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Kapitel 3
ОглавлениеEs war bereits nach Mitternacht, als Edgar Wimmer die Abkürzung durch den Luitpoldpark nahm.
Wimmer hatte den Park, von Westen kommend, an der Brunnerstraße betreten. Nun war er auf einem der Wege in östlicher Richtung unterwegs und hatte soeben den Pumucklspielplatz mit dem Brunnen und dem Heckenlabyrinth passiert.
Obwohl der Luitpoldpark um diese Uhrzeit ausgesprochen finster und völlig menschenleer war, hatte der 55-jährige Mann mit den kurzen mittelbraunen Haaren keine Angst. Warum auch? Schließlich nahm er diesen Weg an jedem Arbeitstag, und das sogar zweimal. Einmal bei Tageslicht am Vormittag, wenn er von seiner kleinen Zweizimmerwohnung in einem fünfstöckigen Mietshaus in der Hörwarthstraße zu seiner Arbeitsstätte ging. Dabei handelte es sich um ein bayerisches Wirtshaus mit Biergarten auf der anderen Seite des Parks, wo er als Kellner arbeitete. Nach Schließung der Wirtschaft um Mitternacht ging es anschließend wieder in die andere Richtung, nur dass es dann dunkel und vor allem an Werktagen kaum noch jemand im Park unterwegs war. Doch das machte Wimmer nichts aus. Im Gegenteil. Er liebte die nächtliche Stille nach den lauten und anstrengenden, oft hektischen Stunden in der Wirtschaft mit den manchmal nervigen, quengelnden Gästen, denen man oft nichts recht machen konnte.
Da Wimmer diesen Weg schon so oft gegangen war, dass er ihn sogar im Schlaf mit verbundenen Augen gefunden hätte, und seine Beine ihn wie ein Autopilot nach Hause brachten, ohne dass er ständig darauf achten musste, wohin er lief, war er dabei meistens tief in Gedanken versunken. In der Regel ließ er dabei die vergangenen Stunden noch einmal vor seinem inneren Auge Revue passieren und dachte an die bemerkenswertesten der zahlreichen Gäste, die er im Laufe dieses Arbeitstages bedient hatte.
In den mehr als fünfunddreißig Jahren, in denen er nun schon als Kellner tätig war, hatte er eine Art geheimes Ranking für seine Gäste entwickelt. Dabei vergab er wie in der Schule Noten von eins bis sechs. Zunächst gab es eine Note für die Freundlichkeit des Gastes, dann eine weitere für seine Großzügigkeit im Hinblick auf das Trinkgeld. Denn da der Beruf des Kellners zu den schlechtbezahltesten überhaupt gehörte, bildete das Trinkgeld einen wichtigen Bestandteil des Verdienstes. Aus diesen beiden Noten bildete Wimmer anschließend eine Durchschnittsnote. Natürlich war er nicht in der Lage, sich sämtliche Gäste und ihre Noten zu merken, aber sowohl die schlimmsten als auch die positivsten Fälle behielt er im Gedächtnis.
Der schlechteste Gast war bis zum heutigen Tag ein Mann gewesen, der schon schimpfend zur Tür hereingekommen war und anschließend über alles und jeden lautstark gemeckert hatte: über das trostlose Ambiente, die langweilige Tischdekoration, die Lautstärke der anderen Gäste, den miserablen Service – womit er vor allem Wimmer meinte, der ihn bediente –, die zu geringe Füllmenge seines Getränks, die Temperatur, die Menge sowie die Qualität seines Essens, die berufliche Eignung des Kochs und schließlich die mangelnde Sauberkeit der Toiletten. Am Ende hatte er auch noch versucht, um den Preis zu feilschen, als wären sie auf einem türkischen Basar. Aber da war es Wimmer schließlich zu bunt geworden, und er hatte kurzerhand seinen Chef geholt, damit der sich mit dem Querulanten herumärgern konnte. Am Ende hatte der Gast, nachdem der Chef mit Polizei, Anwalt und einem Gerichtsverfahren gedroht hatte, widerstrebend bezahlt, natürlich ohne einen Cent Trinkgeld zu geben, und war, weiterhin vor sich hin motzend, gegangen. Der Mann war nie wiedergekommen, was Wimmer nicht verwunderte und worüber er insgeheim sogar froh war. Dennoch hatte er den Gast, ebenso wie einige andere, in denkbar schlechter Erinnerung behalten. Er hatte dem Mann zweimal die Note sechs gegeben, wodurch er sofort zum Spitzenreiter seiner Liste der unangenehmsten Gäste aufgestiegen war. Und bis heute war Wimmer davon ausgegangen, dass ihn niemand von dort verdrängen würde, schließlich gab es bekanntlich keine schlechtere Schulnote als die sechs.
Doch der heutige Tag hatte ihn, wie es das Leben seiner Meinung nach immer wieder tat, eines Besseren belehrt. Denn er hatte es mit einem Gast zu tun bekommen, für den er eine neue Notenstufe einführen musste, nämlich eine sechs minus. Und diese Benotung hatte der unsympathische Kerl sich in beiden Kategorien auch redlich verdient.
Als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht, stand der Mann an diesem Abend urplötzlich hinter Wimmer, als dieser sich mit einem Tablett voller Getränke von der Theke wegdrehte und eilig losmarschierte. Da der Kellner sofort abrupt abbremsen musste, um eine Kollision zu verhindern, geriet das runde Tablett auf seiner Handfläche unweigerlich in Schieflage, und die vollen Gläser, die darauf standen, neigten sich zur Seite und kamen bedenklich ins Rutschen. Reaktionsschnell gelang es ihm, das Tablett gerade noch rechtzeitig wieder aufzurichten, bevor es auf einer Seite Übergewicht bekommen, von seiner Hand kippen und mit allen Getränken zu Boden stürzen konnte. Anschließend atmete Wimmer erleichtert auf und warf dem anderen Mann einen irritierten, leicht verärgerten Blick zu.
»Sie müssen schon ein bisschen besser aufpassen«, sagte dieser herablassend und schüttelte den Kopf. »Nicht auszudenken, wenn Sie durch Ihre Ungeschicklichkeit Hannibal und mir eine Dusche aus Bier, Wein und Cola verpasst hätten.«
Wer zum Teufel ist Hannibal?, fragte sich Wimmer, bevor er den Yorkshire Terrier entdeckte, den der Mann auf dem Arm trug, und der, als wäre sein Name das Kommando dazu gewesen, in diesem Moment mehrere Male bellte.
»Jetzt sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben!«, sagte der Gast theatralisch und sah Wimmer mit aufblitzenden Augen zornig an. »Mit Ihrer Tollpatschigkeit haben Sie Hannibal einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«
Wimmer war zu perplex, um etwas darauf zu erwidern. Außerdem hätte er ohnehin nicht gewusst, was er darauf sagen sollte.
Da der Mann ihm im Weg stand und keine Anstalten machte, zur Seite zu treten, um den Weg freizumachen, während er seelenruhig seinen Hund streichelte und beruhigend auf ihn einredete, blieb dem Kellner nichts anderes übrig, als zu warten. Der Raum zwischen den beiden voll besetzten Tischen rechts und links wäre ohnehin nicht breit genug gewesen, als dass sich Wimmer, obwohl er von schlanker Statur war, an dem Mann mit dem Hund auf dem Arm problemlos hätte vorbeiquetschen können. Erschwerend kam hinzu, dass der Kerl unglaublich dick war. Wimmer, der bei einer Körpergröße von 1,77 Meter siebzig Kilo auf die Waage brachte, schätzte, dass sein Gegenüber, obwohl er mindestens fünf Zentimeter kleiner war, 170 bis 180 Kilogramm wiegen musste. Er war vermutlich Ende dreißig, Anfang vierzig, obwohl er auf den ersten Blick älter wirkte, was vor allem an der Halbglatze und dem Kranz aus langem dunkelblonden, fettigen Haar liegen mochte. Seine Gesichtshaut war gerötet, die feinen Blutäderchen unter der Haut waren deutlich zu erkennen. Außerdem hatte er eine mit Knötchen und Pusteln übersäte gerötete Knollennase, auf der eine Brille mit auffallend rotem Rahmen saß, die nach Wimmers Ansicht nicht zu seinem Gesicht passte. Er trug eine khakifarbene Outdoorweste mit unzähligen Taschen, darunter ein kurzärmliges dunkelblaues Hemd mit Blumenmuster und gewaltigen Schweißflecken unter den Armen und eine enge beige Baumwollhose, alles in Übergröße. Dazu an den Füßen braune Herren-Slipper in der Größe von Kindersärgen.
Da Wimmer nicht ewig Zeit hatte, weil die Gäste auf ihre Getränke warteten, räusperte er sich schließlich. Allerdings schluckte er seinen Zorn auf diesen merkwürdigen Gast herunter, so wie er es stets tat, und fragte höflich: »Kann ich Ihnen helfen?«
Das gerötete Gesicht des anderen Mannes richtete sich ruckartig auf den Kellner, und seine kornblumenblauen Augen schienen dabei Funken zu sprühen. »Was soll das?«, fragte er aufgebracht. »Sehen Sie denn nicht, dass ich mit meinem Hund gesprochen habe?«
Da der Kerl beim Sprechen feine Speicheltröpfchen versprühte, hob Wimmer automatisch das Tablett mit den vollen Gläsern, um sie vor dem ekligen Sprühregen in Sicherheit zu bringen. Die wenigen Augenblicke in der Gegenwart dieses Mannes hatten ihm bereits gereicht, um sich aufgrund seiner langjährigen Berufserfahrung und Menschenkenntnis ein umfassendes Bild von ihm zu machen. Deshalb verlieh er ihm schon jetzt in Sachen Freundlichkeit kurzerhand die Note sechs. Da er jedoch andererseits über ausreichend Erfahrung mit schwierigen Gästen verfügte, blieb er weiterhin ruhig, freundlich und gelassen. Und daher verkniff er sich jede Erwiderung, die ihm unweigerlich in den Sinn kam, und wartete schweigend ab.
Der Mann schnaubte kurz und wischte sich mit der linken Hand den Schweiß von der Stirn. Dann deutete er damit auf einen Tisch am Fenster. »Ich möchte den Tisch dort drüben haben.«
Ohne einen Blick in die Richtung werfen zu müssen, in die der dicke Mann zeigte, wusste Wimmer, dass der Tisch reserviert war, was auch deutlich zu erkennen war. »Tut mir leid, mein Herr, aber dieser Tisch ist reserviert. Ich kann Ihnen aber gern einen anderen …«
»Ich will diesen Tisch und keinen anderen!«, unterbrach ihn der Mann mit dem Hund auf dem Arm in höchst aggressivem Tonfall. »Und nachdem Sie mir beinahe ein Tablett mit vollen Gläsern auf den Kopf geworfen und fast meinen lieben, kleinen Hund ertränkt und zu Tode erschreckt haben, ist das noch das Mindeste, was ich verlangen kann.«
Wimmer seufzte. Er warf einen raschen Seitenblick zum Wirt des Gasthauses, der Josef Drexl hieß und von allen Sepp genannt wurde. Er stand nur wenige Meter entfernt hinter der Theke, zapfte ein Bier und war mittlerweile von selbst auf das Gespräch zwischen seinem Kellner und dem Gast aufmerksam geworden. Wimmer hob fragend die Schultern und die Augenbrauen, woraufhin der Chef mit einem widerwilligen Nicken seine Zustimmung erteilte.
»Natürlich bekommen Sie den gewünschten Tisch«, sagte Wimmer daraufhin zu dem dicken Mann vor ihm, obwohl ihm ganz andere Worte auf der Zunge lagen, die er allerdings wie immer für sich behielt und hinunterschluckte. Denn der Gast war bei ihnen nun einmal König und bekam in der Regel auch, was er verlangte.
Der dicke Mann lächelte selbstzufrieden. »Na also. Warum nicht gleich so?« Dann wandte er sich ohne ein weiteres Wort ab und marschierte zu dem Fenstertisch.
Wimmer atmete erleichtert auf, dass er den Kerl vorerst los und der Weg endlich frei war. Er setzte sich unverzüglich in Bewegung, um die Getränke auf seinem Tablett zu verteilen, bevor die Gäste ungeduldig wurden. Dann nahm er an einem der anderen Tische gleich noch die Essensbestellung auf und meldete diese an die Küche weiter. Während er anstelle des Tisches, den der dicke Mann verlangt hatte, einen anderen freien Tisch mit einem Reserviert-Schild versah, vermied er es bewusst, in dessen Richtung zu blicken. Allerdings glaubte er immer wieder, die stechenden Blicke des Mannes zu spüren, als wären sie Dolche, die sich in seinen Rücken bohrten. Außerdem war er sich natürlich darüber bewusst, dass er sich früher oder später um den unangenehmen Gast kümmern musste. Er hätte ihn zwar liebend gern an den Tisch eines Kollegen gesetzt, wenn er die Wahl gehabt hätte, doch da der Kerl ausdrücklich den Fenstertisch verlangt hatte, war er weiterhin für ihn zuständig. Und da Unfreundlichkeit und Knauserigkeit seiner Erfahrung nach oftmals einträchtig Hand in Hand gingen, durfte er nicht einmal auf ein üppiges Trinkgeld hoffen, sofern es überhaupt eins gab.
»Hallo, Sie da, wollen Sie mich noch lange ignorieren? Ich habe Hunger und möchte jetzt endlich bestellen.«
Wimmer seufzte leise, als er jäh die unangenehme Stimme des dicken Mannes hörte, und schloss für einen Moment schicksalsergeben die Augen. Dann öffnete er sie wieder, richtete sich auf und wandte sich lächelnd um. Zahlreiche Augen waren auf ihn gerichtet, doch der Kellner ließ sich nicht anmerken, wie unangenehm ihm die Sache war. Allerdings richtete sich der Unmut der Gäste nicht etwa gegen ihn, sondern gegen den Mann mit dem Hund, der ihrer Meinung nach durchaus diskreter hätte vorgehen können.
»Das wurde aber auch Zeit«, sagte der dicke Mann mit der geröteten Knollennase, als Wimmer an seinen Tisch trat. Der Hund, der unter dem Tisch saß, knurrte daraufhin angriffslustig.
Wie das Herrchen, so der Hund, dachte Wimmer und machte sicherheitshalber einen Schritt nach hinten, damit das Tier nicht auf dumme Gedanken kam und ihn biss.
»Beruhige dich, mein Schätzchen«, sagte der Mann, beugte sich ächzend zur Seite, sodass Wimmer befürchtete, er könnte gleich von seinem Stuhl kippen und bei seinem Aufprall das Gebäude zum Einsturz bringen, und streichelte dem Yorkshire Terrier über den Kopf, worauf dieser augenblicklich verstummte. »Warten wir doch erst einmal ab, was der gute Mann uns serviert, bevor wir böse auf ihn werden. Wenn er seine Arbeit nicht gut genug erledigt, kannst du ihn von mir aus immer noch fressen.« Er richtete sich wieder auf, sah Wimmer an und lächelte verschlagen.
»Was darf ich Ihnen zu trinken bringen?«, fragte der Kellner, dem es von Minute zu Minute immer schwerer fiel, freundlich zu bleiben, obwohl er in all den Jahren noch nie aus der Haut gefahren war und stets seine Fassung bewahrt hatte.
»Als Allererstes bringen Sie einen Napf mit Wasser für meinen Hund«, sagte der Gast, hob die rechte Hand und stach mit dem ausgestreckten Zeigefinger mehrere Male in Wimmers Richtung, als wollte er seinen Worten auf diese Weise besonderen Nachdruck verleihen. »Aber auf keinen Fall ordinäres Leitungswasser, sondern nur stilles Mineralwasser.«
In seinen dreieinhalb Jahrzehnten als Kellner hatte Wimmer genug erlebt, um die Bestellung, ohne mit der Wimper zu zucken, zur Kenntnis zu nehmen und auf seinem Block zu notieren.
»Und kommen Sie bloß nicht auf den verrückten Gedanken, mir das Wasser in Rechnung stellen zu wollen. Erstens sollte das zum Service eines guten Hauses gegenüber Hundebesitzern gehören, und zweitens sind Sie es meinem kleinen Liebling schuldig nach allem, was Sie bisher angerichtet haben.«
Wimmer seufzte, allerdings nur in Gedanken, denn angesichts dessen, wie dieser Mann sich bislang verhalten hatte, hatte er insgeheim bereits mit einem derartig unverschämten Ansinnen gerechnet. Die Forderung des Kerls, das Mineralwasser für seinen Hund nicht bezahlen zu wollen, ließ er sicherheitshalber unkommentiert. »Und was darf ich Ihnen bringen?«, fragte er stattdessen.
»Ich nehme den Merlot Cabernet Sauvignon. Bringen Sie mir gleich die ganze Flasche.«
»Sehr wohl, der Herr.« Wimmer notierte es sich gewissenhaft, wandte sich rasch um und ging. Auf dem Weg zur Ausschanktheke nahm er noch zwei weitere Bestellungen entgegen.
»Gibt es Ärger mit dem Kerl?«, fragte der Wirt, nachdem der Kellner ihm die Getränkewünsche mitgeteilt hatte.
Wimmer schüttelte den Kopf. »Keinen Ärger. Nur ein höchst unangenehmer Zeitgenosse. Aber mit dem komme ich schon klar.«
»Daran habe ich keinen Zweifel«, sagte Sepp, der zehn Jahre jünger als Wimmer war und auf die langjährige Erfahrung seines Mitarbeiters im Umgang mit schwierigen Gästen vertraute. Dann wandte er sich ab, um die gewünschte Rotweinflasche zu holen und zu öffnen.
Wimmer ging indessen in die Küche, wo sie ein paar Hundenäpfe aufbewahrten. Da sie tatsächlich ein hundefreundliches Wirtshaus waren, hatten sie nichts dagegen, wenn Gäste ihre Zamperl mitbrachten, und waren darauf vorbereitet. Deshalb bekam der Yorkshire Terrier namens Hannibal natürlich auch sein Wasser. Allerdings würde er dem Köter mit Sicherheit kein teures Mineralwasser vorsetzen, wenn der Kerl nicht einmal bereit war, dafür zu bezahlen. Das Tier selbst würde sich auch mit ordinärem Leitungswasser zufriedengeben und den Unterschied vermutlich gar nicht bemerken.
Kurze Zeit später brachte er den mit Leitungswasser gefüllten Napf an den Tisch. Er stellte ihn daneben auf den Boden und schob ihn dann mit dem Fuß vorsichtig unter den Tisch, wo noch immer der Hund saß und sofort wieder zu knurren anfing. Trotz seiner geringen Größe klang das Knurren in Wimmers Ohren bedrohlich.
Der dicke Mann beobachtete alles argwöhnisch, sagte jedoch nichts, was der Kellner erfreut zur Kenntnis nahm.
Wimmer kehrte zur Ausschanktheke zurück, wo bereits das Tablett mit den Getränken für ihn bereitstand, darunter auch eine Flasche Merlot Cabernet Sauvignon und ein Rotweinglas. Er servierte die Getränke und hob sich den Rotwein bis zuletzt auf, da er bei der Gelegenheit auch gleich den Speisewunsch des Mannes entgegennehmen wollte.
Er stellte das Weinglas vor dem unangenehmen Gast ab. Anschließend nahm er die Flasche, schenkte zwei Fingerbreit Merlot in das Glas und wartete, dass der Kerl davon kostete.
Der Mann umfasste das Glas mit den dicken Wurstfingern seiner rechten Hand, hob es auf Augenhöhe und besah sich die rubinrote Flüssigkeit. Dann schwenkte er das Weinglas ein wenig und roch kurz daran. Schließlich nahm er laut schlürfend einen Schluck und bewegte den Wein mit geschlossenen Augen langsam im Mund.
Wimmer wartete geduldig, bis der Mann die Flüssigkeit endlich hinunterschluckte, was trotz des hohen Geräuschpegels in der Gaststube deutlich vernehmbar war.
»Ich habe schon viele deutlich bessere Merlots als diesen getrunken«, meldete sich der dicke Mann schließlich zu Wort. »Normalerweise würde ich darin nicht einmal meine Füße waschen.« Er seufzte tief. »Aber da ich nicht davon ausgehe, dass ich in der näheren Umgebung etwas Besseres vorgesetzt bekomme und langsam Hunger habe, muss ich mich heute Abend mit diesem minderwertigen Gesöff begnügen.« Er bedachte Wimmer mit einem empörten Blick, als wäre es dessen Schuld, und nickte dann zum Zeichen, dass der Kellner Wein nachschenken sollte.
Wimmer war froh, dass er geübt darin war, sich seine wahren Gefühle nicht anmerken zu lassen, während er das Glas füllte. »Haben Sie schon etwas aus unserer Speisekarte ausgewählt?«, fragte er dann und stellte die Flasche auf den Tisch.
»Natürlich, was denken Sie denn!«, versetzte der dicke Mann schnippisch.
Wimmer wartete schweigend, Kugelschreiber und Block in den Händen.
»Als Vorspeise hätte ich gern das Beefsteak-Tatar, anschließend das gebackene Kalbsbries und als Nachtisch den Kaiserschmarrn. Außerdem brauche ich einen sauberen Fressnapf für meinen Hund.« Er klappte die Speisekarte zu und fügte hinzu: »Aber zügig, wenn ich bitten darf.«
Wimmer nickte, nahm die Speisekarte und ging.
Im Laufe der nächsten Stunde brachte er dem dicken Mann den Fressnapf, die Vorspeise, das Hauptgericht und den Nachtisch. Und als der Wein, dem der Gast ebenso eifrig und begierig wie dem Essen zusprach, zur Neige gegangen war, servierte er auf dessen Wunsch auch noch eine zweite Flasche. Wimmer hatte das Küchenpersonal bereits vorgewarnt, dass sie es mit einem überaus schwierigen, kritischen und ungeduldigen Gast zu tun hatten. Deshalb gaben sich der Koch und seine Helfer bei den Gerichten des Mannes besonders viel Mühe, damit auch ja alles perfekt war. Und obwohl die drei Gänge, wie verlangt, vom Kellner zügig serviert wurden, hatte der dicke Mann dennoch an allem zahlreiche Dinge auszusetzen.
Allerdings hatte Wimmer auch nichts anderes erwartet. Er wäre eher erstaunt gewesen, wenn der Kerl nicht an allem herumgemosert hätte und mit den Speisen und dem Service zufrieden gewesen wäre.
Was den Kellner jedoch sehr wohl irritierte und immer wieder erschaudern ließ, war die Tatsache, dass er den Kerl ständig dabei ertappte, wie er ihn regelrecht lauernd beobachtete. Und selbst wenn er nicht zu ihm hinübersah, hatte er das Gefühl, dass der dicke Mann ihn anstarrte, während er gleichzeitig sein Essen in sich hineinschaufelte.
Wimmer war deshalb heilfroh, als der Kerl endlich fertig war, die zweite Weinflasche geleert hatte und die Rechnung verlangte. Und wie er es vorausgesehen hatte, gab der Kerl auch keinen Cent Trinkgeld, sondern legte das Geld abgezählt auf den Tisch.
»Wenn Sie ein Trinkgeld erwartet haben, guter Mann, dann muss ich Sie enttäuschen«, sagte er und lächelte erneut lauernd, als wartete er darauf, dass Wimmer endlich aus der Haut fuhr. Doch den Gefallen tat ihm der Kellner nicht. Worauf er fortfuhr: »Eigentlich müssten sogar Sie mir etwas bezahlen. Und zwar Schmerzensgeld, weil ich Ihren miserablen Service und den elenden Fraß erduldet habe.« Er kicherte, als hätte er einen richtig guten Witz gemacht.
Wimmer bewahrte weiterhin Schweigen. Zu diesem Zeitpunkt war es ihm längst egal, was der Kerl sagte. Hauptsache, er ging endlich und verschwand mitsamt seinem Köter letztlich aus seinem Leben.
Er blieb bis zum Schluss gewohnt freundlich. »Vielen Dank«, sagte er, als er die abgezählten Scheine und Münzen entgegennahm und in seiner Kellnerbörse verschwinden ließ. »Beehren Sie uns doch bald wieder.« Insgeheim erhoffte er sich allerdings das Gegenteil. Und so wie der Kerl an allem herumgemeckert hatte, ging er auch nicht davon aus, dass er jemals wiederkommen würde.
Doch der dicke Mann war anscheinend immer wieder für eine Überraschung gut. »Vielleicht tue ich das sogar«, meinte er augenzwinkernd und fügte mit einem boshaften Grinsen einschränkend hinzu: »Obwohl der Wein, der Service und das Essen in diesem Etablissement natürlich erheblich zu wünschen übrig lassen.«
Wimmer ließ auch diesen Satz unkommentiert, obwohl es ihn Mühe kostete. »Einen schönen Abend noch«, sagte er, dabei wünschte er dem Kerl in Wahrheit die Pest an den Hals.
»Den werde ich mit Sicherheit haben«, erwiderte der andere und grinste bösartig.
Der Kellner wandte sich rasch um und ging geradezu fluchtartig davon, dankbar, dass er den Kerl endlich, endlich, endlich los war. Und als er sich zwei Minuten später umdrehte, war der Tisch bereits verwaist und von dem dicken Mann und seinem Hund nichts mehr zu sehen.
Während der Kellner den Tisch abräumte, dachte er bereits über die Noten nach, die er dem Kerl geben wollte. Sowohl in Sachen Freundlichkeit als auch bezüglich des fehlenden Trinkgeldes hatte der Gast sich selbstverständlich jeweils die schlechteste Note verdient. Da er aber in Wimmers Wahrnehmung noch furchtbarer als der bislang schlechteste Gast gewesen war, musste er auf eine Notenstufe ausweichen, die es eigentlich nicht gab, und vergab daher zweimal und damit auch insgesamt eine Sechs minus.
Als er jetzt, noch immer auf dem Weg durch den Luitpoldpark, noch einmal gründlich darüber nachdachte, kam er zu haargenau demselben Ergebnis. Der dicke Mann hatte sich den ersten Platz in der Tabelle der schlechtesten Gäste redlich verdient. Es war nicht nur seine Unfreundlichkeit gewesen und dass er an allem etwas auszusetzen gehabt hatte. Seine Art und sein Verhalten waren Wimmer zutiefst zuwider gewesen. Die ganze Zeit über hatte er das Gefühl gehabt, der Kerl würde ihn anstarren. Warum auch immer? Darüber hinaus hatte er in der Gegenwart des Mannes ständig ein Gefühl der Bösartigkeit und Heimtücke verspürt. Doch das war zum Glück Vergangenheit. Wimmer hoffte, dass der Kerl nie wieder in ihr Lokal kam, auch wenn er vor seinem Weggang etwas anderes angedeutet hatte.
Der Kellner folgte weiterhin dem Weg durch den Park. Er hatte es nicht eilig, denn er lebte allein; zu Hause wartete nur sein Bett auf ihn. Bis vor siebzehn Jahren war Wimmer verheiratet gewesen. Doch dann hatte ihn seine Frau nach dreizehn Ehejahren von heute auf morgen verlassen, um mit einem anderen Mann zusammenzuleben. Wimmer war damals aus allen Wolken gefallen, als Eva unversehens ihre Koffer gepackt und ihm gleichzeitig mitgeteilt hatte, dass sie ihn schon seit Jahren betrogen hätte und fremdgegangen wäre. Und er hatte nicht das Geringste davon bemerkt. »Weil du ständig so lange arbeitest. Und weil du selbst dann nie richtig da bist, wenn du zu Hause bist«, hatte seine Ex-Frau, denn die Ehe war längst geschieden, damals zu ihm gesagt. Und da sie gemerkt hatte, dass er nicht verstand, was sie damit meinte, hatte sie erklärend hinzugefügt: »Dein Beruf ist dir wichtiger als alles andere. Du lebst nur für deine Arbeit. Und selbst wenn du zu Hause und mit mir zusammen bist, denkst du nur an deinen Job und an deine blöden Gäste.« Mit diesen abschließenden Worten hatte sie sich umgedreht und war mit ihren Koffern aus der gemeinsamen Wohnung und seinem Leben verschwunden. Er hatte sie nur noch ein einziges Mal wiedergesehen, beim Scheidungstermin vor der Familienrichterin. Zuerst hätte er sie gar nicht wiedererkannt, denn alles an ihr hatte sich verändert: ihre Frisur, ihre Haarfarbe, ihre Kleidung, sogar ihr Auftreten. Sie sah glücklich aus und lachte viel. Da wurde Wimmer bewusst, dass er seine Frau in den letzten Jahren ihrer Ehe immer seltener lachen gesehen hatte. Gleichzeitig erkannte er, wie recht Eva gehabt hatte. Er liebte seine Arbeit als Kellner über alles. Und nicht einmal solche Typen wie der unfreundliche dicke Kerl mit dem Hund konnten diese Liebe trüben. Es gab praktisch nichts, was ihm wichtiger war. Und daneben hatte eben nichts anderes Platz, nicht einmal eine Frau. Deshalb lebte Wimmer seitdem allein und war auch nicht unglücklich, sondern zufrieden damit.
Da er tief in seinen Gedanken und Erinnerungen versunken war, bemerkte er zunächst gar nicht, dass er nicht mehr allein war. Doch dann bellte nur wenige Meter vor ihm ein Hund.
Wimmer fuhr erschrocken zusammen, blieb abrupt stehen und hob den Kopf. Fünf Meter vor ihm stand ein Mann mitten auf dem Weg, neben ihm ein kleiner Hund. Obwohl er in der nächtlichen Dunkelheit keine Einzelheiten erkennen konnte, ließ die massige Gestalt des Kerls keinen Zweifel daran, wen er vor sich hatte.
»Sie?«
»Na sieh mal an, wen wir da haben, Hannibal. Wenn das mal nicht der unfreundliche Kellner aus der Kaschemme ist, in der wir heute mehr schlecht als recht zu Abend gegessen haben.«
Der Hund bellte, sobald der Mann seinen Namen nannte.
Wimmer schüttelte irritiert den Kopf. »Was tun Sie hier?«
Der dicke Mann, von dem der Kellner gehofft hatte, ihn nie wiedersehen zu müssen, kam langsam näher. Er deutete auf den Yorkshire Terrier, der artig im gleichen Tempo neben ihm herlief. »Ich gehe mit meinem Hund spazieren. Oder passt Ihnen das etwa nicht? Dasselbe könnte ich übrigens auch Sie fragen: Was treibt Sie denn zu dieser Stunde in diesen gottverlassenen Park?«
Es widerstrebte Wimmer zwar zutiefst, dem Mann etwas über sich selbst zu offenbaren, dennoch sagte er: »Ich bin auf dem Weg nach Hause. Ich gehe fast jeden Tag hier entlang.«
»Was für ein merkwürdiger Zufall, dass wir uns noch einmal begegnet sind«, sagte der dicke Mann, der weniger als zwei Meter von Wimmer entfernt stehen blieb. Der Hund an seiner Seite hatte zu knurren begonnen. Sein Herrchen sah nach unten. »Ich habe das Gefühl, Hannibal mag Sie nicht besonders.«
Wimmer sah ebenfalls den Hund an und zuckte mit den Schultern. Das beruht auf Gegenseitigkeit, hätte er beinahe gesagt, verkniff es sich jedoch. Als Kellner war es gewohnt, seine Gedanken ständig für sich zu behalten und die Gäste trotz allem höflich und zuvorkommend zu behandeln. Dieses Verhalten hatte er nach all den Jahren verinnerlicht, sodass er sich ebenso verhielt, wenn er freihatte und nicht bediente. »Sieht so aus«, sagte er daher nur.
»Das liegt wahrscheinlich daran, dass Sie ihm kein Mineralwasser, so wie ich es gewünscht hatte, sondern ordinäres Leitungswasser vorgesetzt haben«, meinte der dicke Mann und sah wieder Wimmer an.
Der Kellner hatte ein ungutes Gefühl. Die Bösartigkeit, die er in Gegenwart dieses Mannes unterschwellig wahrgenommen hatte, kehrte zurück. Am liebsten wäre er einfach weitergegangen, auch wenn er einen Bogen um den Kerl und seinen Hund machen musste, um seinen Weg fortzusetzen. Er hielt es jedoch für notwendig, etwas auf die Anschuldigung des Mannes zu erwidern und sich zu rechtfertigen. »Sie waren nicht bereit, für das Mineralwasser zu bezahlen. Also bekam Ihr Hund auch nur Leitungswasser. Wenn er das nicht mag, kann ich auch nichts dafür.«
»Hast du das gehört, Hannibal?«, fragte der dicke Mann seinen Hund, dessen Knurren daraufhin zu lautem Gebell wurde.
Doch Wimmer hatte keine Angst vor dem Tier. Es war zu klein, um ihm gefährlich zu werden. Wenn es notwendig sein sollte, würde er dem Köter einfach einen Tritt verpassen, der ihn mindesten fünf Meter wegschleuderte. Anschließend würde er die Beine in die Hand nehmen und wegrennen. Bei dem Gewicht, das der dicke Mann auf die Waage brachte, würde er kaum hinterherkommen. Wenn sich der Kerl überhaupt schneller als in Schrittgeschwindigkeit bewegen konnte. »Warum sind Sie eigentlich noch immer hier?«, stellte Wimmer nun die Frage, die ihn beschäftigte, seit er den Kerl erkannt hatte. »Es ist Stunden her, dass Sie die Wirtschaft verlassen haben.«
Der dicke Mann zuckte mit den Schultern. »Ich sagte doch schon, dass ich mit meinem Hund spazieren gehe. Er musste furchtbar dringend und schert sich dabei nicht um die Uhrzeit. Anschließend müssen wir wohl die Zeit vergessen haben, während wir durch diesen schönen und ruhigen Park spaziert sind. Außerdem lieben wir beide die Natur. Sie ist so …« Er verstummte und suchte nach dem richtigen Wort, bevor er den Satz beendete. »… natürlich.«
»Ich muss jetzt weiter«, sagte Wimmer, der den Mann und seinen Hund endlich loswerden wollte. »Ich hatte einen langen Tag und bin müde.«
»Das ist aber jammerschade. Dabei wollte ich mich mit Ihnen noch einmal über den grottenschlechten Service und den miserablen Fraß unterhalten, den Sie mir vorgesetzt haben. Jetzt, wo wir uns rein zufällig noch einmal über den Weg gelaufen sind. Vom erbärmlichen Leitungswasser für meinen kleinen Liebling ganz zu schweigen.«
Erneut schluckte Wimmer die passende Erwiderung herunter, die ihm auf der Zunge lag, und schwieg.
»Tun Sie sich keinen Zwang an!«, forderte der dicke Mann ihn da auf, als ahnte er, was in dem Kellner vorging. »Sprechen Sie ruhig aus, was Sie denken. Schließlich sind wir hier in diesem menschenleeren Park nicht mehr Gast und Kellner, sondern nur zwei Männer, die sich zufällig begegnet sind. Außerdem sind wir unter uns. Sie können mir also gern ungeniert die Meinung sagen, wenn Sie wollen.«
Wimmer überlegte. Der Mann hatte recht. Sie waren tatsächlich unter sich und in dieser Situation gleichwertig. Also konnte er mit dem Kerl tun, was er schon bei so manchem Gast gern getan hätte: Ihm ordentlich die Meinung geigen.
»Sie sind widerlich!«, platzte es aus dem Kellner heraus, bevor er überhaupt in der Lage war, über das nachzudenken, was er sagen wollte.
»Hört, hört!«, sagte der dicke Mann daraufhin und lachte gehässig. »Ich bin also widerlich? Was noch? Spucken Sie es schon aus, bevor Sie daran ersticken.«
»Sie haben unrecht.«
»Inwiefern?«
»Das Essen bei uns mag nicht mit dem in einem Sterne-Restaurant vergleichbar sein, aber es ist auf keinen Fall ein, wie nannten Sie es noch mal, miserabler Fraß.« Wimmer spürte, wie er allmählich in Fahrt geriet. Endlich konnte er all das herauslassen, was sich in über fünfunddreißig Berufsjahren in ihm angestaut hatte. »Und was den Service betrifft: Ich möchte mich ungern selbst loben, aber ich habe Sie mit Sicherheit nicht schlecht oder falsch, sondern im Gegenteil absolut korrekt und fehlerlos bedient.«
»Sind Sie fertig?«
»Nein, ich bin noch nicht fertig!«
»Dann fahren Sie endlich fort«, sagte der dicke Mann. »Allmählich werde ich nämlich müde. Außerdem wäre ich gern zu Hause, bevor die Morgendämmerung anbricht.«
»Leute wie Sie«, fuhr Wimmer fort, »haben immer an allem etwas auszusetzen. Sie suchen ständig nach dem Haar in der Suppe. Und wenn Sie keins finden, dann reißen Sie sich eben selbst eins aus und werfen es hinein. Und wissen Sie, warum Sie und Ihresgleichen das tun?«
Der dicke Mann zuckte mit den Schultern. »Ich habe ehrlich gesagt keinen blassen Schimmer. Aber da Sie es zu wissen scheinen, klären Sie mich doch bitte auf.«
»Weil Ihr eigenes erbärmliches und inhaltsloses Leben Sie insgeheim ankotzt und Sie es nicht ertragen können, dass andere Menschen glücklich oder zumindest zufrieden mit ihrem Leben sind. Deshalb sind Sie so begierig darauf, anderen das Leben zu vermiesen und zur Hölle zu machen, indem Sie ihre Mitmenschen ständig kritisieren und heruntermachen und nach Dingen suchen, über die Sie sich aufregen können.«
»War’s das jetzt?«
Wimmer nickte. Nach dem Ausbruch fühlte er sich erschöpft. Gleichzeitig war er aber auch erleichtert, dass er endlich hatte aussprechen können, was ihm förmlich auf der Seele gebrannt hatte. Obwohl er bis vor wenigen Augenblicken gar nichts davon geahnt hatte. Erst dieser widerwärtige Mann hatte es zum Vorschein gebracht.
»Das war ja ganz schön starker Tobak«, meinte der andere Mann. »Bist du nicht auch dieser Meinung, Hannibal?«
Als hätte er ihn verstanden und wollte ihm zustimmen, bellte der Hund. Aber vermutlich reagierte er nur jedes Mal automatisch auf die Nennung seines Namens, weil er darauf abgerichtet war.
Dann wandte sich der dicke Mann wieder an Wimmer. »Soll ich Ihnen etwas gestehen?«
Der Kellner sah den anderen Mann argwöhnisch an. Dann nickte er.
»Sie haben vollkommen recht!«
»Was?«
»Natürlich meine ich nicht den Teil, in dem Sie meinten, ich würde ein erbärmliches und inhaltsloses Leben führen, das mich insgeheim ankotzt. Im Gegenteil: Mein Leben ist erfüllt, aufregend und reich an Vergnügen und Abenteuern. Ich liebe es und wünsche mir kein anderes. Aber was den Rest angeht, da haben Sie, verflucht noch eins, einen Volltreffer gelandet.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Wimmer verwirrt.
»Was ist daran denn so schwer zu verstehen, wenn ich Ihnen recht gebe?« Der dicke Mann schüttelte den Kopf. »Also wirklich, Ihnen kann man es auch gar nicht recht machen. Und irgendwie machen Sie es einem damit verdammt schwer, Sie zu mögen. Aber was soll’s. Ich werde es Ihnen erklären.« Er kam noch einen Schritt näher, sodass sie nun so eng zusammenstanden, dass sie sich beinahe berührten. Als er fortfuhr, sprach er unwillkürlich leiser, als befürchtete er, sie könnten belauscht werden: »Selbst wenn das Essen und der Service perfekt gewesen wären, was Sie natürlich nicht waren, wie Sie selbst zugeben müssen, hätte ich kein gutes Haar daran gelassen und an allem herumgemeckert.«
»Aber warum tun Sie das?«
»Einfach nur, um Sie zur Weißglut zu bringen.«
»Um mich zur Weißglut zu bringen? Aber wieso?«
»Ich brauchte schließlich einen vernünftigen Grund, um das zu tun, was ich mit Ihnen vorhabe. Und den haben Sie mir gegeben, als Sie mich widerlich nannten. Denn das kann ich Ihnen bei allem Verständnis leider nicht verzeihen.«
Wimmer hatte gar nicht bemerkt, wie die Hand des Mannes in seiner Jacke verschwunden war, von wo er plötzlich wie ein Bühnenzauberer ein langes Fleischmesser zum Vorschein brachte.
»Was …?«
Wimmer konnte die letzte Frage nicht beenden, denn der dicke Mann riss die Hand mit dem Messer blitzschnell nach oben und fuhr damit über den Hals des Kellners. Im ersten Augenblick empfand Wimmer gar nichts und dachte, der Kerl hätte ihn verfehlt. Doch dann spürte er jäh, dass eine warme Flüssigkeit über seine Brust und in seinen Hals lief. Wimmer gurgelte hilflos. Seine Beine knickten ein, und er sank auf die Knie. Das Blut spritzte und sprudelte aus dem Schlitz in seinem Hals und schien jegliche Wärme und Energie mit sich zu nehmen, denn rasch breiteten sich eisige Kälte und Kraftlosigkeit in seinem ganzen Körper aus. Er kippte zur Seite und rollte dann auf den Rücken. Mit den bloßen Händen wollte er den Blutstrom stoppen, doch sein Lebenssaft sprudelte zwischen seinen Fingern hindurch und ließ sich nicht aufhalten. Er starrte zu dem dicken Mann empor, der lächelnd auf ihn herunterblickte, das Messer mit der blutigen Klinge noch immer in der Hand. Dann verließ ihn jegliche Kraft und Wärme. Seine Hände sanken herab und blieben reglos liegen. Die letzte Atemluft entwich durch den tiefen Schnitt, der seinen Hals durchtrennt hatte, und ließ das Blut Blasen werfen. Dann trübte sich sein Blick, und Edgar Wimmer nahm nichts mehr wahr.
Der Mörder wartete geduldig, bis der Blutfluss zum Erliegen kam.
»War viel einfacher, als ich dachte«, sagte er zu seinem Hund, der erwartungsvoll neben ihm saß und die Leiche ebenfalls ansah. »Ich habe insgeheim mit etwas mehr Gegenwehr gerechnet. Aber so ist es natürlich viel besser. Ein Kampf hätte nur den Adrenalinspiegel erhöht und sich negativ auf das Fleisch ausgewirkt.« Er lächelte.
In diesem Moment erinnerte er sich an die Verpflichtung, die er übernommen hatte, und holte mit seiner freien Hand einen Tiefkühlbeutel aus einer der Taschen seiner blutbefleckten Outdoorweste. Er entnahm dem Beutel den kleinen Gegenstand, der sich darin befand, und steckte ihn in die linke Socke der Leiche, wo er nicht vom Blut befleckt werden konnte, das dem Toten über die Brust gelaufen und sein Hemd durchtränkt hatte. Nachdem er den Klarsichtbeutel zusammengeknüllt und wieder eingesteckt hatte, wandte er sich erneut an seinen Hund: »Was meinst du, Hannibal? Wollen wir uns nach dem miserablen Wirtshausfraß heute Nacht noch ein Stück gebratene Niere gönnen?«
Der Yorkshire Terrier bellte und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz.
»Gut. Dann werde ich mich mal ans Werk machen.«
Der dicke Mann ging laut ächzend neben der Leiche in die Knie und machte sich dann fachmännisch mit dem Fleischmesser an die Arbeit.