Читать книгу DER WIDERSACHER - Eberhard Weidner - Страница 8
Kapitel 4
ОглавлениеDas Haus sah aus wie eine Baustelle.
Die Mitarbeiter der Fensterfirma hatten im Laufe des Tages sämtliche alten Holzfenster im Obergeschoss und sogar schon einen kleinen Teil im Erdgeschoss ausgebaut und durch neue hochmoderne, energiesparende Kunststofffenster ersetzt. Der Rest der Arbeiten – die Fenster im Wohnzimmer, im Esszimmer und im Gäste-WC – sollte dann am darauffolgenden Tag durchgeführt werden.
Und da Anja Spangenberg schon mal dabei war, das Häuschen zu renovieren, das sie von ihrem verstorbenen Ehemann Fabian geerbt hatte, hatte sie sich spontan dazu entschlossen, eine neue Küche einbauen zu lassen und die Innenwände zu streichen.
Die alte Küche war ebenfalls an diesem Tag abgebaut und abtransportiert worden. Sie war mindestens fünfunddreißig Jahre alt und noch von Fabians Großeltern angeschafft worden, denen das Haus einst gehört hatte, bevor es nach ihrem Tod an den einzigen Enkel gegangen war. Wenn alles wie geplant klappte, was sie inständig hoffte, erwartete sie am kommenden Tag den Fliesenleger, um die alten, im Laufe der Jahre unansehnlich gewordenen braunen Fliesen zu entfernen, die anschließend durch eine moderne Küchenrückwand aus Acryl ersetzt wurden. Außerdem musste der Elektriker die Stromleitungen überprüfen und gegebenenfalls neue verlegen, während der Klempner die Überprüfung und eventuelle Erneuerung der vorhandenen Wasseranschlüsse durchführen sollte. Das Anstreichen der Wände übernahm Anja anschließend selbst, bevor dann endlich die neue Küche eingebaut werden konnte.
Sie hatte vor, nach und nach sämtlichen Innenwänden einen neuen Anstrich zu verpassen, was ihrer Ansicht nach ebenfalls längst überfällig war. Mit dem Arbeitszimmer hatte sie am heutigen Tag den Anfang gemacht. Sie wollte es bei der Gelegenheit auch neu einrichten, um nicht ständig, sobald sie den Raum betrat, daran erinnert zu werden, dass sie an diesem Ort den Leichnam ihres Mannes gefunden hatte.
Anja seufzte. Sie verdrängte die schmerzhaften Erinnerungen an ihren ermordeten Ehemann und die Bilder, die diese unwillkürlich mit sich brachten, und besann sich stattdessen wieder auf das Hier und Jetzt.
Die Handwerker hatten ihre Arbeit für heute bereits beendet und waren gegangen. Sie war daher allein im Haus, denn nicht einmal ihr Mitbewohner Yin war da. Als am frühen Morgen die Invasion der Arbeiter eingesetzt hatte und kurz danach lautes Bohren und Hämmern durchs Haus geschallt war, hatte der schwarze Kater vor dem Lärm und dem Aufruhr die Flucht ergriffen und das Haus verlassen. Seitdem war er nicht mehr zurückgekehrt. Aber vermutlich würde ihn der Hunger alsbald wieder in sein Zuhause zurückführen. Vor allem, nachdem nun fürs Erste wieder Ruhe eingekehrt war.
Anja hatte für den heutigen Tag ebenfalls Feierabend gemacht. Sie musste morgen nur noch die Fensterseite streichen, die sie wegen der Erneuerung des Fensters heute ausgelassen hatte, dann wäre sie zumindest schon mal mit dem Arbeitszimmer fertig. Sie erledigte das Malern aber nicht nur deshalb selbst, um Geld zu sparen. Bei den Unsummen, die allein die neuen Fenster und die Küche kosteten, käme es auf das Geld für einen professionellen Maler ihrer Meinung nach auch nicht mehr an. Sie tat es, weil sie momentan zu viel Zeit hatte und ihr ansonsten sterbenslangweilig wäre.
Nach dem Tod des Mordermittlers Anton Krieger, der aller Voraussicht nach von demselben Mann ermordet worden war, der auch schon ihren Vater, ihren Ehemann und zahlreiche andere Menschen auf dem Gewissen hatte und den sie den Widersacher nannte, war Anja nichts anderes übriggeblieben, als ihren unmittelbaren Dienstvorgesetzten bei der Vermisstenstelle der Kripo München, Kriminalrat Alexander Zumbruch, über all die Dinge in Kenntnis zu setzen, die sie bislang beharrlich verschwiegen hatte, um selbst gegen ihren Widersacher ermitteln zu können. Da sie dadurch nach Meinung ihrer Vorgesetzten die offiziellen Ermittlungen behindert hatte, was schlussendlich auch zum tragischen Tod des Kollegen von der Mordkommission geführt hatte, war wegen des Verdachts eines schwerwiegenden Dienstvergehens ein Disziplinarverfahren gegen sie eingeleitet worden. Gleichzeitig war sie vorläufig ihres Dienstes enthoben und angeordnet worden, dass fünfundzwanzig Prozent ihrer Dienstbezüge einbehalten wurden.
Zum Glück war sie auf das Geld nicht angewiesen. Sie hatte nach dem Tod ihres Mannes nicht nur dieses Haus, sondern auch sein Vermögen geerbt. Außerdem hatte Fabian, ohne dass sie davon wusste, ein paar Jahre vor seinem Tod eine Risikolebensversicherung abgeschlossen, deren Begünstigte sie gewesen war. Sie litt also zumindest keine materielle Not.
Schwerer wog die Suspendierung. Anja war mit Leib und Seele Ermittlerin in der Vermisstenstelle, deshalb fehlte ihr die Arbeit auch sehr. Um sich gegen die drohende Beendigung des Beamtenverhältnisses zur Wehr zu setzen, hatte sie sich einen Anwalt genommen. Doch der hatte ihr aufgrund ihrer Vergehen bislang nur wenig Hoffnung machen können, dass das Disziplinarverfahren zu ihren Gunsten ausgehen könnte.
Anja seufzte erneut. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, bevor sie sich umdrehte und das Arbeitszimmer verließ. Sie hatte bereits die Farbroller und Pinsel gereinigt und den Farbeimer sorgfältig verschlossen. Außerdem hatte sie die alten Klamotten, die sie beim Malern getragen hatte, ausgezogen, sich Gesicht und Hände gewaschen und war in ihre Joggingsachen geschlüpft. Sie wollte nicht herumhocken, Däumchen drehen und darauf warten, dass Yin endlich nach Hause kam, sondern verspürte den Drang, sich zu bewegen. Deshalb hatte sie beschlossen, im Westpark ein paar Runden zu drehen. Ihre Armmuskeln schmerzten zwar von der ungewohnten Malertätigkeit am heutigen Tag – vor allem das Streichen der Decke war in die Arme gegangen –, aber schließlich lief sie nicht mit den Armen, sondern mit den Beinen. Die Schmerzen taugten daher ihrer Meinung nach nicht als Entschuldigung.
Da die Küche momentan unbenutzbar war, hatte sie in einer Ecke des Esszimmers eine kleine Ersatzküche eingerichtet. Dort stand ein kleiner Kühlschrank, der die Ausmaße einer Minibar in einem Hotelzimmer hatte. Daneben ein Tisch mit einer Doppelkochplatte und ihrer Kaffeemaschine. Vor allem auf Letztere konnte und wollte sie auf keinen Fall verzichten. Außerdem standen hier auch Yins Näpfe. Da sie nicht warten wollte, bis das Tier sich endlich dazu bequemte, nach Hause zu kommen, füllte sie einen der Näpfe im Bad mit Wasser und einen zweiten mit Katzenfutter aus der Dose. So musste der Kater wenigstens nicht hungern, wenn er während ihrer Abwesenheit nach Hause kam.
Danach verließ sie das Haus umgehend, schloss die Tür hinter sich und sperrte gewissenhaft ab.
Nur wenige Schritte von der Tür entfernt stand ein Gestell mit den restlichen Fenstern, die am nächsten Tag eingebaut werden sollten. Unmittelbar daneben befand sich ein Bauschuttcontainer, in den die Arbeiter die alten Fenster und den entstandenen Schutt geworfen hatten.
Anja ging darum herum und an ihrem weißen MINI Cooper vorbei, der vor der geschlossenen Garage stand, die vom Porsche ihres verstorbenen Mannes in Beschlag genommen wurde. Kaum hatte sie den Wagen passiert, bog ein dunkelblauer BMW in ihre Einfahrt. Anja blieb stehen und sah dem Fahrzeug teils neugierig, teils argwöhnisch entgegen. Sie kannte das Auto nicht, und außerdem erwartete sie ohnehin keinen Besuch.
Der BMW kam hinter ihrem MINI zum Stehen. Ohne den Motor abzustellen, öffnete der Fahrer die Tür und stieg aus.
»Was will denn der Kriminaldauerdienst von mir?«, fragte Anja, sobald sie den Mann erkannt hatte.
»Von wegen Kriminaldauerdienst«, entgegnete Kriminaloberkommissar Andreas Plattner grinsend. »Ich bin jetzt beim Mord.«
Plattner war einunddreißig Jahre alt, ein Meter einundachtzig groß und schlank. Er hatte blassgrüne Augen, kurzgeschnittenes rotbraunes Haar und einen rotbraunen Vollbart. Jedes Mal, wenn Anja ihn sah, erinnerte er sie unwillkürlich an den irischen Schauspieler Michael Fassbender. Anja hatte ihn – den Kollegen, nicht Michael Fassbender! – vor wenigen Wochen kennengelernt. Damals hatte er mit Kriminalhauptkommissarin Melissa Schubert ein Team des kriminalpolizeilichen Dauerdienstes gebildet, dem Bereitschaftsdienst der Kripo. Allerdings hatte er Anja schon damals erzählt, dass er gern zur Mordkommission wechseln wollte, sobald dort eine Stelle frei werden sollte, weil ihn Todesfälle interessierten. Nicht nur das hatte Anja, die nach Möglichkeit einen großen Bogen um jede Leiche machte, an ihm irritiert, sondern auch seine nervige Angewohnheit, ständig, selbst in den unpassendsten Momenten, breit zu grinsen.
»Glückwunsch«, sagte Anja, trat näher und schüttelte ihm die Hand. »Dann hat es ja endlich geklappt, und Ihr Traum wurde wahr.«
»Ja.« Er lächelte mit stolzgeschwellter Brust, doch dann verschwand das Lächeln jäh aus seinem Gesicht und machte einer betroffenen Miene Platz. »Allerdings gibt es bei der Geschichte auch einen Wermutstropfen. Denn es musste erst ein Kollege sterben, bevor ich endlich zur Mordkommission wechseln konnte.«
»Ach.« Anja riss überrascht die Augen auf. »Sie meinen Anton Krieger. Dann haben Sie also seine Stelle und arbeiten jetzt mit Peter Englmair zusammen?«
Plattner nickte. »Ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus.«
Anja schüttelte den Kopf. »Wieso sollte es?«
»Na ja, Sie kannten Krieger doch und haben oft mit ihm zusammengearbeitet. Da dachte ich …« Er ließ den Rest ungesagt, als wüsste er nicht, wie er den Satz beenden sollte.
»Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Ich kannte Anton Krieger und schätzte ihn auch als Polizisten, aber wir waren nicht unbedingt die besten Freunde.« Was sogar noch gewaltig untertrieben war, aber mehr musste Plattner Anjas Ansicht nach nicht wissen. »Außerdem ist er tot, so traurig das auch ist, und irgendjemand musste die freie Position übernehmen. Warum also nicht Sie, wenn das ohnehin Ihr Herzenswunsch war?«
Das Grinsen kehrte auf Plattners Gesicht zurück. »Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen«, meinte er. »Ich befürchtete schon, Sie würden mich nicht als Peter Englmairs neuen Kollegen in der Mordkommission akzeptieren.«
»Im Gegenteil, ich freue mich für Sie. Außerdem kann Englmair Ihre Hilfe bestimmt gut gebrauchen. Aber was hat denn Ihre bisherige Kollegin beim KDD dazu gesagt?«
Plattner schnitt eine Grimasse. »Als ich es ihr erzählte, war sie natürlich im ersten Moment ganz schön angefressen und wollte gar nicht mehr mit mir reden. Aber dann hat sie es schließlich doch akzeptiert. Sie hat jetzt einen neuen Partner, der vorher beim Einbruchsdezernat war. Und wie ich hörte, kommen die beiden prima miteinander aus, sodass Melissa mir mittlerweile verziehen hat.«
»Und wie lange sind Sie jetzt schon beim Mord?«
»Seit drei Wochen«, sagte Plattner grinsend. »Ich bin also in Sachen Mord gewissermaßen noch grün hinter den Ohren.«
»Das wird sich schnell ändern, da bin ich mir sicher«, entgegnete Anja. »Und in Peter Englmair haben Sie einen guten Lehrmeister. Aber was führt Sie zu mir?« Sie hob Einhalt gebietend die Hand, als der frischgebackene Mordermittler antworten wollte. »Lassen Sie mich raten: Sie kommen natürlich wegen eines Mordfalls.«
Plattner wiegte den Kopf hin und her. »Sozusagen.«
»Was heißt hier sozusagen?«
»Lassen Sie sich überraschen.«
Anja hatte schon bei ihrer ersten Begegnung bemerkt, dass der Kollege sich gern geheimniskrämerisch gab. »Und was heißt das?«
»Mein Kollege hat mich hergeschickt. Er hat mir aufgetragen, Sie abzuholen. Sie sollen sich etwas ansehen.«
Eine ungute Ahnung befiel Anja. In der Regel hatte es für sie nichts Gutes zu bedeuten gehabt, wenn die Kollegen der Mordkommission sie in letzter Zeit zu einem Tatort gerufen hatten. Außerdem erschauderte sie schon allein bei dem Gedanken, dass sie es heute noch mit einem Leichnam zu tun bekommen könnte. »Ich wollte zum Joggen gehen«, wandte sie daher ein.
»Das kann warten.«
»Kann ich mich wenigstens vorher noch duschen und umziehen?« Das würde das unangenehme Erlebnis zwar nur hinauszögern, aber immerhin hätte sie mehr Zeit, sich mental darauf vorzubereiten.
»Nicht nötig«, sagte Plattner. »Da, wo wir hingehen, reicht ihr Outfit allemal. Außerdem wartet Peter ungeduldig auf uns.«
Anja seufzte tief. »Na gut.« Sie wandte sich ab und umrundete den Wagen des Mordermittlers. »Aber beschweren Sie sich hinterher bloß nicht, dass es in ihrem Auto nach Schweiß riecht. Ich habe nämlich heute die Wände und die Decke meines Arbeitszimmers geweißelt und bin dabei gehörig ins Schwitzen gekommen.«
»Ich werde es überleben«, erwiderte Plattner grinsend, setzte sich wieder hinters Steuer und schloss die Tür.
Sie nahm neben ihm Platz. Bevor sie sich anschnallen konnte, fuhr Plattner bereits rückwärts aus der Einfahrt. »Wieso haben wir es so eilig?«
»Weil ich der Neue im Team bin und meinen Kollegen ungern warten lasse, wenn er mir einen Auftrag erteilt.«
Anja nickte verständnisvoll. »Verstehe. Na, dann geben Sie mal tüchtig Gas, damit Englmair nicht länger als unbedingt notwendig auf uns warten muss.«
»Zu Befehl!«, sagte Plattner und tat genau das.
Ihr Ziel lag in Harlaching, einem Stadtteil mit viel Grün und zugleich eine der ruhigsten und vornehmsten Wohngegenden Münchens, unmittelbar an der Isar gelegen und in Nachbarschaft zum Tierpark Hellabrunn sowie zu den Trainingsstätten des FC Bayern München.
Trotz des dichten Verkehrs, des einen oder anderen leichten Staus und einer Baustelle schafften sie die Strecke erstaunlich rasch in fünfundzwanzig Minuten.
Plattner hielt vor einem imposanten und stilvollen Mehrfamilienhaus unweit des Tierparks, und sie stiegen aus.
Anja sah sich um. Sie hatte einen Tatort mit dem üblichen Aufgebot an Streifenpolizisten, Kriminaltechnikern, Mordermittlern und dem unvermeidlichen Gerichtsmediziner erwartet, doch davon war nicht das Geringste zu entdecken. Sie sah daher Plattner fragend an und hob die Schultern.
»Kommen Sie!«, forderte er sie mit dem obligatorischen Grinsen im Gesicht auf und ging voraus.
Sie zuckte mit den Schultern und seufzte. Doch was blieb ihr anderes übrig, als ihm zu folgen?
Es ging zu einer Tiefgaragenzufahrt. An den Überresten eines rotweißen Flatterbands, die hier und da noch herumlagen, erkannte Anja, dass die Tiefgarage bis vor Kurzem gesperrt gewesen sein musste. Allmählich wurde es interessant. Da das Zufahrtstor offen war, konnten sie die unterirdische Garage ungehindert betreten. Im Licht der für eine Tiefgarage erstaunlich hellen Beleuchtung bewunderte Anja die Autos, die auf einigen Stellplätzen geparkt waren. Es handelte sich fast ausschließlich um Fahrzeuge der Oberklasse oder schnittige Sportwagen. Mit einem schwarzen Mercedes, den sie auf ihrem Weg passierten, hatten sich offensichtlich intensiv die Kriminaltechniker befasst, denn das Fahrzeug war an zahlreichen Stellen, vor allem an der Fahrertür und am Kofferraumdeckel, mit weißem Fingerabdruckpulver bestäubt.
Schließlich entdeckte sie auch Kriminalhauptkommissar Peter Englmair von der Mordkommission, der in der Nähe der Aufzugstür stand und ihnen erwartungsvoll entgegensah.
Englmair war 42 Jahre alt, von durchschnittlicher Statur und eins achtzig groß. Er hatte kurze dunkelblonde Haare und grünbraune Augen.
Erst als sie sich ihm bis auf wenige Schritte genähert hatte, bemerkte Anja die Kreidestriche auf dem Boden der Tiefgarage unmittelbar vor der Aufzugstür. Sie bildeten die Umrisse eines menschlichen Körpers. Außerdem sah sie dunkle Flecken aus getrocknetem Blut.
Also handelte es sich bei diesem Ort tatsächlich um einen Tatort, was zumindest die Anwesenheit der beiden Mordermittler erklärte. Allerdings waren allem Anschein nach die kriminaltechnischen Untersuchungen beendet und die Leiche längst abtransportiert worden. Anja atmete erleichtert auf und spürte, wie die Anspannung und innere Erregung, die sie auf der Fahrt hierher unwillkürlich erfasst hatten, ein wenig nachließen.
Englmair lächelte freundlich, als sie sich begrüßten. Es war ungewohnt, ihn ohne seinen langjährigen Partner Krieger zu sehen. Die beiden waren von den Kollegen oft scherzhaft als siamesische Zwillinge bezeichnet worden. Erstens waren sie nahezu unzertrennlich gewesen, zweitens hatten sie sich trotz eines erheblichen Größenunterschieds ausgesprochen ähnlich gesehen. Doch dann hatte Englmair in den letzten Monaten abgenommen und sich die Haare wachsen lassen, sodass die Ähnlichkeit zwischen ihnen immer weniger geworden war. Und nun war Krieger tot, und Englmair hatte einen neuen Partner. Also sollte sie sich allmählich daran gewöhnen.
Anja bedauerte den Tod des Mordermittlers sehr. Andererseits war sie, wenn sie ehrlich sein wollte, aber auch ein wenig erleichtert, dass er jetzt nicht hier war, denn vermutlich wäre er bei ihrem Anblick sofort wieder auf Konfrontationskurs gegangen. Und darauf konnte sie bei allem Ärger, den sie derzeit ohnehin hatte, gut und gerne verzichten.
Nach Kriegers Tod hatten Anja und Englmair sich geschworen, zusammenzuarbeiten, um seinen Mörder zu finden. Seitdem telefonierten sie häufig miteinander und trafen sich auch gelegentlich. Allerdings geschah das stets privat und außerdienstlich.
Das heutige Treffen war etwas anderes, denn es war allem Anschein nach offiziell. Vermutlich hatte Englmair deshalb seinen neuen Partner geschickt, um Anja hierher zu bringen, und sie nicht einfach angerufen und herbestellt.
»Da bin ich!«, sagte Anja und breitete die Arme aus. Sie sah auf die Kreideumrisse und Blutflecken auf dem Boden. »Sagt mir jetzt endlich mal jemand, warum ich hier bin?« Da Englmair wusste, dass sie vom Dienst suspendiert war, musste sie ihn nicht extra daran erinnern. Wenn er sie dennoch an diesen Ort geholt hatte, um mit ihr über einen seiner Fälle zu sprechen, musste er einen verdammt guten Grund dafür gehabt haben.
»Sagt dir der Name Doris Sonntag etwas?«, fragte Englmair, als wäre sie eine Verdächtige in einem Mordfall. Es beruhigte sie allerdings, dass er dabei noch immer ein freundliches, väterliches Lächeln auf dem Gesicht trug.
Anja schüttelte den Kopf. »Noch nie gehört. Ist das der Name des Opfers?« Sie deutete mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf den Kreideumriss und das getrocknete Blut auf dem Boden, neben dem Fingerabdruckpulver an der geschlossenen Aufzugstür die einzig verbliebenen Hinweise, dass hier vermutlich ein Verbrechen verübt worden war.
Die beiden Mordermittler nickten nahezu synchron. Englmair nicht länger lächelnd, sondern mit der gebotenen Ernsthaftigkeit, Plattner hingegen weiterhin grinsend, als wäre das alles nur ein Spaß.
»Sie war Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit eigener Praxis«, erklärte Englmair. »Vierzig Jahre alt, verheiratet mit einem Schönheitschirurgen, keine Kinder. Ihnen gehört eine sündteure Eigentumswohnung in diesem Haus.«
»Sagt mir alles nichts. Was ist passiert?« Anja verschränkte die Arme vor der Brust, verlagerte das Gewicht und stellte sich bequemer hin. Sie ging davon aus, dass diese Unterredung länger dauern würde. Da die Beleuchtung nicht ausging, nahm sie an, dass der Hausmeister auf Veranlassung der Polizei die Zeitschaltuhr abgestellt und auf Dauerbeleuchtung umgeschaltet hatte.
Englmair sah Plattner an und nickte ihm zu, um es seinem Partner zu überlassen, Anja über die Einzelheiten des Falls aufzuklären. Plattner räusperte sich kurz, bevor er zu sprechen anfing. Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht, als er sich auf die Fakten konzentrierte. »Frau Sonntag war nach der Arbeit noch beim Einkaufen, weil ihr Mann jemanden überraschend zum Essen eingeladen hatte. Anschließend fuhr sie hierher. Über der Einfahrt ist eine Kamera installiert, und auf der Aufnahme sieht man, wie sie in die Tiefgarage fährt.«
»Saß sie am Steuer?«, fragte Anja. »Und war sie allein im Fahrzeug?«
»Sie steuerte den Wagen, und soweit man es sehen kann, war außer ihr niemand sonst im Auto.«
»Und dann?«
»Sie parkte den Mercedes auf ihrem Stellplatz und ging mit ihrer Handtasche und zwei Einkaufstüten zum Aufzug. Hier hat sie dann ihren Mörder getroffen. Als er auf sie losging, ließ sie alles fallen. Er tötete sie anschließend mit einem einzigen Stich ins Herz.«
»Die Tatwaffe?«
»Vermutlich ein Dolch mit einer beidseitig geschliffenen und spitz zulaufenden Klinge.«
»Wurde sie vergewaltigt?«, fragte Anja, was zunächst einmal naheliegend war.
Doch Plattner schüttelte verneinend den Kopf.
»Raubmord?«
»Ebenfalls Fehlanzeige«, schaltete sich Englmair ein. »Von ihren Sachen fehlte absolut nichts. Geldbörse und Schmuck waren unangetastet.«
»Was ist mit dem Ehemann? Hat er ein Alibi?«
»Das hat er in der Tat«, sagte Plattner. »Sogar ein absolut überzeugendes, denn er hat zu dem Zeitpunkt, als seine Frau umgebracht wurde, eine Schönheitsoperation durchgeführt. Dafür gibt es ungefähr ein halbes Dutzend Zeugen.«
Anja seufzte. »Wäre nicht das erste Mal, dass ein Ehemann jemanden mit dem Mord an seiner Frau beauftragt und dafür sorgt, dass er selbst ein hieb- und stichfestes Alibi hat.«
»Das ist natürlich durchaus möglich«, sagte Englmair. »Aber in dem Fall müsste er ein hervorragender Schauspieler sein, denn er erlitt einen Schwächeanfall und kippte einfach um, als wir ihn über den Tod seiner Frau informierten. Ich dachte schon, er hätte einen Herzinfarkt und würde ebenfalls sterben. Der Notarzt, den wir gerufen hatten, gab ihm dann ein Beruhigungsmittel. Außerdem informierten wir seine Schwester, die sich seitdem um ihn kümmert. Es geht ihm zwar noch immer schlecht, doch inzwischen konnten wir ihm zumindest ein paar Fragen stellen. Dabei haben wir erfahren, wo er zum Zeitpunkt ihres Todes war und dass weder seine Frau noch er irgendwelche Feinde haben.«
Anja zuckte ratlos mit den Schultern und sah sich um. »Wenn es der Ehemann nicht war, und sowohl ein Sexualverbrechen als auch ein Raubmord ausscheiden, warum wurde sie dann getötet?«
»In den letzten drei Jahren gab es vier nahezu identische Mordfälle«, ließ Englmair die Katze endlich aus dem Sack. »Allerdings nicht hier in München, nicht einmal in Bayern, sondern in Norddeutschland. In allen vier Fällen wurden sowohl weibliche als auch männliche Psychiater und Psychotherapeuten ermordet. Und jedes Mal wurden sie mit einem einzigen gezielten Dolchstoß ins Herz getötet.«
»Ein Serienkiller also«, sagte Anja.
»Sieht ganz danach aus.«
Anja überlegte fieberhaft. Obwohl sie bei der Vermisstenstelle arbeitete und im Grunde nur nach vermissten Personen suchte, hatte sie es in den letzten Jahren mehrere Male mit Serienmördern zu tun bekommen. Deshalb war sie allerdings noch lange keine Expertin auf diesem Gebiet. Es musste daher noch einen anderen Grund für ihr Hiersein geben, auch wenn dieser nicht sofort ersichtlich war. »Wann geschah der Mord eigentlich?«
»Gestern Abend«, sagte Plattner.
»Gestern Abend?«, echote Anja erstaunt. »Und warum habt ihr mich erst jetzt hierher gebracht?«
»Wir waren anderweitig beschäftigt«, sagte Englmair, ohne näher darauf einzugehen, was sie in der Zeit getrieben hatten.
»Okay«, sagte Anja und nickte nachdenklich. »Jetzt bin ja hier. Aber ich weiß immer noch nicht, was ich hier soll.« Sie sah Englmair erwartungsvoll an. »Entweder du sagst mir endlich, was dahintersteckt, oder ich schwöre dir, ich verlasse auf der Stelle diese Tiefgarage, fahre mit dem Taxi nach Hause und schicke dir dann die Rechnung.«
Englmair lächelte. »Das glaube ich dir sogar. Es wird aber nicht nötig sein.« Er griff in die Innentasche seiner Jacke, holte einen Stapel Fotografien heraus und reichte ihn Anja. »Das sind die Tatortfotos. Tu mir bitte den Gefallen und sieh sie dir an.«
Anja seufzte, senkte den Blick und sah sich das oberste Foto an. Es war in der Tiefgarage, allerdings aus einiger Entfernung aufgenommen worden, sodass die Frauenleiche im Hintergrund kaum als solche zu erkennen war. Sie nahm das Foto und steckte es nach hinten. Bei der nächsten Aufnahme war der Fotograf schon näher dran gewesen, doch noch immer war von dem Leichnam kaum etwas zu erkennen. Man konnte allerdings die beiden bunten Einkaufstüten und die Handtasche sehen, von denen Plattner gesprochen hatte und die inzwischen weggeräumt worden waren. Sie besah sich aufmerksam ein Bild nach dem anderen. Da sich der Fotograf dem Leichnam immer mehr angenähert hatte, nahm dieser immer mehr Raum auf den Aufnahmen ein, wodurch auch immer mehr Details erkennbar waren, bis die Leiche schließlich in Großaufnahme und all ihrer Schrecklichkeit zu sehen war. Anja erschauderte bei dem Anblick, doch es war nichts gegen das Angstgefühl, das sie stets hatte, wenn sie sich in direkter Gegenwart einer menschlichen Leiche befand.
Langsam arbeitete sie sich durch den Stapel in ihrer Hand und beäugte eine Aufnahme nach der anderen aufmerksam. Doch nichts, was sie darauf sah, erklärte, warum sie hier war. Doch dann war auf einer der letzten Aufnahmen in Großaufnahme eine rechteckige weiße Karte zu sehen. Die Karte war ihr bereits vorher aufgefallen, denn sie hatte in der Nähe der einzelnen Stichwunde auf dem Leichnam gelegen, Anja hatte ihr aber keine besondere Bedeutung beigemessen. Doch nun, aus unmittelbarer Nähe, erkannte sie, dass es sich um eine Visitenkarte handelte. Und nicht etwa um irgendeine Visitenkarte, denn Anjas Name, ihr Dienstgrad und ihre dienstliche Telefonnummer standen darauf.
Jäh überkam sie ein Gefühl von Déjà-vu, als sie sich unwillkürlich daran erinnerte, dass schon einmal Visitenkarten von ihr an mehreren Tatorten zurückgelassen worden waren. Damals hatte ihr Widersacher mit der Hilfe eines Serienkillers versucht, ihr mehrere Morde an Menschen, die sie in ihrer Kindheit gekannt hatte, in die Schuhe zu schieben. Beinahe wäre ihm das auch gelungen. Zeitweise hatte Anja sogar selbst geglaubt, sie hätte die Morde im Alkoholrausch begangen, und deshalb sogar Beweismittel beiseitegeschafft, die sie belasteten. Der Anblick der Visitenkarte weckte in Anja nun zahlreiche ungute Erinnerungen, denn es war damals ausgerechnet Krieger gewesen, der sie aufgrund der Spurenlage der Morde verdächtigt hatte. Nachdem schließlich der wahre Täter getötet worden war, hatte sich Krieger bei ihr entschuldigt; allerdings war er seitdem stets besonders misstrauisch ihr gegenüber gewesen. Er war davon überzeugt gewesen, dass Anja ihren Kollegen wichtige Informationen vorenthalten hatte und insgeheim ihr eigenes Süppchen kochte. Und damit hatte er nicht einmal unrecht gehabt, auch wenn er ihr dabei kriminelle Motive unterstellt hatte, die sie nicht besaß.
»Jetzt wissen Sie, warum Sie hier sind«, sagte Plattner.
Anja hob den Blick und sah ihn an. »Aber ich kannte die Frau doch gar nicht.«
»Sind Sie sich sicher?«
Sie nickte. »Absolut! Ich bin dieser Psychiaterin noch nie im Leben begegnet.«
»Warum hat der Täter dann Ihre Visitenkarte auf die Leiche gelegt?«
»Das kann ich Ihnen auch nicht sagen.« Anja seufzte. »Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass dahinter derselbe Kerl steckt, der meinen Vater, meinen Mann und Krieger umgebracht hat. Anscheinend hat er wieder damit begonnen, seine Spielchen mit mir zu treiben.«
Englmair nickte. »Das dachte ich mir auch gleich, als ich die Visitenkarte sah. Deshalb hielt ich es für das Beste, dass du von der Sache erfährst.«
»Wovon redet ihr zwei eigentlich?«, fragte Plattner irritiert.
»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte Anja und sah Englmair fragend an.
Der zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist es besser, wenn wir ihn einweihen. Schließlich spielt er jetzt in unserem Team.«
»Einweihen in was?«
Anja nickte und sah Plattner an. »Es gibt da jemanden, der es auf mich abgesehen hat und mir seit einiger Zeit immer wieder das Leben schwermacht, indem er Leute umbringt oder umbringen lässt. Anschließend verwickelt er mich dann in diese Mordserien, indem er mir Nachrichten schickt oder es so aussehen lässt, als hätte ich die Taten begangen. Fragen Sie mich aber bitte nicht, warum er das tut, denn das weiß ich nicht. Ich nenne diesen Mann den Widersacher. Wenn er allerdings im Darknet mit anderen Psychopathen kommuniziert, dann lässt er sich von ihnen Jack nennen.«
»Jack?« Plattner lachte. »Wie in Jack the Ripper etwa? Echt jetzt? Ihr wollt mich bloß verarschen, oder? Das ist ein Streich, den man den Neulingen in der Mordkommission spielt. Und gleich kommen die Kollegen hereingestürmt, lachen sich scheckig, weil ich euch auf den Leim gegangen bin, und rufen: ›Hereingelegt, Grünschnabel!‹«
»Schön wär’s«, sagte Englmair und sah Anja an. »Wieso sind wir nicht auf diese Idee gekommen?«
Anja zuckte mit den Schultern. »Vermutlich, weil man mit so etwa, vor allem an einem Tatort wie diesem, keine Scherze treibt.«
»Daran wird’s wohl liegen«, stimmte Englmair zu.
»Ihr meint das also wirklich ernst?«, fragte Plattner noch einmal nach. Das Grinsen war ihm scheinbar vergangen, denn er guckte reichlich konsterniert aus der Wäsche.
»Todernst!«, versicherte ihm Anja. »Außerdem haben wir uns den Namen nicht ausgedacht, den hat er selbst gewählt. Vermutlich ist die Assoziation mit dem berühmtesten Serienmörder aller Zeiten dabei durchaus beabsichtigt. Der Widersacher ist allem Anschein nach sehr von sich und seinen Fähigkeiten überzeugt. Und dazu hat er auch allen Grund, denn bislang ist es niemandem gelungen, ihn für seine Taten zur Rechenschaft zu ziehen oder auch nur seine wahre Identität zu enthüllen.«
»Und was hat dieser mysteriöse Jack so alles angestellt?«, fragte Plattner.
»Soweit wir wissen, begann alles vor annähernd sechsundzwanzig Jahren. Damals wurden hier in München drei Mädchen entführt, die bis auf ihr langes dunkelbraunes Haar, das Geschlecht und die Altersgruppe kaum etwas gemeinsam hatten. Ich kannte sogar eines der Mädchen; sie hieß Helena und ging mit mir in eine Klasse. Mein Vater war damals für die Vermisstenfälle zuständig und leitete zusammen mit seinem Partner die Sonderkommission, die gebildet worden war. Doch noch während der Ermittlungen starb mein Vater. Ich fand damals seine Leiche, als ich nach Hause kam und die Tür zu seinem Arbeitszimmer öffnete. Der Widersacher hatte ihn getötet, weil mein Vater ihm vermutlich auf die Schliche gekommen war und zur Rede gestellt hatte. Er hatte den Mord allerdings erfolgreich als Selbstmord inszeniert, sodass jahrelang alle – auch ich – davon ausgingen, er hätte Suizid begangen.« Anja verstummte und verdrängte die schmerzhaften Erinnerungen an damals, die sie noch heute gelegentlich in furchtbaren, immer wiederkehrenden Albträumen quälten.
»Und was passierte dann?«, fragte Plattner neugierig.
»Danach geschah erst einmal lange Zeit gar nichts«, sagte Anja. »Vielleicht trieb Jack woanders sein Unwesen, möglicherweise im Ausland, denn ich kann nicht glauben, dass jemand wie er von heute auf morgen einfach mit dem Morden aufhört.«
»Und die drei verschwundenen Mädchen?«
»Sind nie wieder aufgetaucht«, antwortete Englmair, den Anja nach Kriegers Tod in alles eingeweiht hatte.
»Stattdessen ist vor fast etwa zweieinhalb Jahren der Widersacher wieder in Erscheinung getreten«, fuhr Anja fort. »Allerdings nicht persönlich, sondern mithilfe einer Reihe anderer Killer, die er als Werkzeug benutzte. Außerdem schickte er mir Nachrichten, sodass ich in die Mordfälle involviert wurde. Auf diese Weise erfuhr ich auch, dass mein Vater sich nicht selbst getötet hatte, sondern von Jack ermordet worden war. Und dass der Widersacher sich noch im Haus aufhielt, als ich den Leichnam meines Vaters fand. Darüber hinaus ermordete er meinen Mann und ließ es ebenfalls wie einen Suizid aussehen, um ihm die Schuld an mehreren Morden in die Schuhe zu schieben, die in Wahrheit eines seiner Werkzeuge begangen hatte.« Anja verstummte und schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht vor, Plattner hier und jetzt alles haarklein zu erzählen. Es genügte, wenn er die groben Umrisse der Geschichte kannte. »Seitdem versuche ich herauszufinden, wer der Widersacher ist, um ihm endlich das Handwerk zu legen.«
»Und was ist mit den Morden vor ein paar Wochen, als ich noch beim KDD war und meine Kollegin und ich von Ihnen zu zwei Tatorten gerufen wurden?«, fragte Plattner.
»Auch hinter diesen Fällen steckte in Wahrheit der Widersacher. Er bediente sich dabei der Hilfe des Mannes, der sich selbst Regenmann nannte.«
Plattner nickte mit gerunzelter Stirn, als er nun die Zusammenhänge erkannte. Über den Regenmann, der nur bei Regenwetter zugeschlagen und mehrere Menschen ermordet hatte, wusste er Bescheid. Allerdings hatte er bislang natürlich nicht die wahren Hintergründe der letzten Morde dieses Mannes gekannt.
»Am Ende tötete der Widersacher nicht nur den Regenmann, als er ihn nicht mehr benötigte«, sagte Anja, »sondern auch Kriminaloberkommissar Anton Krieger, der mir zum Haus des Regenmanns gefolgt war.«
»Und er ermordete darüber hinaus eine Malerin und ihren Vater in Fürstenfeldbruck«, ergänzte Englmair.
»Aus welchem Grund?«, fragte Plattner.
»Durch ein Notizbuch meines Vaters, das meine Mutter im Auto gefunden und dann wieder vergessen hatte, stieß ich auf ein Grundstück in der Nähe von Fürstenfeldbruck, das mein Vater unmittelbar vor seinem Tod überprüft hatte. Vermutlich hatte der Widersacher das Grundstück damals gemietet und die Leichen der drei Mädchen dort vergraben. Allerdings wurden die Leichname später wieder entfernt und an einen bislang unbekannten Ort gebracht. Als ich den damaligen Eigentümer befragte, der an beginnendem Alzheimer litt und in einem Seniorenheim lebte, wurde er ermordet, während ich ihn kurz allein ließ, um Wasser zu holen. Kurze Zeit später wurde auch seine Tochter in meiner Gegenwart getötet. Allerdings gab sie mir vorher eine Fotografie, auf der vermutlich das Auto des damaligen Grundstücksmieters und ein Teil des Kennzeichens zu sehen sind.«
»Und?«, fragte Plattner. »Hat sich mithilfe dieses Fotos eine neue Spur ergeben?«
Anja und Englmair schüttelten gleichzeitig den Kopf.
»Und dabei haben wir alles versucht, um den damaligen Halter des Fahrzeugs zu ermitteln«, sagte Englmair zerknirscht. »Aber es ist einfach schon zu lange her. Außerdem kennen wir nur einen Teil des Kennzeichens, was die Sache zusätzlich verkompliziert.«
»Also seid ihr noch immer keinen Schritt weitergekommen?«
Auch das mussten die Kollegen zähneknirschend bejahen.
»Habt ihr dann wenigstens einen vagen Verdacht, wer es sein könnte?«
Englmair sah Anja fragend an. Von dem Verdacht, den sie insgeheim hegte, hatte sie nicht einmal ihrem Vorgesetzten, sondern nur ihm erzählt.
Anja seufzte, bevor sie sagte: »Ich habe tatsächlich jemanden in Verdacht. Ich ließ diese Person sogar von einem Bekannten meines Vaters, einem ehemaligen Kollegen, zeitweise überwachen. Allerdings hat diese Überwachung nichts ergeben, das meinen Verdacht erhärtet hätte, sodass ich den Namen des Mannes momentan lieber für mich behalten möchte. Schließlich kann ich mich auch täuschen, und diese Person hat nichts mit der Angelegenheit zu tun und ist unschuldig. Deshalb möchte ich sie nicht grundlos verdächtigen.«
Bei dem Verdächtigen handelte es sich um ihren Onkel Christian Kramer. Er war unmittelbar nach der Beerdigung seines Bruders nach Südafrika ausgewandert und unmittelbar vor dem erneuten Auftauchen des Widersachers wieder nach Deutschland zurückgekehrt, was ihn in Anjas Augen verdächtig genug machte. Außerdem konnte sie sich gut vorstellen, dass ihr Vater damals beschlossen hatte, jemanden wie seinen Bruder erst zur Rede zu stellen, als er ihn in Verdacht hatte, bevor er anderen davon erzählte.
Plattner nickte nachdenklich. Er schien den Grund für ihr Schweigen über die Identität ihres Verdächtigen nachvollziehen zu können, denn er bohrte nicht nach. Nach ein paar Augenblicken kehrte das obligatorische Grinsen auf sein Gesicht zurück. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Mannomann! Was für eine abgefahrene Scheiße.«
Anja und Englmair mussten daraufhin ebenfalls grinsen.
»Das kannst du laut sagen, Partner«, meinte Englmair.
Anja nickte. »Und die Sache ist noch nicht zu Ende, denn es sieht danach aus, als hätte der Widersacher erneut einen willigen Psychopathen gefunden, der für ihn die Drecksarbeit erledigt, damit er weiter sein hinterhältiges Spielchen mit mir treiben kann. Ich hatte gehofft, er gönnt mir diesmal eine längere Pause, sodass wir eine Chance bekommen, ihm endlich auf die Schliche zu kommen. Aber er ist uns wie immer mal wieder einen Schritt voraus und treibt uns vor sich her.« Sie seufzte laut und sah sich um. »Gibt es sonst noch etwas, das ich über den Mord an der Psychiaterin wissen sollte?«
»Da ist tatsächlich noch etwas«, sagte Englmair.
Anja wandte den Kopf und sah ihn fragend an. »Was denn noch?« Insgeheim hatte sie allerdings bereits geahnt, dass das noch nicht alles gewesen war und Englmair noch eine Überraschung für sie parat hatte.
»Sieh dir einfach das nächste Tatortfoto an.«
Sie tat, was er ihr geraten hatte. Die Aufnahme zeigte die Rückseite der Visitenkarte. Darauf war ein roter Fingerabdruck zu sehen, vermutlich aus Blut. Ein derart deutlicher und vollständiger Abdruck war vermutlich der Traum jedes Kriminaltechnikers. »Wessen Abdruck ist das?«, fragte Anja, hob wieder den Kopf und sah Englmair an.
»Das wissen wir nicht«, sagte er. »Wenn es dein Fingerabdruck wäre, hätten wir dich bereits festnehmen und in einem Verhörzimmer befragen müssen, aber er stammt definitiv nicht von dir, denn das haben wir bereits überprüft. Im Übrigen auch nicht von unserem Mordopfer, was natürlich unser zweiter Gedanke war. Und es gibt auch keine Übereinstimmung mit den gespeicherten Fingerabdrücken im AFIS.« Dabei handelt es sich um das automatisierte Fingerabdruck-Identifizierungs-System beim Bundeskriminalamt, das es der Polizei ermöglicht, unbekannte Fingerabdruckspuren mit bekannten Fingerabdrücken zu vergleichen. Im AFIS sind die Fingerabdrücke von mehr als fünf Millionen Personen und die Handflächenabdrücke von über zwei Millionen Personen gespeichert.
»Vielleicht ist es ja der Fingerabdruck des Mörders oder Ihres mysteriösen Widersachers«, schlug Plattner vor.
Doch Anja schüttelte entschieden den Kopf. »Das halte ich für unwahrscheinlich. Der Mörder meines Vaters würde sich vermutlich eher die Hand abhacken, als an einem Tatort einen Fingerabdruck zu hinterlassen. Und wieso sollte der Täter so etwas tun? Das ergibt überhaupt keinen Sinn.«
»Von wem ist er dann?«
Anja überlegte. »Wie ich schon sagte, liebt es der Widersacher, seine perfiden Spielchen mit uns zu treiben. Deshalb gehe ich davon aus, dass es sich auch hier wieder um eine seiner niederträchtigen Gemeinheiten handelt. Ihr solltet daher alles daransetzen, so schnell wie möglich herauszufinden, wessen Fingerabdruck das ist.« Sie sah erneut auf die oberste Fotografie des Stapels in ihren Händen. »Besteht der Abdruck tatsächlich aus Blut, oder ist das nur rote Farbe?«
»Blut«, antwortete Englmair und fuhr, da er ihren Gedankengang und ihre nächste Frage bereits erahnte, fort: »Es handelte sich eindeutig um menschliches Blut der Gruppe A Rhesus positiv, also um die in Deutschland häufigste Blutgruppe. Das Ergebnis der DNA-Analyse steht allerdings noch aus.«
Anja ließ sich diese Information durch den Kopf gehen.
»Was denkst du jetzt?«, fragte Englmair.
»Er spielt wieder mit uns«, sagte Anja nachdenklich. »Außerdem ist das hier sicherlich noch nicht alles, was Jack für uns auf Lager hat. Es ist nur die Spitze des Eisbergs, die er uns sehen lässt. Ich könnte mir daher vorstellen, dass sowohl der Fingerabdruck als auch das Blut vom nächsten Opfer stammen.«
»Das denke ich nicht«, widersprach Englmair.
Anja sah ihn überrascht an. »Wie kannst du dir da so sicher sein?«
Englmair seufzte. Bevor er ihr eine Antwort gab, streckte er die Hand aus, nahm ihr den Stapel mit den Tatortfotos ab und steckte sie wieder ein. »Das wollten wir dir ohnehin als Nächstes zeigen«, sagte er dann. »Komm mit!« Damit wandte er sich ohne ein weiteres Wort um und marschierte in Richtung Tiefgaragenausfahrt.
Anja sah Plattner fragend an. Doch der zuckte nur mit den Schultern und grinste, bevor er seinem Partner folgte. Anja blieb erneut nichts anderes übrig, als ihnen hinterherzueilen, während sie sich fragte, welche Überraschung dieser Tag noch für sie bot.
Von alldem, was noch kommen sollte, ahnte sie zu ihrem Glück nichts.