Читать книгу Rebekkas Tagebuch - Eckart zur Nieden - Страница 5
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ОглавлениеEs war Montag, der 22. Juni des Jahres 1992, einen Tag nach Sommeranfang, sechs Uhr fünfzig.
Paul stellte fest, dass er noch zehn Minuten warten musste, ehe er mit der Maschine arbeiten konnte. Seine Werkstatt in dem alten Bauernhof lag mitten im Dorf, und um Ärger zu vermeiden, wollte er nicht vor sieben Uhr Lärm machen.
Paul war nicht sehr groß, aber kräftig, mit breiten Schultern. Er hatte unter dem kurzen dunkelblonden Haar, das er meistens unter einer altmodischen Baskenmütze verbarg, ein freundliches, rundes Gesicht und besaß die Gewohnheit, jeden, mit dem er sprach, aus seinen braunen Augen fest anzusehen.
Um die Zeit zu nutzen, verließ er seine Bildhauerwerkstatt im alten Kuhstall durch das Tor, das er in die Außenmauer gebrochen hatte, und ging nebenan durch das alte Tor zur Tenne.
Dort stand der Oldtimer seines Großvaters. Damit der durch den Staub aus der Werkstatt nicht Schaden nahm, hatte Paul zwischen Tenne und altem Kuhstall, der nun sein Arbeitsplatz war, eine Mauer hochgezogen.
Von der Tenne aus stieg er die Leiter hinauf und befand sich nun über seiner Werkstatt. Auf dem früheren Heuboden gab es natürlich kein Heu mehr. Paul wollte sich die Konstruktion des Bretterbodens genau ansehen. War es ohne großen Aufwand möglich, die Balken und die darauf liegenden Bohlen zu entfernen? Dann hätte er unten mehr Platz. Dann könnte er Arbeiten an größeren Blöcken, die er bisher im Hof durchführen musste, zukünftig in die Werkstatt verlegen – ein Vorteil bei Kälte und Regen.
Natürlich würde er erst seinen Großvater fragen müssen, dem der Hof mit all seinen Gebäuden offiziell noch gehörte. Aber das war nur eine Formsache. Der hatte sicher nichts dagegen.
Auf dem Boden war zwar kein Heu, aber Teile von Gipskartonplatten lagen in einer Ecke, in einer anderen ein Stapel Dachziegel, sogenannte Frankfurter Pfannen, die wohl beim Erneuern irgendeines Daches übrig geblieben waren. Auch eine Rolle Teerpappe lag da und mehrere alte landwirtschaftliche Geräte, deren Funktion Paul nicht kannte.
Sein Urgroßvater Ludwig Born hatte noch bis in die frühen fünfziger Jahre Landwirtschaft betrieben. Wenn der wüsste, wie fremd mir das ist, dachte Paul, würde er sich wahrscheinlich im Grab rumdrehen.
Wie waren die Bohlen an der Seite befestigt? Paul ließ sich auf die Knie nieder in eine dicke Schicht Staub, die ihn aber nicht störte, da er ohnehin schon seine schmutzige Arbeitskleidung anhatte. Er kroch mühsam unter die Dachschräge. Kein Problem!, stellte er fest. Die Bretter waren nur auf einem Balken festgenagelt.
In der hinteren Ecke waren ein paar rote Ziegelsteine aufgestapelt. Als Paul sie zur Seite räumte, um die Konstruktion des Bretterbodens in der Ecke zu begutachten, bemerkte er hinter den letzten Steinen einen rechteckigen Gegenstand, der mit einem schmutzigen Tuch umwickelt war. Er zog das Ding zu sich heran und kroch rückwärts unter der Dachschräge hervor, um sich bequemer hinsetzen zu können.
Der Stapel Gipskartonplatten diente ihm als Sitz. Er untersuchte seinen Fund. Als er das Tuch aufgeschlagen hatte, kam ein Buch zum Vorschein.
Genau genommen war es kein ordentlich gebundenes Buch. Jemand hatte einen fingerdicken Stapel von Blättern provisorisch mit Hilfe eines Bindfadens, der durch mehrere Löcher führte, zusammengeheftet.
Vorn auf dem ersten Blatt stand in handgeschriebenen Blockbuchstaben: Tagebuch. Und darunter: Rebekka Schimmel.
Das sagte Paul nichts. Von einer Rebekka Schimmel hatte er nie etwas gehört.
Paul blätterte und war enttäuscht. Jemand, wahrscheinlich diese Frau Schimmel, hatte mit Bleistift in deutscher Schrift geschrieben. Das konnte er nicht lesen. Stellenweise waren die Buchstaben ziemlich verblasst, aber noch zu erkennen.
Paul stemmte sich hoch. Es war vier Minuten nach sieben. Er konnte also loslegen. Er warf noch einen letzten Blick auf die Arbeit, die ihn bald hier oben erwarten würde, klemmte seinen Fund unter den Arm und stieg die Leiter hinab.
In seiner Werkstatt angekommen, legte er das Buch irgendwo ab und vergaß es. Er setzte Schutzbrille und Ohrschützer auf und machte sich mit dem durch Druckluft betriebenen Meißel ans Werk.
Wenig später ging das Licht mehrmals an und aus. Das machte seine Frau Stefanie immer, wenn sie in die Werkstatt kam und Paul mit einem lauten Gerät arbeitete. So musste sie ihn nicht mit einem Tippen auf die Schulter erschrecken.
Paul schaltete sein Werkzeug aus und setzte Brille und Ohrschützer ab.
„In zehn Minuten kannst du zum Frühstück kommen“, sagte sie. Stefanie war zwar schon zivilisiert angezogen mit Jeans und T-Shirt, hatte aber ihre rotbraunen Haare noch nicht zum Pferdeschwanz gebunden. „Ich habe Leoni zum Bäcker geschickt. Sie holt Brötchen. Zur Feier des Wochenanfangs.“
„Und des Sommeranfangs. Der war gestern.“
„Also noch ein Grund.“
„Du schickst sie alleine zum Einkaufen?“
„Na, hör mal! Sie ist fünf! Und der Bäcker ist gerade mal sechs- oder siebenhundert Meter entfernt!“
Paul nickte und klopfte den Steinstaub von seiner Arbeitskleidung.
„Was soll das werden?“, fragte Stefanie und deutete auf den Grabstein.
Paul grinste breit und zeigte seine gesunden Zähne. „Die Leute wollten unbedingt einen Engel. Ich habe gesagt: Engel auf einem Grabstein, das hat man im neunzehnten Jahrhundert gemacht. Ist heute total überholt. Kitsch! Ich hab es ein bisschen vorsichtiger ausgedrückt. Aber sie ließen sich nicht davon abbringen.“
„Der Kunde ist König. Vergraule deine Kunden nicht, wir brauchen das Geld!“
„Der Kunde ist König, aber der Künstler ist kein Sklave.“
„Außerdem sind Engel wieder im Kommen, hab ich gelesen.“
„Ich mache jetzt etwas, das man auch als Engel deuten kann, wenn man will.“
Sie traten gemeinsam aus der Werkstatt.
Der Hof war, wie Paul gern sagte, wie ein Schloss angelegt. Eine dreiflügelige Anordnung der Gebäude. Hinten, wo bei Schlössern das Hauptgebäude steht, erhob sich der ehemalige Kuhstall mit Scheune, wo er jetzt seine Werkstatt hatte. Das Gebäude, von der Straße aus gesehen rechts, in dem einmal der Schweinestall und ein Geräteschuppen gewesen waren, hatte das junge Ehepaar Born sich als Wohnung ausgebaut. Gegenüber, in einem gut erhaltenen Fachwerkbau auf einem Fundament aus mächtigen Sandsteinquadern, wohnten oben Pauls Mutter Thea und unten sein vierundachtzigjähriger Großvater Harald Born.
„My home is my castle“, sagte Paul gern, obwohl es rein juristisch gesehen nicht sein Heim war, sondern immer noch Großvater gehörte. Und nach Schloss sah der Hof auch höchstens wegen der Anordnung der Gebäude aus, vielleicht noch wegen des „Turms“ links hinten, dem inzwischen nicht mehr genutzten Silo. Aber von einem einheitlichen Stil konnte keine Rede sein, eigentlich konnte von Stil überhaupt keine Rede sein, und das Alter hatte seine Spuren hinterlassen. Überall bröckelte der Putz, Balken, Fensterrahmen und Türen schrien nach einem neuen Anstrich, und das Hofpflaster war im Lauf der Jahrzehnte mit unterschiedlichsten Materialien notdürftig geflickt worden.
Während Paul seine Baskenmütze absetzte und sich die Hände und die sehnigen Unterarme wusch, kam Leoni herein.
„Hast du Brötchen geholt? Toll, was du schon alles kannst!“, lobte ihr Vater.
„Papa!“ Leoni klang entrüstet. „Ich bin schon groß!“ Sie legte die Gebäcktüte auf den Tisch. „Und das hier hat mir ein Mann gegeben. Für dich.“ Sie hielt ihrem Vater einen dicken Umschlag aus festem Karton hin.
„Für mich?“ Er trocknete sich fertig ab und nahm den Umschlag. Tatsächlich! „Herrn Paul Born“ stand darauf. Das Ehepaar sah sich erstaunt an. Dann nahm Paul ein Küchenmesser und schlitzte eine Seite auf.
Im ersten Moment hielt er es für einen Scherz. Aber es war keiner. Was er in der Hand hielt, war ein dickes Bündel von 100-Mark-Scheinen. Wieder sah er Stefanie an, als müsse sie ihm bestätigen, dass er nicht träumte.
„Da ist noch ein Zettel“, sagte seine Frau. Ihre Stimme klang etwas belegt.
Paul zog ein kleines Blatt heraus und las, was mit Computerdrucker darauf geschrieben stand:
Lieber Herr Born, ein Bericht in unserer Zeitung stellte Ihre künstlerische Arbeit vor. Das erinnerte mich an Ihre Familie, der ich seit langem zu Dank verpflichtet bin. Vielleicht kann ich von dieser Dankesschuld mit dem beiliegenden Geld etwas abtragen. Ob Sie damit den in dem Zeitungsbericht erwähnten „Unimog mit Kran“ erwerben oder Ihre Werkstatt vergrößern, bleibt Ihnen überlassen. Falls das Ihr Gewissen beruhigt: Für mich ist diese Summe kein großes Opfer. Ein Freund.
„Ich werd verrückt!“, stammelte Paul.
Stefanie murmelte: „Aber vorher zähle es noch!“
Das tat er. Es dauerte eine ganze Weile, denn er wollte es trotz der zitternden Finger gründlich tun.
„250. Also 25.000 D-Mark.“
„Wahnsinn!“, meinte Stefanie, als wäre die Bemerkung ihres Mannes, dass er verrückt werde, schon Tatsache. „Wer schenkt uns 25.000 D-Mark?“
„Einfach so!“
„Vielleicht ... nicht einfach so.“ Sie sah ihn nachdenklich an. „Denkst du das Gleiche wie ich?“
Paul nickte. „Wahrscheinlich.“ Er blätterte überlegend durch das Bündel mit den Geldscheinen.
Leoni sagte: „Das ist viel Geld, stimmtś? Können wir damit ein Pony kaufen?“
„Nein“, antwortete ihre Mutter. „Du hast es doch gehört – das ist für Papas Arbeit bestimmt. Übrigens – hat die Katze schon ihre Milch? Schau doch mal nach! Und wenn du zurückkommst, können wir frühstücken.“
Als Leonie das Zimmer verlassen hatte, murmelte Paul: „Mein unbekannter Vater! Es kann gar nicht anders sein!“
„Den deine Mutter uns nicht verraten will. Angeblich soll er ja gar nicht mehr leben. Aber offenbar lebt er doch und ist nun an sein Liebesabenteuer von vor sechsundzwanzig Jahren erinnert worden. Und das schlechte Gewissen, weil er damals deine Mutter verlassen hat, plagt ihn jetzt. Und weil er genug Geld hat ... “
„Anscheinend wohnt er nicht weit entfernt. Es war ja keine überregionale Zeitung, in der der Artikel über mich stand. Vielleicht hat er auch unsere Familiengeschichte verfolgt.“
Stefanie nickte.
„Ein merkwürdiger Gedanke!“, murmelte Paul.
„Aber nicht unangenehm! Grüble nicht weiter, freu dich und kauf dir den Unimog. Damit du nicht immer ein Fahrzeug leihen musst, um deine Steine zu holen und deine Kunstwerke auszuliefern.“
„Ich kann mich noch nicht einmal bedanken.“
„Warum auch? Nimm es einfach als Erbe, das dir zusteht!“
„Falls dieser Wohltäter mein Vater ist. Denn das steht ja nicht fest.“
Stefanie beobachtete, dass ihr Mann nach diesem Satz den Atem anhielt und starr durch sie hindurchzublicken schien.
„Was ist?“
„Mir fällt da etwas ein. Ich habe heute Morgen auf dem alten Heuboden über der Werkstatt ein Tagebuch gefunden. Alt. In deutscher Schrift. Ich konnte es nicht lesen. Vielleicht besteht da ein Zusammenhang.“
Leoni kam herein. „Muschi hatte schon ihre Milch.“
„Dann frühstücken wir jetzt!“, beschloss Stefanie. „Nach dem Tagebuch sehen wir später. Ich muss nämlich um halb neun an meiner Arbeit sein. Wenn es Sütterlin ist, kann ich es wahrscheinlich lesen. Meine Oma hat noch so geschrieben. Kommt an den Tisch!“