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Charles Péguy und die Hoffnung

Alljährlich, Mitte Juni, treffen sich Student(inn)en aus vielen Ländern der Erde in Paris, um von dort aus zu einer Wallfahrt nach Chartres aufzubrechen. Im Juni 1912 hat Charles Péguy, eine der inspirierendsten Gestalten der neueren französischen Kirche, ja der ganzen Kirche, seine eigene Fußwallfahrt von Paris nach Chartres gemacht. Seinen kleinen Sohn Pierre, der an Paratyphus erkrankt war, trug er dabei in eine Decke eingeschlagen in seinen Armen oder auf seiner Schulter. In Chartres, bei der Muttergottes, wollte er für die Genesung seines kleinen Pierre beten. In unvergesslichen Gedichten hat Charles Péguy seine Landschafts- und Wallfahrtserfahrungen festgehalten (La tapisserie de Notre Dame: Présentation de Paris à Chartres; Présentation de la Beauce à Notre Dame de Chartres; Les cinq prières dans la Cathédrale de Chartres). Er war ein Mann des Wortes, ein Dichter, dessen Werk mehrere umfangreiche Bände füllt. Sein vielleicht schönstes und bleibend wichtigstes Buch trägt den Titel Le porché vers la deuxième vertu – „Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung“1. Es wurde 1910, also vor gut hundert Jahren, geschrieben. Charles Péguy hat uns in diesem Buch ein auch heute noch tief bewegendes Zeugnis seiner Hoffnung hinterlassen.

Als Charles Péguy sein Buch über die Hoffnung schrieb, konnte er nicht ahnen, dass nur noch eine kurze Lebenszeit vor ihm liegen sollte. Am 5. September 1914, zu Beginn der Marneschlacht, ist er als Leutnant des französischen Heeres in einem Gefecht bei Villeneuve in der Nähe von Paris gefallen. Nur einundvierzig Jahre alt ist er geworden. Der Tod in den ersten Tagen des Ersten Weltkriegs bedeutete den abrupten Abbruch eines Lebens, das vom Anfang bis zum Ende ein Zeugnis der Hoffnung gewesen ist – trotz der Brüche und Verwerfungen, die ihm nicht erspart geblieben sind.

In den letzten fünf oder sechs Jahren seines Lebens erfuhr sich Charles Péguy mit einer Hoffnung beschenkt, die über jede Grenze hinausreicht, die wir endlichen und fehlbaren Menschen immer wieder aufrichten. Und indem er von dieser grenzenlosen Hoffnung in Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung Rechenschaft gibt, mutet er uns zu und lädt er uns ein, in dieselbe Weite einzutreten.

Halbierte Hoffnung I

Für Charles Péguy bedeutet die Erfahrung der Grenzenlosigkeit der Hoffnung eine Befreiung aus einer doppelten geistig-geistlichen Gefangenschaft, unter der er lange zu leiden gehabt hatte. Beide Male sah er sich einer ihn beengenden Halbierung der Hoffnung ausgesetzt. Was ist damit gemeint? Einer ersten Form halbierter Hoffnung begegnete das Kind und der Schüler im Katechismus- und Religionsunterricht. Dieser stand damals im Zeichen jansenistischer, letztlich auf Augustinus zurückgehender Grundentscheidungen. Sie betreffen die Lehre von der doppelten Vorherbestimmung des Menschen. Nach dieser Lehre bestimmt Gott von Ewigkeit her die einen Menschen unfehlbar zum Heil, andere Menschen bestimmt er ebenso unfehlbar zur Verdammnis. Gott selbst spaltet die Menschheit in die Gruppe derer, die in begründeter Weise Hoffnung auf Heil und ewiges Leben in sich tragen, und die Gruppe derer, die von einer solchen Hoffnung vielleicht irrtümlicherweise bewegt sind, in Wirklichkeit aber keinen Grund zur Hoffnung auf Heil und ewiges Leben haben. Hier ist die Hoffnung halbiert; denn sie steht nach Gottes Willen nur einigen offen, während sie anderen vorenthalten bleibt. Der junge Charles Péguy fühlte sich angesichts dieser Lehre, die ihm im Katechismusunterricht, aber auch in einer entsprechenden kirchlichen Verkündigung und Lebenspraxis begegnete, verwirrt und verängstigt, bis dass er schließlich gegen sie aufbegehrte und siebzehn-achtzehnjährig die Kirche, die so etwas vertrete, verließ. Wenn es schon zwei Menschengruppen gebe, so ziehe er es vor, aus Solidarität auf der Seite der Verdammten zu sein. Im Zusammenhang mit diesen inneren und dann nach außen tretenden Konflikten ist in Charles Péguy die Ahnung zur Evidenz gereift, dass Hoffnung „Hoffnung für alle“ sein muss. Hoffnung und Solidarität gehören zusammen. Andernfalls bleibt die Hoffnung halbiert und hebt sich auf.

Halbierte Hoffnung II

Erfüllt von solchen Gedanken suchte Charles Péguy nun nach einer neuen geistigen Heimat. Nach unruhigen Jahren, die er als Soldat und dann als Student der Literaturwissenschaften verlebte und in denen er ein Drama über Jeanne d’Arc, zu Papier brachte, fand er sie in der sozialistischen Partei, die um die Jahrhundertwende in Frankreich lebhafte Aktivitäten entfaltete. Der Sozialismus begeisterte ihn jetzt. Hier waren die Hoffnung und die Solidarität aller lebendig. Charles Péguy zog nach Paris um und heiratete die Schwester eines Parteigenossen. Drei Kinder wurden ihnen geschenkt. Er gründete einen Verlag, der sozialistisches Schrifttum verbreiten helfen sollte. Er selbst gab eine Zeitschrift heraus, die Cahiers Quinzaines, und veröffentlichte in ihr seine zahlreichen eigenen Texte. Im Dienste der sozialistischen Idee und der revolutionären Praxis lebte Charles Péguy fast zehn Jahre lang. Nach anfänglicher Begeisterung kamen in ihm jedoch allmählich Zweifel über die Richtigkeit dieses Weges auf. Es irritierte ihn, dass Hoffnung und Solidarität in der konkreten Lebenspraxis der Genossen doch nicht so hoch im Kurs standen, wie er es vermutet hatte. Vor allem aber: Er nahm ein zweites Mal eine Halbierung der Hoffnung wahr, denn sie blieb auf innerweltliche Ziele beschränkt und verblieb damit im Horizont der menschlichen Todverfallenheit. Die geballte Faust und der Schweiß auf der Stirn waren die Symbole solcher Hoffnung. Sie durfte sich nicht als geschenkte Zuversicht, die über den Tod hinausweist, erfahren. Aber eben eine solche grenzenlose Hoffnung – so verstand er immer mehr – wäre allein die genügende Grundlage für die entschlossene Weiterführung des Kampfes für eine humanere Zukunft in menschlicher Solidarität.

Wiedergefundener Glaube

Von solchen Gedanken umgetrieben, erkrankte Charles Péguy im Sommer 1908. In dieser Zeit wurde ihm das Tor zum Geheimnis der Hoffnung neu aufgetan. Sein Freund Joseph Lotte besuchte ihn am Krankenlager. Ihm gegenüber machte er das bekannt gewordene Geständnis: „Ich habe den Glauben wiedergefunden. Ich bin wieder katholisch.“ Dieser Schritt einer entschlossenen Rückkehr zur Kirche war das Ergebnis eines mehrjährigen Ringens, bei dem es vor allem um die Dimensionen der Hoffnung gegangen war. Darf die Hoffnung nicht doch durch ihre Grenzenlosigkeit und – in diesem Sinne – durch ihre Katholizität gekennzeichnet sein, d.h. einerseits über den Tod hinaus in Gottes ewiges Leben hineinreichen, und andererseits allen Menschen angeboten sein? Das „Ja“ auf diese Frage wurde ihm schließlich durch Gottes Barmherzigkeit geschenkt. Das Katholische konnte daraufhin neu bejaht und ergriffen werden, nachdem deutlich geworden war, dass es sich keineswegs in der jansenistischen, die Hoffnung teilenden Form darstellen muss. Im Gegenteil: das Katholische und die Grenzenlosigkeit der Hoffnung – das ist dasselbe.

Dass dies so ist, erkannte Charles Péguy übrigens beim Betrachten des Gleichnisses vom Guten Hirten. Der Gute Hirt geht auch dem letzten verlorenen Schaf nach, bis er es findet. Und wenn er es gefunden hat, hebt er es voll Freue auf seine Schulter. So ist Gott, der den Menschen nicht erschaffen hat, um ihn dann desinteressiert oder ohnmächtig seinem Schicksal zu überlassen. Nein, Gott begleitet den von ihm geschaffenen Menschen auf allen seinen Wegen, wohin sie auch führen, und erfüllt die Situationen, die der Mensch aufsucht, mit seiner gnädigen Gegenwart.

Die Hoffnung Gottes

Die Auslegung des Gleichnisses vom verirrten Schaf und vom Guten Hirten bildet das Kernstück des schon erwähnten Buches Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung. Über der Betrachtung des Gleichnisses vom Guten Hirten wurde Charles Péguy eine Einsicht zuteil, die von grundsätzlicher theologischer Bedeutung ist. Sie betrifft das christliche Gottesbild selbst und knüpft bei der alten Lehre vom Glauben, der Hoffnung und der Liebe an. Glaube, Hoffnung und Liebe wurden und werden als die grundlegenden Weisen verstanden, wie der Christ sich auf Gott beziehen darf. Es sind Haltungen des Menschen, der sich Gott zuwendet. Charles Péguy hat nun bei der Betrachtung des Guten Hirten erfasst, dass er, der Gute Hirt, der für den christlichen Gott steht, seinerseits vom Glauben und von der Hoffnung und von der Liebe bewegt ist. Dass Gott den Menschen liebt, hat schon das Neue Testament und dann die christliche Tradition immer wieder gesagt. Dass Gottes Herz von der Hoffnung erfüllt ist, jeder von ihm geschaffene und geliebte Mensch werde den Weg in die ewige Gemeinschaft Gottes und der vollendeten Schöpfung finden, hat zuvor niemand so klar und entschieden auszusprechen gewagt und vermocht wie Charles Péguy. Er formulierte: „Umkehrung aller Dinge: Gott hat angefangen. Gott hat auf uns seine Hoffnung gesetzt.“ Der Mensch darf eine grenzenlose Hoffnung in sich tragen, weil er das Evangelium von Gottes grenzenloser Hoffnung auf uns gehört hat. Gottes Herz ist von der Hoffnung bewegt, auch den letzten Verlorenen zu finden und heimzuführen. Diese Hoffnung lässt den ewigen Gott aufbrechen, in der Menschwerdung seines ewigen Wortes und im Leben und Sterben seines Sohnes Jesus Christus jedem Menschen auch dorthin noch zu folgen, wo dieser sich im Gestrüpp der Gottferne verloren hat.

Charles Péguys Zeugnis von der grenzenlosen Hoffnung erinnert an die „Allversöhnungslehre“, ist aber doch von ihr zu unterscheiden; denn wo alles an der unverfügbaren Hoffnung Gottes den Menschen gegenüber hängt, ist es dem hoffenden Menschen verwehrt, seine Zuversicht zu etwas Gewusstem und so Verfügbarem werden zu lassen. Wir wissen nicht, dass alle Menschen vom hoffenden Gott und vom liebenden Gott in die endgültig göttlich-menschliche Gemeinschaft eingeholt werden; und doch sollen und dürfen wir es als Christen mit einer gottgewollten und gottgeschenkten Hoffnung hoffen.

Charles Péguy hat die Hoffnung gern mit einem kleinen Kind verglichen. Darin schwingt eine Erinnerung an die eigene Kindheit nach. 1873 war Charles Péguy in Orléans geboren worden. Sein Vater war von Beruf Maurer gewesen.

Charles hat ihn nicht mehr kennenlernen können; denn der Vater war in seinem Geburtsjahr gestorben. Die Mutter hatte als Korbflechterin gearbeitet. Charles war das einzige Kind. Die Verhältnisse, unter denen er aufwuchs, waren äußerst karg. Aber die Mutter und die Großmutter waren so gut zu ihm, dass er eine sehr glückliche Kindheit verlebte. Er machte also schon als Kind die Erfahrung, was es bedeutet, zusammenzustehen und füreinander einzustehen. In diesen Jahren wurde das Urvertrauen, das der unverlierbare natürliche Anknüpfungspunkt für die spätere Hoffnung sein sollte, in das Herz des kleinen Charles gesenkt. So ist es ja immer: In der Kindheit sind die Weichen für das spätere Leben zu stellen.

Charles Péguy hat kurz vor seinem Tod gesagt: „Der natürliche Drang des Menschen geht dahin, zu verzweifeln. Das ist die große Versuchung.“ Umso kostbarer ist das Geschenk der Hoffnung, die das Herz des Menschen mit Freude erfüllt. Davon hat Charles Péguy gesprochen. Darum bleibt das Zeugnis Charles Péguys ganz und gar aktuell.2

1 C. Péguy, Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung. Einsiedeln 420 0 7.

2 Die Erinnerung an Péguys Gedanken zum Thema „Hoffnung“ beleuchtet nur einen minimalen Ausschnitt aus dessen überaus vielgestaltigem und reichhaltigem Leben und Wirken. Möchte man davon einen umfassenderen Eindruck gewinnen, so mag man zurückgreifen auf: H. U. v. Balthasar, Péguy, in: ders., Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Bd. II: Fächer der Stile. Einsiedeln 31984, 767–880; J. Hanimann, Der Unzeitgenosse. Charles Péguy – Rebell gegen die Herrschaft des Neuen. München 2017.

Geist & Leben 4|2020

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