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Philipp Müller | Mainz

geb. 1960, Priester, Professor für Pastoraltheologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

ph.mueller@uni-mainz.de

Brüder im Geiste

Papst Franziskus und Frère Roger

Einmal im Jahr empfängt der Papst im Vatikan den Prior der ökumenischen Brüdergemeinschaft von Taizé. Bei diesen Begegnungen tragen beide ein weißes Gewand, freilich mit unterschiedlichem Bedeutungsgehalt: Während für den Papst die Farbe Weiß ein Alleinstellungsmerkmal ist, verbindet die Brüder von Taizé das weiße Gewand; sie tragen es bei den gemeinsamen Gebetszeiten, um Gott zu loben und zu signalisieren, „dass wir Christus, den neuen Menschen, ‚angezogen‘ haben“1. Auch was das Aufgabenprofil und das Maß der Verantwortung betrifft, sind das Amt des Bischofs von Rom und das des Priors von Taizé nicht miteinander zu vergleichen. Doch in spiritueller Hinsicht sind zwei konkrete Personen, Papst Franziskus (* 1936) und Frère Roger Schutz (1915–2005), der Gründer der Communauté von Taizé, Brüder im Geiste – trotz unterschiedlicher kulturell-kirchlicher Prägung, verschiedenen Charakters und Temperaments. Persönlich sind sie sich nie begegnet. Gleichwohl lässt sich die spirituelle Gleichförmigkeit beider anhand der Trias „Freude, Barmherzigkeit und Einfachheit“ aufzeigen. Sie spielt in der von Frère Roger verfassten und immer wieder überarbeiteten Regel von Taizé eine Schlüsselrolle; in ihr lässt sich aber ebenso das spirituelle Profil des jetzigen Papstes bündeln.

Die Regel von Taizé: Leben im Geist der Seligpreisungen

Am Ostermorgen des Jahres 1949 haben sich in der romanischen Dorfkirche von Taizé die ersten sieben Brüder zu einem lebenslangen Engagement in der Communauté verpflichtet. Dreieinhalb Jahre später macht sich Frère Roger im Winter 1952/53 daran, die geistliche Grundlage der Brüdergemeinschaft niederzuschreiben. Damit will er das Gemeinschaftsleben keineswegs en detail regeln; doch bedarf es seines Erachtens eines Minimums, ohne das „keine Gemeinschaft in Christus entstehen kann, die Gott einmütig dienen will“2. Zu den unverzichtbaren Fixpunkten gemeinschaftlichen Zusammenlebens, auf die die Regel eingeht, zählen das Gebet, der Bruderrat, Zölibat und Gütergemeinschaft sowie das von ihm selbst bekleidete Amt des Priors, den er als „Diener der Gemeinschaft“ versteht.

Etwa in der Mitte dieser Regel finden sich drei Überschriften, die Weisungen für den Einzelnen formulieren. In dem Maße, wie sich jeder der Brüder darauf einlässt und sie befolgt, wirkt sich dies auf das geistliche Gepräge der ganzen Gemeinschaft positiv aus. Die erste Überschrift zielt darauf, den Tagesablauf unter ein geistliches Vorzeichen zu stellen: „Mögen während des Tages deine Arbeit und Erholung aus dem Wort Gottes ihr Leben empfangen.“3 Die ignatianische Spiritualität klingt an, wenn es anschließend über das Beten und Meditieren heißt: „Nicht viel lesen, sondern bei dem verweilen, was dich anspricht.“4 Die zweite Überschrift lautet: „Wahre in allem die innere Stille, um in Christus zu leben.“5 Die Regel führt aus: Zwar gebe es im Menschen die Tendenz, lieber die Zerstreuung zu suchen; gleichwohl sei die innere Stille unverzichtbar, um Christus beständig alles anvertrauen zu können; zudem bewirke sie, dass widersprüchliche Stimmen im Innern des Menschen zur Ruhe kommen und quälende Sorgen nicht überhandnehmen. In der dritten Überschrift heißt es schließlich: „Lass dich durchdringen vom Geist der Seligpreisungen: Freude, Einfachheit, Barmherzigkeit.“6 Auf jeden der drei Begriffe geht die Regel ein: Die Freude gründe zutiefst in Gottes Barmherzigkeit; deshalb sei sie zuallererst innerlich. Sie drücke sich niemals durch alberne Scherze, durch Ironie, „die das Lächeln zur Grimasse verzerrt“ oder gar durch Spott („ein hinterhältiges Gift für ein Leben in Gemeinschaft“) aus. Um zur vollkommenen Freude zu gelangen, nennt Frère Roger mehrere Zugangswege: ein Verzicht aus stiller Liebe, der die ganze Person einfordert7; ein Sich-Verschenken, ohne Dank und Gegenleistung zu erwarten und schließlich: sich den Nöten und dem Leid eines anderen auszusetzen. Als nächstes thematisiert Frère Roger die Einfachheit, die aus einer Haltung der Verfügbarkeit sowie der Treue sich selbst gegenüber resultiert. Auffallenderweise ist hier von einem einfachen Lebensstil keine Rede; Frère Roger scheint ihn schlichtweg vorauszusetzen. Unter dem Stichwort Barmherzigkeit erinnert der Prior von Taizé an die Weisung Jesu, sich mit seinem Bruder zu versöhnen und ihm stets aufs Neue vergeben zu wollen (Mt 18,22); dies schließt die Bereitschaft mit ein, ihn gegebenenfalls unter vier Augen „mit der Sanftmut Christi“ zurechtzuweisen. Für eine evangelische Kommunität überraschend wird gegen Ende dieses Abschnitts die Beichte stark gemacht; besonders in der Lossprechung dürfe ein Bruder „die Freude einer Versöhnung“ immer wieder aufs Neue erfahren.

Überarbeitungen der Regel von Taizé

Frère Roger hat die Regel von Taizé immer wieder überarbeitet.8 In den 70er Jahren hat er sie vereinfacht und dabei auch, um ein legalistisches Missverständnis zu vermeiden, den Begriff „Regel“ relativiert. In einem Tagebucheintrag vom April 1974 vermerkt er, sie sei keine Regel im herkömmlichen Sinn, sondern wolle der Communauté lediglich einen Weg weisen, „um ein ‚Gleichnis der Gemeinschaft‘ zu leben“. Im Jahr 1990 hat er den Text gänzlich neu gefasst. 2001 wurde sie ein letztes Mal überarbeitet. Die jetzige Fassung der Regel ist in Band 1 seiner Gesammelten Schriften nun unter der Überschrift „Die kleine Quelle von Taizé“ (S. 34–46) in „Die Quellen von Taizé“ (S. 9–47) integriert und stellt gewissermaßen deren Herzstück dar.

Auch „Die kleine Quelle von Taizé“ thematisiert die Trias von Freude, Einfachheit und Barmherzigkeit, und zwar in dieser Reihenfolge. Obwohl sie kürzer und konzentrierter als die Vorgänger-Fassungen ist, nimmt die Trias hier nicht weniger Raum ein – ein Indiz für die Bedeutung, die Frère Roger ihr beigemessen hat. Bereits in den Abschnitten, die der „Kleinen Quelle“ vorgeschaltet sind, finden sich inhaltliche Bezüge zu allen drei Aspekten. So wird unter der Überschrift „Würden wir die Freude verlieren (…)“ über die Konsequenzen sinniert, wenn aus der Kirche der Geist der Freude verschwände.9 In der „Kleinen Quelle“ finden sich in dem für Frère Roger typischen assoziativen Stil weitere Gedanken über die Freude; sie zählt zu den „Perlen des Evangeliums“ und kann durch die Gegenwart des Auferstandenen „Abgründe der Angst überwinden“10. Über die Einfachheit heißt es in den „Quellen von Taizé“: „Denke daran, dass dich ein Leben in seiner Nachfolge unweigerlich zum Miteinander-Teilen und zu einem einfachen Lebensstil führt.“11 „Die kleine Quelle“ verpflichtet die Communauté dann darauf, ausschließlich vom Ertrag der Arbeit zu leben und „keine Spenden, Erbschaften oder Geschenke anzunehmen; nichts, absolut nichts. Der Mut, sich nicht durch Rücklagen abzusichern, keine Angst vor möglicher Armut zu haben, verleiht Frieden und Kraft.“12 Über die Barmherzigkeit heißt es dort: „Würdest du die Barmherzigkeit verlieren, hättest du alles verloren“, um direkt anschließend zu fragen: „Lässt du dich ergreifen von diesem Höchstmaß der Liebe: bis zu siebenmal zu vergeben, also immer?“13 Vorher hatten sich „Die Quellen von Taizé“ unter der Überschrift „Mit einem versöhnten Herzen“ bereits ausführlich dem Thema der Vergebung gewidmet.14

Spurensuche: Die Ursprünge der Trias

Wenn für Frère Roger und die von ihm gegründete Communauté die Trias von Freude, Einfachheit und Barmherzigkeit so zentral ist, dann stellt sich die Frage: Ist sie seine genuine Erfindung oder hat er sie anderswo gefunden? Wann ist er darauf gestoßen?15 Um die Antwort vorwegzunehmen: Er hat sie bereits Ende der 30er Jahre von der geistlichen Gemeinschaft der Veilleurs („Wächter“) und ihrem Gründer Wilfred Monod übernommen und in seine Spiritualität integriert.

Während des Studiums, das Roger Schutz zwischen 1936 und 1940 hauptsächlich an der evangelischen Theologischen Hochschule in Lausanne absolviert hatte, kamen er und seine Kommilitonen immer wieder auf eine geistliche Vereinsamung zu sprechen, die sie trotz eigener Familie für die Zeit nach dem Studium fürchteten. Um dem etwas entgegenzusetzen, machten sie sich an die Gründung einer „Gemeinschaft intellektueller Christen“; mit dem Namen wollten sie einen Gegenakzent zu einer anti-intellektualistischen Geringschätzung der menschlichen Vernunft setzen, wie sie in der damaligen Frömmigkeit und Theologie nicht selten anzutreffen war. Für diese Gemeinschaft entwirft Roger Schutz im Jahr 1939 skizzenartig eine geistliche Grundlage. Ihr geistliches Leitmotiv sollte das benediktinisch fundierte und christologisch ausgerichtete Ora et labora ut regnet sein: „bete und arbeite, damit Er herrsche“. Am Ende nennt er fünf Ziele, denen die Mitglieder sich verpflichtet wissen. Sie streben danach,

1. Arbeit und Erholung täglich einen geistlichen Rahmen zu geben,

2. sich vom Geist der Seligpreisungen und der Freude des Evangeliums durchdringen zu lassen,

3. stets danach zu trachten, den persönlichen Lebensstil zu vereinfachen,

4. in allem die innere Stille zu wahren und

5. das eigene Handeln auf die Berufung der Gemeinschaft auszurichten.

Auch wenn Roger Schutz zu dieser Zeit noch keine monastische Gemeinschaft forciert: Konturen der Spiritualität der späteren Brüdergemeinschaft sind hier bereits erkennbar, darunter auch in Nr. 2 die Bereitschaft, ein Leben aus dem Geist der Seligpreisungen zu führen und sich von der Freude des Evangeliums durchdringen zu lassen.

Im Herbst des darauffolgenden Jahres 1940 lässt sich Roger Schutz zunächst allein in Taizé nieder. Mit Datum vom 1. Oktober 1941 veröffentlicht er eine achtzehnseitige Broschüre mit dem Titel Notes explicatives, „Erläuternde Anmerkungen“. Nach wie vor steht ihm eine „Gemeinschaft intellektueller Christen“ vor Augen, „die in der Welt lebt, eine Gemeinschaft, in der jedes Glied sich bindet aufgrund seines Glaubens an Christus und in der Befolgung bestimmter Regeln“16. Bemerkenswert ist ihre ökumenische Ausrichtung: Sie will sich mit der „Spaltung der weltweiten Kirche“ nicht abfinden und eine „Heimstätte der Ökumene“ sein.17 Neben anderen geistlichen Häusern wird auch die Eröffnung eines „Hauses von Cluny“ angekündigt, das für geistliche Einkehrtage zur Verfügung stehen soll.18

Obwohl Roger Schutz in die Notes explicatives persönliche Erfahrungen mit einfließen lässt, lässt er seinen Namen außen vor. Als Autor wird die Communauté von Cluny genannt – ein dezenter Hinweis auf das cluniazenisch-benediktinische Mönchtum, dessen Zentrum Cluny nur etwa 10 Kilometer von Taizé entfernt liegt.19 Für einen reformierten Theologen war es damals alles andere als selbstverständlich, sich – wenn auch behutsam – in die monastische Tradition der Kirche zu stellen, fürchtete man doch eine Form der Werkgerechtigkeit und eine Beeinträchtigung der evangelischen Freiheit. Für Roger Schutz schließen sich dagegen ein monastisch inspiriertes Leben und evangelische Freiheit keineswegs aus.20 Ihm war schon früh klar, dass ein geistliches Leben – erst recht in einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft – einige wenige Bezugspunkte braucht, an denen man sich immer wieder neu orientieren kann: „Ich wollte kein System ausarbeiten; vielmehr hoffte ich, anhand einiger Worte, vor allem aus den Seligpreisungen, ein wenig zu einer inneren Einheit zu finden. Die Seligpreisungen sprachen mich am meisten an.“21 So sprechen die „Erläuternden Anmerkungen“ wie schon die oben erwähnte geistliche Grundlage aus dem Jahr 1939 davon, dass Arbeit und Erholung aus dem Wort Gottes ihr Leben empfangen sollen und dass – ein Kernanliegen der kleinen Abhandlung – in allem die innere Stille zu wahren sei.22 Drittens heißt es dort: „Lass dich durchdringen vom Geist der Seligpreisungen: Freude, Barmherzigkeit und Einfachheit. Freude, verbunden mit der christlichen Freiheit und den Verheißungen des Evangeliums. Barmherzigkeit in einer Welt, in der der Hass immer stärker wird. Einfachheit des Lebensstils, als tiefe innere Haltung.“23

In einer Fußnote deutet Roger Schutz an, dass er sich mit dieser Trias in der Tradition der geistlichen Gemeinschaft der Veilleurs („Wächter“) sieht. Deren Name leitet sich aus dem Bibelwort ab: „Selig die Knechte, die der Herr wach findet, wenn er kommt“ (Lk 12,37). Die Veilleurs wurden im Jahr 1923 vom evangelischen Pastor Wilfred Monod und seinem Sohn Théodore in Frankreich als eine Art Dritter Orden gegründet; sie stehen damit ihrerseits wiederum in einer franziskanischen Tradition. Im Jahr 1938 ist Wilfred Monods Autobiographie erschienen, die Roger Schutz im darauf folgenden Frühsommer in einer Studentenzeitschrift zustimmend besprochen hat.24 Es liegt auf der Hand, dass Wilfred Monod (neben anderen Personen und Faktoren) unbewusst dazu beigetragen hat, dass Roger Schutz zu der ihm eigenen originellen Berufung gefunden hat. Denn geistliche Grundanliegen der Veilleurs konvergieren mit dem Selbstverständnis und der Zielsetzung der Communauté von Taizé: Im Zentrum ihrer Spiritualität stehen die drei Worte „Freude, Einfachheit, Barmherzigkeit“. Sie wollen sich „sich gegenseitig darin unterstützen, Jesus Christus im Geist der Seligpreisungen treu nachzufolgen“25. In allem sei die innere Stille zu bewahren, und „Gebet und Arbeit, Kontemplation und Aktion, (sind) im Geist der Seligpreisungen zu einer Einheit zu bringen“26. Ihre Mitglieder, die aus verschiedenen Konfessionen stammen, sollen sich auch sozial engagieren. Ein festes Gebetsformular haben die Veilleurs indes nicht, doch soll sich jeder dreimal am Tag Zeit für eine kurze innere Einkehr und das Gebet nehmen.

Kennzeichen eines Pontifikats

Auch die Verkündigung von Papst Franziskus orientiert sich wesentlich an der Freude, der Einfachheit und der Barmherzigkeit. Dies zeigt schon die Namenswahl. Der Patron des ersten Jesuitenpapstes ist Franz von Assisi, der die drei Aspekte gewissermaßen personifiziert. Und wie Franz von Assisi die Armut radikal gelebt hat, will auch Papst Franziskus eine „arme Kirche für die Armen“27. Den finanziellen Spielraum der päpstlichen Almosenkasse hat er deutlich erhöht. Er selbst praktiziert einen einfachen Lebensstil: Nach seiner Wahl hat er nicht das Päpstliche Palais bezogen; stattdessen bewohnt er ein schlichtes Appartement im vatikanischen Gästehaus Santa Marta. Bei seinen Pastoralreisen im Ausland lässt er sich lieber in einem Kleinwagen als in einer Luxuskarosse chauffieren. Seinen einfachen Lebensstil pflegt er auch aus ökologischen Gründen, die er in seiner Umweltenzyklika Laudato si‘ eingehend dargelegt hat.28

Ebenso wichtig wie die Einfachheit sind Franziskus die Freude und die Barmherzigkeit. Bereits seine Programmschrift Evangelii gaudium, mit der er eine neue Etappe der Evangelisierung anstoßen möchte, steht unter dem Vorzeichen der Freude.29 Unter der Überschrift „Die Freude des Evangeliums“ schlägt das Eröffnungskapitel einen positiven Grundakkord an. Danach soll jeder Christ von jener tiefen Freude geprägt sein, die die Begegnung mit Jesus schenkt und die ihn dazu drängt, andere daran partizipieren zu lassen.

Das Motiv der Freude durchzieht die päpstlichen Ansprachen und Verlautbarungen wie ein roter Faden. Nicht nur in seinen Ansprachen auf Reisen, bei den Generalaudienzen am Mittwoch oder den Frühmessen in Santa Marta kommt er darauf zu sprechen. Bezeichnenderweise findet sich das Wort „Freude“ über Evangelii gaudium hinaus bereits im Titel von drei weiteren wichtigen päpstlichen Verlautbarungen:

– Mit Datum vom 19. März 2016 wurde das Apostolische Schreiben Amoris laetitia über die Freude der Liebe in der Familie veröffentlicht. Dem Schreiben vorangegangen war die 14. Ordentliche Vollversammlung der Bischofssynode, die sich mit der Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute befasste.

– Genau zwei Jahre später, ebenfalls am Josefstag des Jahres 2018, hat Papst Franziskus das Apostolische Schreiben Jubilate et exsultate über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute herausgebracht. Der Titel „Freut euch und jubelt“ ist den Seligpreisungen der Bergpredigt (Mt 5,12) entnommen. Das vierte Kapitel führt Merkmale der Heiligkeit auf, zu denen – so eine Überschrift – auch „Freude und Sinn für Humor“30 gehören.

– Die Apostolische Konstitution Veritatis gaudium, „Die Freude der Wahrheit“, vom 27. Dezember 2017 befasst sich mit den kirchlichen Universitäten und Fakultäten. Auch dieses Dokument setzt bei der Freude an, die der Auferstandene schenkt; es sei die tiefste Sendung der Kirche, diese Freude „ohne Unterlass und mit immer neuer Leidenschaft zu bezeugen und zu verkünden“31, auch im akademischen Kontext.

Schließlich zur Barmherzigkeit: Thematisch steht sie im Mittelpunkt des jetzigen Pontifikats. Darauf weist der Wahlspruch Miserando atque eligendo, „aus Barmherzigkeit erwählt“, hin.32 Immer wieder verdeutlicht der jetzige Papst, wie sehr ihm die Barmherzigkeit am Herzen liegt: etwa durch seine erste größere Reise, die ihn nach Lampedusa führte, um auf das Schicksal von Ertrunkenen im Mittelmeer aufmerksam zu machen, oder das kirchenrechtliche Schreiben Mitis Iudex Dominus Iesus, „Der milde Richter Herr Jesus“, vom 15. August 2015 zur Erleichterung von Ehenichtigkeitsverfahren. Bisheriger Höhepunkt seines Pontifikats war das Jahr der Barmherzigkeit vom 8. Dezember 2015 bis zum 20. November 2016. Die Verkündigungsbulle Misericordiae vultus, „Das Antlitz der Barmherzigkeit“, liefert eine kompakte Theologie der Barmherzigkeit, ist sie doch „der letzte und endgültige Akt, mit dem Gott uns entgegentritt“33 und der „Tragebalken, der das Leben der Kirche stützt“34.

Der Nucleus einer Berufung

Der Grund, weshalb für Papst Franziskus die Barmherzigkeit, die Freude und die Einfachheit zentral sind, findet sich in seiner Biographie.35 Das Schlüsseldatum ist der 21. September 1954. An diesem Dienstag will sich der damals 17-jährige Jorge Mario Bergoglio eigentlich mit Kameraden seiner Heimatstadt Buenos Aires treffen, um mit ihnen einen schönen Tag zu verbringen. Vorher hat er jedoch, wie sonst manchmal auch, seiner Pfarrkirche San José de Flores einen Besuch abgestattet. Als er die Kirche betritt, zieht es ihn förmlich in den Beichtstuhl, in dem gerade ein älterer Priester sitzt. Dort macht er eine Beichterfahrung, die sein ganzes Leben verändern wird und die ihn auch dazu veranlasst, Priester werden zu wollen: „In dieser Beichte ist etwas Seltsames passiert. Ich weiß nicht, was es war, aber es hat mein Leben verändert. Ich würde sagen: Es hat mich getroffen, als ich offen und ungeschützt war (…). Es war die Überraschung, das maßlose Erstaunen über eine wirkliche Begegnung. Ich merkte, dass ich erwartet wurde. Das ist die religiöse Erfahrung, das Erstaunen darüber, jemandem zu begegnen, der dich erwartet.“36 Er fügt noch an, dass ihn nicht allein das „Erstaunen über die Begegnung“ zutiefst angerührt hat, sondern ebenso die barmherzige Weise, wie ihn Gott damals ansprach.

Dieses Widerfahrnis, das mit einer ungeahnten inneren Freude einhergegangen ist, spiegelt sich im Wahlspruch des jetzigen Papstes. Denn der 21. September – und somit auch jener denkwürdige Tag des Jahres 1954 – ist das Fest des hl. Matthäus und damit jenes Zöllners, den Jesus unerwartet in seine Nachfolge berufen hat (vgl. Mt 9,9). Die Feier der Tagzeitenliturgie sieht für diesen Tag in der Lesehore einen Abschnitt aus einer Predigt des Beda Venerabilis vor, in der es heißt: „Jesus sah einen Mann namens Matthäus am Zoll sitzen und sagte zu ihm: ‚Folge mir nach!‘ Er sah ihn nicht so sehr mit dem Blick seiner leiblichen Augen, als vielmehr mit dem inneren Blick seines Erbarmens. Er sah den Zöllner, und weil er ihn mit dem Blick des Erbarmens und der Erwählung (im Lateinischen steht hier miserando atque eligendo) anschaute, sprach er zu ihm: ‚Folge mir nach!‘“37 Wenn der Papst seinen Leitspruch diesem Text entnommen hat, dann drückt er damit aus, sich in dem biblischen Zöllner Matthäus wiederzufinden, den Jesus aus reiner Barmherzigkeit und Liebe in seine besondere Nachfolge und damit zu einem Leben nach den evangelischen Räten berufen hat.

Unterschiedliche Wege – eine Mitte

Auch wenn Papst Franziskus die Trias von „Freude, Barmherzigkeit und Einfachheit“ nicht explizit erwähnt, sind die drei Aspekte für ihn und seine Spiritualität nicht weniger wichtig als für Frère Roger, der der Trias in der Regel von Taizé von Anfang an den gebührenden Platz eingeräumt hat. Beide waren recht jung, der eine 17 und der andere etwa 23 Jahre alt, als sie zu einer ähnlichen Gewissheit dessen gelangt sind, was den christlichen Glauben im Kern ausmacht. Beiden wurde diese Gewissheit mittels einer Glaubenserfahrung geschenkt, die sich – so scheint es zumindest von außen – beim jetzigen Papst schlagartig ereignet und beim Prior von Taizé eher als innerer Prozess vollzogen hat. Beide Protagonisten gehören unterschiedlichen Konfessionen an. Gleichwohl verbindet sie eine mit einer tiefen inneren Freude verbundene Erfahrung der Barmherzigkeit und Liebe Gottes, die sie dazu ermächtigt und verpflichtet, ihr Christsein in einem einfachen und von Güte getragenen Lebensstil zu verwirklichen. Damit signalisieren sie über die Konfessionsgrenzen hinweg, dass es auf dem Weg der Nachfolge Jesu Christi und in seinem Geist eine tiefere kirchliche Einheit hier und jetzt bereits geben kann.

1 Die Regel von Taizé 1952–1953, in: Frère Roger, Die Grundlagen der Communauté von Taizé. Gott will, dass wir glücklich sind (Gesammelte Schriften von Frère Roger, Bd. 1). Freiburg – Basel – Wien 2016, 73–97, bes. 80.

2 Ebd., 77. Der Gefahr einer solchen Beschränkung ist er sich sehr wohl bewusst: „Du könntest deine Freiheit zum Vorwand nehmen, um deinen eigenen Impulsen zu folgen.“ Ebd.

3 Ebd., 84.

4 Ebd. In der zweiten Anweisung des Exerzitienbuches sagt Ignatius von Loyola: „Nicht das Vielwissen sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Verspüren und Verkosten der Dinge von innen her.“ Ders., Geistliche Übungen. Übertragung u. Erklärung v. A. Haas. Freiburg – Basel – Wien 1983, 15.

5 Die Regel von Taizé 1952–1953, 85 [s. Anm. 1].

6 Vgl. zu Folgendem ebd., 86–90.

7 Auf diesem Hintergrund sind auch die Ausführungen zur Ehelosigkeit zu verstehen, die zu einer tiefen inneren Freude führen soll. Frère Roger ist sich der Schwere dieser Lebensform bewusst; sie verlangt „unendliche Geduld“. Letztlich ist es Christus selbst, der „die Leidenschaften zu einer ungeteilten Liebe zum Nächsten verwandeln kann“. Ebd., 90.

8 Vgl. Einführung. Die Quellen von Taizé 2001, in: Frère Roger, Grundlagen, 7 f. [s. Anm. 1].

9 Vgl. Die Quellen von Taizé 2001, 27 f. [s. Anm. 1].

10 Ebd., 42.

11 Dies steht unter der Überschrift „Ein Leben in Einfachheit“. Ebd.,17. Vgl. hierzu auch ebd., 19 f.

12 Ebd., 44.

13 Ebd., 45.

14 Vgl. ebd., 21–25.

15 Vgl. zu Folgendem S. Laplane, Frère Roger. Die Biografie. Freiburg – Basel – Wien 2018, 80–102.

16 Erläuternde Anmerkungen, in: Frère Roger, Grundlagen, 54–64, bes. 55 [s. Anm. 1]. Vgl. auch die instruktive Einführung der Herausgeber ebd., 53 f.

17 Zitiert nach S. Laplane, Frère Roger, 135 [s. Anm. 15].

18 Ebd., 137.

19 Bemerkenswerterweise nannten sich die beteiligten Studenten aus der Schweiz und aus Frankreich noch einige Jahre lang „Clunisiens“ (Cluniazenser); einige von ihnen sind später der Communauté von Taizé beigetreten.

20 Die mit der Note „gut“ bewertete Abschlussarbeit seines Theologiestudiums befasste sich mit dem Thema: L’idéal monacal jusqu’à Saint Benoît (vie s.) et sa conformité à l’Èvangile („Das mönchische Ideal bis zu Benedikt [6. Jh.] und seine Übereinstimmung mit dem Evangelium“). Vgl. hierzu S. Laplane, Frère Roger, 151–153 [s. Anm. 15].

21 Zitiert nach K. Spink, Frère Roger, Gründer von Taizé. Leben für die Versöhnung. Freiburg – Basel – Wien 1987, 61.

22 Das Wort „Stille“ kommt 23 Mal vor.

23 Erläuternde Anmerkungen, 60 [s. Anm. 1].

24 W. Monod, Après la journée. Souvernirs et visions. Paris 1938. Vgl. hierzu S. Laplane, Frère Roger, 98–102 [s. Anm. 15].

25 Vgl. die Regel der Veilleurs, URL: https://sites.google.com/site/fratspirituelledesveilleurs/home/la-regle-de-la-fraternite (Stand: 10.04.2019).

26 Ebd.

27 Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute. 24. November 2013 (VAS 194). Bonn 2013, Nr. 198. Vgl. hierzu P. Müller, „Evangelii gaudium“ – Die Programmschrift von Papst Franziskus, in: Pastoralblatt 4 (2014), 99–103.

28 Die auf den 24. Mai 2015 datierte Umweltenzyklika Laudato si‘ trägt den Untertitel „Über die Sorge für das gemeinsame Haus“.

29 Papst Franziskus, Evangelii gaudium [s. Anm. 27].

30 Papst Franziskus, Nachsynodales Apostolisches Schreiben Jubilate et exsultate über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute. 19. März 2018 (VAS 213). Bonn 2018, Nr. 122–128.

31 Papst Franziskus, Apostolische Konstitution Veritatis gaudium über die kirchlichen Universitäten und Fakultäten. 27. Dezember 2017 (VAS 211). Bonn 2018, Nr. 1.

32 Vgl. Papst Franziskus, Der Name Gottes ist Barmherzigkeit. Ein Gespräch mit Andrea Tornielli. München 32016, 31. A. R. Batlogg, Der evangelische Papst. Hält Franziskus, was er verspricht? München 2018, 97–125.

33 Papst Franziskus, Verkündigungsbulle Misericordiae vultus zum Außerordentlichen Jubiläum der Barmherzigkeit. 11. April 2015 (VAS 200). Bonn 2015, Nr. 2.

34 Ebd., Nr. 10.

35 Vgl. zu Folgendem P. Müller, Die Beichte als Ressource der Barmherzigkeit. Eine pastoraltheologische Perspektive, in: G. Augustin / T. E. Elssner (Hrsg.), Barmherzigkeit als christliche Berufung (Theologie im Dialog, Bd. 19). Freiburg – Basel – Wien 2017, 133–152.

36 Papst Franziskus, Mein Leben, mein Weg. El Jesuita. Gespräche mit Jorge Mario Bergoglio. Freiburg – Basel – Wien 2013, 49 f.

37 Das lateinische Originalzitat des letzten Satzes lautet: „Vidit ergo Iesus publicanum et quia miserando atque eligendo vidit; ait ilii: ‚Sequere me.‘“ CCL 122, 130.

Geist & Leben 3/2019

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