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SONNTAG, 5. JULI 1992

Jens steht auf dem Plateau eines Hangs an einen Baum gelehnt. Unter sich sieht er die Bahntrasse, auf der keine Gleise mehr verlegt sind. Rechts verschwindet die Trasse im Berg. Man hat den Tunneleingang zugemauert und nur eine eiserne Tür eingesetzt, die mit einem Vorhängeschloss gesichert ist.

Anscheinend war bis vor Kurzem davor auch Erde aufgeschüttet, die aber zur Seite geschoben worden ist. Der Radlader, mit dem das gemacht wurde, steht noch auf der Trasse. Die Arbeit ist wohl noch nicht beendet.

Natürlich ist heute, am Sonntag, alles still. Es ist ein friedlicher Sommertag. Die Sonne scheint, Blumen blühen ringsumher auf dem Hang, Vögel zwitschern.

Aber in Jens’ Gesicht spiegelt sich nichts von diesem Frieden wider. Er stellt sich vor, wie die SS-Männer die Zwangsarbeiter in den Tunnel geprügelt haben. Können Menschen so grausam sein?

Jens wird aus seinen Gedanken aufgeschreckt, als er Stimmen hört. Er kann aber nichts verstehen, denn die Fremden reden offenbar in einer Fremdsprache.

Als er hinter dem Baum hervortritt, sieht er einen jungen Mann und eine Frau mittleren Alters auf ihn zukommen. Die beiden registrieren ihn, kommen näher und grüßen, der junge Mann nur mit einem Kopfnicken und die Frau mit einem fremdländisch klingenden „Guten Tag“.

„Guten Tag“, grüßt Jens zurück.

„Kennen Sie aus? Äh, kennen Sie sich aus hier?“, fragt die Frau.

„Nicht wirklich“, antwortet Jens. „Ich bin nur zu Besuch und wohne für eine Woche im Gasthaus. Suchen Sie den Eingang zum Tunnel? Dann sind Sie hier richtig. So viel weiß ich immerhin.“

„Ja, danke. Ich danke Sie – äh … Ihnen. Die Maschine da … wird gearbeiten?“

Jens nickt. „Anscheinend. Es heißt, der Tunnel und die ganze Bahnstrecke soll wieder in Betrieb genommen werden.“

„Man kann aber nicht in Tunnel gehen, stimmt?“

„Ja, er scheint verschlossen zu sein. Wieso sind Sie denn hier?“

Die Frau lässt sich ins Gras sinken und Jens setzt sich neben sie. Der junge Mann steigt währenddessen den Abhang hinunter und geht zum Tunneleingang.

„Wir sind aus Polen“, erklärt die Frau. „Wir arbeiten bei Ernte in Pfalz. Tomasz“, sie zeigt zu dem jungen Mann, „Tomasz ist … – wie heißt Sohn von Sohn?“

„Enkel.“

„Ja. Tomasz ist Enkel von Mann, das war hier in Krieg. Sein … sein …“

„Opa.“

Die Polin nickt dankbar. „Sein Opa viel erzählt von Arbeit unter die Erde, wo Eisenbahn fährt.“

„Im Tunnel.“

„Ja. Hat gemacht Ding vorn an Flieger, was dreht …“

„Propeller?“ Jens schaut sie fragend an.

„Propeller. Hat viel davon gesprochen. Und als Tomasz kommt nach Deutschland, zu arbeiten in Ernte, Tomasz will sehen Tunnel in Elbuch.“

„Erlbruch.“

„Erl-bruch? Ja. Aber Tomasz kein Wort Deutsch. Darum er bittet mich zu kommen mit ihm. Ich bin Maria. Bin schon viele Jahre zu arbeiten in Deutschland. Immer in Sommer in Ernte.“

„Aber es gibt hier anscheinend nicht viel zu sehen.“

„Nein.“ Maria lächelt jetzt und zuckt mit den Schultern.

Sie blicken hinab zum Tunnel und sehen, wie Tomasz die Eisentür und das Schloss gründlich untersucht. Er rüttelt daran, aber vergeblich – die Tür ist versperrt. Dann geht er suchend umher. In dem Erdhaufen, der von dem Radlader zur Seite geschoben worden ist, findet er einen dicken Stein, größer als ein Männerkopf. Er hebt ihn auf, schleppt ihn zur Tür und lässt ihn auf das Schloss donnern.

„He! Was machst du denn da?“, ruft Jens. „Du kannst doch nicht …“ Er springt auf und rennt hinunter. Die Frau folgt langsamer und ruft dabei etwas, das Jens nicht versteht.

Als er bei dem jungen Polen ankommt, will er ihm in den Arm fallen, hält dann aber inne. Er erinnert sich plötzlich, wie er selbst einmal eine Tür aufgebrochen hat. Damals allerdings mit einer Eisenstange, und dahinter stand ein Moped, auf das er es abgesehen hatte. Heute schämt er sich dafür. Er würde es nie mehr machen. Aber die Erinnerung trägt dazu bei, dass er sich nicht dazu aufraffen kann, einen anderen daran zu hindern.

Jetzt springt das Schloss von der Schelle an der Tür. Tomasz wirft den Stein zur Seite und zieht die Tür auf. Sie quietscht und Tomasz muss sich anstrengen. Die Scharniere scheinen eingerostet zu sein.

Dann stehen die beiden jungen Männer vor dem gähnend dunklen Loch. Maria ist inzwischen herangekommen und redet weiter, aber niemand achtet darauf.

Tomasz geht vorsichtig hinein. Nach fünfzehn oder zwanzig Schritten nimmt er ein Feuerzeug heraus und versucht, mit der Flamme etwas die Dunkelheit zu erhellen.

Jens kann seine Neugier nicht zurückhalten. Er folgt Tomasz in den Tunnel, nur Maria bleibt draußen stehen.

Nachdem die beiden ein Stück weitergegangen sind – jetzt nebeneinander –, wird es so dunkel, dass das kleine Flämmchen fast nichts mehr nützt. Sie müssen aufpassen, dass sie nicht stolpern. Es liegt allerlei herum: Bretter und andere Holzabfälle, altes Werkzeug und leere Eimer.

Dann sehen sie an der Seite alte Werkbänke stehen. Auch darauf liegen Gegenstände, vor allem aber Staub. Spinnweben sind überall ausgebreitet.

Eine Weile stehen die beiden still.

„Hier also hat dein Opa gearbeitet“, sagt Jens, ohne daran zu denken, dass der andere ihn nicht versteht.

Tomasz wendet sich ab und geht weiter. Als er die Feuerzeugflamme in die Höhe hält, können sie Fledermäuse sehen, die an der Decke hängen.

„Komm zurück!“, fordert Jens ihn auf. „Du hast es doch jetzt gesehen! Was willst du denn noch?“

Aber Tomasz beachtet ihn nicht. Vorsichtig Fuß vor Fuß setzend geht er weiter. Nach jedem Schritt sieht er sich um.

Da Jens weder ein Feuerzeug noch eine Taschenlampe hat, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder er bleibt bei dem Polen und folgt ihm, so lange und so weit Tomasz gehen will, oder er geht gleich zurück, solange er noch den Eingang als hellen Punkt erkennen kann. Er entscheidet sich für den Rückzug.

Maria wartet noch immer vor dem Eingang. Als Jens den Tunnel verlässt, sieht sie ihn fragend an: „Wo ist Tomasz?“

„Er ist weiter hineingegangen. Ich wollte nicht mitgehen. Ich habe noch eine Verabredung nachher. Aber er schien auf meine Begleitung auch keinen Wert zu legen.“

„Er nichts verstanden. Aber ja, er ist auch ein bisschen … wie heißt das? Will alles selbst …“

„Eigensinnig?“

„Ja, eigensinnig. Ein gutes Wort, sagt genau. Eigensinnig. Aber ich bin jetzt auch so. Ich stehe nicht hier und warte. Gehe zurück zum Auto und lese mein Buch. Oder – weißen sie, ob ich kann im Dorf etwas Essen kaufen?“

Jens grinst und zeigt den Weg hinunter: „Ja, sicher. Kommen Sie einfach mit mir zum Gasthaus!“

„Gut. Ich schreibe Zettel für Tomasz und lege in Auto. Dann er weiß, wo ich bin.“


Tomasz geht immer tiefer in den Tunnel hinein. Überall findet er Spuren der Arbeit, die vor einem halben Jahrhundert hier geleistet wurde. Und damit auch Zeugen des Leidens der Männer, von denen einer sein Großvater war.

Mit Schrecken merkt er plötzlich, dass die Flamme seines Feuerzeugs kleiner wird. Er muss zurück!

Aber es ist zu spät. Die Flamme verlöscht.

Angst hat er eigentlich nicht im Dunkeln, aber leichte Beklommenheit überfällt ihn. Und er ärgert sich. Wie hatte er nur so gedankenlos sein können! Diese Zeugen einer längst vergangenen Geschichte haben ihn zu sehr gefesselt.

Wenn er sich recht erinnerte, lagen auf den letzten hundert oder hundertfünfzig Metern keine Hindernisse im Weg. Wenn er also die Arme nach rechts und links ausstreckte, um nicht gegen die Seitenwände zu laufen, müsste er einigermaßen zügig gehen können.

Aber das ist ein Irrtum. Nach nur wenigen Schritten läuft er gegen eine Bank auf der Höhe seines Schienbeins. Er kommt ins Stolpern, fällt und schlägt mit dem Kopf auf die Kante einer Werkbank. Die Dunkelheit um ihn herum erreicht nun auch seinen Kopf – in der Einsamkeit des Tunnels verliert er das Bewusstsein.


Erich Mühlfeld stellt den Fernseher ab. Das Sonntagnachmittagsprogramm ist ihm zu langweilig. Er entschließt sich stattdessen, wegen des schönen Wetters einen Spaziergang zu machen.

Eigentlich, denkt er, als er die Haustür hinter sich zuzieht, eigentlich könnte ich nach Erlbruch fahren und da mal nach dem Rechten sehen. Es sind ja nur ein paar Kilometer. Sieben oder acht.

Als alleinstehender Mann älteren Semesters ist er oft in Gedanken bei der Arbeit. Also setzt er sich in seinen kleinen Peugeot und fährt dorthin, wo er am Freitag den Radlader abgestellt hat. Sein Chef wird sich freuen, wenn er auch am Wochenende mal ein Auge auf das teure Ding wirft.

Alles scheint in Ordnung zu sein. Es steht nur ein fremdes Auto in der Nähe des Tunnels. Neugierig geht er um den Kleinwagen herum. Hinter der Frontscheibe liegt ein großer Zettel. Aber was darauf steht, kann er nicht lesen. Es scheint in einer fremden Sprache zu sein.

Dann fällt sein Blick auf den Tunneleingang. Nanu! Die Stahltür steht ja offen!, bemerkt Erich überrascht. Schnell läuft er hin. Ein kurzer Blick verrät ihm, dass jemand das Schloss mit Gewalt aufgebrochen hat.

Diese Rowdies! Diese frechen Bengel, die alles kaputt machen, nur aus Lust am Zerstören! Bestimmt waren es Jugendliche, die nichts Besseres zu tun wussten. Oder Kinder, neugierige Rotzlöffel, die unbedingt mal in den Tunnel wollten! Zu klauen gibt es ja sicher nichts in diesem alten Loch, das seit fast fünfzig Jahren niemand mehr betreten hat, schießen ihm die empörten Gedanken durch den Kopf.

Verärgert geht er ein paar Schritte in den Tunnel hinein. „Hallo? Ist hier jemand?“

Es geschähe den Kerlen ja ganz recht, wenn sie da drinnen eingesperrt würden, denkt er sich in seiner Verärgerung. Wenn er die Tür einfach wieder verschließen würde, käme keiner mehr raus. Aber ganz so streng sollte man sie wohl doch nicht bestrafen. Ganz abgesehen davon, dass man ihm nachher einen Vorwurf machen würde.

Also geht er noch ein Stück weiter hinein und ruft lauter: „Hallo? Wenn ihr nicht eingesperrt werden wollt, solltet ihr jetzt besser rauskommen!“

Aber nichts rührt sich. Die Bengel sind also wahrscheinlich längst abgehauen. Mit einem Kopfschütteln tritt Erich wieder ans Tageslicht. Er begutachtet das Schloss; da ist nichts mehr zu machen, es ist völlig kaputt. Wie soll er den Tunnel jetzt sicher verschließen, damit nicht noch jemand hineingeht?

Da kommt ihm eine Idee! Die Stahltür geht nach außen auf. Aber man könnte sie nicht öffnen, wenn er etwas davorstellen würde. Behände steigt er auf den Radlader – den Schlüssel hat er immer bei sich –, lässt den schweren Dieselmotor an und fährt ganz dicht vor den Eingang. So dicht, dass die große Schaufel an die Stahltür drückt.

Da kann jetzt keiner mehr rein. Zufrieden stoppt er den Motor und steigt ab. Mit einem letzten Blick auf die verschlossene Tür beginnt er seinen geruhsamen Sonntagnachmittagspaziergang.

Im Schatten des Tunnels

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