Читать книгу Im Schatten des Tunnels - Eckart zur Nieden - Страница 7
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Оглавление„Hört mal her, Jungs!“, ruft Alexander Reeber laut. Eine Bande von fünfzehn Jungen sammelt sich um den Jungscharleiter. Alexander ist sechsundzwanzig Jahre alt, lang und dünn, und hat ein immer fröhlich strahlendes Gesicht, das auch beim größten Lärm der ihm anvertrauten Bande eine große Gelassenheit ausstrahlt.
„Dieser Kerl hier“, er deutet auf Jens, der neben ihm steht, „heißt Jens. Und er möchte gern Fußball spielen. Ich weiß, dass er etwas älter ist als ihr. Seid ihr trotzdem einverstanden, dass wir ihn mitspielen lassen?“
Allgemein zustimmendes Gemurmel. Nur ein paar wenige sind offenbar noch etwas skeptisch.
„Damit es gerecht zugeht, schlage ich vor, dass er bei der einen Mannschaft im Tor steht und ich bei der anderen.“
Einige Jungen nicken. Jemand ruft: „Okay“, ein anderer: „Kann der das denn?“
Alexander grinst. „Das werden wir ja gleich sehen.“
Ein etwa Elfjähriger sagt: „Du wohnst bei uns, stimmt’s?“
Alex dreht sich erklärend zu Jens: „Das ist Leon Theißen. Seinem Vater gehört der Landgasthof.“
Jens lächelt nickend zu Leon hinüber und dann geht es auch schon los – das Spiel beginnt.
Beine und Arme wirbeln durcheinander, Schreie gellen durch die Luft:
„Foul!“
„Gib doch ab, du Blödmann!“
„Aua!“
Grasboden wird von Schuhen losgerissen, Staub wirbelt in braunen Wolken auf, Triumphgeschrei mischt sich mit Schimpfwörtern, ein Ball wird mit Füßen und Köpfen hin und her gejagt, und einige Male fliegt der Neue mit den langen blonden Haaren spektakulär durch die Luft.
Nachdem sich alle ziemlich verausgabt haben, ruft Alexander die Jungen zusammen. Schwitzend und immer noch außer Atem setzen sich alle in einen Kreis am Rand des Spielfeldes.
„Nur zwanzig Minuten?“, fragt Jens erstaunt und auch ein wenig enttäuscht.
„Das war nur die erste Halbzeit“, erklärt Alexander. „Jetzt kommt die Andacht und dann geht es weiter.“
„Was? Eine Andacht zwischen den Halbzeiten?“
„Das ist Taktik“, raunt Alexander Jens zu. „Wenn ich die Andacht vor dem Spiel mache, kommen einige erst später. Wenn ich sie hinterher mache, müssen einige eilig weg. Darum ist das so die beste Lösung.“
Jens grinst und lässt sich ins Gras fallen. Sofort setzen sich einige Jungen direkt neben ihn. Der lange Stefan sagt zu dem kleinen Ralf: „Ey, da wollte ich gerade hin!“
„Jetzt sitze ich aber hier.“
Da zwängt sich Stefan zwischen Ralf und Jens. Dadurch wird es ziemlich eng, allen ist warm vom Spiel.
Alex beugt sich rüber und sagt leise zu Jens: „Das ging aber schnell!“
„Was?“
„Innerhalb von zwanzig Minuten haben dich die Kids ins Herz geschlossen. Ich dagegen musste mir die Zuneigung der Bengel in langer mühseliger Kleinarbeit erkämpfen. Ich könnte dich fast beneiden – aber als Christ lass ich das mal lieber.“
Ein Junge wird ungeduldig. Fordernd ruft er: „Leg los, Alex, damit wir weiterspielen können!“
„Ja, gut.“ Alexander Reeber hebt die Stimme, damit alle ihn gut hören können.
„Ich habe vorhin etwas Schönes gesehen. Eric hat Markus aus Versehen getreten. Und dann –“
„Was war denn daran schön?“, ruft Markus dazwischen.
„Warte, das kommt jetzt. Dann hat Eric Markus aufgeholfen und sich bei ihm entschuldigt. Andere würden in so einem Fall sagen: Es war doch gar nichts! So was passiert eben beim Fußball. Der soll sich nicht so anstellen! Ich hab doch nichts verkehrt gemacht.“`
Die Jungen schauen zu Eric und Markus.
„Das erinnert mich an etwas, das ich neulich in der Bibel gelesen habe. Da steht: ‚Wenn wir behaupten ohne Sünde zu sein, betrügen wir uns selbst.‘ Wie ist das bei euch: Wollt ihr euch selbst betrügen?“
Alex blickt in die Runde. Alle Jungs schütteln ihre Köpfe.
„Ihr macht euch aber selbst etwas vor, wenn ihr meint, ihr hättet euch nie etwas zuschulden kommen lassen. Jeder hat Dreck am Stecken. Und ich meine nicht nur gegenüber anderen Menschen, sondern erst recht vor Gott. Wenn wir aber zu unseren Fehlern stehen, kann alles in Ordnung kommen. Der Vers aus der Bibel geht so weiter: ‚Wenn wir unsre Sünden bekennen, vergibt Gott sie uns.‘ Also, was ich jedem von euch sagen will, ist Folgendes: Versteck nicht das, was in deinem Leben nicht in Ordnung ist! Sondern bekenne es ehrlich vor Gott und vor dir selbst. Vielleicht sogar vor einem Menschen, der dir dabei helfen kann, die Vergebung von Gott zu verstehen und anzunehmen.“
Der 10-jährige Louis ruft: „Willst du etwa sagen, wenn ich Scheiße gebaut habe, sollen das alle wissen?“
„Nein, nicht alle, Louis. Du musst es nicht an die große Glocke hängen. Aber vielleicht kannst du es einem, dem du vertraust, erzählen. Vor allem aber sag es Jesus!“
Jens mischt sich ein. „Denn der weiß es ja sowieso schon, vor ihm kann man nichts verheimlichen.“
Grübelnd erwidert Tilo: „Aber dann brauch ich es ihm ja auch nicht zu sagen!“
„Doch“, antwortet Alex, „denn dabei wird klar, dass es dir leidtut. Und dann vergibt Jesus dir und du bist wieder mit ihm im Reinen. Und auch mit dir selbst.“
„Okay, verstanden“, sagt Louis. „Aber jetzt wollen wir endlich weiterspielen. Können wir nicht mal den Torwart tauschen? Dass Jens bei uns spielt und du bei den anderen?“
Jens und Alex grinsen sich an. „Wie schon erwähnt“, meint Letzterer, „ist Neid keine gute Eigenschaft. Darum …“ Alex bricht ab und schüttelt den Kopf. Dann setzt er erneut an: „Nein, wir sollen uns ja nicht selbst betrügen.“
Lachend stehen sie auf. „Gut, wir tauschen für die zweite Halbzeit den Torwart.“
Leon begleitet Jens nach Hause, denn sie haben denselben Weg. Sie unterhalten sich über Fußball.
Vor einem der älteren Häuser in der Ortsmitte liegen verschiedene Dinge, die offenbar von der Sperrmüllabfuhr geholt werden sollen. Ein alter schwerer Eichentisch, dem ein Bein fehlt. Das Bein liegt daneben. Zwei Nachtschränkchen, ein gerollter Teppich, mehrere Kartons, deren Inhalt nicht zu sehen ist, einzelne Bretter und Leisten – anscheinend ein auseinandergenommenes Regal.
Und oben drauf liegt ein Propeller. Ein schöner zweiflügeliger Propeller von einem Flugzeug, etwa einen Meter lang von einer Spitze bis zur anderen. Er ist aus Holz, das in verschiedenen Schichten aufeinandergeleimt wurde. Man sieht von der Seite die dünnen Schichten in verschiedenen Farben.
„Guck mal!“, staunt Leon. „Ein Propeller. Will der den etwa wegschmeißen?“
„Wahrscheinlich. Warum sollte er sonst beim Sperrmüll liegen?“
„Den nehme ich mit!“
„Wozu? Willst du damit fliegen?“, grinst Jens.
„Den würde ich in meinem Zimmer an die Wand machen. Das sieht toll aus! Den nehme ich mit!“
„Das kannst du nicht so einfach“, mahnt Jens, als Leon schon danach greift.
„Warum nicht? Der wird doch sowieso auf den Müll geworfen.“
„Ja, stimmt“, bestätigt Jens. „Das ist zwar nicht ganz logisch, aber ich habe mal gehört, dass man sich nicht einfach beim Sperrmüll bedienen darf. Doch das ist ja kein Problem. Wir fragen einfach mal da in dem Haus nach. Weißt du, wer da wohnt?“
„Ich glaube, da wohnt der alte Herr Stoll.“
Jens geht zwei Stufen zur Haustür hinauf und klingelt. Leon bleibt beim Sperrmüll stehen und streicht mit der Hand über die wunderbar glatte Oberfläche des Propellers.
Ein alter Mann öffnet. Er steht gebeugt da, neben ihm erscheint ein großer Hund, der gefährlich knurrt.
„Still, Hektor!“, befiehlt der Alte. Der Hund blickt zu seinem Herrchen auf und hat einen Ausdruck in den Augen, als wolle er fragen, ob der Befehl ernst gemeint sei.
„Guten Tag! Entschuldigen Sie die Störung. Mein junger Freund da hat sich in den Propeller verliebt und würde ihn gerne mitnehmen und zu Hause an der Wand anbringen. Hätten Sie etwas dagegen?“
Der alte Mann nimmt seine Brille von der Nase und schaut erst Jens an der Tür und dann den Jungen am Straßenrand an. „Ist das nicht der Kleine von Theißens?“
„Ja, Leon.“
„Hm. Das hier muss alles weg. Ich ziehe im Herbst ins Altenheim. Da fange ich schon mal an, alles Mögliche wegzuschaffen, was ich dann nicht mehr brauche.“
In diesem Augenblick bleibt ein Mann stehen, der gerade die Straße heruntergekommen ist. Auch er ist alt, aber nicht ganz so alt wie der Hausbewohner.
„Mensch, Hugo!“, ruft der. „Musste das denn sein?“
„Was denn, Werner?“, fragt der.
„Der Propeller! Wir waren uns doch einig … Na du weißt schon! Wenn das Ding da so offen liegt …!“
„Es soll ja weg. Siehst du nicht, dass er beim Sperrmüll liegt?“
„Ja, aber so offen auf der Straße!“
„Ach, Werner, du kannst mich mal!“ Jetzt richtet sich Herr Stoll an Leon: „Äh, du … äh, Leon, du kannst den Propeller mitnehmen.“ Und leiser sagt er zu Jens: „Die nerven mich mit ihrer Heimlichtuerei.“
„Was soll denn verheimlicht werden?“
„Na, was damals im Tunnel gewesen ist. Wissen Sie das nicht? Ach, Sie sind nicht von hier, stimmt’s?“
„Stimmt. Ich bin nur für eine Woche hier in Erlbruch zu Gast und wohne im Gasthaus Theißen.“
„Ach so, na, dann können Sie das ja nicht wissen. Ich finde es verrückt, dass die Leute hier so ein Geheimnis daraus machen.“
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich in dieses Geheimnis einzuweihen?“
„Im Gegenteil“, sagt der Alte. „Ich freue mich, wenn ich mich mal mit jemandem darüber unterhalten kann. Kommen Sie doch rein und trinken Sie ein Bier mit mir!“
Jens wendet sich um und ruft Leon zu: „Geh schon mal, Leon! Ich komme später nach. Ich will mich noch etwas mit Herrn … – wie war noch mal Ihr Name?“
„Stoll. Hugo Stoll.“
„… mit Herrn Stoll unterhalten.“
Leon nimmt strahlend den Propeller unter den Arm und geht, Jens folgt Hugo Stoll und dessen Hund in die Wohnung.
Sie sitzen in zwei Sesseln, jeder mit einer Flasche und einem Glas.
„Dabei war ich ja unmittelbar beteiligt“, sagt der Gastgeber, „und hätte am ehesten Grund, den Mantel des Schweigens über die Geschichte zu breiten. Aber ich muss wohl ganz von vorn anfangen.“
Er nimmt einen kräftigen Schluck.
„In den Zwanzigerjahren wurde eine Bahnlinie gebaut, um unsere Region an das allgemeine Netz anzuschließen.“
„Ich habe vor dem Dorf einen Damm gesehen. Das war wohl die alte Trasse.“
„Genau.“ Er zeigt auf Jens’ Flasche. „Trinken Sie nur! Ich habe den Kühlschrank voll! Also, von hier aus musste ein Tunnel gegraben werden bis hinüber nach Intringen. Über den Berg ging es nicht und drum herum wäre die Strecke zu lang geworden. Der Tunnel wurde 4,2 Kilometer lang.“
„Aber jetzt gibt es keine Bahn mehr.“
„Stimmt. Im 2. Weltkrieg kamen plötzlich Leute von der SS und von der Organisation Todt.“
„Von wem?“
„Die Organisation Todt war so eine paramilitärische Bautruppe in der Nazizeit. Die beschlagnahmten den Tunnel. Da sollten kriegswichtige Güter produziert werden, denn unter der Erde war die Produktionsstätte ja vor Bomben sicher. Zunächst war man hier im Dorf nicht davon begeistert. Aber die Funktionäre verstanden es, die Bevölkerung zu überzeugen.
Es lebte hier ein reicher jüdischer Geschäftsmann mit Namen Stern, der zwar in Frankfurt arbeitete, aber sich hier eine prächtige Villa gebaut hatte, am Ortsrand, mit Blick auf den See. Es sickerte durch, dass sich die Bewohner von Erlbruch, wenn die jüdische Familie abgeholt würde, ihren Besitz unter sich aufteilen könnten. Wir hatten damals einen Bürgermeister, der zugleich Gauleiter der NSDAP war. Der hat das alles eingefädelt.
So kam es dann auch. Die Juden waren eines Tages verschwunden, bis auf … na ja, das ist eine andere Geschichte.
Die Villa wurde ein Gasthaus und aus einigen Räumen wurden Wohnungen, die man dann vermietete. Der Park wurde zum Teil dem Land der umliegenden Bauern zugeteilt und aus dem Rest machte man einen Sportplatz. Dorfbewohner, die von alldem keinen Nutzen hatten, wurden mit den wertvollen Möbeln und Kunstwerken aus der Villa entschädigt. So hatten alle einen Vorteil aus der Enteignung.“
Der alte Mann nimmt einen Schluck aus seinem Glas. Jens ist erschüttert und weiß nicht, was er dazu sagen soll.
„Verstehen Sie, junger Mann – weil alle beteiligt waren, hatte niemand ein Interesse daran, nach dem Krieg die Sache an die große Glocke zu hängen.“
„Und in dem Tunnel …“
„In dem Tunnel wurden Propeller für Flugzeuge hergestellt. Die Arbeit machten Zwangsarbeiter aus Osteuropa. Aber jemand musste die Arbeit ja überwachen – und das war unter anderem ich.“
„Sie?“
Hugo Stoll nickt und sieht seinen jungen Gast an. „Ich und noch zwei andere, die von einer Frankfurter Firma kamen. Ich war Meister. Wir haben gute Arbeit geleistet, präzise nach den Angaben der Ingenieure von Junkers, Messerschmidt und so weiter. Aber ich war nur für das Fachliche zuständig. Die Aufsicht über die Zwangsarbeiter führte die SS. Die Arbeiter waren zwölf Stunden beschäftigt und schliefen in Baracken beim Tunnelausgang, die es natürlich jetzt nicht mehr gibt. Dann kam die zweite Schicht, ebenfalls zwölf Stunden. Im Tunnel merkte man sowieso nicht, ob es Tag oder Nacht war.“
Nach einigen Augenblicken des Schweigens sagt Jens: „Jetzt verstehe ich, woher der Propeller stammt. Und auch, warum die Leute aus Erlbruch nicht gern an die Zeit erinnert werden.“
„Offiziell ist das alles natürlich bekannt. Es gibt viele Unterlagen, Zeugenaussagen und so weiter. In Untersuchungen von Historikern stehen viele Einzelheiten. Aber hier im Ort redet man nicht davon. Und es hat auch nie irgendwelche Bemühungen gegeben, in der Presse diese Geschichte ans Licht zu zerren. Vielleicht auch, weil die jüdische Familie anscheinend keine Verwandten hatte, die ihr Erbe hätten beanspruchen können. Und die Zwangsarbeiter sind nach dem Krieg alle verschwunden. Man hat nie wieder etwas von ihnen gehört.“
„Der Tunnel wurde doch sicher zugemauert?“
„Ja, damit nichts passiert, etwa, dass Kinder darin Verstecken spielen. Aber jetzt gibt es Überlegungen, die Bahnlinie wieder herzustellen und zu nutzen, und damit natürlich auch den Tunnel. Zurzeit werden Untersuchungen gemacht, wie sicher das alles noch ist.“
„Ich werde es mir mal ansehen.“ Jens freut sich, dass er etwas gefunden hat, womit er sich beschäftigen kann. Er trinkt sein Bier aus. „Ich habe nämlich viel Zeit.“
„Das hört man selten von jungen Leuten.“
Jens nickt und erklärt: „Ich bin mit meinem Opa gekommen, der hier Urlaub machen möchte, aber aus gesundheitlichen Gründen allein nicht zurechtkommt.“
Hugo Stoll wirkt überrascht. „Das hört man noch seltener von jungen Leuten.“
Jens lächelt verlegen und steht aus seinem Sessel auf. „So, ich gehe dann mal wieder. Danke, dass Sie mich in die Geheimnisse von Erlbruch eingeweiht haben.“
Auch Hugo Stoll erhebt sich. „Gern geschehen, Herr … wie ist Ihr Name?“
„Jens Montag.“ Er geht Richtung Haustüre.
„Montag?“
Jens nickt und öffnet die Türe. „Ja, so wie Sonntag, nur einen Tag später.“ Dann verabschiedet er sich mit einem kurzen „Tschüss!“ und geht. Er merkt nicht, dass Hugo Stoll erschrocken hinter ihm herblickt.
Die Gelegenheit ist günstig, denkt Louis Henrich, als er von der Jungschar nach Hause kommt. Zwar ist Samstag und seine Eltern sind nicht in der Arbeit, aber Mama ist in der Küche. Sie holt die Hausarbeit nach, zu der sie in der Woche kaum kommt. Und Papa ist im Garten. Dort verbringt er gerne seine Zeit. Das kann Louis nicht verstehen – beim besten Willen nicht! Wenn Papa ihn bestrafen will und zum Unkrautjäten in den Garten schickt, ist das so eine Art Hölle auf Erden. Aber heute besteht kein Anlass, ihn zu bestrafen, und Papa jätet selber.
Jannik, sein großer Bruder, beschäftigt sich mit seinem Computerspiel. Louis ist frei, niemand achtet auf ihn.
Also geht er zu Oma. Sie wohnt im alten Teil des Hauses, ihre Kinder und Enkel im zweigeschossigen Anbau. Er klopft, öffnet die Tür und späht zu ihr rein.
Seine Oma scheint erfreut. „Das finde ich aber nett, dass du mich mal besuchst, Louis!“
„Hallo, Oma.“
„Komm rein! Möchtest du ein Stück Schokolade?“
„Äh – ach nein, danke.“
„Wie? Keine Schokolade? Das wundert mich aber.“ Seine Oma sieht ihn prüfend an.
„Ich wollte … ich wollte nur –“
„Komm erst mal und setz dich hin.“
Sie sitzen nun über Eck, Oma auf dem Sofa und Louis in dem alten riesengroßen Sessel, in dem er fast versinkt.
„Nun erzähl mal!“
Louis schaut betreten vor sich und knetet seine Hände. „Also – ich hab ja mal für dich eingekauft.“
„Ja, schon öfter.“
„Und meistens hast du mir auch was gegeben, als Lohn, hast du gesagt.“
„Ja.“ Seine Oma sieht ihn aufmerksam an.
„Aber neulich – na ja, es ist schon eine Weile her. Da hast du mir nichts gegeben.“
„Ach, habe ich das vergessen? Das tut mir leid. Ich gebe dir –“
„Nein, Oma, lass mich doch mal weitererzählen!“
„Gut. Ich höre zu.“ Louis’ Oma faltet die Hände im Schoß.
„Als ich dann wieder eingekauft habe, habe ich gedacht: Vielleicht kriege ich wieder nichts. Da behalte ich am besten gleich etwas von dem Wechselgeld. Oma merkt das doch nicht. Also habe ich mir zwei Euro genommen.“
„Oh …“
„Du hast es auch nicht gemerkt. Aber du hast mir außerdem noch zwei Euro gegeben, als Lohn. Da habe ich mich geschämt.“
„Hm. Zu Recht.“
Seine Oma sieht nicht ärgerlich aus, doch Louis hat trotzdem ein schlechtes Gewissen. Er fährt fort: „Aber nachher habe ich das mit dem Schämen wieder vergessen. Und weil ich Geld brauchte, habe ich beim nächsten Mal einen Zehneuroschein genommen. Weil du es sicher auch nicht merken würdest.“
Louis’ Stimme ist immer leiser geworden. Jetzt schweigt er und schaut nur noch vor sich hin.
„Das war nicht gut, Louis!“
„Ich weiß. Aber ich werde jetzt einfach fünfmal für dich einkaufen, ganz ohne Lohn. Ach nein, zehnmal!“
„Hm. Na, darüber werden wir uns schon einig. Das Traurige an der Sache ist allerdings nicht, dass ich das Geld nicht mehr hatte, sondern dass du mich bestohlen hast. Aber immerhin ist es gut, dass du es mir jetzt gesagt hast.“
Louis schaut auf. „Weil Alex in der Jungschar gesagt hat, wir sollen, wenn wir Scheiße gebaut haben –“
„Das sagt man nicht, Louis!“
„Ach so. Na, wenn wir was falsch gemacht haben, sollen wir das sagen. Und in Ordnung bringen. Weil es sonst nicht klappt, dass Gott uns vergibt. Denn zu Gott sagen: Entschuldigung, ich will es nicht wieder tun, wenn wir Sch… also, wenn wir was getan haben, was nicht richtig war – und dann einen anderen beklauen, oder so was –, das passt nicht zusammen.“
„Hm.“
„Das stimmt doch, oder?“ Louis beugt sich in seinem Sessel vor. „Dass Gott uns wieder gut ist, wenn wir ihn darum bitten, und wenn wir … also wenn zwischen uns alles klar ist.“
„Na ja, wenn Alex das sagt, wird’s wohl stimmen“, murmelt seine Oma.
„Glaubst du nicht, dass Gott uns dann vergibt?“ In Louis’ Gesicht ist eine Mischung aus Überraschung und Enttäuschung zu lesen.
„Doch, dir vergibt er sicher, mein Junge. Bei mir … ist das nicht so einfach.“
„Wie meinst du das, Oma? Denkst du, er vergibt dir nicht? Oder hast du gar nichts Schlimmes gemacht?“
„Ach, Junge! Doch, ich habe auch was Schlimmes gemacht.“ Oma spricht seltsam leise.
„Was denn zum Beispiel?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Das … das ist nichts für Kinder.“
„Aber Alex sagt, Gott ist ja nicht nur zu den Kindern freundlich und liebt sie. Auch die Großen –“
„Da bin ich mir nicht sicher.“
Louis kriegt große Augen. „Nicht?“
„Vergiss, was ich gesagt habe, Louis! Dich liebt Gott bestimmt. Was ich über mich gesagt habe … war nur ein Scherz.“
Louis ist entrüstet. „Über so was soll man aber keine Scherze machen, Oma.“
„Ja, da hast du recht. Willst du jetzt ein Stück Schokolade?“
„Ja, gern.“
„Du weißt ja, in welcher Schublade sie liegt. Hol dir was!“
Freudig springt Louis auf. „Danke, Oma!“