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Paul Born und seine Frau saßen am Tisch im Wohnzimmer. Stefanie hatte das Tagebuch vor sich liegen und schaute es zunächst schweigend an. Sie musste sich erst an das Schriftbild gewöhnen. Dann fing sie an, langsam und stockend vorzulesen.

3. Juni 1941

Viele Mädchen schreiben ja mit Begeisterung Tagebücher. Ich konnte mich in meiner Jugend nie damit anfreunden. Aber nun bin ich erwachsen, und wenn ich jetzt doch damit anfange, so hat das einen anderen Grund.

Die Ereignisse überstürzen sich. Es gibt vieles, was festgehalten werden muss. Vielleicht werde ich später einmal, wenn die Krise durchgestanden ist, mir anhand dieser Notizen wieder alles in Erinnerung rufen. Ich werde dann desto dankbarer sein, je mehr Gefahren und Notlagen hier stehen, die überstanden sind.

Vielleicht wird ein anderer dies alles lesen, wenn ich nicht mehr lebe. Es ist ein tröstlicher Gedanke für mich, dass mit meinem Leben nicht auch meine Geschichte vergangen sein wird.

Vielleicht wird aber auch niemand dieses Tagebuch lesen. Dann hat es wenigstens den Sinn gehabt, dass ich mir beim Schreiben Gedanken mache und nicht nur in unserem Versteck vor mich hin brüte.

Bevor ich die frischen Erlebnisse aufschreibe, will ich die Vorgeschichte notieren. Ohne diese sich über Jahre hinziehenden Schwierigkeiten wären wir, mein Mann Aaron und ich, ja nie in dieses Versteck auf Borns Heuboden gekommen.

Nach der Aktion der Nazis „Kauft nicht bei den Juden“ im April 1933 ging es mit unserem Textilgeschäft in Wuppertal immer schlechter. Es hielten sich zwar durchaus nicht alle Kunden an diese gehässige Parole, und es gab sogar einige wenige, die aus leisem Protest extra in unseren Laden kamen. Aber das waren Ausnahmen. Der Umsatz ging immer mehr zurück. Schließlich war das Geschäft nicht mehr zu halten.

Die Verunglimpfungen wurden auch immer dreister. Man munkelte, dass Juden verschleppt würden. Wohin und zu welchem Zweck – das wusste keiner.

Mein Schwager und meine Schwägerin waren oft bei uns. Sie wollten ins Ausland fliehen und drängten uns mitzukommen. Ich wäre vielleicht schweren Herzens mitgeflohen, aber Aaron war dagegen.

Als dann in der Nacht vom neunten auf den zehnten November 1938 die Barmer Synagoge in der Scheurenstraße ausbrannte und die Zeitungen von ähnlichen Tragödien in anderen Städten berichteten, nahm natürlich auch unsere Angst zu. Auch die Atmosphäre uns gegenüber wurde immer feindlicher, was die Angst noch verstärkte.

In einem erneuten Gespräch mit Schwager und Schwägerin beschlossen wir – nach endlosen Beratungen bis zwei Uhr in der Nacht –, dass die beiden fliehen sollten. Sie waren kinderlos und würden unseren Sohn Jakob mitnehmen. Aaron und ich wollten aber noch bleiben, um zu versuchen, unseren Besitz – den Laden, die Textilien und unser Mobiliar – zu Geld zu machen, damit nicht alles verloren ginge. Ohne unseren Sohn würde es für uns später leichter sein, nachzukommen. Und sollte es bei uns misslingen, was wir aber nicht ernsthaft annahmen, so wäre wenigstens er in Sicherheit.

Aber wir konnten fast nichts verkaufen. Die Dinge spitzten sich immer mehr zu, und die Gefahr für uns wurde zunehmend größer, besonders als 1939 der Krieg begann. Warum wir nicht konsequenter reagiert haben, weiß ich nicht. War es, weil wir die Gefahr nicht realistisch einschätzten? Weil wir sie nicht erkennen wollten? Weil wir zu sehr am materiellen Besitz hingen? Weil wir uns einredeten, dass wir zwar Juden waren, aber am jüdischen Leben fast gar nicht teilgenommen hatten und damit eigentlich wie andere Deutsche waren?

Irgendwann war es für eine Flucht zu spät. Freunde erzählten uns davon, dass manche es vergeblich versucht hatten und verhaftet worden seien.

An dieser Stelle will ich noch erklären, wie unsere religiöse Einstellung war. Wie erwähnt, nahmen wir am Leben der jüdischen Gemeinde nicht teil. Die eine oder andere Tradition bestand in unserer Familie fort – zum Beispiel hatten wir Jakob beschneiden lassen –, aber die jüdischen Feste feierten wir nicht. Dafür feierten wir wie alle um uns her Weihnachten und Ostern. Aaron und ich sprachen auch kaum über religiöse Fragen. Eine gewisse Scheu wird dabei eine Rolle gespielt haben, aber auch Unsicherheit. Stimmte das alles, was man uns an unbeweisbaren Dingen in der Erziehung mitgegeben hatte? In unserer Umgebung hielt man etwas ganz anderes für wahr. Natürlich ist mir klar, dass die Wahrheit nicht unbedingt bei der Mehrheit liegen muss. Aber auch nicht bei der Minderheit, nur weil sie die Minderheit ist. Und auf lange Traditionen berufen sich alle.

Ich muss zugeben, selbst diese Gedanken sind neu für mich. So gründlich habe ich über das alles gar nicht nachgedacht. Erst durch die Begegnungen und Gespräche mit den alten Borns bin ich aus meiner Gleichgültigkeit solchen Fragen gegenüber etwas aufgewacht.

Von dem jungen Ehepaar Born muss ich berichten. Sie wohnten wie wir im dritten Stock, nur auf der anderen Seite des Treppenhauses. Beide waren ungefähr in unserem Alter und hatten eine Tochter, Thea, die ein Jahr jünger war als Jakob. Die Kinder spielten oft zusammen, meistens in Borns Wohnung, wenn Aaron und ich im Geschäft waren. Als wir das nicht mehr betrieben, waren beide oft bei uns.

Als der Krieg begann, war Harald Born als Leutnant natürlich nicht mehr da. Vom Polenfeldzug an war er nur noch zu Hause, wenn er Fronturlaub hatte. Umso mehr suchte Annemarie den Kontakt zu uns, um nicht so allein zu sein. Die Verachtung für die Juden griff zwar immer mehr um sich, aber sie setzte sich darüber hinweg.

Einmal waren Annemaries Schwiegereltern zu Besuch. Den Anlass weiß ich nicht mehr. Es könnte der vierte Geburtstag von Thea gewesen sein. Es ergaben sich längere und sehr ernste Gespräche zwischen dem alten Ehepaar Born und uns. Sie waren freundliche Leute, die irgendwo im bergischen Land einen Bauernhof besaßen.

Schnell entstand Vertrauen zwischen uns, nicht nur, weil Annemarie manches über uns erzählt und so die Begegnung vorbereitet hatte, sondern hauptsächlich, weil sie Vertrauen erweckende Menschen waren.

Kurz bevor sie nach ihrem mehrtägigen Besuch wieder abreisten, kamen wir auf die Situation der Juden zu sprechen. Sie rieten uns, wir sollten uns ins Ausland absetzen. Aaron erzählte ihnen offen, dass wir mit dem Gedanken lange – wohl zu lange – gespielt hätten, aber dass es nun zu spät sei. Und er schilderte, was wir in der Hinsicht unternommen hatten. Da sagte Ludwig Born, und seine Frau Elisabeth nickte eifrig dazu, wenn wir fliehen müssten und nicht wüssten, wohin, sollten wir zu ihnen kommen. Sie hätten Möglichkeiten, uns zu verbergen, und würden das auch gerne tun.

Wir bedankten uns für das Angebot, nahmen es aber nicht sehr ernst. An den Gedanken, auf einem Bauernhof bei Fremden in einem Versteck zu leben, vielleicht für lange Zeit, konnten wir uns noch schwerer gewöhnen als an den, im Ausland neu anzufangen. Aber es war wohl so, dass wir überhaupt zu träge waren, an etwas anderes als das Gewohnte zu denken. Wir hatten die Gefahr, in der wir schwebten, immer noch nicht voll erkannt. Oder wir wollten sie nicht erkennen und verdrängten sie deshalb aus unseren Köpfen.

Später habe ich darüber nachgedacht, ob es reiner Zufall war, dass wir davonkamen, oder ob tatsächlich der Gott Israels, der ja wohl auch der Gott der Christen ist, uns ein Wunder hat zufallen lassen. Ein eindeutiges Ergebnis ist bei diesem Nachdenken nicht herausgekommen. Jedenfalls begab sich Folgendes:

Aaron sah eines Abends ohne bestimmte Absicht aus dem Fenster auf die Straße. Da bemerkte er ein Auto, eine schwarze Mercedes-Limousine, die vor unserem Hauseingang hielt. Männer sprangen heraus. Er sagte später, dass er sofort gewusst habe: Es war die Gestapo. Ich glaube es ihm aufs Wort. Man erkannte diese Leute sofort, wenn nicht an ihrer Kleidung, dann an ihrem herrischen Auftreten.

Aaron rief: „Sie wollen uns holen!“, rannte zu mir, packte mich am Arm und zog mich, ehe ich recht begriffen hatte, was los war, zur Tür. Wir nahmen uns nicht einmal die Zeit, irgendetwas Wertvolles mitzunehmen. Gegenüber klopften wir heftig bei Annemarie Born an die Tür. Sie öffnete gerade in dem Augenblick, als unten die ersten Stiefeltritte auf der Treppe zu hören waren. Annemarie war nicht nur hilfsbereit, sondern besaß auch eine rasche Auffassungsgabe. Ehe wir etwas erklären konnten, zog sie uns in die Wohnung und schloss die Tür.

Wir hörten gegenüber Rufen, Poltern, und schließlich krachte es so laut, dass wir annahmen, dass sie die Tür eingetreten hatten. Nach einiger Zeit wurde bei Frau Born geklingelt. Wir hatten schon damit gerechnet und uns versteckt. Ich quetschte mich in die winzige Speisekammer, und Aaron legte sich im Schlafzimmer unter die Betten.

Frau Born öffnete und lächelte die Gestapoleute freundlich an. Später sahen wir, dass sie eine Uniformjacke ihres Mannes mit all seinen Abzeichen direkt neben die Tür an die Garderobe gehängt hatte, in der Hoffnung, dass das den Männern Respekt einflößen würde. Ob sie wüsste, wo die Nachbarn seien, Ehepaar Schimmel, wurde sie gefragt. Nein, antwortete sie, aber die machten manchmal einen Abendspaziergang. Im Übrigen kümmere sie sich nicht um die Nachbarn, denn sie seien Juden.

Unsere Sorge war, dass die kleine Thea, die schon schlief, bei dem Lärm aufwachen und uns verraten könnte. Aber nichts dergleichen geschah, und die Männer wandten sich mit einem „Heil Hitler“-Gruß ab.

Annemarie Born beobachtete, dass noch etwa eine Stunde lang zwei Geheimpolizisten vor der Haustür auf der Straße standen. Später zogen sie ab, jedenfalls waren sie nicht mehr zu sehen.

Uns war klar, dass wir noch in dieser Nacht verschwinden mussten. Frau Born redete uns zu, das Angebot ihrer Eltern anzunehmen. Dazu waren wir nun auch entschlossen. Wohin hätten wir sonst fliehen können? Aber wie sollten wir dort hinkommen? Es wäre sicher zu gefährlich, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.

Also zu Fuß! Frau Born gab uns eine genaue Karte und zeigte uns darauf den Weg. Sollten wir gut und ohne Hindernisse vorankommen – am besten nachts –, würde die Reise wohl drei oder vier Tage dauern.

Wir schlichen gegen ein Uhr in der Nacht aus dem Haus, und zwar durch den Hinterausgang. Durch verschiedene Gärten – einmal zu Tode erschreckt durch lautes Hundegebell – kamen wir schließlich wieder auf die Straße. Ich war überrascht, dass Aaron, der nie gern von Flucht gesprochen hatte, mir eröffnete, er habe sich diesen Weg schon vorher überlegt und sogar ausprobiert.

Wir hatten hauptsächlich Nahrungsmittel in unseren Rucksäcken, dazu warme Kleidung zum Schlafen im Freien.

In der ersten Nacht kamen wir, da wir ja erst spät aufgebrochen waren, kaum aus der unmittelbaren Umgebung von Wuppertal heraus. Nicht weit von der bekannten Müngstener Brücke verbrachten wir den Tag in einem Gebüsch. Wir beschlossen, dass abwechselnd einer von uns wachen sollte, während der andere schlief. Aber als ich mit Schlafen dran war, hielt mich die Anspannung trotz meiner Müdigkeit wach.

Abends machten wir uns wieder auf den Weg. Wir hatten zwar geplant, Verkehrsstraßen zu meiden und mehr auf Feldwegen zu gehen. Aber das erwies sich als unmöglich. Kleinere Straßen und Wege waren auf unserer Karte nicht verzeichnet. Zweimal verliefen wir uns und brauchten viel Zeit, wieder zu einem Ort zu kommen, durch dessen Ortseingangsschild wir erfuhren, wo wir waren.

Die Sonne war bereits im Begriff aufzugehen, als uns in der Nähe von Schloss Burg an der Wupper ein Bauer auf seinem Traktor überholte. Er wollte wohl früh mit seiner Ernte – was auch immer auf dem Anhänger lag – auf dem Markt sein. Er hielt an und fragte, ob er uns ein Stück mitnehmen solle. Es wäre verdächtig gewesen, wenn wir abgelehnt hätten. Also stiegen wir auf, ruhten unsere geschwächten Beine aus und kamen doch ein gutes Stück weiter. Aaron erzählte ihm, ohne dass der Bauer gefragt hätte, wir seien auf dem Weg zu einem Familientreffen hinter Wermelskirchen.

Je mehr wir in ländliches Gebiet kamen, desto weniger Angst hatten wir, dass uns die Polizei anhalten könnte. Also gingen wir nun auch bei Tageslicht, vermieden nur die Zeiten, wenn die Leute sich an ihre Arbeit machten oder von dort kamen.

Am dritten Tag hielt ein Lastwagen neben uns. Der Fahrer öffnete die Tür und rief uns zu: „Ach, wohl auch Städter, die auf dem Land ihr silbernes Besteck gegen Schinken tauschen wollen?“ Er lachte dabei und winkte uns, wir sollten auf die Ladefläche klettern. Wir waren glücklich, dass da jemand die Ausrede, die wir uns hätten ausdenken müssen, selbst erfunden hatte.

Am späten Abend des vierten Tages kamen wir in dem Ort Pfalzhof an, völlig erschöpft und übermüdet. Wir fanden den Hof von Borns, zögerten, ob wir sie so spät noch wecken dürften, entschlossen uns dann aber doch dazu. Beide waren natürlich erstaunt, als wir vor ihnen standen, hießen uns aber herzlich willkommen. Ich hatte sogar den Eindruck, sie freuten sich, dass wir ihre Einladung ernst genommen hatten. Vielleicht entstand der Eindruck aber nur, weil ich Schlimmeres befürchtet hatte. Schließlich kommt es oft vor, dass Menschen freundlich sind, solange es unverbindlich bleibt, und die Hilfsbereitschaft schnell schwindet, wenn es ernst wird.

Borns boten uns als Erstes an, sie Ludwig und Elisabeth zu nennen. Elisabeth machte einen Topf mit Milch warm, und ihr Mann ging, um unsere Unterkunft vorzubereiten. Wo die sein sollte, wussten wir noch nicht. Als wir dann alle vier zusammensaßen, erläuterte Ludwig seinen Plan. Für diese Nacht sollten wir auf zwei Sofas schlafen. Morgen sollten wir auf den Heuboden umziehen. Jetzt im Dunkeln da hinaufzuklettern in unbekanntes Gelände sei gefährlich und sicher nicht nötig.

Nach einer kurzen Nacht weckte uns Ludwig, ehe es hell wurde. Er hatte einige Mühe, uns wachzukriegen. Wir müssten nun in unser Versteck umziehen, meinte er entschuldigend, weil bald Leute kämen. Er wollte uns unser Lager zeigen, ehe er zum Melken in den Stall ging.

Das Wohnhaus stand an der linken Seite eines rechteckigen Hofes. Gegenüber war ein Backsteinbau, in dem Geräte untergebracht waren, und der Schweinestall. An der hinteren Seite stand ein höheres Gebäude, in dem unten die Kühe untergebracht waren. Darüber war das Heu gelagert. Dort sollten wir unser neues Zuhause finden.

Von der Tenne aus führte eine steile Leiter hinauf. Oben musste man eine Klappe öffnen, um auf den Heuboden zu kommen. Daneben deckte eine größere Klappe eine Öffnung ab, durch die Heuballen und anderes an einem Seil hinaufgezogen werden konnten. Das Seil lief über eine Rolle an einem Dachbalken.

Da oben, auf einer kleinen Fläche aus Brettern und dahinter Heu, etwa mannshoch, sollten wir nun also „wohnen“.

Ludwig war vorausgestiegen, wir beide folgten, und Elisabeth bildete die Nachhut. Oben angekommen, sahen wir uns erst schweigend um und dann schweigend an. Ich bemerkte an Aarons Blick, dass er es hier zwar nicht gerade gemütlich fand, aber er war auch nicht unzufrieden. Verglichen mit unseren Schlafstellen unterwegs und auch verglichen mit dem, was wir uns unter dem Begriff „Versteck“ vorgestellt hatten, konnten wir froh sein, hier unterzukommen.

„Wir bringen euch noch zwei Stühle“, machte Ludwig uns Mut.

„Und natürlich Decken und was man sonst noch so braucht“, ergänzte seine Frau.

Plötzlich fürchtete ich, sie könnten an unseren Gesichtern Enttäuschung ablesen, und beeilte mich, eine fröhliche Mine aufzusetzen. „Sehr schön! Hier können wir uns wohlfühlen! Vielen Dank!“

„Nichts zu danken! Was ihr einem von meinen geringsten Brüdern getan habt, habt ihr mir getan.“

Als ich erstaunt guckte und mich fragte, welche Brüder Ludwig wohl meinte, da ich zu wissen glaubte, dass er keine hatte, fügte er hinzu: „Hat Jesus gesagt.“

„Ach, Ludwig!“, meinte Elisabeth. „Das klingt ja jetzt, als würden wir es nur tun, weil Jesus es verlangt. Das auch, aber – nun ja, ihr tut uns leid, und wir wollen euch gern helfen.“

„Ja, das stimmt“, nickte ihr Mann. „Und noch etwas: Wir schämen uns, dass unser Volk euch das antut. Was wir tun können, um ... na ja, ihr wisst schon, wie ich‘s meine.“

Aaron ging zu Ludwig und umarmte ihn wortlos. Das hätte ich nicht von ihm erwartet, er ist sonst eher distanziert. Aber ich nahm das zum Anlass, Elisabeth in den Arm zu nehmen, allerdings nicht wortlos. Freilich waren meine Worte wohl eher ein ziemlich zusammenhangloses Gestammel als ein formvollendeter Dank.

Ludwig öffnete die große Bodenklappe und zeigte uns, wie der Seilzug zu bedienen war. Immer wenn unten jemand pfiff oder sich sonst bemerkbar machte, sollten wir öffnen und das Seil mit dem Haken und einem Korb daran hinunterlassen. Unser Essen, und was wir sonst so brauchen würden, sollte auf diese Weise nach oben kommen.

Später brachte Elisabeth noch einen Eimer, in den wir unsere Notdurft verrichten sollten. Wir weigerten uns aber, den auch am Seil hinunterzulassen, weil wir die beiden nicht auch noch damit belasten wollten, sondern bestanden darauf, nachts selbst hinabzusteigen und den Eimer zu leeren.

Während ich dies schreibe, leben wir nun bereits zwei Wochen hier in unserem Versteck. Es ist langweilig – auch ein Grund, weshalb ich schreibe. Andererseits ist aber auch immer eine Anspannung da: Wie geht es weiter? Wie wird der Krieg enden? Wird es wieder Freiheit für uns Juden geben? Kann es sein, dass sich die Hilfsbereitschaft des Ehepaars Born erschöpft, wenn es noch länger so weitergeht? Können wir es im Winter hier oben aushalten? Was geschieht, wenn einer von uns krank wird?

Bei aller Anspannung durch Zukunftsangst und aller Langeweile durch Untätigkeit – das Gefühl, das mich am meisten erfüllt, ist Dankbarkeit. Was bringt Menschen dazu, sich selbst in größte Gefahr zu begeben, um uns zu schützen? Und das nicht widerwillig, als würde ihr Gewissen oder ihre moralische Erziehung sie unter Druck setzen, sondern gern und liebevoll. Wir spüren, dass es für sie eine Freude ist, uns zu helfen.

Obwohl sie mit ihrer Landwirtschaft viel zu tun haben, nimmt sich Elisabeth abends immer mal ein paar Minuten Zeit für uns. Manchmal kommt auch Ludwig mit herauf. Oft geht dann aber Elisabeth bald wieder, weil sie fürchten, dass es ein Besucher des Hofes seltsam finden könnte, wenn niemand da ist. Und wenn dann einer vom Heuboden steigt, wo ja mitten im Sommer niemand etwas zu suchen hat.

Wir freuen uns jedes Mal, wenn einer die Leiter heraufkommt, mit uns redet, berichtet, was in der Welt so vorgeht, und uns Mut macht. Ich kann nur staunen über diese beiden liebevollen alten Menschen und bin traurig, dass ich weiß: Wir werden das nie vergelten können.

Rebekkas Tagebuch

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