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Schmerz, Hoffnung und Barmherzigkeit

Maria bei Charles Péguy

Unter den Literaten stellt Charles Péguy in vielerlei Hinsicht ein enfant terrible dar. Dies gilt zum einen, weil er durch seine eigenwillige Kombination von sich scheinbar widersprechenden Grundorientierungen oft das Attribut inclassable (nicht zuzuordnen) erhält, zum anderen, weil sein durch Wiederholungen geprägter Schreibstil seinen Werken den Stempel illisible (unlesbar) aufdrückt. Inclassable und illisible – auf den ersten Blick keine guten Voraussetzungen für einen Schriftsteller! Und doch besticht sein Werk durch eben diese exotisch anmutende Mischung: Sozialist und Patriot, Katholik und antiklerikal, „großer katholischer Poet“ und linker Gesellschaftskritiker – Péguy sprengt die gewöhnlichen Schubladen. Im deutschen Sprachraum sind seine Person und sein Werk seit den Pionierarbeiten von Oswalt von Nostitz und Hans Urs von Balthasar weitgehend in Vergessenheit geraten.1 In Frankreich hingegen ist die Beschäftigung mit seinem Werk ungebrochen.

Ein Leben in Bewegung

Péguy wird 1873 in Orléans in eine Familie geboren, in der die christliche Praxis nicht großgeschrieben wird. Sein Vater stirbt im gleichen Jahr. Der kleine Charles wird von seiner Mutter, einer Stuhlflechterin, und seiner Großmutter in einfachen Verhältnissen großgezogen. Die weiblichen Bezugspersonen seiner Kindheit prägen ihn für sein Leben, auch weil schon seine Großmutter ledig geblieben war.2 Nach Schulzeit und Militärdienst wird er 1894 in die Pariser École normale supérieure aufgenommen und verliert dort während seines Studiums den Glauben. Ausschlaggebend hierfür ist, dass er den Katholiken Heuchelei vorwirft, aber auch eine andere Schwierigkeit, nämlich die Hölle. Diese Frage beschäftigt ihn schon als Kind und bleibt ein Stachel im Fleisch: „Das, was uns (…) am meisten fremd ist, und, ich werde es wörtlich sagen, was uns am meisten verhasst ist, was barbarisch ist, das, wozu wir niemals unsere Zustimmung geben werden, was die besten Christen verfolgt hat, weswegen die besten Christen ausgewandert sind oder sich still und heimlich abgewandt haben, (…) das ist dies: die seltsame Kombination aus Leben und Tod, die wir Verdammung nennen (…).“3

In Paris lernt Péguy das Elend der Arbeiterschaft kennen, schließt sich den Sozialisten an und heiratet 1897 Charlotte, die Schwester eines Freundes. Mit dem Sozialismus verbindet Péguy vor allem die Frage nach der Cité harmonieuse (harmonisches Gemeinwesen) und der Integration eines jeden Menschen in die Gesellschaft. Während dieser Zeit entsteht sein erstes Drama über Jeanne d‘Arc, jene Figur, die seine späteren Mysterienspiele inspirieren wird. Schließlich erschüttert die Dreyfus-Affäre die französische Öffentlichkeit. Péguy schlägt sich auf die Seite der Verteidiger des jüdischen Hauptmanns. Er gründet eine eigene sozialistische Buchhandlung und beginnt im Jahr 1900 mit der Veröffentlichung der Cahiers de la Quinzaine, in der verschiedenste Beiträge zu Literatur, Politik und sozialen Themen erscheinen. 1907 berichtet Péguy in einem Gespräch mit Jacques Maritain darüber, den Glauben wiedergefunden zu haben und macht seine Hinwendung 1910 mit der Veröffentlichung von Le Mystère de la Charité de Jeanne d’Arc bekannt. Überraschenderweise spricht Péguy nie von zwei „Bekehrungen“, sondern kennt nur eine conversion, nämlich jene zum Sozialismus. Das Wiederfinden des Glaubens selbst hat für Péguy den Charakter einer ständigen Vertiefung (approfondissement) seiner sozialistischen Voraustreue (préfidélité).4

Allerdings bringt die neue Glaubensgewissheit beträchtliche Probleme mit sich. Péguy, der auf Wunsch seiner Frau nur zivil verheiratet war und seine Kinder nicht gegen den Willen ihrer Mutter taufen lassen will, muss sich von nun an als Exkommunizierter betrachten. Verstärkt wird diese Krise noch durch die Initiative seines frisch bekehrten Freundes Maritain, der mehrmals versucht, Péguy wieder „auf den rechten Lebensweg zurückzubringen“, was in einem Eklat endet, der den Zusammenhalt von Ehe und Familie des Literaten in Gefahr bringt. Belastend ist für Péguy der daraus entstehende Status aus Gemeinschaft und Nichtzugehörigkeit, der sich besonders darin zeigt, dass er zwar betet, aber weder die Beichte noch die Eucharistie empfangen kann. Trotzdem bleibt der aus dem Sozialismus stammende Gedanke der Gemeinschaft für ihn wegweisend, wie Hauviette im ersten Mysterienspiel sagt: „[Man muss seine Seele] retten, so wie man einen Schatz verliert. Indem man sie ausgibt. Wir müssen uns alle zusammen retten! Zusammen beim lieben Gott ankommen! (…) Was würde er wohl von uns denken, wenn wir ohne die anderen ankämen, ohne die anderen heimkehrten?“5

Schmerzensmutter und Mutter der Hoffnung

In diese Zeit fällt seine intensive Beschäftigung mit der Mutter Jesu. Maria wird fortan für Péguy, nicht zuletzt wegen der fehlenden sakramentalen Teilnahme, zur Mittlerfigur. Sie reiht sich ein in eine Vielzahl von Frauengestalten, die in Péguys Werk eine zentrale Stellung einnehmen: Jeanne d’Arc, Véronique, Clio, Ève, Geneviève. Im Hintergrund der Beziehung zu Maria stehen aber auch ganz reale Lebensprobleme: Péguy verliebt sich in eine jüdische Frau, Blanche Raphaël, die Schwester eines Mitarbeiters, die eines seiner schönsten poetischen Werke inspirierte, die Ballade du cœur qui a tant battu.6 Hinzu kommen finanzielle Probleme und die Krankheit seiner Kinder, ein Thema, das er in den Mysterien-spielen verarbeitet. Während Péguy mit Gott aufgrund seiner religiösen Erziehung vor allem eine strenge Gerechtigkeit verbindet, erhält Maria die Züge einer gütigen Fürsprecherin: „[Gott spricht:] Meist sind wir verschiedener Meinung. Weil sie stets für Barmherzigkeit ist, bin ich notgedrungen für die Gerechtigkeit.“7

Die Anziehungskraft Marias, deren Anrufungen Ave Maria, Salve Regina und Stabat Mater zu Péguys Lieblingsgebeten gehören, leitet sich vorwiegend aus dem Gedanken der Inkarnation ab. Das Christentum als histoire arrivée à la chaire (fleischgewordene Geschichte) wird vor allen Dingen als „Frucht der Erde“ und als Verbindung von Fleisch und Geist gesehen. Unter diesem Gedanken erscheint Maria als eine zentrale Figur im Geschehen der Passion, die Péguy in Le Mystère de la charité de Jeanne d’Arc einzufangen versucht. In Anspielung an Péguys eigene Rolle innerhalb seiner Familie wird die Mutter Jesu hier in ganz menschlicher Perspektive als Mutter eines Sorgenkindes beschrieben, dessen Mission gescheitert ist. Maria steht hier in der Achse der Inkarnation als die ganz Schöne und Erhabene und zugleich als die, die dem ganzen Elend der Welt ausgesetzt ist: „Er war ein guter Sohn für Vater und Mutter. Ein guter Sohn für seine Mutter Maria. (…) Sie war stolz, sie war glücklich, solch einen Sohn zu haben. (…) Bis zu dem Tage, an dem seine Sendung begann. Doch seit seine Sendung begonnen hatte, rühmte sie wohl nicht mehr. (…) Sie weinte, sie weinte, sie war davon hässlich geworden. Sie, die größte Schönheit der Welt. Die mystische Rose. Der Turm aus Elfenbein. Turris eburnea. Die Königin aller Schönheit. In drei Tagen war sie hässlich geworden.“8

Diese Darstellung Marias in Péguys erstem Mystère erfuhr schon zu seinen Lebzeiten viel Kritik. Zur Freude über seine Konversion mischten sich große Vorbehalte gegenüber seiner Interpretation des Christentums. Vor allem Paul Claudel verurteilt die Darstellung Marias, die allzu sehr der Stuhlflechterin gleiche, die Péguys eigene Mutter war.9 Péguys zweites Mysterienspiel Le porche du Mystère de la deuxième vertu (Das Tor zum Mysterium der zweiten Tugend) führt diese Darstellung fort. Maria erscheint darin zunächst als Schutzpatronin, der ein Holzfäller und Winzer seine kranken Kinder anvertraut: „Er hatte genau begriffen, dass es so nicht weitergehen konnte. (…) Er konnte nicht leben mit Kindern, die krank sind. Da hatte er einen Streich vollführt (einen Handstreich), er muss jetzt noch lachen, wenn er daran denkt. (…) Und seelenruhig legt er sie euch. Durch ein Gebet legt er sie euch. Seelenruhig zwischen die Arme derer, die beladen ist mit allen Schmerzen der Welt. Und deren Arme schon so vollgeladen sind. Denn der Sohn übernahm alle Sünden. Aber die Mutter übernahm alle Schmerzen.“10

Maria wird gerade deshalb als vollkommen und einzigartig bezeichnet, weil sie als Immaculata den Schnittpunkt zwischen „Fleisch“ und „Reinheit“, zwischen Unversehrtheit und Anfechtung bildet. Hierzu tritt in diesem Mysterienspiel aber noch ein zusätzlicher Aspekt, nämlich die Hoffnung. Die Mutter Jesu zeigt sich als „die Mutter des Guten Hirten“, d.h. „des Mannes, der die Hoffnung gekannt hat“ und die deshalb über allen anderen Heiligen steht.11 Wenn vorher von der gealterten Mutter die Rede war, so werden Hoffnung und Reinheit hier ineinander verwoben: Maria ist die ganz Junge, die, die alle Heiligen an Jugend übertrifft. Péguy unterstreicht diesen Aspekt durch die Betonung von Marias jüdischer Herkunft. Mitbeeinflusst durch die antisemitische Stimmung im Umkreis der Dreyfus-Affäre, stellt sich Péguy diesen Strömungen entgegen und inszeniert sie als Frau aus dem Volk, als „ein armes Weib, ein armseliges Weib, eine arme Jüdin aus dem Judenland“12. Ganz auf dieser Linie stellt auch Eva in Péguys monumentalem Gedicht Ève, in dem Jesus ein poetisches Gespräch mit seiner Großmutter führt, keine Negativfolie für Maria dar, sondern in erster Linie die Mutter aller Lebenden: „(…) zwei Frauen nur waren rein im Fleisch. Und waren fleischlich in ihrer Reinheit. Eva und Maria. Eva vor ihrem Sündenfall. Maria in Ewigkeit.“13

Notre Dame

Höchste Bedeutung bekommt die Mutter Jesu jedoch im Gedichtezyklus La Tapisserie de Notre Dame, der mit der Biographie Péguys untrennbar verbunden ist. Ausgangserfahrung dieses Gedichtes ist die Wallfahrt des Poeten von Paris nach Chartres im Jahr 1912, die für ihn einen entscheidenden Wendepunkt darstellt. Die Wallfahrt verbindet sich mit zentralen Gedanken Péguys, der als homme en marche die Unruhe menschlichen Lebens und, auf dem Hintergrund der Philosophie Henri Bergsons, das Leben als stetige Bewegung hervorhebt.

Im Jahr 1912 ist die Situation Péguys angespannt. Neben finanziellen Schwierigkeiten ist vor allem die bleibende Faszination seiner (platonischen) Liebe Blanche zu nennen, die zwar schon 1910 geheiratet hatte, für die er jedoch immer noch tiefe Gefühle empfindet. Ein weiterer Schlag in diesem Jahr ist die Krankheit seines Sohnes Pierre, der im Frühjahr an Typhus und im August an Diphterie erkrankt. Nicht zuletzt ist es diese Krankheit, die bei Péguy aufgrund der fehlenden Taufe der Kinder die alte Furcht vor der Hölle weckt. Ein erster Versuch, die Verzweiflung zu durchbrechen, war 1911 schon Le Porche du Mystère de la deuxième vertu, in dem er die Tugend der Hoffnung moduliert. 1912 nimmt Péguy seine Sorgen zum Anlass für die Wallfahrt zum alten Marienheiligtum, das in besonderer Weise das christliche Frankreich repräsentiert. Im Rückblick berichtet er darüber im Gespräch mit Joseph Lotte: „Ich habe meine Wallfahrt nach Chartres gemacht. Von nun an jedes Jahr, das steht fest. (…) Es wäre schön, auf einer Straße zu sterben und auf einmal in den Himmel zu kommen. (…) Unsere Liebe Frau [Notre Dame] hat mich vor der Verzweiflung bewahrt. Das war die größte Gefahr. (…) Stell dir vor, ich konnte während 18 Monaten nicht das Vaterunser sagen (…) ‚Dein Wille geschehe‘, das konnte ich nicht sagen. (…) Verstehst du das? Ich konnte nicht zu Gott beten, weil ich seinen Willen nicht akzeptieren konnte. (…) Deshalb habe ich zu Maria gebetet. Die Gebete zu Maria sind Gebete der Reserve. (…) In der ganzen Liturgie gibt es nicht ein einziges, nicht eines, verstehst du, dass der bedauerlichste Sünder wirklich sagen könnte. Im Mechanismus des Heils ist das Ave Maria die letzte Zuflucht. Mit ihm kann man nicht verloren gehen.“14 Auch die Wallfahrt selbst, für deren 144 km sich Péguy drei Tage Zeit nahm und deren Route sich im Gedichtezyklus nachzeichnen lässt, beschreibt Péguy eindrücklich: „Man sieht den Turm von Chartres von 17 km aus über der Ebene. (…) Sobald ich ihn sah, war es wie eine Ekstase. Ich spürte nichts mehr, weder meine Erschöpfung noch meine Füße. All meine Unreinheiten sind mit einem Mal abgefallen. Ich war ein anderer Mensch. Ich habe in der Kathedrale am Samstagabend eine Stunde gebetet. Ich habe am Sonntagmorgen vor dem Hochamt eine Stunde gebetet. Beim Hochamt war ich nicht dabei. Ich hatte Angst vor der Menge. (…) Ich habe gebetet, mein Lieber, so wie ich noch nie gebetet habe.“15

Die Gedichte des Zyklus offenbaren, dass Péguy in Chartres Klärung für seine Fragen und Sorgen findet. So beschreibt Péguy im ersten Teil, Présentation de la Beauce à Notre Dame de Chartres (Darbringung der Beauce an Unsere Liebe Frau von Chartres), Maria als personifizierte Kathedrale, die über dem Ozean der Weizenfelder in der Ebene der Beauce als Meeresstern festen Halt gibt. Maria ist in der Kathedrale Ausdruck der Fruchtbarkeit Frankreichs, aber als inaccessible reine, Turm Davids und „festeste Ähre“ auch unerschütterlicher Fixpunkt des persönlichen Leidenswegs des Dichters und der französischen Geschichte überhaupt. Die Wallfahrt wird aber auch zum reinigenden Gericht. Als der Pilger die flache Ebene betritt und unter der sengenden Sonne fortschreitet, deutet er diese Erfahrung als Entblößung vor den Augen Gottes, als Abstreifen aller Verkleidung. Nur die am Horizont aufstrahlende Majestät der Notre Dame kann den Wanderer aus dieser Beklemmung erlösen. Zur Erhabenheit der Königin mischt sich schließlich am Ende, in einer Art Ahnung des baldigen Todes, die Bitte um Fürsprache am Ende des eigenen Lebens und um Barmherzigkeit, in der auch eine gewisse Sehnsucht nach den Sakramenten deutlich wird:

Wenn sie uns betteten im Grabesschoße

Wenn nach der Messe unser Sarg sich senkte,

Denk, Königin, die uns Verheißung schenkte,

Der langen Wanderschaft im Lande Beauce.16

Péguys Versöhnung

Wie das Gespräch Péguys mit Joseph Lotte zeigt, erfährt der Dichter im Gebet in der Kathedrale eine Art Versöhnung seiner Situation und seiner Beziehung zu Blanche. Diese Erfahrung hält er in vier weiteren Gedichten, Les quatre prières dans la Cathédrale de Chartres (Die vier Gebete in der Kathedrale von Chartres), fest. Die damit verbundenen Motive der Treue, des Bewahrens der Ehre und des Anvertrauens treten vor allem im zweiten und dritten Gebet deutlich hervor:

Wir bitten nicht, dass nach den Irrefahrten

Die Seele wiederum ihr Glück erreiche.

Herrin, genug, dass wir die Ehre wahrten!

Herrin der Meere, Hafen aller Not

Um eins nur bitten wir als Sühnepreis,

Wir möchten, Königin, auf dein Geheiß,

Treue bewahren, stärker als der Tod.17

Péguy pilgerte zumindest zwei Mal zum Marienheiligtum nach Chartres. Noch im Mai 1914, kurz vor seinem frühen Tod, schreibt er an Joseph Lotte: „Ich will nicht sagen, dass wir uns nicht einmal in Chartres treffen. Dort ist es, wo ich mein Herz gelassen habe und ich glaube, dass ich mich dort begraben lassen werde. Ich habe dort unglaubliche Gnaden empfangen.“18 Als der Dichter schließlich zum Militärdienst eingezogen wird und voller Begeisterung, aber nicht ohne eine gewisse Ahnung seines Schicksals, in den Krieg zieht, sind es wieder die Frauen, die eine entscheidende Rolle spielen. So schreibt er an seine noch immer nicht gläubige Frau Charlotte: „Wenn ich nicht wiederkomme, dann geht jedes Jahr nach Chartres für mich. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was wir diesem Heiligtum verdanken.“19 Und am selben Tag schreibt er Blanche, die ebenfalls keine Christin ist: „Ich werde euch vielleicht eines Tages sagen, wo ich die Messe von Mariä Himmelfahrt gehört habe. Wenn ich nicht wiederkomme, geht jedes Jahr nach Chartres für mich. (…) Was auch passiert, ewige Treue, aber eine Treue ohne Trauer. Gott hat mir schon so viel geschenkt.“20 Hinzu gibt er ihr die lateinischen Texte des Vaterunsers, des Ave Maria und des Salve Regina und bittet sie, diese Gebete jeden Tag für ihn zu beten. Wenige Wochen später, am 5. September 1914, fällt Péguy auf dem Schlachtfeld an der Marne. Die letzten Briefe lassen eine Versöhnung erahnen, die maßgeblich mit dem Festtag der Mutter Jesu zusammenhängt, mit dem Besuch der Messe und wahrscheinlich mit der Beichte.21 Die Verse des Dichters an Maria wirken wie eine Art Prophetie:

Wenn Strick wir abgestreift und Pilgerkleid,

Wenn uns das letzte Zittern übermannte,

Wenn unser Mund den letzten Seufzer sandte,

Gedenke unser in Barmherzigkeit.

Zuflucht des Sünders, nur um eins wir flehen:

Wollst uns den letzten Platz der Büßer schenken,

Dass wir in Tränen unser Los bedenken

Und deinen jungen Glanz von ferne sehen.22

Wunden als Einfallstore der Gnade

Die inneren Kämpfe und das berührende Ende Péguys sind von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Glauben begleitet. Sein Bild Marias ist sowohl von der gottgewirkten Vollkommenheit als auch von der irdisch-existenziellen Nahbarkeit gezeichnet. Maria wird damit zum Sinnbild einer Erlösung, die zwischen dem Zeitlichen und Ewigen, zwischen dem Menschlichen und Göttlichen ausgespannt ist und nur dann erlösend wirken kann, wenn sie diese beiden Pole vollkommen vereint. Péguy, der sicherlich nicht zu den einfachen Charakteren gehörte, war ein Mensch, der sich nicht mit dem Vorläufigen zufriedengab, sondern in das Ringen mit Gott einstieg. Seine Beziehung zu Maria, deren Bild von diesen Polen geprägt ist, macht deutlich, dass Erlösung nicht trotz oder neben den eigenen Schwierigkeiten, sondern durch die eigenen Wunden geschieht. Deshalb misstraute Péguy einer oberflächlich frommen Perfektion, die es nicht wagt, sich mit den eigenen Wunden der Barmherzigkeit Gottes auszusetzen:

„Es gibt noch etwas Schlimmeres als ein schlechtes Denken zu haben. Nämlich: ein ganz fertiges Denken zu haben. (…) Es gibt etwas Schlimmeres als sogar eine verderbte Seele zu haben. Nämlich: eine Gewohnheitsseele zu haben. (…) Man hat es erlebt, dass die unglaublichen Wirkungen der Gnade (…) in eine schlechte und sogar eine verderbte Seele Einlass fanden (…). Niemals jedoch hat man erlebt, dass eine Lackfläche die Feuchtigkeit annahm, dass das Undurchdringliche die Flüssigkeit durchließ; niemals hat man erlebt, dass die Gewohnheit durchtränkt und aufgeweicht wurde. (…) Selbst die Liebe Gottes verbindet den nicht, der keine Wunden hat. Weil ein Mann am Boden lag, hob der Samariter ihn auf. Weil das Antlitz Jesu schmutzig war, reinigte Veronika es mit einem Tuch. Wer aber nicht gefallen ist, wird niemals aufgehoben werden; und wer nicht schmutzig ist, wird nicht gereinigt werden. Die ‚anständigen Leute‘ werden von der Gnade nicht durchtränkt.“23

1 Eine Ausnahme bilden J. Hanimann, Der Unzeitgenosse. Charles Péguy. Rebell gegen die Herrschaft des Neuen. München 2017; C. Péguy, Das Geld. Aus dem Französischen u. mit einem Vorwort v. A. Pschera. Mit einem Nachwort v. P. Trawny (Fröhliche Wissenschaft, 099). Berlin 2017.

2 Vgl. C. Daudin, Art. Femme, in: S. Malka (Hrsg.), Dictionnaire Charles Péguy. Paris 2018, 130–136, hier: 130 f.

3 C. Péguy, Toujours de la grippe, in: Œuvres en prose complètes I (= OPC). Paris 1987, 464. Soweit nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen ins Deutsche vom Autor.

4 Vgl. C. Péguy, Un nouveau théologien. M. Fernand Laudet, in: OPC III. Paris 1992, 549 f.

5 C. Péguy, Das Mysterium der Erbarmung. Übertr. v. O. von Nostitz. Wien 1954, 41.

6 J. Roger, Blanche Raphaël, prisonnière ou fugitive?, in: Amitié Charles Péguy 153 (2016), 21–35.

7 C. Péguy, Das Geheimnis der unschuldigen Kinder. Übertr. v. O. von Nostitz (Christliche Meister, 59). Freiburg i. Br. 2014, 157 f.

8 C. Péguy, Das Mysterium, 118; 133 [s. Anm. 5].

9 Vgl. P. Claudel, XXXIIe Entretien radiophonique avec J. Amrouche. Januar 1952, zit. n.: Amitié Charles Péguy 165 (Januar 1971), 35 f.

10 C. Péguy, Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung (Christliche Meister, 9). Freiburg i. Br. 31993, 37.

11 Vgl. ebd., 54; 49.

12 Vgl. ebd., 55.

13 So in C. Péguy, Das Geheimnis, 91 [s. Anm. 6].

14 C. Péguy, Lettres et entretiens. Paris 1954, 174 f.

15 Ebd., 141 f.

16 C. Péguy, Darbringung des Landes Beauce an Unsere Liebe Frau von Chartres, in: ders., Die letzten großen Dichtungen. Hrsg. v. O. von Nostitz. Übertr. v. O. von Nostitz u. F. Kemp. Wien 1965, 93.

17 C. Péguy, Bittgebet, in: ders., Die letzten großen Dichtungen, 115 [s. Anm. 16].

18 C. Péguy, Lettres et entretiens, 215 [s. Anm. 14].

19 C. Péguy, Brief an Charlotte Péguy vom 16. August 1914, in: Amitié Charles Péguy 91 (2000), 332.

20 C. Péguy, Brief an Blanche Bernard vom 16. August 1914, in: Amitié Charles Péguy 161 (August 1970), 16.

21 So die Deutung von L.-M. Pocquet du Haut-Jussé, Charles Péguy et la modernité. Essai d’interpretation théologique d’une œuvre littéraire. Perpignan 2010, 32 f.

22 C. Péguy, Darbringung, 93 [s. Anm. 16].

23 C. Péguy, Nota Conjuncta. Übertr. v. F. Kemp. Wien 1956, 90 f.; 96 (Übertr. vom Autor bearbeitet).

Geist & Leben 4|2020

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