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Migration als Zeichen der Zeit

Die Replik von Regina Polak auf Jochen Oltmer

Wie würde wohl ein/e Migrationsforscher/in aus dem arabischen oder afrikanischen Raum die Politik der EU im Kontext von Migration und Flucht beschreiben? Jochen Oltmer deutet den Ausfall der Migrant/innenperspektive in seinem Beitrag selbst an: Diskutiert wird die Thematik über, selten mit Migrant/innen. Auch die Bekämpfung der Fluchtursachen konzentriert sich auf die Interessen der „Geberländer“. So könnte man denn – wenn man etwas Kontroversielles in seiner exzellenten migrationsforscherischen Analyse suchen wollte – nachfragen, ob denn nicht auch in seinem Beitrag der von ihm zu Recht kritisierte „hermetische“ Charakter dominiert. Er ist aus der (Vogel)Perspektive der Mehrheitsgesellschaften der Aufnahmeländer geschrieben. Auch wenn Oltmer mit der Forderung nach der Optimierung der Schutzregime und seiner Kritik an unzulänglichen Deutungen der Fluchtursachen an die Migrant/innenperspektive erinnert, erfahren wir doch wenig, was die Flucht- und Emigrationsländer selbst als tatsächlich hilfreich von Europa erwarten würden. Deren Positionen strukturell und institutionalisiert in den Aushandlungsprozess miteinzubeziehen, ist für mich die zentrale Schlussfolgerung aus Oltmers Beitrag. Für eine/n Österreicher/in ist dies freilich derzeit eine naive Utopie: Die aktuelle österreichische Regierung bekämpft eher Flüchtlinge als Fluchtursachen.

„Weltvergessen“, „geschichtsblind“ und „kontextarm“ ist auch der Migrationsdiskurs hierzulande und in weiten Teilen Europas. Die Forderungen, die Oltmer implizit formuliert – nach den Gründen für die höchst heterogenen Positionierungen gegenüber Zuwanderung zu fragen – sind Schlüsselfragen, die unbedingt interdisziplinär erforscht und öffentlich wie politisch breit diskutiert werden müssen.

BIBELTHEOLOGISCHE PERSPEKTIVE

Als Theologin finde ich es dabei höchst spannend, was eine bibeltheologische Perspektive zu diesen Fragestellungen in die Debatte einbringen kann. Selbstverständlich kann man aus dem biblischen Befund keine unmittelbaren Lösungen für die Aushandlungsprozesse rund um eine zeitgerechte globale Migrationspolitik ableiten, zu anders und komplex sind in einer globalisierten Welt die situativen Kontexte. Dafür benötigen Theolog/innen die Kooperation mit Migrationsforschern wie Jochen Oltmer. Aber im Unterschied zu Ansätzen wie dem seinen verfügen biblisch fundierte Migrationstheologien über die Möglichkeit ethischer und politischer Kriteriologien. Viele der normativen Konzeptionen, die (quasi unausgewiesen im Hintergrund) den Bewertungen Oltmers zugrunde liegen – wie das Rechtflüchtender Menschen auf Würde und Schutz, die Forderung nach einer universal-ethischen Perspektive, die Verpflichtung zur Erforschung und dem Ringen um ein differenziertes Verständnis der historischen, soziopolitischen, sozioökonomischen und soziokulturellen Ursachen für Flucht und Migration – sind auch Normen biblischer Migrationshermeneutik.

Nicht nur das: Diese Normen wurden von Deportierten, in Sklaverei, Fremdherrschaft und Exil bzw. Diaspora lebenden Flüchtlingen und Migrant/innen den eigenen Erfahrungen als Fremde, gleichsam ex negativo, abgerungen, um fortan solche Katastrophen zu vermeiden. Gegen die „Weltvergessenheit“, die man auch als Tribalismus bezeichnen könnte, entwickeln biblische Migrant/innen die Idee der Einheit der Menschheit, zu der alle Völker ebenso gehören wie die sogenannten „Fremden“; gegen die „Geschichtsblindheit“ die Verpflichtung zur Erinnerung, v. a. an Gewalt, Leid und Tod; und gegen die „Kontextarmut“ werden im Zeichen von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit schrittweise religiöse und soziale Gesetze entwickelt, die Maß an den Ärmsten nehmen. Migration hängt – säkular gesprochen – immer eng mit Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, Identität und Zugehörigkeit sowie Sinnstiftung zusammen. Die Migrationserfahrungen als zentrales Element wesentlicher Texte im Alten Testament werden also zum Lernort von Glaube und Politik. Sie belegen, wie unverzichtbar die Perspektive von Migrant/innen ist. Diese wissen selbst am besten, was sie brauchen.

Gleichwohl ist die Situation heute weitaus schwieriger. Oltmer macht eindrücklich deutlich, dass Menschen gerade nicht aus Armut fliehen, sondern von der Vorstellung getrieben sind, „andernorts gäbe es Chancen für sie“.

Theologisch könnte man dies die berechtigte Sehnsucht nach dem guten, dem besseren Leben nennen, das sich durchaus auch materiell konkretisieren darf und muss. Aber ganz so idyllisch ist die Lage dann doch nicht. Der britisch-indische Essayist Pankaj Mishra zeigt in seinem Buch „Das Zeitalter des Zorns“ (4. Auflage, 2017), dass weltweit Millionen junger Menschen gleichsam „infiziert“ von den Ideen und (nicht nur geistigen) Werten des Westens „mehr Sehnsüchte und Träume von Freiheit, mehr Unzufriedenheit mit politischen Systemen und Wünsche nach Demokratie, mehr Nachfrage und Ansprüche nach materiellen Statussymbolen haben, als sich im Zeitalter der Freiheit und des globalen Unternehmertums legitim und verantwortet verwirklichen lassen“. Dies aber produziert nicht nur Hunderte Millionen zur Überflüssigkeit Verdammte, sondern auch eine umfassende und apokalyptische Empörung, „wie wir sie hier im Westen noch nie erlebt haben“. Mishra fordert daher ein wahrhaft verändertes Denken über das Ich und die Welt.

IN DER MIGRATIONSPOLITIK DOMINIERT DIE NÜTZLICHKEIT

Dies aber ist eine Rückfrage an Europa mit seinen derzeitigen praktischen Monopolen auf Freiheit, Demokratie und Wohlstand. Eine überaus schmerzhafte Rückfrage, die zu Umkehr auffordert. Solch ethische Schlussfolgerungen kann ein sozialwissenschaftlich und historisch orientierter Migrationsforscher schwer formulieren. Er müsste die Prinzipien seiner politischen Ethik ausweisen. Sie schlummern aber als logische Konsequenz in seinem recht hoffnungslos anmutenden Schluss-Satz, demzufolge er offenbar in der aktuellen Migrationspolitik kein erfolgversprechendes Zukunftskonzept erkennen kann.

Diese Hoffnungslosigkeit hat aus der Perspektive historischer Rationalität tragischerweise gewichtige Gründe auf ihrer Seite. Auch eine biblische Migrationstheologie kann sich nicht gegen sie immunisieren und mit falschen Vertröstungen Optimismus verbreiten. Denn auch für sie ist, wie für Oltmer, Migration weder „gut“ noch „schlecht“, sondern in ihrer praktischen wie theologischen Bedeutung aushandlungsbedürftig und kann, biblisch gesprochen, zum Fluch ebenso wie zum Segen gereichen: Leben zerstören oder Leben mehren.

Derzeit dominiert in der europäischen Migrationspolitik das Kriterium der (ökonomischen) „Nützlichkeit“ von Migrant/innen. Das ähnelt durchaus der Perspektive des antiken Ägypten und Babylon. Die biblische Tradition kann aber daran erinnern, dass es Migrationsphänomene waren, denen viele der „Werte“ abgerungen wurden, auf die Europa heute so stolz ist. Als reiche Aufnahmeländer bedeutet dies, dass wir uns nicht so ohne weiteres mit den biblischen Zusagen identifizieren dürfen – diese sprechen zuerst den Migrant/innen Schutz, Trost und Hoffnung zu. Wohl aber kann man zu den Schlüssen kommen, die auch Oltmer andeutet: für eine zukunftsträchtige Migrationspolitik sind der Schutz von Flüchtlingen sowie der Dialog mit den Migrant/innen und das Miteinbeziehen von deren Interessen unabdingbar.

Der Päpstliche Rat der Seelsorge für Migranten und Menschen unterwegs hat dies in seiner Instruktion Erga migrantes caritas Christi so formuliert: „Wir können also das gegenwärtige Migrationsphänomen als ein sehr bedeutsames „Zeichen der Zeit“ betrachten, als eine Herausforderung, die es beim Aufbau einer erneuerten Menschheit und in der Verkündigung des Evangeliums des Friedens zu entdecken und zu schätzen gilt“ (EM 14).

Lebendige Seelsorge 2/2018

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