den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatten. Erst dann sah sie sich um und verschaffte sich einen ersten Eindruck vom Zimmer der Vermissten.

Nach Anjas Ansicht enthielt es gerade einmal das Notwendigste, was man als Studentin brauchte, und erinnerte sie in seiner Schlichtheit ein bisschen an eine karge Mönchszelle. Ein ordentlich gemachtes Bett mit beige-weiß-karierter Bettwäsche. Ein tadellos aufgeräumter Schreibtisch, auf dem ein zugeklappter Laptop lag. Zwei einfache Regale, die mit zahlreichen Büchern gefüllt waren. Und schließlich eine Kommode und ein mittelgroßer Kleiderschrank. Sämtliche Möbel waren weiß lasiert.

Anja ging zunächst zum Regal und sah sich die Bücher an. Der kleinere Teil bestand aus einer Reihe von Fachbüchern und Nachschlagewerken über Psychologie, der weitaus größere jedoch aus Romanen. Sie las mehrere Titel und stellte fest, dass es sich ausnahmslos um Psychothriller handelte.

An den Wänden hingen drei großformatige Poster. Eins davon zeigte Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse. Ein weiteres die sogenannten »sieben großen Männer der Psychologie«: Jean Piaget, Carl Jung, Sigmund Freund, Burrhus Skinner, William James, John Watson und Ivan Pawlow. Auf dem dritten waren hingegen die »großen Frauen der Psychologe« dargestellt: Margaret Washburn, Mary Calkins, Karen Horney, Anna Freud, Mary Ainsworth und Mamie Phipps Clark.

Anja wandte sich dem Schreibtisch zu, der vor dem Fenster stand. An einer Pinnwand neben dem Fenster hing neben einer Reihe von Postkarten aus aller Welt ein halbes Dutzend Fotos. Auf zwei Aufnahmen war Zoe allein zu sehen. Drei Fotos zeigten Zoe und ihre beiden Mitbewohnerinnen. Auf dem letzten Bild war sie neben einer jungen Frau zu sehen, die Anja nicht kannte. Sie vermutete, dass es sich um eine Freundin oder ehemalige Klassenkameradin aus Nürnberg handelte.

Bis jetzt hatte Anja sich nur umgesehen und nichts angefasst. Da sich das nun ändern würde, zog sie ein Paar Einmalhandschuhe aus Nitril aus ihrer Jackentasche und streifte sie über. Sie wollte keine Fingerabdrücke hinterlassen, denn falls Zoe das Opfer eines Verbrechens geworden war, mussten hier Spuren gesichert werden.

Anja nahm die beiden Fotografien, auf denen Zoe allein abgebildet war und steckte sie in die Vermisstenakte. Diese enthielt bereits ein Foto der Vermissten, das die Eltern mitgebracht hatten, als sie ihre Tochter bei der Nürnberger Polizei als vermisst gemeldet hatten. Doch die beiden Aufnehmen von der Pinnwand schienen neueren Datums zu sein.

In der Hoffnung, auf ein Tagebuch zu stoßen, öffnete Anja die Schreibtischschubladen. In der ersten fand sie einen Stapel Zeitschriften. Es waren allesamt Ausgaben der Fachzeitschrift »Psychologie heute«. In der zweiten lagen mehrere Collegeblöcke, in denen sich Aufzeichnungen aus den Vorlesungen der jungen Studentin befanden. Die letzte Lade enthielt ein Sammelsurium an Stiften und Büroutensilien wie Locher, Hefter und Radiergummi. Außerdem entdeckte Anja einen Ordner mit Kontoauszügen und einen Terminplaner.

Sie sah sich die aktuellsten Kontoauszüge an; in den Tagen vor Zoes Verschwinden hatte es jedoch keine auffälligen Kontobewegungen gegeben. Weder war ein ungewöhnlich hoher Betrag abgehoben noch eine verdächtig erscheinende Überweisung getätigt worden. Alles sah vollkommen normal aus, und nichts deutete darauf hin, dass Zoe ihr Verschwinden geplant und vorbereitet hatte. Allerdings musste Anja noch bei der Bank überprüfen, ob es nach Zoes Verschwinden Abhebungen gegeben hatte.

Anja nahm den Terminplaner und schlug ihn auf. Sie blätterte, bis sie zum heutigen Datum kam. Für gestern, heute und morgen war nichts eingetragen. Am Donnerstag hatte Zoe allerdings am frühen Vormittag einen Arzttermin notiert. Da der entsprechende Terminzettel zwischen den Seiten steckte, sah Anja, dass es sich um einen Termin bei Zoes Frauenärztin handelte. Sie blätterte weiter und entdeckte einen Zahnarzttermin in zweieinhalb Wochen. Auch hier gab es, wie Anja erfreut feststellte, einen Terminzettel. Das ersparte ihr eine Menge Nachforschungen, da sie den Namen und die Anschrift des Zahnarztes ohnehin benötigte, um sich ein Zahnschema der vermissten jungen Frau zu besorgen. Dies geschah für den Fall, dass eine unbekannte Frauenleiche auftauchte, deren Merkmale mit denen der Studentin in der Datei über Vermisste, unbekannte Tote und unbekannte hilflose Personen übereinstimmten. Mithilfe des Zahnschemas und weiterem Identifizierungsmaterial konnte dann zweifelsfrei festgestellt werden, ob es sich bei dem Leichnam tatsächlich um Zoe handelte. Zur Sicherheit würde Anja aber auch Fingerabdrücke und DNA-Vergleichsmaterial der Vermissten besorgen.

Sie klappte den Terminplaner zu und legte ihn zusammen mit dem Kontoauszugsordner auf den Laptop. Diese drei Dinge würde sie mitnehmen, wenn sie ging, um sie in aller Ruhe im Büro auszuwerten. Dann würde sie auch die Frauenärztin anrufen und mit etwas Glück erfahren, ob es einen konkreten Anlass für den Termin gab oder ob es sich nur um einen regelmäßigen Kontrollbesuch handelte.

Obwohl sie nicht unbedingt damit rechnete, dass sie noch etwas von Bedeutung fand, öffnete Anja den Kleiderschrank und die Schubladen der Kommode. Sie wollte allerdings gründlich sein und nicht das Geringste übersehen. Es sah so aus, als fehlten nur wenige Wäschestücke. Gerade so viel, wie Zoe für ihren zweitägigen Trip in ihr Elternhaus benötigt hatte. Und entschieden zu wenig, als dass sie von vornherein eine längere Abwesenheit geplant haben könnte.

Nachdem sie der Vollständigkeit halber auch unter dem Bett und auf dem Schrank nachgesehen hatte, ohne dort etwas zu entdecken, nahm Anja neben der Vermisstenakte und ihrem Notizbuch auch den Laptop, die Kontoauszüge und Zoes Terminplaner an sich. Dann verließ sie das Zimmer.

Die beiden Studentinnen standen im Flur und sahen Anja erwartungsvoll an.

»Und?«, fragte Kati, als hoffte sie, Zoe hätte sich die ganze Zeit nur im Schrank versteckt und Anja hätte sie dort gefunden.

Anja zuckte mit den Schultern.

»Was haben Sie mit dem Laptop und Zoes Sachen vor?«, fragte Antonia.

»Ich werde sie mir im Büro genauer ansehen. Vielleicht finde ich darin einen Hinweis auf Zoes Aufenthaltsort oder den Grund, warum sie verschwunden ist.«

Kati und Antonia nickten.

»Wo ist das Bad?«, fragte Anja unvermittelt.

»Oh«, sagte Kati überrascht.

»Gleich hier«, antwortete Antonia und deutete auf die Tür.

Wahrscheinlich dachten die beiden, dass Anja ein dringendes Bedürfnis verspürte. Doch dem war nicht so.

»Können Sie mir zeigen, welche Sachen Zoe gehören?«, fragte Anja, während sie die Tür öffnete und das Badezimmer betrat.

Die beiden jungen Frauen folgten ihr; und obwohl es ein vergleichsweise großes Bad war, wurde es jetzt doch ein bisschen eng.

»Wollen Sie die Sachen etwa auch mitnehmen?«, fragte Kati verständnislos und starrte irritiert auf die Nitrilhandschuhe, die Anja trug.

Die Polizistin erklärte, dass sie DNA-Vergleichsmaterial benötigte. Dies fand sich am ehesten an persönlichen Gegenständen der Vermissten, an denen Körperzellen hafteten. Dafür kamen vor allem Haarbürsten, Kämme, Zahnbürsten, Rasierer sowie getragene und noch nicht gewaschene Bekleidung infrage.

»Und wofür benötigen sie Zoes DNA?«, fragte Kati.

Anja antwortete nicht.

»Was glaubst du denn?«, sagte Antonia. »Damit die Polizei sie identifizieren kann, falls sie ihre Leiche findet.«

Kati hob die Hand vor den Mund, als wollte sie sich selbst am Schreien hindern. »Sie glauben doch nicht wirklich, dass Zoe …« Sie traute sich nicht, weiterzusprechen.

Anja schüttelte den Kopf. »Im Moment spricht nichts dafür, dass Zoe nicht mehr am Leben ist. Es ist aber dennoch wichtig, dass wir darauf vorbereitet sind und uns frühzeitig um DNA-Vergleichsmaterial bemühen. Können Sie mir jetzt Zoes Sachen zeigen?«

Die beiden jungen Frauen wirkten schockiert. Sogar Antonia war etwas ruhiger und kleinlauter geworden, so als hätte sie endlich realisiert, dass das Verschwinden ihrer Mitbewohnerin kein Spaß war, sondern auch einen furchtbar ernsten Hintergrund haben konnte.

Da Zoe ihre Zahnbürste und ihre Haarbürste mitgenommen hatte, als sie nach Nürnberg gefahren war, und ihre getragenen Kleidungsstücke inzwischen gewaschen worden waren, musste sich Anja mit einer alten Haarbürste und einem Einwegrasierer zufriedengeben, mit dem sich Zoe erst vor Kurzem die Beine rasiert hatte. Dennoch war sie zuversichtlich, dass die Gegenstände ausreichten, um Vergleichsproben von Zoes DNA zu gewinnen. Die moderne DNA-Analytik hatte in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht; die DNA konnte mittlerweile sogar aus winzigen Hautabriebspuren bestimmt werden.

Schließlich hatte Anja alles, was sie momentan benötigte. Sie gab den Studentinnen ihre Visitenkarte und bat sie, sie anzurufen, falls ihnen noch etwas einfallen oder – noch besser! – Zoe auftauchen sollte. Dann verabschiedete sie sich von den beiden jungen Frauen und verließ die Wohnung.

TODESSPIEL

Подняться наверх